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Sind es die eigenen Flügel, die plötzlich wachsen, als Sonya durch den Spiegel in die geheime Elfenwelt gestoßen wird? Was hat ihre Mutter zu verbergen? Sie muss sich den vielen Gefahren stellen und erkennen, dass sie Fähigkeiten besitzt, von denen sie nie zu träumen gewagt hätte. Dunkle Schattenmächte stellen sich ihr in den Weg und trachten ihr nach dem Leben, aber sie ist nicht allein. Wird sie es schaffen ihre Schwester aus den Klauen des bösen Zauberers zu befreien?
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Seitenzahl: 731
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Prolog
Kapitel 1
Ferien
Kapitel 2
Die Offenbarung
Kapitel 3
Das Zauberreich, der Weg beginnt
Kapitel 4
Der Bann ist gebrochen
Kapitel 5
Die Elfenkönigin kehrt heim
Kapitel 6
Im Reich des Regenbogenzauberers
Kapitel 7
Die Troll Stadt
Kapitel 8
Der Zauberring
Kapitel 9
Die Macht des Bösen
Kapitel 10
Die Berge von Dornhill
Kapitel 11
Das Diamant-Drachen Ei
Kapitel 12
Die Rettung der Prinzessin
Da ist es wieder, dieses mächtige Gefühl der Verbundenheit, alles in mir vibriert, meine Hände kribbeln und hören nicht auf. Diese Angst und Freude zugleich, was ist das? Ich weiß es nicht. Der Drache im Spiegel schaut mich mit glühenden Augen an, ich kann mich nicht bewegen, was will er? Er geht in meinen Kopf, was macht er da? Ich kann nicht denken. Da kommt eine helfende Hand aus dem Nichts, wir sind verbunden. Der Drache, ist er weg oder in mir?
Werden wir alle brennen und als Phönix aus der Asche neu auferstehen? Warum habe ich seit Jahren immer die gleichen Träume? Etwas ist in meinem Kopf und lässt mich nicht in Ruhe. Bin ich jemand anders? Stimmen reden in meinem Kopf, ja, sie quälen mich, werde ich jetzt verrückt? Warum kommen sie jetzt immer öfter? Ich spüre doch, dass etwas Schlimmes passiert ist, aber ich verstehe es nicht. Eine innere Unruhe, ja, fast Panik kriecht meinen Rücken rauf und runter. Ich weiß auch, dass es ein Geheimnis gibt, worin meine Mutter verstrickt ist, aber sie hüllt sich immer in Schweigen. Warum redet sie nicht mit mir? Sie geht mir dauernd aus dem Weg, was ist es? Wird es unser Leben komplett verändern? Wenn ich das Thema anschneide und von meinen Träumen erzähle, sehe ich, dass sie total nervös wird. Es macht ihr zu schaffen. Sind die Träume real? Es macht sie immer total nervös, auch irgendwie traurig, sie tut es mit einer Handbewegung ab und meint es wäre nur Einbildung, ich hätte zu viel Fantasie und ich solle weniger Filme sehen. Die schwarzen Gestalten, sie kommen, sie sind bald hier und werden vor nichts Halt machen. Blut wird fließen, sehr viel Blut.
Etwas passiert in Kürze und ich kann es nicht aufhalten. Schmerz, Verzweiflung, aber auch Hass wird uns vereinen. Ich werde über mich hinauswachsen, auf einer mir noch unbekannten Art. So, wie ich es mir nie vorstellen könnte. Wir sind eins, im Hier und Jetzt für immer verbunden, die Kraft der Vier.
Der letzte Tag vor den Ferien. Ich habe heute überhaupt keinen Bock auf Unterricht. Mein Zeugnis? Na ja, ich denke es wird ganz gut ausgefallen sein. Wenn nicht dieser blöde Herr Bock nachher noch wäre. Ich kann ihn einfach nicht ausstehen. Er mich allerdings auch nicht, das lässt er mich immer wieder spüren. Idiot. Warum ausgerechnet er mein Chemielehrer werden musste, weiß ich bis heute nicht und dann habe ich auch noch Unterricht mit ihm, so kurz vor den Ferien. Na ja, was Besseres hätte ihm ja nicht einfallen können. Wie gesagt, einmal Arsch immer Arsch.
Ich sitze gelangweilt auf dem alten Holzstuhl in meinem Klassenzimmer, höre aus weiter Ferne die Worte des Lehrers und schaue abwechselnd aus dem Fenster oder auf die Uhr an der Wand. Die Zeit vergeht heute überhaupt nicht. Die letzte Stunde vor den Ferien und sie zieht sich hin wie Kaugummi in der Sonne. Endlich, darauf habe ich heute den ganzen Tag gewartet. Die Zeugnisse. Herr Bock verteilt alle der Reihe nach, bis er schließlich an meinem Tisch steht.
»Sonya, alles in allem sieht es doch sehr gut für dich aus, dieses Jahr. Du könntest dich in Chemie noch etwas mehr engagieren, dann wird es nächstes Jahr vielleicht eine Eins.«
»Ja, Herr Bock, ich werde mir Mühe geben.« Schleim, Schleim, natürlich werde ich mir Mühe geben, wie immer, nur bei ihm kann ich alles machen, was ich will, er würde mir nie eine Eins geben. Eben doch ein Arsch. Egal, die restlichen Zensuren glänzen, überall eine Eins. Mensch, da habe ich mich ja dieses Jahr selbst übertroffen, der reinste Wahnsinn, ich schaue mir mein Zeugnis an und bin sowas von begeistert. Bis auf Chemie überall eine Eins, da werden sich meine Großeltern freuen. Den Rest der Stunde werde ich jetzt auch noch hinter mich bringen und dann ist erst mal Urlaub angesagt. Den habe ich mir aber sowas von verdient.
»Sonya, hilf mir. Bitte hilf mir, er hat mich geholt und will mich vernichten. Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen. Hör in dich hinein. Ich bitte dich. Ich brauche dich jetzt hier, komm zu mir.«
Da ist sie wieder, diese Stimme in meinem Kopf. Sie quält mich schon seit Tagen. Oder ist es doch real? Erschrocken schaue ich mich um, aber meine Mitschüler scheinen ebenfalls alle halb am Schlafen zu sein. Ein Geist?
Ich glaube, ich werde verrückt. Wie gut, dass die Stunde gleich vorbei ist, ich bin total ferienreif.
Was ist da in meinem Kopf los? Die Stimmen hören einfach nicht auf. Stress? Mein inneres Ich?
Ich antworte in meinen Gedanken zurück: »Hör auf! Ich will nicht, dass du mir im Kopf herumgeisterst. Ich will das nicht. Das macht mir Angst. Ehrlich gesagt kann ich dich hier nicht gebrauchen. Verpiss dich. Wer immer du auch bist, lass mich in Ruhe. Ein für alle Mal, verdammt.«
Die Stimme antwortet genauso frech zurück.
»Es macht dir Angst? Ich lache gleich, was soll ich dazu sagen? Ich hoffe du erkennst bald, wer du wirklich bist. So oft schon habe ich nach dir gerufen, aber du reagierst nicht. Nein, das ist kein Traum und nein, ich bin auch kein Geist. Die Zeit wird knapp. Ich weiß du kannst es jetzt noch nicht verstehen, aber bald. Hör endlich auf zu jammern und mach die Augen auf, damit du siehst, wer du wirklich bist.«
»Sonya, kannst du mir mal erklären, wie Kristalle wachsen?«, Herr Bock steht plötzlich vor meinem Tisch und holt mich aus meiner Träumerei heraus. Hilfesuchend geht mein Blick zu Maik, aber der schaut nur in sein Buch. Will er mir nicht helfen? Sonst hilft er mir doch immer, nur heute lässt er mich hängen. Ich überlege und krame ganz tief in den schon abgelegten Ressourcen meines Gedächtnisses herum. Dann sehe ich plötzlich die Kommode mit den vielen bunten Schubladen vor mir. Ich entscheide mich für die blaue, mit der Aufschrift Chemie und ziehe sie auf. Sofort fällt mir wieder einiges ein.
»Äh, also, ein Kristall ist ein Festkörper, dessen Bausteine z. B. Atome, Ionen oder Moleküle regelmäßig in einer Kristallstruktur angeordnet sind.«
»Danke Sonya, das war schon recht gut. Kann noch jemand ergänzen? Maik?«
»Klar, mal sehen, also bekannte kristalline Materialien sind Kochsalz, Zucker, Minerale und Schnee, aber auch verschiedene Metalle. Aufgrund der regelmäßigen Anordnung der Atome bzw. Moleküle weisen Kristalle keine kontinuierlichen, wohl aber diskreten Symmetrien auf. Man spricht von Translations- und Fernordnung.«
»Klasse Maik, das war sehr gut definiert. Also ein Kristall ist ein homogener Körper, denn er ist stofflich und physikalisch einheitlich. Aber viele physikalische Eigenschaften sind von der Raumdichtung abhängig, das heißt ein Kristall ist anisotrop.«
Mein Blick bleibt an Samira haften, die ebenfalls gelangweilt das Gesicht verzieht. Endlich, die Glocke ertönt. Schulschluss! Die langen Sommerferien beginnen. Juhuu, sechs Wochen gammeln! Herr Bock faselt noch etwas von schönen Ferien und dass wir uns gut erholen sollen, darauf reagiert aber keiner mehr. Alle packen ihre Sachen schnell in die Tasche. Die vielen Schüler stürmen lachend, schubsend aus den Klassenzimmern, die Treppe herunter, aus der Schule raus, nach Hause.
Ich lege meine Stifte in das Etui, höre, wie alle durcheinanderreden. Dann kommt Hellen von hinten und hakt sich bei mir ein.
»Was machst du denn Schönes in den Ferien, Sunny?«
Bevor ich etwas antworten kann, übernimmt Samira das Wort: »Na, sie fährt doch zu ihren Großeltern, wie immer, stimmts?«
»Ja, das stimmt und ich freue mich riesig, alle wieder zu sehen, und ihr?«
Samira meint nur: »Hmm, schon wieder nach Malle, da haben Bekannte eine Finca. Total langweilig in der Pampa, da gibt es nichts, nur einen Pool.«
»Besser als zu Hause zu bleiben. Na ja, im Garten ist es auch schön«, meint Hellen sehnsuchtsvoll und kaut wie immer nervös an ihren Nägeln. Das macht sie immer, wenn sie sich nicht wohl fühlt oder etwas genervt ist.
»Warte mal, frage doch mal deine Mutter, ob du mit uns kommen darfst. Wir fliegen erst in drei Wochen, vielleicht darfst du ja mit.«
»Echt? Das wäre super, dann lass uns später mal telen«, gleich wird ihr Blick wieder traurig.
»Was ist Hellen?« Hellen ist sich gerade nicht sicher, ob sie sich das leisten können. Eine Flugreise ist schon ganz schön teuer und zurzeit haben sie nicht so viel Geld, weil ihr Vater abgehauen ist. Nun muss ihre Mutter alles alleine bezahlen und da fällt nicht mehr so viel ab. Eigentlich gar nichts mehr.
»Ach Samira, ich glaube, ich bleibe lieber zu Hause. Wir können uns das bestimmt nicht leisten. Aber danke für das Angebot, das ist echt nett von dir.«
»Hör auf Hellen, mein Vater arbeitet am Flughafen. Er bekommt immer Freiflüge. Mach dir nicht dauernd so viele Gedanken. Ich weiß doch, dass es gerade nicht so gut bei euch läuft. Ich hätte es dir nicht angeboten, wenn ich nicht wüsste, dass mein Vater kein Geld für das Ticket will.«
»Bist du dir sicher, dass er kein Geld will?«
»Ja doch, Hellen, ganz sicher.«
»Und was machst du in den Ferien, Chelsey?«, frage ich interessiert, da ich weiß, dass Chelsey immer weit weg in den Urlaub fliegt.
»Wir fliegen in die USA zu meiner Schwester, die heiratet dort in zwei Wochen. Sie haben da eine coole Yacht gechartert in Florida.«
»Ja Mensch, das wird bestimmt ein toller Urlaub für dich«, sagt Hellen etwas neidisch, weil sie noch nie geflogen ist.
»Wenn du wüsstest. Ich hasse fliegen, mir wird dann immer so kotzübel und die Hitze da, nicht zum Aushalten«, meint Chelsey und bei dem Gedanken ans Fliegen möchte sie lieber zu Hause bleiben.
»Ach, du Arme, du wirst es schon verkraften«, spottet Hellen. »Aber versprich es, du schreibst uns allen eine Karte«, sagt Samira bestimmt.
»Ja, ich werde mir Mühe geben. Du weißt, wie sehr ich Karten schreiben hasse. Wir haben doch eh Whatsapp, also wozu schreiben? Ich verspreche, dass ich viele Fotos mache. Die schicke ich euch dann.«
»Das ist nicht das Gleiche. Ich liebe es, schöne Postkarten zu bekommen und die verschiedenen Briefmarken zu sammeln«, Samira schwärmt bei den Gedanken daran, wieder neue Briefmarken zu bekommen. Da kommt Steven vorbeigeschlendert, der Schönling aus dem Basketball-Team. Groß, braune Augen, ein braungebrannter Muskeltyp.
»Die unzertrennlichen Vier«, stellt er amüsiert beim Vorbeigehen fest und grinst sich einen.
»Seid ihr hier festgewachsen?«
»Nein, keine Sorge, Stevielein, wir sind schon so gut wie auf dem Weg. Wo ist denn dein Anhang heute?«, frage ich und füge noch: »Und dir auch schöne Ferien«, hinzu.
Ganz leise, damit er es nicht hört, flüstere ich meinen Freundinnen zu: »Lackaffe, der denkt, er ist der tollste Typ hier in der Schule.«
Als alle anfangen zu lachen, schaut er sich noch einmal um und schüttelt den Kopf.
»Also ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen«, meint Chelsey beiläufig und sieht ihm verliebt hinterher.
»Ach Chelsey, dieser Typ verarscht doch alle, der hat jede Woche eine Andere, sowas brauchen wir nicht.«
»Ja, du hast ja Recht«, gibt Chelsey zu, würde sich aber trotzdem freuen, wenn er sie mal auf ein Eis einlädt oder besser noch ein Date.
»Herrje, diese kleinen Zwerge machen einen Krach, nur weil Ferien sind«, meine ich etwas genervt. »Na ja, denk mal, vor ein paar Jahren, da warst du doch genauso. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern«, antwortet Samira lächelnd.
»Ja, aber jetzt sind wir erwachsen«, ich muss grinsen bei dem Gedanken.
»Oh ja, du bist sehr erwachsen, wie alt bist du jetzt, sechzehn oder zwanzig?«, Samira macht sich gerade über mich lustig.
»Ist ja gut, ich bin noch nicht erwachsen, das wissen wir alle, aber halb«, verteidige ich mich und grinse meine Freundinnen an.
»Rede mit mir. Warum ignorierst du mich immer? Du kannst deine Augen nicht immer vor der Wahrheit verschließen, die Konfrontation kommt, ich weiß es. Langsam werde ich echt sauer. Ich brauche deine Hilfe, ich brauche dich hier, jetzt, hör auf mich zu ignorieren.«
Sagt wieder diese unsichtbare Stimme in meinem Kopf und langsam wird es mir echt lästig, dieses Gerede von all dem Blabla, wovon ich nichts weiß. Wer ist das verdammt?
»Was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, fragt Hellen und schaut mich komisch an. Aber sie bekommt leider nicht die Antwort, welche sie sich erhofft hat.
»Ach, da war nur so ein Gedanke in meinem Kopf. Das passiert mir manchmal, nur wird es jetzt immer öfter und öfter, ich hasse das. Ich kann nichts dagegen tun und ich werde regelrecht verfolgt davon. Gestalkt ist der bessere Ausdruck«, antworte ich etwas genervt.
»Wie verfolgt? Was meinst du mit gestalkt? Wie können deine Gedanken dich stalken?«, fragt Samira und will mehr wissen, da ihre Eltern Psychiater sind, versucht sie immer alles zu analysieren.
»Nun ja, seit einiger Zeit habe ich so Gedanken oder eine weibliche Stimme im Kopf, die mit mir redet. Manchmal denke ich, ich werde verrückt und bilde mir das nur ein oder so. Sie hört auch nicht auf und wenn ich sage, sie soll sich verpissen, wird sie frech und beschimpft mich«, erzähle ich und denke, die halten mich jetzt bestimmt für total durchgeknallt.
»Wow, das ist ja mal krass. Hast du mit deiner Mutter mal darüber geredet? Du brauchst sicher etwas Ruhe, die hast du ja jetzt sechs Wochen lang. Nur Chillen und nach den Ferien bist du wieder richtig klar im Kopf, glaub mir«, Hellen versucht mich etwas aufzubauen.
»Herrje nein, meine Mutter glaubt mir nicht und meint, ich bin nur etwas überfordert. Die würde mich bestimmt zu so einem Psycho schleppen. Nichts gegen deine Eltern Samira, aber ich bin nicht bekloppt oder überfordert. Noch nicht. Da ist etwas anderes, was ich mir nicht erklären kann. Aber egal, jetzt sind erst einmal Ferien.«
Wir stehen noch eine Weile an der Klassentür in dem langen kahlen Schulflur, da kommt die Lehrerin Frau Willert vorbei: »Na, ihr seid noch hier? Wollt ihr nicht nach Hause, bei dem schönen Wetter? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr noch freiwillig hier seid.«
»Wir gehen gleich, Frau Willert und schöne Ferien Ihnen«, sagt Chelsey freundlich.
»Euch auch und erholt euch gut«, Frau Willert lächelt uns freundlich an und geht dann den Flur zum Lehrerzimmer hinunter.
Wir lachen, tuscheln, machen Witze und merken nicht, wie wir von einem großen wasserstoffblonden Typen genauestens beobachtet werden. Er ist ganz mit schwarzem Leder bekleidet. Am Hals sieht man das Ende eines schwarzen Tattoos rausragen. Die eiskalten, extrem blauen Augen sind auf uns fixiert. Er verfolgt jede Bewegung die wir machen. Keine Mimik in seinem Gesicht, wie versteinert. Als er zu uns herübersieht, treffen sich plötzlich unsere Blicke. Wie ein elektrischer Schlag empfindet er meinen Blick, der durch seinen ganzen Körper zuckt und ist jetzt etwas überrascht, aber auch irritiert, weil er eine starke Aura wahrnimmt und sich nicht erklären kann, was hier gerade passiert.
Was war das jetzt? Was passiert hier gerade mit mir? Komisch, was ist das für eine Macht? Irgendwie fühle ich mich plötzlich wieder klarer im Kopf, als wenn ein Brett von meinem Kopf abgenommen wurde. Ich glaube, der Zauber von Dralock hat sich etwas gelöst. Hat dieses Mädchen die Kraft, Dralocks Zauber zu durchbrechen? Wie soll das gehen? Schon komisch, dann hat der Alte doch nicht mehr so viel Kraft. Warum aber möchte er, dass ich sie töte? Sie sieht genauso aus wie Isi. Ist das womöglich ihre Schwester? Aber klar! jetzt kann ich mir denken, warum er will, dass ich sie töte. Aber weiß sie es? Weiß sie von der Prophezeiung? Dass sie eine Schwester hat? Eine Zwillingsschwester? Keine Ahnung, ich denke, ich werde es herausfinden müssen. Ich bin total verwirrt, was soll ich tun? Ich liebe Isi, was hat Dralock zu verbergen, dass er mich beauftragt hat, dieses Mädchen auszuschalten? Er hat nur etwas gefaselt von … sie dürfen nicht zusammenkommen … die Prophezeiung … sie werden alles vernichten. Ich werde sie verletzen müssen, aber ich kann sie nicht umbringen. Ich werde ihm etwas vorspielen müssen, er darf auch nicht merken, dass ich nicht mehr unter seinem Einfluss stehe, sonst wird er mich auch noch umbringen, denkt sich ICE.
Er schlendert dabei gezielt auf uns zu. Gerade in der Sekunde, in der er mich rammen und mich mit dem Messer verletzen will, springe ich zu Hellen und umarme sie. Dabei geht der Stich des Messers hinter mir vorbei und streift Samira leicht am Arm: »Blöder Idiot«, ruft sie hinter ihm her. Er dreht sich noch einmal kurz um und ist dann auch schon hinter der Ecke verschwunden.
»Wer ist das? Den habe ich hier noch nie gesehen«, ich schaue zu der Ecke, hinter der er verschwunden ist und frage mich, was er hier will. Er geht hier nicht mal auf die Schule.
»Unheimlicher Typ. Hey Samira, du blutest am Arm.« Hellen bemerkt gerade erst die Wunde an dem Arm ihrer Freundin.
»Was? Wo kommt denn das jetzt her? Ich habe mich doch nirgends verletzt. Das sieht aus wie ein Schnitt. Hat der Arsch mich etwa geschnitten? Irgendwie unheimlich, aber auch irgendwie interessant der Typ. Er hat so etwas Geheimnisvolles an sich. So etwas Verdorbenes«, meint Samira und überlegt, ob sie ihn vorher schon einmal auf der Schule gesehen hat. Sie ist etwas enttäuscht, da er ihr wirklich gefällt.
Was sollte das? Hätte ich Hellen nicht umarmt, hätte er mich erwischt. So ein blöder Arsch. Das war volle Absicht, aber warum? Ich kenne ihn nicht einmal und habe ihn noch nie vorher hier auf der Schule gesehen, das wäre mir aufgefallen, so wie er aussieht. Wie ein geisteskranker Irrer. Diese kalten blauen Augen, wie gefrorenes Wasser.
»Sag mal, hat er dir eine Droge beim Anrempeln verpasst? Vielleicht wurde dir etwas injiziert. Du kannst doch nicht bei Verstand sein«, ich bin besorgt darüber, wie Samira über ihn redet, als wäre er der Held aus einem Psychothriller.
»Äh, nein, wieso? Hat einer ein Taschentuch?«, fragt Samira in die Runde, da ihr das Blut gerade vom Arm tropft.
»Lenk nicht ab, weil du so einen komischen Blick draufhast und ihn geradewegs anhimmelst.« Ich muss feststellen, dass Samira heute etwas neben der Spur ist.
»So ein Quatsch. Darf man nicht einmal laut denken?«, verteidigt sich Samira und wird etwas verlegen.
»Lass ihn. Jetzt sind Ferien. Da brauchen wir jetzt nicht darüber nachzudenken. Ach ich würde so gerne mal mit dir zu deinen Großeltern kommen«, wechselt Chelsey das Thema, kramt in ihrer Handtasche herum und gibt Samira ein Taschentuch: »Danke Chelsey.«
Samira tupft sich das Blut vom Arm ab. »Schaut euch das an, ein ganz dünner kleiner Schnitt. Wie von einer Rasierklinge. Das hat der Typ gemacht. Wer ist das? Wärst du Hellen nicht um den Hals gefallen, wer weiß, wo er dich erwischt hätte. Das hätte dann bestimmt ganz anders ausgesehen«, meint Samira besorgt zu mir.
»Du, ich habe null Plan, wer das ist. Wie gesagt, ich kenne ihn nicht. Habe ihn auch noch nie gesehen. Hier nicht und anderswo nicht. Da könnte ich mich daran erinnern«, antworte ich stutzig. Ich habe auch keine Lust, mir noch weitere Gedanken über so einen hinterhältigen Mistarsch zu machen. »Aber noch mal wegen dem Urlaub auf Gut Rabenfells, ich werde mal mit meiner Mutter reden, vielleicht kannst du im Winter mal mitkommen«, ich bin davon überzeugt, meine Mutter hat nichts dagegen, wenn sie mitkommt.
»Ja, aber wo ist er hergekommen? Er muss uns die ganze Zeit beobachtet haben.« Hellen hört nicht auf und spinnt weiter an dem, wer könnte es sein, Typ rum.
»Er ist mir vorhin kurz aufgefallen, da stand er hinten am Ende des Ganges rum, er muss das genau geplant haben. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, wie ich ihn gesehen habe, dachte, er wartet auf jemanden.« Ich krame in meiner Schultasche und suche mein Handy. Mist, ich muss es heute Morgen vergessen haben.
»Ja, so schnell war er dann auch wieder weg«, Chelsey hebt ihre Tasche vom Boden auf und dreht sich auf dem Absatz rum.
»So, aber jetzt nix wie nach Hause, meine Mutter wartet bestimmt schon.
Gemeinsam gehen wir alle die Treppen hinunter, über den Hof zur Straße. Hellen und Chelsey verabschieden uns mit einer Umarmung und Küsschen. Mit Samira gehe ich noch etwas zusammen die Straße entlang. Dann drehe ich mich noch einmal um, denn ich fühle mich so merkwürdig, als wenn wir schon wieder beobachtet werden und denke kurz. Ist der Typ etwa schon wieder da? Das macht mich ja irgendwie nervös, ständig zu denken da ist jemand, der es auf mich abgesehen hat. Aus welchem Grund? Ach nein, den Grund will ich überhaupt nicht wissen.
»Was ist?«, Samira schaut sich auch gerade um.
»Ach nix, ich habe so ein Gefühl, das uns jemand verfolgt.«
»Nein, nicht schon wieder dieser irre Psycho. Mein Arm brennt wie Feuer.« Sie schaut unter das Taschentuch, der Schnitt ist leicht gerötet.
»Geh mal lieber mit deiner Ma zum Arzt, nicht, dass du noch eine Blutvergiftung bekommst. Sieht nicht gut aus. Wer weiß, wo er sein Messer noch überall reingesteckt hat.«
Beide rümpfen wir die Nase: »Uuuhh, iiihhh musst du das jetzt sagen? Mir ist jetzt ganz schlecht«, sagt Samira und schüttelt sich bei der Vorstellung, er hätte es eventuell in einen großen Kackhaufen gesteckt. Musste dann aber selber darüber lachen.
»Na, so schlecht scheint es dir ja doch nicht zu gehen, ein Glück.«
»Ach, ich habe gerade nur daran gedacht, dass er sein Messer in einen dicken Kackhaufen gesteckt hat.«
»Warum denkst du so einen Mist?
»Keine Ahnung, das kam gerade so in meinen Kopf.«
»Na gut, ich hoffe, das mit Hellen klappt bei euch, sie war die letzten drei Jahre nicht im Urlaub und sie muss echt mal raus. Sie wirkt so niedergeschlagen, zwar sagt sie nichts, aber man merkt es ihr an.«
»Ja, daher hatte ich schon mit meinem Vater geredet, er hat mir den Vorschlag gemacht, Hellen einzuladen.«
»Schön, ich wünsche dir schöne Ferien mit Hellen. Melde dich mal, wenn du wieder zu Hause bist.«
»Ja, sicher, aber du bist ja auch erst wieder am Ende der Ferien hier.«
»Ja, wie immer, drei Tage vor Schulanfang. Weil wir dann noch alles kaufen müssen, was wir für das neue Schuljahr brauchen.«
An der nächsten Kreuzung verabschiede ich mich mit Umarmung und Küsschen von Samira. Das ist Tradition bei uns. Den Rest des Weges renne ich förmlich nach Hause, als wäre der Teufel hinter mir her. Hin und wieder schaue ich mich kurz um, aber keiner ist mehr zu sehen. Wie gut, dass er mir nicht gefolgt ist, dieser irre Psycho. Hoffe ich sehe ihn nie wieder. Was denkt der sich überhaupt? Wahrscheinlich kann er gar nicht denken. In solch einer Strohbirne, was soll da schon drin sein. Gleich fahren wir nach Gut Rabenfells, zu meinen Großeltern, ich kann es kaum erwarten. Der Typ ist sofort wieder vergessen. Sechs lange tolle Wochen liegen nun vor mir, dort warten auch schon meine beste Freundin Steffi und die beiden Ponys Maxi und Moritz sehnsüchtig auf mich, dass weiß ich ganz genau.
Als ich zu Hause ankomme, bin ich total kaputt und lehne mich erst einmal an die Gartenpforte um zu verschnaufen, wie aus einem Reflex schaue ich mich noch einmal um, um mich zu vergewissern, dass mir wirklich keiner gefolgt ist. Meine Mutter erwartet mich schon. Sie steht an der Tür und sagt: »Hey Sunny mein Schatz, bist du den ganzen Weg gerannt?«
»Ja, bin ich und rede nicht immer so geschwollen, als wäre ich ein Kleinkind. Ich bin keine zehn mehr. Was sollen die Leute denken, wenn sie das hören?« Ich verdrehe genervt die Augen. »Nun, sie werden denken, du bist erst zehn und deine Mama liebt dich«, Anne muss innerlich grinsen. Ihre Tochter wird erwachsen. Die Pubertät ist im totalen Durchbruch. Noch ganz aus der Puste, denke ich. Ich kann ihr doch nicht von dem superblonden Psycho erzählen. Sie glaubt es mir sowieso nicht oder sie tut es wieder mit einer Handbewegung ab. Also sage ich jetzt erstmal rein gar nichts.
»Komm erstmal rein, ich habe Spaghetti gekocht, das wolltest du doch. Jetzt essen wir erstmal in Ruhe, dann packst du noch die restlichen Sachen ein, die du mitnehmen willst. Okay? Und dann geht es auch schon los.«
Ich hopse die vier Stufen zum Eingang hinauf, werfe meine Schultasche im hohen Bogen in die Ecke und meine: »Boah, sechs Wochen keine Schule, ist das klasse.« Ich setze mich an den Tisch, wo schon alles aufgetan ist und verschlinge regelrecht meine Spaghetti.
»Ich bin fertig. Ich gehe jetzt den restlichen Kram einpacken, okay?« Ich rutsche ungeduldig auf dem Stuhl hin und her. Denn ich will endlich los, daher habe ich keine Zeit hier rumzusitzen.
»Na los, zisch schon ab du alter Zappelphillip«, Anne lacht und fängt an, den Tisch abzuräumen.
In meinem Zimmer habe ich schon wieder so ein beklemmendes Gefühl, irgendwas zieht mich zum Fenster. Wie ich auf die Straße schaue, bin ich mir sicher, wieder diesen blonden Typen zu sehen und fange an zu zittern, es läuft mir eiskalt den Rücken runter. Verdammt, verfolgt der mich jetzt? Was will er? Man gut, dass wir gleich fahren, dann kann er mich nicht mehr belästigen. Warum das alles? Was habe ich ihm denn getan und warum will er mich verletzen, oder gar umbringen? Ob ich mal runtergehe und mit ihm rede? Ihn Frage, warum er das macht?
Ach nee, denke, es ist besser ihn zu ignorieren. Er wird ja nicht bis nach Gut Rabenfells hinter dem Auto herlaufen. Ich muss bei der Vorstellung jetzt doch etwas lachen. Ich schaue wieder angestrengt auf die Straße, aber keiner ist mehr da. Dann packe ich mein geheimes Tagebuch, wo alles Mögliche drin Platz gefunden hat, ein, wie traurige Traumgeschichten, gemalte Bilder, Andenken von Steffi, ach und einen Haufen anderen Krams eben. Sowie meine zwei neuen Bücher, die Schminksammlung, die aus allem möglichen Zeug besteht, auf die ich aber nicht verzichten will, DVD-Player, einige bunte Tücher und natürlich meinen Lieblingsteddy mit Namen Jessica. Ach na klar, das Waschzeug natürlich auch. Ich verstaue alles in die irgendwie viel zu kleine Tasche, ich drücke und drücke, aber ich bekomme den Reißverschluss einfach nicht zu. Verflixt und zugenäht, ich kann nichts hierlassen. Ich brauche alles, also geh schon zu.
»Mom, Moooom kannst du mal kommen? Die Tasche ist beim Waschen eingelaufen, sie will einfach nicht zugehen.«
Als meine Mutter nach oben kommt und ins Zimmer blickt, muss sie einfach lachen. »Mensch, was hast du denn bloß alles da reingestopft?«
»Nur das Wichtigste, den DVD-Player und die DVDs habe ich in die Wichtig-Tasche gepackt.« »Na, was ziehst du für eine Grimasse? Komm ich helfe dir, du musst nur alles besser verteilen, dann klappt es schon«, überzeugt meine Mutter mich und ruckzuck ist die Tasche auch schon zu.
Ich kann es kaum glauben und mache nur: »Hmm«, denn wie lange habe ich daran herumgezerrt und es wollte einfach nicht zugehen: »Verhextes Ding«, murmele ich vor mich hin.
Wir gehen die Treppe hinunter und laden alles, was am Eingang steht, ins Auto, die großen Taschen, die gestern schon gepackt wurden, mit all den ganzen Klamotten, die man für sechs Wochen halt so braucht, Moms Tasche und die störrische Tasche, die einfach nicht so wollte, wie ich es wollte.
»Halt, mein Handy, wo ist es? Ohne mein Handy bin ich total aufgeschmissen, ich muss noch mal nach oben.«
Ich laufe die Treppe noch einmal hoch in mein Zimmer und kann es nicht finden. Verdammt, ich habe es doch heute Morgen auf den Tisch gelegt mit dem Ladekabel. Ich schaue unter meinem Bett und überall nach. Jetzt werde ich aber wirklich wütend und kicke das Kissen auf dem Boden. In meinem Bett suche ich unter jedem Kissen, dabei fällt mein Blick auf die Fensterback, wo ich gestern Abend noch gelesen hatte. Da lag es. Wie kommt das denn da hin? Kein Wunder, dass ich es heute Morgen vergessen habe. Mann ich werde alt, könnte schwören es auf den Tisch gelegt zu haben. Na ja, egal. Auf zu neuen Abenteuern … Ich laufe die Treppe schnell wieder runter, schließe die Haustür zwei Mal ab und steige ins Auto. Als ich meiner Mutter den Schlüssel überreiche, meine ich beiläufig:
»Glaube, ich werde alt. Oder der ganze Schulstress macht mich bekloppt.«
»Warum?«
»Ach, ich habe heute Morgen das Handy auf den Tisch gelegt und eben war es nicht mehr da.«
»Oh, das ist meine Schuld, ich habe etwas sauber gemacht, als du in der Schule warst und habe das Handy auf die Fensterbank gelegt.«
»Ah so«, nuschele ich vor mich hin.
Mittlerweile ist es schon drei Uhr nachmittags und wir haben noch eine Autofahrt von etwa neun Stunden vor uns.
»Halt, den DVD-Player brauche ich hier vorne, wo ist der?« Ohne eine Antwort abzuwarten, springe ich noch mal aus dem Auto, mache den Kofferraum auf und suche nach meiner Tasche. Da ist es wieder dieses komische Gefühl, ich drehe mich um und sehe, dass der Typ am Zaun steht und mich beobachtet.
»Die hier?« Meine Mutter zeigt mir die kleine Tasche, wo Wichtig!!! draufsteht.
»Wo war die denn? Na egal«, murmele ich vor mich hin, schließe den Kofferraum und mache es mir auf dem Beifahrersitz so richtig gemütlich. Die Snacks werden gut erreichbar platziert, die Fahrt kann beginnen. Meine Mutter sagt nichts mehr dazu, sie beobachtet mich amüsiert.
»Bist du fertig? Es geht los!!«
»Ja, alles perfekt. Fahr los, ich kann diese blöde Stadt einfach nicht mehr sehen.«
Beim Rausfahren vom Hof sehe ich ihn wieder. Er schaut mir tief in die Augen, dann macht er eine Geste mit seinen Fingern von seinen Augen zu meinen, was wohl so viel heißen muss wie: Ich sehe dich. Keine Ahnung, wer das ist, aber ich kriege jedes Mal eine Gänsehaut, wenn ich den nur sehe, warum nervt der mich jetzt? Das ist schon fast Stalking. Blöder Arsch oder denkt er, er sieht so toll aus? Pff lol, denke ich mir.
»Hast du diesen Typ da gesehen mit den blonden Haaren?«
»Was für ein Typ? Nee, habe ich nicht.«
Ich schaue aus dem Fenster und genieße die Ruhe. Erst jetzt merke ich, wie viele Straßen und Häuser es sind, an denen wir entlangfahren. Ich kann es nicht oft genug sagen, aber ich hasse diese Stadt, diese vielen Autos, den Gestank und den ganzen Dreck hier. Alles sieht irgendwie gleich aus. Ich möchte doch einfach nur auf Gut Rabenfells aufwachsen, wie meine Mutter. Ach, die hatte es gut. Jeden Tag reiten, wann immer sie wollte, und ich, Steinmauern, mein Zimmer und ja gut, meine Freundinnen. Das stimmt, aber ganz ehrlich, hier ist alles grau in grau. Die Leute sind viel zu beschäftigt mit sich selbst, kein nettes Wort, alle sind nur gestresst. Wirklich traurig. Bei Oma ist das ganz anders, sie sind netter, fragen, wie es einem geht und ach … nun bald bin ich da und würde am liebsten dortbleiben. Wie kann ich meiner Mutter klarmachen, dorthin umzuziehen? Oma und Opa wollen es auch.
Ich lehne mich zurück, schaue in den Himmel. Dann kommt das Ortsende Schild, Barsinghausen zu Ende. Jetzt auf die Landstraße, dort beobachte ich verträumt die vielen Bäume am Straßenrand, bis die Keksfabrik kommt, dann die Tankstelle. Wir müssen noch durch drei kleine Ortschaften fahren und dann geht es endlich auf die Autobahn Richtung Frankreich. Ich liebe das Fahren auf der Autobahn, es hat so etwas Beruhigendes auf mich.
Unterwegs zähle ich die Autos oder schaue mir einen Film an. Ein Schild zeigt an, sie verlassen Niedersachsen. Willkommen in Hessen. Ein anderes Bundesland, aber trotz allem ist auch hier alles gleich. Große stinkende Fabriken und nun sind wir auf dem Berg und vor uns liegt Kassel. Auch wieder nur eine Großstadt. Ich bin froh, bald nur noch Natur pur zu haben. Hätte mir jemand gesagt, was mit mir passiert und was mich dieses Jahr erwartet bei meinen Großeltern, ich hätte ihn für geisteskrank abgestempelt. Aber wie immer im Leben ist es gut, dass man nicht alles vorher weiß.
Ab und zu singen wir bei einem Lied mit und nach etwa vier Stunden Fahrt machen wir auf einem Autobahnrastplatz Pause. Wir gehen in der Raststätte etwas essen, denn die Sonne scheint immer noch grell vom Himmel, sodass wir im Auto nicht mal zehn Minuten Pause machen können, ohne sofort klatschnass vom Schweiß zu sein. Wie in der Sahara. Wer hat sich das Schwitzen eigentlich ausgedacht? Völlig störend finde ich diese Porenerleichterung.
»Puh, ist das heiß, ich wünschte, wir hätten hier einen Pool. Ich fühle mich wie ein Gockel im Backofen.«
»Ja, da hast du Recht, aber wir machen gleich wieder die Fenster runter, wenn wir weiterfahren. Sei froh, hier drinnen ist es kühl wegen der Klimaanlage, im Auto ist es wärmer. Aber bald wird es dunkel und dann kühlt es sich etwas ab.«
»Gut, dein Wort in Gottes Ohren, aber das dauert noch Stunden. Bis zweiundzwanzig Uhr ist es noch hell draußen, da wird es noch nichts mit kühler werden. Ich möchte noch ein Eis für unterwegs und kaltes Wasser, viel Wasser. Geht das?«
»Dann kauf mal zwei Liter Wasser und zwei Eis, hier ist Geld. Ich muss nur noch schnell aufs Klo und du?«
»Nein, ich muss nicht. Dann treffen wir uns gleich am Auto oder nein, ich warte lieber hier. Hier ist es kühler.«
Meine Mutter geht auf die Toilette und ich suche mir gerade ein Eis aus. Meine Mutter nimmt immer das Gleiche, Magnum White Chocolate und Cookie, und ich? Hmm ich entscheide mich auch für ein Magnum, heute aber für das Magnum Double Himbeere und Kokosnuss. So, nun noch zwei Liter Wasser und dann gehe ich an die Kasse, um zu bezahlen. Ich stelle mich an den Ausgang und packe mein Eis aus, da kommt meine Ma auf mich zu und gemeinsam gehen wir zurück zum Auto.
Irgendwie geht mir dieser Typ überhaupt nicht aus der Birne. Mein Gott, er ist noch nicht einmal hübsch. Sieht aus wie der gnadenlose Killer mit seinen eiskalten stahlblauen Augen. Irgendwas hat er mit mir gemacht. Ich will nicht an ihn denken. Hau ab, sofort und geh endlich aus meinem Kopf.
Zehn Minuten später sitzen wir wieder im Auto. Das Eis läuft uns gerade über die Finger und wir können gar nicht so schnell lecken, wie es schmilzt.
»Das war eine blöde Idee mit dem Eis, jetzt kleben meine Finger wie Teufel.«
Meine Mutter muss lachen: »Alles halb so wild, schau mal im Handschuhfach nach, da müssen noch Desinfektionstücher sein.«
Ich mache das Fach auf und da fällt mir warme Schokolade vor die Füße: »Igitt, wie eklig ist das denn? Aber hier sind die Tücher, brauchst du auch eines?«
»Ja, gib mir mal eines. Oh, die habe ich ganz vergessen, gib mal her, die schmeiße ich gleich mit weg.«
Als wir das Eis aufgegessen und unsere Finger gereinigt haben, nimmt meine Mutter das ganze Papier und den restlichen Müll und schmeißt alles in die Tonne. Dann geht es weiter, die Fenster runter, bei vollem Durchzug ist die Autofahrt bei etwa fünfunddreißig Grad einfach besser zu ertragen. Gegen zweiundzwanzig Uhr bin ich so kaputt, dass ich einschlafe.
Ich laufe durch einen dunklen Tunnel, er ist nur spärlich beleuchtet. Ich habe Angst, mein Herz schlägt mir bis zum Hals, ich werde von zwei Höllenhunden gejagt. Von einem Tunnel in den nächsten. Sie kommen immer näher und schnappen nach mir. Ich schwitze und ich möchte jetzt am liebsten eine Waffe haben, um mich verteidigen zu können. Wo bin ich hier überhaupt? Was passiert hier mit mir? Wenn nicht gleich Hilfe kommt oder ich einen Ausweg finde, sterbe ich. Das kann doch alles nur ein Traum sein. Ich will aufwachen, jetzt sofort.
Die Hunde sind jetzt schon verdammt nah, mit fletschenden Zähnen und glühend roten Augen hetzen sie immer weiter hinter mir her. Ich stolpere, kann mich aber gerade noch in der letzten Sekunde fangen. Da hinten ist eine Holztür im Felsen, ich muss es bis dahin schaffen und hoffe, sie ist nicht verschlossen. Die Tür lässt sich öffnen, schnell knalle ich sie hinter mir zu und mache den Riegel vor, der da angebracht ist. Ich höre, wie die Bestien ihre Krallen in das Holz schlagen. Ich lehne mich an die Wand. Mein Herz zerspringt beinahe und ich zittere, meine Beine sind wie Gummi. Dann sehe ich mich um, ich stehe in einem kahlen Raum, so wie in einem alten Turm, raue Steinwände mit einer Holzpritsche, in der rechten Ecke ein großes Fenster ohne Glas, wo ein Mädchen auf dem Fenstersims sitzt. Sie hat lange blonde Haare und beobachtet mich. Eigentlich sieht sie so aus wie ich, oder bin ich das? Ich werde bald verrückt.
»Pass auf, dass du da nicht rausfällst.« Ich gehe auf das Mädchen zu und würde gerne mehr über sie erfahren und warum ich hier bin.
»Ich bin Isi«, das Mädchen antwortet mir und lächelt mich an.
»Wer ist Isi? Kenne ich dich?«
»Ich bin die Stimme in deinem Kopf, auf die du nicht hören willst«, ein etwas giftiger Unterton ist da zu hören, aber da reagiere ich nicht drauf.
»Bist du real? Warum siehst du aus wie ich?« Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich will, dass alles sofort aufhört.
Ich möchte die Erscheinung anfassen und schauen, ob es nicht nur Einbildung ist, daher strecke ich die Hand nach ihr aus, aber ich kann sie nicht berühren, meine Hand geht einfach durch sie hindurch.
»Ich muss dir was sagen, du kannst mich nicht anfassen, ich bin nicht wirklich hier, das ist nur eine Illusion. Du bist meine Schwester, meine Zwillingsschwester. Einige böse Menschen wollen verhindern, dass wir zusammenkommen. Du musst mir helfen, ich brauche dich.«
»Warum Illusion, ich sehe dich doch und wieso Schwester? Ich habe keine Schwester. Was um Himmelswillen soll das ganze Getue? Ist das alles ein schlechter Scherz?«
Plötzlich steht dieser super blonde Typ im Raum neben Isi, grinst sie an und ohne ein Wort stößt er sie aus dem Fenster.
»Nein, Nein warum tust du das? Wo verdammt noch mal kommst du her? Wie kommst du hier rein? Was willst du von mir?« Ich verstehe das alles nicht und bin total irritiert. Was soll ich machen?
»Du bist die Nächste, wirst schon sehen meine Süße. Ich muss dich ausschalten.« Dieser Typ kommt immer näher. Ich versuche ihn abzulenken.
»Warum? Was habe ich dir getan?«
»Nichts, du bist einfach nur du.«
»Das gibt dir das Recht, regelrecht Jagd auf mich zu machen?« In meinem Kopf rotiert es, was will dieser kalte Typ von mir? Ich renne zum Fenster und habe plötzlich gar keine Angst mehr vor ihm. Er packt mich am Handgelenk und ich versuche mich aus seiner Umklammerung zu lösen. Wie gut, dass ich den Selbstverteidigungskurs vor ein paar Jahren gemacht habe: »So einfach mache ich dir das nicht!« Ich löse mich mit ein paar Griffen aus der Umklammerung und trete ihm voll in die Eier, er verdreht die Augen und sackt zu Boden.
»Na, wie findest du das Blondy? Einmal so richtig rein in die Glocken. Fühlt sich gut an oder?«
Stöhnend voller Schmerzen krümmt er sich auf dem Boden und hält sich seine Eier, die höchstwahrscheinlich wahnsinnig schmerzen.
»Eins zu null für dich. Du weißt nicht, mit wem du dich hier anlegst und mein Name ist ICE.«
»Oh, ICE. Cool, hätte ich mir denken können bei deiner Ausstrahlung und wer bitte bist du und was soll das hier alles? Warum kannst du sie berühren und meine Hand geht durch sie hindurch?«
»Du hast wirklich keinen Plan richtig? Armes Ding. Ihr dürft nicht vereint werden, du und deine Schwester.«
»Was für eine Schwester? Ich habe keine Schwester zum hundertsten Mal. Du verwechselst mich.«
»Wow, das wird lustig. Denkst du wirklich, das ist alles Zufall? Dass du aussiehst wie Isi? Du hast es gemerkt in der Schule richtig?«
»Was habe ich gemerkt? Als ich dich gesehen habe? Ich hatte nur so ein komisches Gefühl, weiter nichts und du Arsch wolltest mich abstechen.«
Plötzlich steht Isi wieder im Raum.
»Denkst du wirklich, du kannst mich abschütteln, indem du mich aus dem Fenster kickst? ICE, wie sehr hast du dich verändert. Ich bin so enttäuscht, wir waren einmal unzertrennlich über Jahre und wo zum Teufel sind deine Flügel? Du siehst so verändert aus, so kenne ich dich nicht. Hat Dralock das aus dir gemacht?«
»Flügel? Die habe ich schon lange nicht mehr. Seit ich bei Dralock aufgewacht bin, nach deiner Entführung, hatte ich keine mehr und daher sehe ich jetzt so aus.«
»Du hast nicht gemerkt, wie er dich verwandelt hat? Was hat er mit dir gemacht? Ist das ist ein Zauber? Hat er dich so kreiert?«
»Er hat gar nichts mit mir gemacht. Als ich aufgewacht bin, sah ich so aus. Das sagte ich doch gerade.«
»Das ist nicht möglich, ich kenne dich so lange. Du hast immer anders ausgesehen, jetzt bist du ganz anders. Er muss dich irgendwie verwandelt haben. Wie ein eiskalter Engel, wir waren beste Freunde und mehr, oder hast du mir das alles nur vorgespielt?«
Die Betonung liegt auf waren. Jetzt nicht mehr. Egal wie sehr ich dich geliebt habe Isi, bis heute war ich in meinen Gefühlen wie eingefroren, bis sich in der Schule meine und Sonyas Blicke trafen. Das war wie ein Stromschlag durch meinen ganzen Körper.«
»Was willst du damit sagen ICE, dass du jetzt Sonya liebst?«
»Ach Blödsinn. Nein, sie hat irgendwas mit mir gemacht, ich weiß nicht was, aber ich kann auf einmal wieder klarer denken. So habe ich beschlossen, sie nicht zu töten wie Dralock mir aufgetragen hat, sondern nur zu verletzen.«
»Was redest du da für ein wirres Zeug zusammen. Du hättest mich abgestochen, hätte ich nicht meine Freundin umarmt. So hast du meine andere Freundin am Arm verletzt.«
»Das hat er getan? Ich kenne dich gar nicht mehr wieder ICE. Wie kannst du nur, ich bin so sehr von dir enttäuscht und weiß nicht, ob ich dir jemals wieder vertrauen kann. Du Ausgeburt von einem Lügenmaul!« Isi ist sowas von geladen. Wäre sie jetzt real hier, würde sie ihm das Maul regelrecht stopfen.
»Er hat mich in der Hand Isi, ich kann nicht anders. Er sagte mir, dass er meine Mutter bei sich im Kerker hat und drohte mir, wenn ich ihm nicht helfe, dich zu fangen, dass er sie umbringt. Dann hat er mich unter einen Zauber gesetzt. Ich war nicht mehr ich selbst und muss ihm jetzt dienen.«
»Was heuchelst du hier ICE? Du hast mich elendig verraten und mich ans Messer geliefert. Als du zu uns kamst, haben alle gesagt, deine Eltern sind gestorben und nun diese Lüge? Woher weißt du, dass es wirklich deine Mutter ist? Hast du sie gesehen?«
»Nein, habe ich nicht, er lässt mich nicht überall frei hingehen. Ich bin in gewisser Weise auch sein Gefangener.«
»Dann hat er dich genauso belogen und du glaubst ihm? ICE, deine Eltern sind gestorben, da warst du sechs. Du wurdest von meiner Tante zu uns gebracht«, Isi versucht ihm zu verdeutlichen, was die Wahrheit ist, aber er erkennt sie nicht oder will es nicht erkennen.
»Warum lässt du mich nicht in Ruhe, sag ihm, ich wäre tot. Er kann es doch gar nicht kontrollieren.«
»Sonya, du bist wirklich naiv. Er weiß alles, denn er hat einen Kristall, der zeigt ihm alles, was er sehen will.«
»Ich bin Sunny, merkt euch das klar. Sonya nennen mich nur Fremde. Aber gewissermaßen seid ihr ja auch Fremde«, ich kläre die beiden erst einmal auf, wer weiß, was mich mit den beiden noch so zu erwarten hat.
»Bist du dir sicher, er hat einen Zauber auf dich gelegt? Wie soll der zerstört worden sein, wenn du Sonya, äh sorry, Sunny nur anschaust? Sie hat außerhalb unserer Welt gar keine Kräfte«, Isi möchte alles wissen, daher lässt sie nicht locker.
»Isi, das sind zu viele Fragen, die ich selber nicht verstehe und dir auch nicht beantworten kann.«
»Was redest du da Isi, was für Kräfte und wieso außerhalb eurer Welt?« Ich platze gleich, alle reden von mir, als würden sie mich kennen. Bin ich hier im falschen Traum, oder was?
»Ich sage doch, ich konnte nicht anders, der Zauber, den er über mich gelegt hat, war zu stark«, ICE winselt nur noch rum und ich verstehe absolut nur Bahnhof.
»Was redet ihr hier alle? Zauber, Hölle hin oder her. Wer seid ihr?« Ich habe jetzt genug von diesem Gefasel und will aus diesem verrückten Traum endlich aufwachen. Hallo, ich will jetzt aufwachen.
»Das ist eine lange Geschichte und du wirst bald alles erfahren.« Isi hofft, dass ich ihr vertrauen schenke und das tue, was sie mir sagt. Aber warum? Bin ich hier in Wünsch dir was? Alle wünschen sich was und ich muss es dann tun? Ganz bestimmt nicht, da habt ihr euch aber geschnitten.
»Ich muss verhindern, dass du zu uns kommst, du darfst nicht in unsere Welt kommen«, ICE stellt sich zwischen Isi und mir. Dann macht er einen Schritt in meine Richtung und will nach mir greifen. Ich mache einen Schritt nach hinten und weiche ihm aus.
»Das tut mir leid, aber mich bekommst du nicht, ICEMAN. Da musst du früher aufstehen.« Ich springe mit einem Satz auf den Fenstersims, warte nicht lange und dann hinunter in die Tiefe. Damit hat ICE überhaupt nicht gerechnet. Er dreht sich wieder zu Isi um, aber der Raum ist leer.
Es ist schon mitten in der Nacht, als wir ankommen. Ich schlafe tief und fest, in meinem Traum bin ich gerade aus einem Turmfenster in den Burggraben gesprungen. Gerade tauche ich aus dem kalten Wasser auf, als meine Mutter mich zu wecken versucht.
»Sunny, wir sind da, Sunny, hallo du Schlafmütze, wach auf«, ich höre aus weiter Ferne meinen Namen.
Erschrocken fahre ich aus diesem fürchterlichen Traum hoch und in den ersten paar Minuten weiß ich gar nicht, wo ich bin.
»Er will mich töten, hilf mir, dass er mich nicht bekommt. Sie sind dort oben.«
»Wo oben? Schatz, du hast schlecht geträumt. Wir sind schon da, schau Opa und Oma stehen hier vor der Tür und warten, dass du endlich wach wirst.«
Opa John klopft an die Scheibe am Auto. Ich bin plötzlich wieder hellwach, drücke die Tür auf, springe aus dem Auto und falle meinem Opa um den Hals.
»Hallo Opi lein, Mensch habe ich dich und Oma vermisst, kann ich wieder in dem schönen roten Zimmer schlafen?« Ich lasse ihm keine Zeit zu antworten und falle gleich mit der Tür ins Haus.
»Das rote Zimmer haben wir vermietet«, Opa John sagt es so ernst, dass ich es glaube und total enttäuscht bin.
»Ihr habt was? Es vermietet, an wen?« Ich bin etwas irritiert, da sie sonst nie ein Zimmer vermieten.
»Das war doch nur Spaß, wir vermieten doch keine Zimmer«, Opa will mich echt verarschen und das mitten in der Nacht, wie nett. Was für eine Begrüßung. Und wer umarmt mich?«, unterbricht uns nun Oma Flora und endlich kann sie mich wieder ans Herz drücken.
»Och Omi lein, ich habe dich lieb, darf ich, ja?« Ich hopse aufgeregt von einem Bein auf das andere. Opa John lacht über seinen gelungenen Scherz.
»Na klar, mein Schatz, Oma hat doch schon alles vorbereitet für dich.«
»Oh toll, ich bin so glücklich, denn ich liebe dieses Zimmer mit dem dicken Teppich.« Es ist wie für mich gemacht. Ich gehe Arm in Arm mit meiner Oma die Treppen zum Eingang hinauf.
»Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen mein Schatz?«
»Viel zu lange, so etwa sechs Monate, oder was meinst du Oma?«
»Na ja, das kommt schon so etwa hin«, Oma schaut meine Mutter dabei vorwurfsvoll an. Warum in aller Welt macht sie immer so ein Theater, wenn sie hierbleiben soll? Sie ist hier aufgewachsen. Eine schönere Kindheit, als hier wohnen zu können, kann ich mir nicht vorstellen. Besser als in der blöden Stadt.
»Jetzt mach doch nicht immer so ein trauriges Gesicht Mutter, du weißt doch, dass ich auf meine Arbeit angewiesen bin«, meine Mutter verteidigt sich immer wieder mit der gleichen Leier. Aber sie kann doch auch hier arbeiten. Ich verstehe das auch nicht, als wenn es etwas gibt, wovor sie flüchtet.
»Ja, ja, ist schon gut, dass weiß ich doch, nur würde ich euch beide gerne wieder hier zu Hause haben, wie früher.« Meine Oma versucht meine Mutter nun schon seit über zehn Jahre dazu zu bewegen, endlich wieder nach Hause zu kommen. Meine Mutter atmet tief ein und ich sehe ihr an, dass es sie beschäftigt, aber sie sagt kein Wort: »Ich weiß Mama, aber das geht jetzt nicht, bitte hör auf mich zu drängen. Irgendwann vielleicht.«
»Hallo, ich gehe jetzt nach oben oder braucht ihr mich noch?« Ich rede absichtlich dazwischen, um die Unterhaltung zwischen meiner Mutter und Oma zu unterbrechen. Ich hasse es, wenn sie sich streiten.
»Na sicher, lauf schon, ich komme gleich hoch«, meint mein Opa und ich renne schon mal die Treppe hinauf in mein Zimmer. Ich liebe es total, es hat ein riesengroßes Fenster, von wo man über die Weiden bis hin zum Wald schauen kann. Oft sitze ich dann im Fenster auf der großen Fensterbank und träume vor mich hin. Die Wände haben ein leuchtendes sattes Rot und einen leicht rötlichen glänzenden Holzfußboden. Das Beste ist der dicke weiße Teppich, der so weich ist, dass man darin versinkt und denkt, man liegt auf einer flauschigen Wolke. Gleich neben der Tür steht eine Kommode mit dazugehörigem Spiegel und einem kleinen Hocker. Gegenüber vom Fenster steht ein großes, schneeweißes Himmelbett. Darauf liegt meine Lieblingskuscheldecke in Rosa. Ein riesiger Schrank steht auf der anderen Seite neben dem Fenster. Der Schrank ist so groß, dass man darin ohne weiteres schlafen könnte. Alle Möbel haben die gleiche schneeweiße Farbe, was ich so toll finde. Das Fenster wird von einem hellgelben leichten Vorhang umrahmt.
Nun sitze ich, mit einem dicken, gelben Kissen auf der Fensterbank und schaue in die dunkle Nacht, zu den vielen Sternen hinauf und dem leuchtenden Mond. Ich bin ganz in Gedanken und lasse noch einmal diesen Tag Revue passieren. Ich kann so vieles einfach nicht verstehen, dieses Mädchen, spricht es die Wahrheit? Sie sagt, sie ist meine Schwester, wie kann das sein?
Mein Opa kommt leise ins Zimmer und unterbricht meine Gedanken. Er stellt die große Tasche vor das Bett: »Na, mein Engel, hast du Hunger auf ein paar leckere Spiegeleier mit Schinken?«
Ich falle erschrocken von der Fensterbank, mit einem dumpfen Dong sitze ich auf dem Fußboden.
»Ach Opa, hast du mich jetzt aber erschreckt, klar doch, immer, das fragst du noch? Du weißt doch, dazu kann ich nicht nein sagen.«
»Ihr Kinder wisst ja nie so genau, was ihr wollt, oder?«
»Hey, willst du mich veräppeln? Wie lange kennst du mich? Denkst du, ich ändere alle meine Vorlieben, komplett alles, in sechs Monaten, die wir uns nicht sehen?« Ich schaue ihn an und sehe die kleinen Lachfältchen um seine Augen. Dann müssen wir beide darüber lachen. Gemeinsam gehen wir nach unten in die große Küche, wo der Tisch schon gedeckt ist. Es gibt Spiegeleier mit Schinken, Salat, Käse, Wurst, frisch gebackenes Brot – es ist noch richtig warm – und süßen Tee und das alles um Mitternacht. Als wir alle am Tisch sitzen und uns über die leckeren Sachen hermachen, wird noch über dieses und jenes geplaudert. Die Großeltern fragen natürlich auch nach der Schule, wie ich es dort finde, ob die Lehrer nett sind, ob es mir denn auch Spaß macht und natürlich, wie mein Zeugnis ausgefallen ist.
»Sunny, erzähl uns mal, wie deine neuen Lehrer sind. Immerhin habt ihr doch zwei ganz neue im letzten Schuljahr bekommen. So wie ich gehört habe.«
»Ach Frau Müller ist super bis auf den blöden Herrn Bock, der mag mich nicht. Bei dem kann ich mich anstrengen, wie ich will, aber er gibt mir trotzdem keine Eins.«
»Apropos Zwei, wie ist denn dein Zeugnis ausgefallen? Du wolltest dich doch anstrengen, um deine sogenannten schlechten Zweien auszubügeln, hat es geklappt?«, fragt mein Opa neugierig.
»Jep, ich habe überall, bis auf Chemie, eine Eins. Wie gesagt, Herr Bock mag mich nicht.«
»Aber eine Zwei ist doch auch ganz gut.« Meine Oma versteht nicht, dass ich diese Eins verdient habe. Ich habe so hart dafür gearbeitet. Es ist ja nicht so wie Mathe. Aber Chemie ist mein Lieblingsfach, da versuche ich immer alles zu geben, aber mit diesem Lehrer stehe ich auf Kriegsfuß.
»Ich kann mich bei ihm anstrengen, wie ich will. Bock sagt schon alles. Null Bock eben.«
»Soll ich mal mit ihm reden? Wer weiß, vielleicht ändert er seine Meinung. Immerhin bin ich vom Fach und kann mal in ihn reinfühlen.« Auch das noch, wie peinlich ist das denn, wenn die Mutter ankommt und mit einem Lehrer reden will. Sie versteht einfach nicht, dass es bei diesem Lehrer sinnlos ist, zu reden.
»Nein, lass das, er ist ein kompletter Ar…« Ich kann mir noch schnell auf die Zunge beißen, damit Arsch nicht rauskommt. Meine Großeltern hassen diese Wörter, sie sind in einer ganz anderen Generation aufgewachsen und mögen es überhauptnicht, wenn ich diese Wörter benutze und das muss ich einfach akzeptieren. Ich hatte schon viele Gespräche diesbezüglich mit meinem Opa, aber er bleibt hart. Wenn ich so rede, spricht er nicht mehr mit mir, das will ich auch nicht. Er sagt immer, diese Gossensprache kann ich zu Hause lassen, wenn ich hierherkomme. Also klein beigeben und damit habe ich normalerweise auch kein Problem. Nur wenn ich mich über etwas ärgere, rutscht es mir manchmal einfach aus dem Mund.
Mittlerweile werde ich immer ruhiger und man sieht mir die Müdigkeit so richtig an. Oma sagt etwas, aber das ist schon sehr weit weg: »Sonya, die Steffi hat auch schon nach dir gefragt, wann du kommst. Sie wird morgen gegen Mittag rüberkommen und bleibt zum Essen.«
Einen kurzen Moment werde ich etwas wacher, wie ich den Namen Steffi höre, meine allerbeste Freundin: »Supi Oma, können wir dann mit den Ponys zum Teich reiten?« Meine Augen fangen kurz an zu leuchten, ich liebe meine Ponys über alles. Sie sind auch immer das, was ich am meisten vermisse, wenn ich wieder nach Hause fahre. Schnell sind meine Augen wieder schwer wie Blei.
Nun meldet sich mein Opa zu Wort, denn er bemerkt, wie müde ich bin: »Besser du gehst ins Bett, junge Dame, morgen ist wieder ein neuer Tag.«
»Ja, du hast Recht, ich gehe dann jetzt hoch ins Bett, sonst schlafe ich gleich hier am Tisch ein. Gute Nacht.« Ich bin todmüde, gebe allen noch einen flüchtigen Gutenachtkuss, drehe mich auf dem Absatz um und gehe zur Tür.
»Soll ich dich noch ins Bett bringen?«, fragt meine Mutter und will schon aufstehen.
»Nö, ich schaffe das mittlerweile schon alleine, bin doch schon groß, Mama«, antworte ich kurz angebunden und keine Minute später bin ich verschwunden. Ich schaffe es gerade noch, die Zähne zu putzen und das Nacht-T-Shirt anzuziehen, doch dann falle ich total erschöpft ins Bett.
Anne meint zu ihren Eltern: »Es war ja auch ein richtig anstrengender Tag heute für Sunny. Erst die Schule und dann noch die lange Autofahrt bei der Hitze. Kein Wunder, dass sie todmüde ist. Schau, mittlerweile ist es schon weit nach Mitternacht.«
Meine Oma nickt nur und mein Opa meint, er würde gerne nochmal nach mir schauen, ob ich richtig zugedeckt sei.
»Du bist ja echt süß, wie du dich um sie kümmerst. Ein richtiger Schatz.« Meine Oma liebt meinen Opa so sehr. So viele Jahre sind sie schon verheiratet und lieben sich noch immer wie am ersten Tag. Die Wahrheit ist, mein Opa liebt mich über alles und würde immer alles für mich tun, er sagt es zwar nicht, aber alle wissen es. Mutter und Tochter sehen hinter meinem Opa her, wie er die Treppe raufgeht und lächelt. Er macht leise die Tür auf, schaut ins Zimmer, kommt an mein Bett und deckt mich noch einmal richtig zu. Dann gibt er mir noch einen Kuss auf die Stirn, aber ich merke es gar nicht mehr, denn ich bin schon tief und fest eingeschlafen. Ich murmele nur noch etwas wie:
»Ja, das ist schön, danke ja, mach ich gleich.« Dann plötzlich: »Geht weg, ich habe keine Schwester, was wollt ihr von mir? Ich glaube euch nicht.«
Mein Opa bekommt eine seiner dicken Sorgenfalten auf der Stirn und geht nachdenklich wieder zur Tür. Er schaut sich noch einmal kurz nach mir um und geht dann leise wieder aus dem Zimmer.
Unten angekommen erzählt er, was er gerade gehört hat. Anne scheint etwas nervös zu werden und wird ganz blass. Meiner Oma liegt noch etwas auf dem Herzen, sie bemerkt die plötzlich nervöse Stimmung ihrer Tochter und entscheidet sich, das Thema nochmal anzusprechen. Sie hat es schon öfter angesprochen, aber nie wirklich eine Antwort erhalten.
»Warum sollte sie so was sagen? Das ist doch nur ein Traum, da redet man öfters wirre Sachen.« Damit ist die Sache für meine Mutter erst einmal erledigt.
»Anne, bist du sicher, dass du uns damals die ganze Wahrheit erzählt hast? Es gibt immer noch Fragen, die du uns nie beantwortet hast.«
»Was für eine Wahrheit und was für Fragen? Was wollt ihr eigentlich von mir? Mutter, du siehst weiße Mäuse, ich bin müde, morgen sieht alles wieder gut aus.« Sie umarmt ihre Eltern und ohne ein Wort abzuwarten, dreht sie sich um und geht aus der Küche, den Flur entlang in ihr altes Zimmer.
An einem Sommerabend vor acht Jahren:
Schwarze Wolken ziehen vor die Sonne und es wird schlagartig dunkel, der aufsteigende Sturm biegt alle Bäume hin und her, der Regen peitscht nur so auf die Erde. In nur wenigen Minuten entsteht aus dem schönen Sommerabend ein furchtbares Gewitter. Oma Flora, Opa John und Arthur, der Stallbursche, rennen mit Regencapes und Stricken bewaffnet auf die Weide, um die Pferde wegen des furchtbaren Gewitters in den Stall zu holen. Plötzlich hören sie hinten am Zaun ein leises, ängstliches, sich immer wiederholendes Wiehern. Beim nächsten Blitz, der über den Himmel zuckt, sehen sie, wie ein Pony verstört hin- und her irrt.
»Bei Gott, was ist denn das Flora? Das kann doch wohl nicht wahr sein, wie kommt der denn hierher? Aber schau, da stimmt etwas nicht.«
»Keine Ahnung John, ich sehe kaum etwas, es ist verdammt dunkel. Es ist wohl besser, wir fangen ihn ein und bringen ihn in den Stall, dann sehen wir weiter.«
»Arthur, nimm die beiden bitte auch mit in den Stall, ich versuche den kleinen am Zaun, zusammen mit Flora, einzufangen, aber komm bitte gleich wieder. Ach, bring den Pick-up mit, damit wir Licht haben, irgendwas stimmt da nicht. Vielleicht brauchen wir die Winde.«
»Alles klar, Chef.«
Arthur läuft mit allen sechs Pferden im Laufschritt über die Weide in den Stall. Mittlerweile sind John und Flora bei dem ängstlichen Pony angekommen, der nächste Blitz zuckt über den Himmel und sie können kurz sehen, was passiert ist. Beide sind total schockiert, als sie sehen, dass ein zweites Pony unter einem dicken Ast liegt und schwere Wunden trägt. Flora geht langsam zu dem verletzten Pony und redet sanft auf ihn ein. Sie versucht, den Ast wegzuschieben, aber er ist zu schwer.
»Flora, pass auf, nicht, dass noch ein Ast runterkommt und dich auch noch erwischt. Lass ihn so liegen, das schaffen wir nicht alleine.«
»Ach, es wird schon nichts passieren. John. Ich frage mich eher, was hier passiert ist und wer so etwas nur macht. Die sind ja richtig abgemagert, können sich kaum noch richtig auf den Beinen halten.«
»Wenn ich den in die Finger kriege, ist er dran. Der gehört ins Gefängnis und selbst das wäre noch zu wenig. Das ist ja Tierquälerei, nein schlimmer, es ist Tierschändung vom Feinsten.«
Arthur kommt über die Weide gefahren und im Lichtkegel sehen sie die ganze Bescherung.