Sophie - Grazyna Bednarczyk - E-Book

Sophie E-Book

Grazyna Bednarczyk

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Beschreibung

Sophie, eine 15-jährige Jugendliche, lebt in einer kleinbürgerlichen Stadt in Polen. Sie hat einen großen Traum: Sie möchte ein Archäologiestudium an der Warschauer Universität absolvieren. Sophie ist mutig und sehr zielstrebig. Und so zieht sie, um ihren Traum zu verwirklichen, nach Breslau, wo sie zunächst ihre Ausbildung in einem außergewöhnlichen Beruf zur Technikerin der Geologie machen möchte. So beginnt sie, ganz allein auf sich gestellt, in einer fremden Stadt ein neues Leben, fernab von ihren Eltern. Neue Freundschaften und für sie neue feministische Ideologien warten auf sie. Sophie erlebt eine sorglose Zeit und genießt ihre Freiheit. Doch während es Sophie gut geht und sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt, bahnen sich in ihrem Elternhaus dramatische Veränderungen an, mit denen sie nie gerechnet hatte und die ihre Träume infrage stellen. Noch ahnt sie nicht, was das Schicksal für sie bereithält. "Sophie - One-Way-Ticket nach Berlin" ist ein bewegender Roman, voller Leidenschaft und Tiefe. Er ist reich an authentischen, ergreifenden Erlebnissen und Erfahrungen. Der Roman spielt in Polen während des sozialistischen Regimes in den 1970/80er-Jahren. Zu dieser Zeit herrschte eine Wirtschaftskrise und es war der Anfang der Gewerkschaftsbewegung "Solidarnosc".

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Anmerkung

Diese Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten.

Die Namen der Personen und einiger Orte wurden geändert.

Für meine Söhne

Inhalt

Der Abschied

Einige Jahre zuvor

Der Herzenswunsch

Start in die Zukunft

Schulbeginn

Neue Freundschaften

Andreasabend

Der Brief

Besonnte Zeit

Fatale Reise zu Tante Annemarie

Unvergessliches Praktikum

Gescheiterte Freundschaft

Gewissensbisse

Besuch im Elternhaus

Zweiter Andreasabend

Verzaubert

Verstörende Silvesternacht

Die Falle

Hin- und hergerissen

Das Wunder

Vier Eier zu Weihnachten

Folgenschwerer Vorfall

Der Schulabschluss

Die letzten Sommerferien

Mit dem Winde verweht

Sehnsüchte

Komplikationen

Jung gefreit, gleich gereut

Die Entpuppung

Antonis Geburt

Das Geschenk

Der Sprung

Der Fremdling

Verschlossene Tür

Unterschiede

Wenn er nicht da ist

Gutes Recht

Rückblick

Nikolaus‘ Geburt und Großmutters Offenbarung

Mütterliches Glück

Entwicklungen im Elternhaus

Verhängnisvolles Tanzen

Gerechtigkeit

Sieg und Niederlage

Mysteriöse Weihnachten

Verborgene Gefühle

Drei Jahre und achteinhalb Monate danach

Der Aufbruch

Danksagung

Glossar

Literaturverzeichnis

Der Abschied

Es war ein schöner, sonniger Septembertag. Die Vormittagssonne erwärmte die um diese Zeit noch etwas frische Luft bereits, lediglich ein paar vereinzelte Wolken trübten den blauen, friedlichen Himmel. Ein leichter, spätsommerlicher Wind streichelte angenehm Sophies Gesicht. Das Gefühl der Freude und einer unbegreiflichen Leichtigkeit erfüllte ihr Herz. Sophie stand an einem Punkt ihres Lebens, an dem sich alles ändern sollte. Sie würde ihre Zukunft beginnen – in dem Augenblick, in dem Moment, in dem sie in den Zug steigen und ihr bisheriges Leben endgültig hinter sich lassen würde, würde sie ihre neue, noch unbekannte, doch schon jetzt so vielversprechende Zukunft beginnen. Ungeduldig wartete Sophie am Bahnsteig auf den Zug, der sie in diese rosige Zukunft bringen soll, in die ihr unmittelbar bevorstehende abenteuerliche Zukunft, auf die sie grenzenlos vertraute. Sophie nahm Abschied von ihrem Zuhause und ihrer Familie, fühlte aber keine Traurigkeit darüber – ganz im Gegenteil! – sie fühlte sich erleichtert, als ob ihr bisheriges Leben wie eine Last von ihr fiel. Ihr altes Leben hatte sie erdrückt. Voller Zuversicht und Freude fühlte sich Sophie einfach nur noch frei – und dieses eine Wort: Freisein! – wollte sie ganz laut hinausschreien, so laut, dass der Schrei alles andere übertönen würde. Gänzlich erfüllt von der Leichtigkeit des Freiseins hatte sie das Gefühl, beinahe fliegen zu können, als ob ihr Körper kein Gewicht mehr hätte. Sie war unendlich glücklich.

Sophies langes, fuchsrotes Haar, das sie an diesem Tag offen trug, flatterte leicht im Wind und leuchtete rötlich golden in der warmen Vormittagssonne. Sie trug ein weißes und mit vielen dezenten, blauen Blümchen bedrucktes Kleid. Mehrere Gummizüge zwischen Taille und Brust umfassten betonend ihren schmalen Körper. Das Dekolleté war offen und nur schmale Riemchen schmückten ihre Schultern. Der betonierte und stählerne Bahnhof war kühl, sodass es sie leicht fröstelte. Der Zug verspätete sich und mit jeder Minute des Wartens wuchs Sophies Aufregung. Angestrengt spähte sie in die Richtung, aus der der Zug einfahren sollte, und bildete sich abermals ein, ihn in der fernen Weite tatsächlich bereits erkennen zu können. Der Bahnsteig war fast menschenleer, lediglich einige wenige Personen standen auf dem relativ kurzen Bahnsteig verteilt. Doch sie schienen nicht reisen zu wollen, denn sie hatten kein Gepäck dabei, vermutlich holten sie nur ihre Verwandten oder Freunde ab. Aber abgesehen von den ungeduldig nach dem Zug, der schon über eine halbe Stunde Verspätung hatte, Ausschau haltenden Fremden, wartete Sophie nicht allein auf dem Bahnsteig. Sie hatte ihre beiden Kinder, die sie niemals zurücklassen würde, bei sich, und ihr Vater war auch da. Er hatte sie zum Bahnhof gebracht und ihr Gepäck getragen. Sophie hielt ihre Jungen fest an den Händen.

Sophies Vater war an diesem Tag anders als sonst, stiller, nachdenklicher, sie sprachen kaum miteinander. Er stand auf dem Bahnsteig neben ihr und wartete mit ihr auf den Zug, der seine Tochter und seine Enkelkinder von ihm fortbringen sollte. Er schaute auf die Jungen und sprach hin und wieder mit ihnen. Mit Mühe versuchte er, mit ihnen zu spaßen, immer wieder seinen Kopf zur Seite wendend, um seine Tränen zu verbergen, die sich unaufhaltbar in seine Augen drängten und die stärker waren als sein Schamgefühl.

Schließlich vernahm Sophie die ihr so vertrauten Zuggeräusche aus der Ferne, das aufregende, rhythmische, immer lauter werdende Rumpeln des Zugfahrwerks, das etwas Neues und Abenteuerliches versprach. Der Zug näherte sich und die Ansage des Bahnhofspersonals dröhnte laut durch die Lautsprecher: „Achtung! Achtung! Der Zug aus Krakau nach Berlin fährt auf Gleis vier am Bahnsteig zwei ein. Achtung! Achtung! Der Zug aus Krakau nach Berlin fährt auf Gleis vier am Bahnsteig zwei ein.“

Augenblicklich schien Sophie eine Mischung aus Eile, Aufregung und Angst zu überwältigen. Ihr Vater hatte für sie und ihre Kinder Fahrscheine mit reservierten Sitzplätzen für die erste Klasse gekauft. Sophie konzentrierte sich auf die schnell einfahrenden Waggons und versuchte fieberhaft die Waggonnummern zu erkennen, um den entsprechenden Waggon zu finden und schnell zu ihm zu gelangen, denn der Zug hielt in Glogau nur einige wenige Minuten – zu kurz, um in aller Ruhe einsteigen zu können. Es ging alles blitzschnell. Den richtigen Waggon sah sie auf Anhieb. Dieser fuhr an ihr vorbei, um weiter vorne anzuhalten. Sie rannte mit ihren Kindern zu diesem Waggon, drehte sich nach ihrem Vater um, blieb vor dem Waggon einen kurzen Moment stehen, bis dieser endlich zum Stillstand kam, und wandte ihre ganze Kraft auf, um die schwergängige Waggontür zu öffnen. Ihr Vater kam mit dem Gepäck rasch nach. Er verabschiedete sich von seinen Enkelsöhnen, die die Arme nach ihm ausstreckten.

„Kommt, gebt eurem Opa einen Kuss“, bat er.

Die beiden Kinder küssten ihn gehorsam auf den Mund und schauten sich nach der Mutter um. Dann verabschiedete sich auch Sophie von ihrem Vater. Sie umarmte und küsste ihn verlegen auf die Wangen. Dann ließ sie ihre Kinder zuerst in den Waggon einsteigen, doch sie waren zu klein, um die hohen Stufen problemlos bewältigen zu können, daher hob Sophie sie nacheinander hoch und setzte sie in den Zug. Dann stieg sie selbst ein und nahm das Gepäck entgegen. Sie schob ihre Kinder vor sich in den engen Gang des Waggons und suchte aufgeregt das entsprechende Abteil mit den auf den Platzkarten angegebenen Sitzplätzen. Nachdem sie es gefunden hatte, legte sie die Koffer eilig auf der Sitzbank ab und versuchte vergeblich das kleine, schmale Fenster zu öffnen, um mit ihrem Vater noch ein paar Worte wechseln zu können. Ihr Vater stand auf dem Bahnsteig ganz allein und kam ihr traurig, klein und einsam vor. Sie schaute ihm durch das Abteilfenster zu und sah, wie ihm die Tränen die Wangen herabflossen. Er schämte sich seiner Tränen, schnaubte kurz und wandte sein Gesicht zur Seite. Es war ein seltsamer Moment, sie konnten sich nichts mehr sagen, sie standen nur so da und schauten sich an, doch dann wandten sie ihre Blicke zur Seite, als ob sie etwas zu verbergen hätten, aber ab und zu begegneten sich ihre Blicke doch und diese Augenblicke hatten etwas Herzliches, Gefühlvolles in sich. Sie versuchten sich noch ein paar Worte zuzurufen, aber es gelang ihnen nicht. Durch das geschlossene Fenster konnten weder Sophie noch ihr Vater etwas verstehen und Sophie kam es vor, als ob sie in einer Kapsel eingeschlossen wäre, in der man absolut nichts mehr von der Außenwelt wahrnehmen konnte. Sie strengte sich so sehr an, um die Worte ihres Vaters zu verstehen, von seinen Lippen ablesen zu können, aber sie schaffte es nicht. Plötzlich fuhr der Zug an und sie winkten sich noch ein letztes Mal zum Abschied. Sophies Vater blieb auf dem Bahnsteig zurück – wurde immer kleiner, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte und er in der Ferne verschwand.

***

Das Abteil war leer. Die Kinder nahmen beide sich gegenüberliegende Sitze am Fenster ein und schauten gespannt durch das Fenster hinaus, wie die Bilder der Außenwelt vorbei streiften, erst langsam, dann etwas schneller, noch schneller und schließlich im schnellen, konstanten Tempo an ihnen vorbeizogen. Sie lauschten den zuversichtlichen, taktmäßigen Geräuschen des Zugfahrwerks: tadadammm, tadadammm, tadadamm, und schienen sehr neugierig zu sein. Sophie verstaute ihre beiden Koffer auf dem dafür vorgesehenen, über den Sitzbänken angebrachtem Gepäckgitter. Ihr Handgepäck ließ sie neben sich auf der Sitzbank. „Jetzt ist es soweit“, dachte sie, „jetzt fahren wir in unsere Zukunft, in ein fremdes Land, um dort ein neues, besseres Leben aufzubauen“. Sie fuhr nach Deutschland – in das Land ihrer Ahnen, kehrte in die Heimat zurück, die ihre Vorfahren vor beinahe 300 Jahren verlassen hatten, um für sich und ihre Söhne ein bisschen Glück in einem fremden Land zu finden.

Die Kinder waren ruhig, sie unterhielten sich miteinander und stritten diesmal nicht. Nach einer Weile, als ihnen die Landschaftsbilder hinter dem Abteilfenster zu langweilig wurden, fingen sie an, mit ihren kleinen Plastikautos zu spielen und über die Sitze und die kleine Tischablage am Fenster zu fahren, in Kurven, abbremsend, dann wieder schneller und schneller werdend. Und dann kollidierten sie miteinander, wobei die Jungs die typischen Begleitgeräusche nachmachten: „Brumm, brumm, bruuuuum, äääääääh, quietschkrach, kawumm!“

Sophie lehnte sich bequem zurück und hörte den Spielgeräuschen ihrer Jungen zu. Der Abschied war vorüber, das war das Schwierigste an diesem Tag, ihre Aufregung hatte sich gelegt, sie fühlte sich gut und gab sich vertrauensvoll der mehrere Stunden dauernden Fahrt hin, bewunderte die vorbeigleitenden, eindrucksvollen Landschaften und versank in Erinnerungen.

Einige Jahre zuvor

Sophie war 15. Sie war ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern in einer neu erbauten Blocksiedlung in Glogau. Glogau war zu jener Zeit eine kleine Stadt mit ca. 40.000 Einwohnern, gelegen in Niederschlesien. Ihre Eltern arbeiteten in der Glogauer Kupferhütte, wie die meisten Erwachsenen aus der Siedlung. Sophie besuchte damals die achte Klasse der Grundschule (das damalige Schulsystem in Polen umfasste acht Klassen der Grundschule) und gehörte zu den besten Schülern und Schülerinnen. Sie war die Dritt- bzw. sogar die Zweitbeste, was sie jedoch nicht unbedingt ihrer Intelligenz, sondern vielmehr ihrem Ehrgeiz verdankte. Als ein ernstes, pflichtbewusstes Mädchen arbeitete sie strebsam und machte stets ihre Hausaufgaben, sammelte sehr gute Noten und nahm an Olympiaden in Polnisch und Mathematik teil. Es gab keinen Tag, an dem sie unvorbereitet die Schule besuchte, eher wäre sie der Schule fern geblieben, als dass sie sich der Gefahr einer Blamage ausgesetzt hätte. In ihrem Elternhaus verfügte sie über ihr eigenes Zimmer, hatte keine weiteren Verpflichtungen und daher für das Erbringen von sehr guten schulischen Leistungen die besten Voraussetzungen. Obwohl Sophie Freundinnen hatte, war sie in Wirklichkeit eine Einzelgängerin. Sie verstand sich zwar mit allen relativ gut, verbrachte aber nicht unbedingt ihre Freizeit mit ihnen. Sie war gern allein und fühlte sich deshalb nicht einsam. Sophie war zurückhaltend, teilweise verschlossen und mochte nicht auffallen. Mit ihren 158 cm Körpergröße war sie eins der kleineren Mädchen in der Klasse. Sie hatte langes, fuchsrotes Haar, das sie am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, und war auf ihre etwas breiteren, dichten Augenbrauen richtig stolz. Ihre Augen hatten einen graugrünen Farbton, ihre Lippen waren schmal. Die kleinen Finger ihrer beiden Hände waren etwas zum Herzfinger hingebogen – ihre Mutter sagte ihr, als Sophie noch klein war, solche krummen Finger hätten nur begabte Menschen. Sophie hatte damals nicht wirklich daran geglaubt, aber es weckte Hoffnung in ihr, vielleicht war sie tatsächlich begabt, nur wusste sie es noch nicht. Nun kam die Zeit, ihre Begabung auf die Probe zu stellen, denn in ihrem Herz war ein gewichtiges Vorhaben gewachsen, das ihr Leben grundlegend ändern sollte und dessen Verwirklichung von ihrer Begabung und Ausdauer abhängen würde.

Der Herzenswunsch

Eines herrlichen, obwohl frischen Frühlingstags, kam Sophie nach der Schule nach Hause. Ihre Eltern waren noch nicht von der Arbeit zurückgekehrt. An diesem Tag beschloss Sophie ihren Wunsch, in Breslau Geologie zu lernen, ihren Eltern preiszugeben. Sie war sich nicht sicher, wie sie reagieren würden, und machte sich Sorgen, sie würden es ihr verbieten, schließlich war sie erst 15, doch sie wünschte sich nichts mehr, als nach Breslau zu gehen, dort ihre Ausbildung in einem außergewöhnlichen Beruf zur Technikerin der Geologie zu absolvieren und danach nach Warschau zu ziehen, um an der Warschauer Universität Archäologie zu studieren. Diesen Plan hatte sie sich für ihr Leben ausgedacht. Und sie hatte sich fest vorgenommen, ihn zu verwirklichen. Allein die Tatsache in einer großen Stadt wie Breslau eine Fachoberschule zu besuchen oder gar danach in Warschau zu studieren, war etwas ganz Besonderes! Möglicherweise war sie das einzige Mädchen aus der ganzen Schule oder sogar aus dem gesamten Ort, das ihre Heimatstadt im Alter von 15 Jahren verlassen und in eine fremde Stadt ziehen würde. Breslau war eine sehr große Stadt, eine der größten in Polen, ca. 120 km von Glogau entfernt. Dort gab es ein Technikum mit der Fachrichtung Geologie, für die sich Sophie entschieden hatte. Ursprünglich wollte sie Archäologie lernen, aber es gab keine Berufsschule mit dieser Fachrichtung, daher würde sie zuerst ihre geologische Ausbildung absolvieren und danach Archäologie studieren, und zwar entweder Ägyptologie oder präkolumbisches Amerika, beides hatte sie unglaublich begeistert.

Sophie hörte, wie sich das Schloss in der Wohnungstür bewegte, die Tür geöffnet wurde und ihre Eltern herein kamen.

„Hallo, Mama! Hallo, Papa!“, rief Sophie ihren Eltern entgegen und merkte sofort, dass diese erst einmal mit dem Ankommen beschäftigt waren. Ihre Eltern waren früh aufgestanden und hatten einen langen Arbeitstag hinter sich, weswegen sie ziemlich erschöpft wirkten. Sie zogen ihre Schuhe und Jacken aus und legten ihre Habseligkeiten ab. Sophie traute sich nicht, die Eltern mit der neuen Nachricht so plötzlich zu überraschen und wartete auf einen passenden Moment. Dieser kam nach dem Abendbrot. Sie hatten in der Küche an dem kleinen Küchentisch, der am Fenster stand, zu Abend gegessen. Durch das Küchenfenster konnte man die Grünanlage mit dem kleinen Kinderspielplatz, den in einiger Entfernung versetzt gegenüberstehenden Wohnblock, die Straße dahinter und die Fundamente der neuen Kirche auf der anderen Seite dieser Straße sehen. Nach dem Essen räumte die Mutter das Geschirr weg und der Vater wollte gerade die Küche verlassen, als Sophie die Eltern mit ihrer Nachricht überraschte:

„Ich möchte nach Breslau auf die Oberschule gehen …“, hatte Sophie ganz vorsichtig angefangen, „… dort ist eine Fachoberschule, in der ich Geologie lernen kann und danach will ich Archäologie studieren“, fügte sie hinzu.

Einen kurzen Moment lang breitete sich absolute Stille aus. Die Mutter hielt noch das Geschirr in der Hand, als sie ihren erschrockenen, fragenden Blick auf den Vater richtete. Sie sagte nichts. Der Vater blieb stehen und überlegte einen kurzen Augenblick.

„Warum nicht? Wenn du willst …“, willigte der Vater, entgegen Sophies Befürchtung, ein.

Doch Sophie konnte ihm ansehen, dass er nicht besonders froh darüber war, denn sein Blick war ausdruckslos. Die Mutter erstarrte, war sprachlos und konnte es nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Als ob Sophies Idee absolut blödsinnig, unerhört und völlig illusorisch wäre. Wie konnte der Vater bloß sofort, unbesorgt und unüberlegt solch einer Idee zustimmen?

„Wie stellst du dir das vor? Wo willst du dort denn wohnen?“, fragte die Mutter plötzlich immer noch fassungslos, als ob allein diese beiden Fragen alle Gefahren und Hindernisse offen legen und etwas ändern könnten.

„Das weiß ich noch nicht“, entgegnete Sophie zwar etwas leise, denn darüber hatte sie sich bisher keine besonderen Gedanken gemacht. Aber sie fühlte sich sicher, denn ihr Vater hatte diesen Entschluss gar nicht so außergewöhnlich gefunden und hatte im Grunde seine Einwilligung erteilt. Das war das Wichtigste, dass sie die Zustimmung bereits hatte, denn sie wusste, dass sich die Mutter besänftigen lassen würde.

An diesem Tag wurde nicht mehr über Sophies aufregendes Vorhaben gesprochen. Der Vater verhielt sich wie sonst immer, nur die Mutter schien etwas gekränkt zu sein. Vielleicht war sie mit dem Vater böse und machte ihn für diese Entwicklung verantwortlich, denn schließlich war er es, der Sophie ein Buch geschenkt hatte, das sie von den ersten Seiten an verzaubert und den ersten Grundstein für ihren weiteren Weg gelegt hatte. Es war ein äußerst interessantes Buch: „Roman der Archäologie“ von C. W. Ceram mit dem Titel „Götter, Gräber und Gelehrte“, das Sophie jede Zeit raubte. Sie las es, oder besser gesagt, verschlang es in der Schule während des Unterrichts, das Buch auf dem Schoß versteckt unter der Schulbank haltend, sie las es während der Pause, zu Hause beim Essen, vor dem Schlafengehen und sonst zu jeder Sekunde, zu der das Lesen möglich war. Sophie hatte sich in die Archäologie verliebt, sie träumte von Reisen und Ausgrabungen – und diesem Traum folgend, wagte sie den Schritt, ihr Elternhaus zu verlassen und in die große Welt zu ziehen.

***

Mit der Zeit war es so selbstverständlich, dass Sophie nach Breslau gehen würde, dass niemand auch den kleinsten Versuch unternommen hatte, sie davon abzuhalten, sodass das Thema eher gemieden wurde. Dennoch hoffte die Mutter, die Zeit würde eine Lösung bringen und ihre Tochter ihren Traum vielleicht vergessen. Und so sprach niemand mehr darüber und die Eltern kehrten zur Normalität zurück. Sophie hatte aber mit der Fachoberschule, für die sie sich entschieden hatte, bereits Kontakt aufgenommen und einen formlosen Antrag gestellt. Seitdem lief sie jeden Tag erwartungsvoll zum Briefkasten, und nachdem sie seinen leeren Inhalt gesichtet hatte, vertröstete sie sich auf den nächsten Tag. In dieser Zeit konzentrierte sich Sophie primär auf die Schule und lernte fleißig für ein gutes Schlusszeugnis. Es war ihr zwar nicht bekannt, nach welchen Kriterien die Kandidaten ausgewählt wurden, aber das Schlusszeugnis der Grundschule gehörte sicherlich dazu. Es gab keinen Tag, an dem sie dem Unterricht ferngeblieben war und keinen Tag, an dem sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Auch die Wochenenden und Feiertage verbrachte Sophie über den Schulbüchern. Und so verstrich die Zeit. Schon bald aber hatte Sophies Mühe Früchte getragen, die Grundschule – ein achtjähriger Abschnitt ihres Lebens – war beendet und ein sehr gutes Zeugnis pries ihr Engagement und ihre Beharrlichkeit. Eines Tages entnahm sie dem Briefkasten endlich Post aus Breslau. Es war ein Bewerbungsformular für die Aufnahme auf die Fachoberschule, das sie sorgfältig ausgefüllt und samt ihrem Grundschulabschlusszeugnis an die Schulleitung zurückgeschickt hatte. Sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, es blieb nur noch die Entscheidung des Schulgremiums abzuwarten. Und bis dahin genoss Sophie die wundervolle Sommerzeit, deren größten Teil sie mit ihren Eltern, wie fast jedes Jahr zuvor, an einem See an der Masurischen Seenplatte verbrachte, an dem ihr Vater, ein begeisterter Angler, ununterbrochen seinem Hobby frönte, sodass es ihnen an Fisch nicht fehlte. Die Familie biwakierte in der richtigen Wildnis – das Zelt auf einer kleinen Wiese dicht am Wasser aufgeschlagen und weit und breit keine Menschen mehr, nur nach Harz angenehm riechender, tiefer Wald und der stille, weite See, soweit das Auge reichte.

Sophie mochte die Natur sehr, sie liebte ihre Frische, ihren Duft und begeisterte sich für die Vielfalt der Pflanzen und Tiere. Zu jedem Buchstaben des Alphabets konnte sie mindestens einen Fisch nennen, was ihr ihr Vater bereits in ihrer Kindheit beigebracht hatte. Sie wusste, wie die Vögel, die sie jeden Morgen in der Frühe weckten, hießen. Niemals würde sie ein Tier absichtlich verletzen und verachtete die, die das taten. Auch Pflanzen betrachtete sie als Lebewesen, die geschätzt zu werden verdienten. Sophie bewunderte und achtete die Natur, in der alles einen Sinn hatte und obwohl diese auch erbarmungslos sein konnte, so wunderbar war. Manchmal fürchtete sich Sophie und fühlte sich so klein, so unbedeutend mitten im großen Wald oder auf dem tiefen See, doch diese Augenblicke waren nicht nur Furcht einflößend, sondern hatten etwas tief Ergreifendes, Epochales in sich, als ob ihr kleines, unbedeutendes Leben in der Hand der gewaltigen Natur lag, von ihrer Laune abhing, durch ihren kleinsten Hauch einfach so, als ob es nichts wert wäre, als ob es nie existiert hätte, ausgelöscht werden könnte. Doch es passierte nichts, es geschah ihr nichts, die mächtige Natur ließ sie weiter leben, in ihr weiter verweilen, der Wald war ruhig, das Rauschen des Windes beruhigend, das Schwappen der Wasserwellen besinnlich. In diesen Augenblicken fühlte sich Sophie mit der Natur vollkommen vereint und so still, so unbegreiflich ruhig, als ob sie zu ihr gehörte, als ob sie ein Teil von ihr wäre, als ob sie selbst die Natur sei.

***

Nachdem Sophie mit ihren Eltern und mit Sonnenbrand nach Hause zurückgekehrt war und immer noch keine Post aus Breslau im Briefkasten gesichtet hatte, überkam sie ein nur schwer ertragbares Gefühl großer Enttäuschung. Schweren Herzens fing sie an, sich mit der Tatsache, auf das Glogauer Gymnasium gehen zu müssen, abzufinden. Doch eines Tages kam der erhoffte Brief. Sophie war gerade, nachdem sie einige Besorgungen erledigt hatte, nach Hause zurückgekehrt, öffnete den Briefkasten und entnahm ihm ein kleines, hellblaues Kuvert im C5 Format mit maschinell geschriebener Anschrift und einer Briefmarke mit einem hübschen Pflanzenmotiv und dem Breslauer Poststempel darauf. Voller Erwartungen sprang sie eilig die Stufen des Treppenhauses hinauf, bis sie die Wohnung in der zweiten Etage erreichte. Ihr Herz bebte vor Aufregung, ihre Hände zitterten, als sie den Umschlag öffnete und das zweifach gefaltete Blatt ausbreitete. Hastig überflog sie den Text und suchte den für sie wichtigsten Abschnitt:

„… hiermit freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, dass sie auf unserer Schule, Fachrichtung Geologie, aufgenommen wurden. Wir bitten Sie, sich am 01.09.1976 um 8:00 Uhr in unserer Schule einzufinden.

Hochachtungsvoll

Fachoberschule für Geodäsie in Breslau“

Sophies Freude war unbeschreiblich. Es war, als ob sich alle Türen der Zukunft auf einmal öffneten. Sie musste nicht einmal an einer Aufnahmeprüfung teilnehmen, sie war dabei! Sophie sprang hoch, lachte und tanzte vor Freude, küsste den Brief und las den Text immer und immer wieder. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie weinte vor Glück. Diesmal wartete sie nicht auf den entsprechenden Augenblick, um ihren Eltern von dieser Neuigkeit zu berichten, sondern rannte schnell zur Tür, als sie sie kommen hörte, und schrie ganz aufgeregt und weinend vor Freude:

„Ich bin angenommen! Ich bin angenommen! Ich bin auf der Schule in Breslau angenommen!“

Aber die Eltern und besonders die Mutter schienen Sophies Freude nicht teilen zu können. Sie waren wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass ihre Tochter, ein 15-jähriges Mädchen, fortgehen würde. Darauf waren sie nicht vorbereitet, nicht jetzt. Sophie nahm die Unsicherheit ihrer Eltern deutlich wahr, verstand jedoch nicht, warum sie sich nicht für sie freuten. Schließlich hatte sie den ersten wichtigen Erfolg in ihrem Leben errungen und die ganze Welt stand ihr auf einmal offen! War das denn nicht Grund genug, sich mit der Tochter zu freuen? Dabei war sie so glücklich, einfach nur noch glücklich und am liebsten würde sie sofort nach Breslau abreisen, um nichts, aber auch wirklich nichts von der neuen, aufregenden Zukunft zu versäumen. Die Eltern taten ihr zwar leid, aber sie konnte sich doch nicht ihretwegen ihr eigenes Leben verbauen. Es war an der Zeit, das Elternhaus zu verlassen. Und auch sie würde eines Tages ihre Kinder gehen lassen müssen.

Start in die Zukunft

Das neue Schuljahr stand unmittelbar bevor, daher musste sich Sophie schnellstens um eine Unterkunft in Breslau bemühen. Ein Internat kam nicht infrage, denn dafür verdienten Sophies Eltern zu gut und Internatsplätze wurden vorrangig an Schüler vergeben, deren Eltern finanziell im Nachteil waren. Abgesehen davon gab es auch keine freien Plätze mehr in dem der Schule angehörigen Internat. Sophie blieb nichts anderes übrig, als eine Reise nach Breslau zu unternehmen und sich dort nach einem privaten Quartier umzusehen. Ein paar Tage später fuhr sie in der Frühe eines heiteren Morgens, der einen herrlichen Tag versprach, mit dem Zug, der aus Stettin kam, über Liegnitz nach Breslau. Liegnitz lag ungefähr in der Mitte zwischen Glogau und Breslau, ca. 60 km von beiden Orten entfernt. Dort wohnte Sophies Großmutter väterlicherseits, insofern war es nicht besonders dramatisch, falls Sophie kein Quartier finden würde. Notgedrungen könnte sie bei ihrer Großmutter übernachten und mit dem Zug zur Schule hin- und zurückpendeln.

Die Fahrt dauerte gute zwei Stunden. Da alle Abteile voll waren und es keinen freien Sitzplatz mehr gab, musste Sophie im Gang stehen. Erwartungsvoll schaute sie durch das Fenster und machte sich über all das, was noch erledigt werden musste, Gedanken. Nach einer Weile versank sie in eine nachdenkliche Stimmung. Als der Zug endlich in Breslau ankam, stieg Sophie rasch und bewegungsfreudig nach dem langen Stehen aus. In Breslau, an der ul. Marszałka Jósefa Piłsudskiego, an der der Hauptbahnhof gelegen war, gab es in einiger Entfernung eine kleine Grünfläche, die ein schmaler Sandweg durchquerte, mit einer Sitzbank in der Mitte. Dort, in einer Ecke, an der Fassade eines an die Hauptstraße grenzenden Altbaus, war eine kleine, verglaste Vitrine befestigt, in der Breslauer Bürger diverse Kleinanzeigen veröffentlichten, unter anderem die Vermietung von freien Zimmern an Studenten. Sophie las die Offerten und notierte sich die Standorte und Telefonnummern. Dann kaufte sie einen Breslauer Stadtplan, ging zu der Sitzbank auf der Grünfläche, die wie durch ein Wunder trotz der vielen Passanten frei war, und setzte sich. Sie öffnete den Stadtplan und ortete die Quartiere. Eines davon befand sich im Bezirk Krzyki und schien der Schule am nahesten gelegen zu sein. Sophie verspürte einen großen Hunger, sie hatte an diesem Tag noch nichts gegessen, aber bevor sie sich etwas zu essen kaufte, wollte sie die Vermieter aufsuchen, sich das angebotene Zimmer anschauen und eventuell alles Notwendige mit ihnen besprechen. Der Weg dahin war einfach. Sie ging eine kurze Strecke zur ul. Świdnicka und nahm dort die Straßenbahn Nr. 16, mit der sie mehrere Stationen bis zur Endstation in Krzyki fuhr. Dort stieg sie aus und lief eine Straße, die wie eine lange Allee aussah, hinunter bis an ihr Ende. An beiden Straßenseiten wuchsen große Kastanienbäume, die zu dieser Zeit prächtige Früchte trugen. Schließlich erreichte sie das Haus. Es war ein hübsches, zweigeschossiges Einfamilienhaus mit einem kleinen Vorgarten – das letzte auf der rechten Seite der Straße. Das Grundstück war von einem Zaun umgeben. Sophie blieb vor dem kleinen Tor stehen und klingelte. Nach einer kurzen Weile öffnete sich die Haustür und eine große, korpulente, etwa 40-jährige Frau kam zum Vorschein. Sophie war etwas befangen, denn es kam äußerst selten vor – wenn überhaupt – dass sie bei fremden Menschen klingelte, und wusste nicht, wie sie das Gespräch anfangen sollte. Doch dann sammelte sie ihren Mut und begrüßte die Frau:

„Guten Tag, ich komme wegen des freien Zimmers.“

„Ah ja, komm Mädchen, das Zimmer ist noch frei“, entgegnete die Vermieterin, kam die wenigen Stufen der Haustreppe hinunter, überquerte den hübschen Vorgarten und öffnete das kleine Tor. „Wo kommst du denn her? Willst du hier zur Schule gehen? Wie alt bist du?“, die Vermieterin schien neugierig zu sein und überschüttete Sophie mit Fragen.

„Ich bin 15 und komme aus Glogau.“

„Ah ja, na dann komm rein, das Zimmer ist oben, einfach die Treppe hoch“, sagte die Frau und ließ Sophie vorgehen.

Sophie folgte der Einladung und ging etwas unsicher in das Haus hinein, dann die Treppe hoch und blieb im Obergeschoss stehen.

„Es ist das Zimmer da drüben“, sagte die Vermieterin und deutete mit der Hand auf eine Tür.

Sophie öffnete die Zimmertür und ging hinein. Der Raum war relativ groß, aber auch etwas dunkel, er maß etwa 16 m2 und war mit einem Holzboden und einer Dachschräge ausgestattet, unter der ein altes Metallbett stand. Weiterhin verfügte das Zimmer über ein kleines Fenster, das zur Straße zeigte, mit einem kleinen Tisch und einem Stuhl davor. An der Wand gegenüber dem Fenster stand ein großer, dunkelbrauner, alter Kleiderschrank. Das Zimmer gefiel Sophie gut, besonders die gemütlich aussehende Ecke mit der Schräge. Sophie hatte ein gutes Gefühl darin. Sie würde das Zimmer nehmen, sie müsse es nur noch mit den Eltern besprechen – teilte sie der Vermieterin mit. Dann verabschiedete sie sich und ging rasch aus dem Haus auf die lange, mit Kopfsteinpflaster bestückte, kühle Straße mit den grandiosen Kastanienbäumen auf beiden Seiten, die nur wenig Sonnenstrahlen durchließen. Sophie war erleichtert, wieder draußen zu sein, es war ziemlich ungewohnt, in diesem fremden Haus zu verweilen. Das Haus und besonders das eine Zimmer, wirkte durch die Dachschräge, Dunkelheit und die einfache Einrichtung geheimnisvoll, als ob es viel versteckte, fast mysteriöse Dinge verbarg und seine etwas gespenstische Atmosphäre übte eine magische Anziehungskraft auf Sophie aus. Noch nie hatte sie in einem großen Einfamilienhaus mit Garten gewohnt, nur in kleinen Wohnungen, daher versprach sie sich viel von dieser Unterkunft und malte sich eine faszinierende Zeit aus. Plötzlich fing ihr Magen zu knurren an und erinnerte sie an ihren inzwischen gewaltigen Hunger. Doch sie wollte noch die Verwandtschaft, die Schwester ihrer Großmutter aus Liegnitz und ihren Mann, besuchen, die dort, nahe des Wendekreises, wohnten. Sophies Familie unterhielt so gut wie keinen Kontakt mit ihnen. Sie trafen sich aber alle einmal im Jahr bei der Großmutter in Liegnitz, stets zu Allerheiligen – einem Fest, zu dem die ganze in verschiedenen Orten Polens lebende Verwandtschaft anreiste, um die Gräber der verstorbenen Familienangehörigen und Bekannten, die in Liegnitz begraben waren, zu ehren. Sophie mochte diese aufregenden, feierlichen Treffen sehr und freute sich immer auf die Verwandtschaft und den Besuch auf dem Friedhof, der im Dunkeln, durch die vielen brennenden, farbigen Grablichter, die ständig im Wind ausgingen und die Sophie immer wieder neu anzündete, bunt leuchtete. Es roch dort nach dem etwas süßlichen Duft des Kerzenwachses, der mit der kalten Novemberluft weit in die Stadt hineingetragen wurde. Sophie wollte bei ihrer Tante und ihrem Onkel nur kurz vorbeischauen. Der Weg dahin war nicht lang und sie erreichte bald das Haus. Sie klingelte. Zu ihrer Freude traf sie auch beide zu Hause an. Die Tante hatte ihr ein paar belegte Brote und einen frischen Tee zubereitet, die Sophie mit großem Appetit zu sich nahm, während sie ihren Verwandten den Grund ihres Besuchs in Breslau – ihre Absicht, die Breslauer Fachoberschule zu besuchen – offenbarte. Nach einer guten Stunde Unterhaltung bedankte sich Sophie für die Verköstigung und verabschiedete sich von ihren Verwandten. Sie kehrte zum Wendekreis der Straßenbahn zurück, stieg in die bereits wartende Straßenbahn ein, mit der sie dann zum Bahnhof fuhr, um den Zug um 16:20 Uhr zu erreichen, der aus Krakau kam und über Breslau und Glogau nach Stettin weiterfuhr.

Nachdem Sophie am Abend nach Hause zurückgekehrt war, erzählte sie den Eltern ausführlich über das Ergebnis und die Ereignisse ihrer Reise. Die Eltern hörten sich alles aufmerksam an und versprachen mit der Vermieterin telefonisch Kontakt aufzunehmen. Als Sophies Abreisetag wurde der letzte Ferientag, der 31. August, festgelegt. In der bis dahin verbleibenden Zeit von etwa einer Woche verabschiedete sich Sophie von ihren Freunden und der in Glogau lebenden Familie mütterlicherseits, und bereitete sich auf die Reise vor. Sie packte ihre Sachen, ihre Kleidung, ihre archäologischen Romane und stellte ihre Seele und ihren Geist auf den aufregendsten Schultag ihres Lebens ein. Sie war neugierig auf die neue Stadt, die neue Schule, die neuen Lehrer, nicht zuletzt auf die neuen Klassenkameraden und konnte die Abreise nach Breslau – in die große Welt – kaum erwarten.

Die letzte Nacht vor der Abreise kam Sophie unendlich lang vor, sie konnte kaum schlafen. Für einen ruhigen Erholungsschlaf war sie zu aufgeregt und stand am frühen Morgen als Erste auf. Sie wusch sich, zog sich an, legte die restlichen Anziehsachen, die am Vortag gewaschen worden waren und auf dem Balkon trockneten, in ihre Reisetasche. Ihr Gepäck umfasste diese eine Reisetasche mit ihren Kleidungsstücken und eine Umhängetasche, die ihr als Schultasche diente, mit ein paar Archäologieromanen und einigen persönlichen Habseligkeiten darin. Die notwendigen Schulbücher und sonstiges Schulmaterial würde sie sich in Breslau kaufen. Inzwischen waren auch die Eltern aufgestanden und bereiteten sich auf die Reise vor. Sie hatten sich für diesen Tag freigenommen, um ihre Tochter nach Breslau zu fahren und sich bei dieser Gelegenheit die Unterkunft anzusehen, die Sophie sich ausgesucht hatte. Sie frühstückten nicht. In Sophies Familie wurde nie so früh am Tag gefrühstückt, nur Kaffee oder Tee wurden getrunken. Auch an diesem Morgen tranken die Eltern einen frisch zubereiteten heißen Kaffee zum Wachwerden und Sophie einen Tee. Danach bereitete die Mutter einen kleinen Proviant für die Fahrt vor, und als alles so weit fertig war, verließen sie die Wohnung, stiegen in den auf dem Parkplatz stehenden alten Fiat 125p ein und fuhren los, der Vater am Steuer, die Mutter neben ihm auf dem Beifahrersitz, Sophie hinten auf dem Rücksitz. Es war ein wunderschöner, warmer Dienstagmorgen. Die Sonne war bereits aufgegangen und wärmte mit ihren fröhlichen Strahlen, die durch die Scheiben ins Auto drangen, Sophies Gesicht und füllte ihr Herz mit Hoffnung und Freude. Sophie war glücklich. Sie atmete den wundervollen, heiteren Morgen tief in sich hinein, lehnte ihren Kopf an die Rücksitzlehne und schloss ihre Augen. Die Fahrt verlief ruhig, die Eltern sprachen kaum und Sophie wurde mit der Zeit müde. Die Monotonie der Fahrt und der fehlende Schlaf der letzten Nacht ließen sie in einen tiefen Schlaf fallen. Als sie zwei Stunden später erwachte, waren sie bereits in Breslau angekommen. Es war ziemlich kompliziert, den richtigen Weg durch die unbekannte Stadt zu finden, doch sie hatten Glück, dass die Fahrt nicht durch ganz Breslau ging, sondern etwas abseits an dem lästigen, lärmenden Berufsverkehr im Stadtzentrum vorbeiführte. Sobald sie die Straße erreicht hatten, die die Straßenbahn Nr. 16 in Richtung Krzyki befuhr, verlief die weitere Fahrt unproblematisch, denn sie brauchten nur noch der Straßenbahn bis zum Wendekreis zu folgen.

Gegen Mittag erreichten sie das Haus und parkten unmittelbar davor. Sophie nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum, ging auf das kleine Tor zu und betätigte die Klingel. Die Vermieterin hatte ihre Gäste schon aus dem Küchenfenster gesehen und kam ihnen auch schon entgegen. Sie öffnete das kleine Tor und bat sie ins Haus, dann die Treppe hoch ins Obergeschoss. Die Zimmertür stand bereits offen. Die Gäste traten ein und schauten sich im Zimmer um. Sophie legte ihr Gepäck ab und ihre Eltern kamen mit der Vermieterin ins Gespräch, sie erfragten alles Notwendige und bezahlten den Mietzins. Danach ließ die Vermieterin ihre Gäste allein. Die Eltern unterhielten sich noch eine Weile mit Sophie und betrachteten, die Mutter etwas skeptisch, das fremde, dunkle und einfach eingerichtete Zimmer. Überfordert mit der ungewohnten Situation, und da es scheinbar nichts mehr zu besprechen gab, verabschiedeten sie sich etwas schüchtern, die Besorgnis um ihre Tochter verbergend, von Sophie und gaben ihr noch einige Ratschläge zum Abschied. Sophie versprach brav zu sein, fleißig zu lernen, gleich am ersten Wochenende nach Hause zu kommen und ansonsten regelmäßig zu schreiben. Dann verließen sie das Haus. Sophie begleitete ihre Eltern zum Fahrzeug und winkte ihnen so lange, bis das Auto am Ende der Straße abbog und nicht mehr zu sehen war. Dann kehrte sie in ihre einsame Unterkunft zurück.

Sophie blieb ganz allein in dieser fremden Stadt, in diesem fremden Haus, weit weg von ihrem Zuhause, ihren Eltern, ihren Freunden, von all dem, was sie bisher gekannt und was ihr Leben gefüllt hatte. Morgen ist der erste Schultag, doch sie würde keins der Gesichter kennen. Sie begann sich fremd, unsicher und verlassen zu fühlen, als ob die ganze Welt sie vergessen hätte. Das Zimmer, das Haus und die Stadt erschienen ihr so unbekannt, so beängstigend, dann überkamen sie Zweifel, ob sie das alles, was sie sich vorgenommen hatte, schaffen würde, ob sie genügend Kraft besäße, den neuen Herausforderungen und Schwierigkeiten die Stirn zu bieten. Vielleicht hatte sie sich zu viel vorgenommen, zu viel zugetraut. Noch vor ein paar Stunden war sie Daheim und jetzt befand sie sich in diesem Haus, das ihr mitunter schrecklich vorkam. Warum hatte sie sich ausgerechnet diesen Weg ausgesucht, voller Hindernisse und Unsicherheiten? Wäre sie bloß zu Hause geblieben, in ihrer Heimatstadt, dort würde sie auf das Glogauer Lyzeum gehen und morgen ihre alten Freunde und Freundinnen als Klassenkameraden haben. Sie schaute sich im Zimmer um: kein Fernsehapparat, kein Telefon, kein Radio, nichts, nur die kalt wirkenden Wände, eine einfache Einrichtung und Düsterkeit. Durch das kleine Fenster fiel nur wenig Tageslicht. Sophie wurde traurig und bekam Angst vor dem nächsten Tag. Schon morgen würde sie fremden Schülern und Lehrern gegenübertreten, was würde sie erwarten? Wie würden sie sein? Vertieft in ihre Gedanken fing sie langsam an, ihre Sachen auszupacken, zuerst ihre Kleidung, dann die Bücher. Sie nahm den „Roman der Archäologie“ von C. W. Ceram – ihren ständigen Begleiter – in die Hand und schlug das Buch auf. Ein kleiner Brief fiel auf den Boden. Sie hob ihn auf und faltete ihn auseinander. Es war die Mitteilung über die Aufnahme auf die Breslauer Fachoberschule. Sie las die Einladung, die sie bestimmt schon hundert Mal gelesen hatte: „… hiermit freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie auf unserer Schule, Fachrichtung Geologie, aufgenommen wurden. Wir bitten Sie, sich am 01.09.1976 um 8:00 Uhr in unserer Schule einzufinden. Hochachtungsvoll Fachoberschule für Geodäsie in Breslau.“ Dieser Text erhellte augenblicklich Sophies Verfassung und ließ sie wieder strahlen. Ihre Gedanken klärten sich, ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln. Im Grunde geht es nur um ein paar Tage, danach wird es leichter sein, mit jedem Tag ein bisschen leichter – tröstete sie sich. Dieser seltsame Tag, an dem sie sich so unsicher fühlte, würde vergehen, der nächste ebenfalls. Und schon bald würde alles zur Normalität werden. Schließlich war sie nicht die Einzige, die einen Neuanfang wagte, genauso musste es bestimmt einigen der anderen ergehen, die morgen mit ihr zusammen in die neue Schule kommen würden. Sie musste stark und mutig sein. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert wurde. In ihrer Kindheit war sie schon zweimal mit ihren Eltern umgezogen und hatte sich in einer neuen Umgebung allein zurechtfinden müssen. Und die neue Unterkunft unter Fremden? Was machte das schon? Gleich am Wochenende würde sie nach Hause fahren! An jedem Wochenende würde sie nach Hause fahren! Sophies Unsicherheit verblasste, sie begann, sich wieder zu freuen. Sie würde es schaffen, ganz bestimmt! Sie hatte auch bisher immer alles geschafft!

***

Sophie war in Liegnitz geboren. Sie hatte dort den Kindergarten und die ersten drei Klassen der Grundschule besucht. Ihre Eltern arbeiteten in der Liegnitzer Kupferhütte. Dann zogen die Eltern mit ihr nach Glogau, weil man ihnen in der dort ansässigen, neu erbauten Kupferhütte einen besser bezahlten Arbeitsplatz angeboten hatte. Viele der damals in der Liegnitzer Kupferhütte beschäftigten Bürger hatten ebenfalls dieses Angebot von der Verwaltung des Bergbau- und Hüttenkombinats des Liegnitz-Glogauer Kupfergebietes erhalten. In der neu errichteten und weiterhin ausgebauten Kupferhütte in Glogau mangelte es damals an Arbeitskräften. Bereits Ende der 60er-Jahre wurde eine neue Wohnsiedlung unter dem Namen „Kopernik“ für die Arbeiter errichtet. Die Siedlung wurde in den weiteren Jahren zu einer großen, modernen Siedlung ausgebaut, die sich weiter entwickelte und Stadtteilcharakter bekam. Die verlockende Offerte des attraktiveren, höheren Verdienstes hatten sich damals viele Liegnitzer Bürger nicht entgehen lassen und so kam es, dass auch Sophies Eltern im Jahre 1971 nach Glogau gezogen waren und sie dort die weiteren fünf Klassen der Grundschule absolviert hatte. Aber bevor Sophie mit ihren Eltern nach Glogau gezogen war, waren sie bereits in Liegnitz umgezogen. Daher war ein Schul- oder Wohnortwechsel für sie im Grunde nichts Neues. Doch diesmal hatte ihr selbst gewähltes Schicksal sie nach Breslau fortgetrieben, in dieses fremde Haus, unter diese fremden Menschen, in dieses dunkle und etwas kühle Zimmer, und sie damit auf eine richtige Probe gestellt, denn für sie waren nicht nur die Schule und die Stadt neu, sondern auch die Tatsache, fern von ihrem Elternhaus und ihrer Familie zu leben. Und gerade das bereitete Sophie Angst.

***

Es klopfte an der Tür, Sophie machte sie auf.

„Sophie, ich wollte dich fragen, ob alles in Ordnung ist?“, sprach die Vermieterin. „Wenn du etwas brauchst, sag es ruhig. Das Badezimmer hast du schon gesehen, die Küche auch. Das Geschirr dort und den Kühlschrank kannst du ruhig benutzen. Ansonsten, wenn etwas ist, sag es mir.“

„Gut, dankeschön, ich danke Ihnen vielmals“, bedankte sich Sophie für die fürsorgliche Nachfrage und machte die Tür wieder zu. Und in diesem Moment wusste sie nicht, ob sie die Tür nur einfach so zuziehen oder vielleicht mit dem Schlüssel abschließen sollte. Die zweite Variante war ihr lieber, aber es würde auch Misstrauen ausdrücken und das wollte Sophie nicht. Und so zog sie die Tür nur zu.

Es war erst kurz nach 15:00 Uhr, daher entschloss sich Sophie in die Stadt zu fahren, da sie sonst nicht wusste, was sie mit der vielen Zeit anfangen sollte. Außerdem wollte sie den Weg zu ihrer neuen Schule erkunden, um einzuschätzen, wie viel Zeit sie für diese Strecke einplanen musste. Sie zog sich um, schloss ihr Zimmer ab und verließ das Haus. Sie gelangte auf die lange, Allee ähnliche Straße, die sie unter den prächtigen, Schatten spendenden Kastanienbäumen zur Straßenbahn hinunter lief. Am Wendekreis kaufte sie im Kiosk mehrere Fahrscheine und stieg dann in die bereits wartende Straßenbahn ein. Diese fuhr in Richtung Zentrum. An einer Kreuzung stieg sie aus und legte den weiteren Weg zur Schule zu Fuß zurück. Das war vermutlich die Strecke, die sie jeden Tag zur Schule hin und zurück pendeln würde.

Als Sophie die Schule erreichte und das ansehnliche Schulgebäude erblickte, stiegen Freude und Begeisterung in ihr auf. Sie betrachtete das große, aus rotem Ziegelstein erbaute Gebäude mit den vielen Fenstern, dem großen, anmutigen Eingang und fühlte sich so glücklich, wie noch nie zuvor. Sie war eine der wenigen Auserwählten, die auf diese wunderbare Schule gehen durften. Das Ausmaß ihres Glücks wurde ihr bewusst und ihre Augen füllten sich vor Freude mit Tränen. Sie nahm ein Taschentuch und putzte sich die Nase, dann wandte sie sich von der Schule ab und entschied sich, noch eine Stadtexkursion zu unternehmen, bevor sie in die Einsamkeit ihrer Unterkunft zurückkehren würde. Sie lief zur ersten Kreuzung, dann die ul. Powstańców Śląskich hinunter, bis sie die Kreuzung mit der ul. Jósefa Piłsudskiego erreichte. Dort bog sie rechts ab in eine Straße, die in Richtung Hauptbahnhof führte, und schaute sich die großartigen, alten Gebäude mit ihren bemerkenswerten, ornamentierten Fassaden, die auf beiden Straßenseiten ihr solides, ansehnliches Bauwerk zur Schau stellten, und die vielen, eilenden Menschen an. Wie verzaubert lief sie ohne ein Ziel zu haben die lauten Straßen entlang. Ihre Unsicherheit war spurlos verschwunden, sie fühlte sich wieder mutig und stark. Sophies Begeisterung über die faszinierende Atmosphäre der Großstadt war grenzenlos und sie verspürte das einzigartige Gefühl dazuzugehören, als ob sie jemand ganz Besonderes war, weil sie in dieser großartigen Stadt sein durfte. Sie ging an der Grünfläche vorbei, an der die Vitrine mit den Kleinanzeigen an der Fassade eines angrenzenden Hauses angebracht war. Diese Stelle kannte sie bereits. In der gegenüberliegenden Ecke der Grünfläche befand sich ein Imbiss, an dem sie sich Kartoffelpuffer kaufte. Die Bank auf der Grünfläche war diesmal besetzt, daher verzehrte sie die Kartoffelpuffer im Imbiss durch das Fenster auf die belebte Straße hinter der Grünfläche hinausschauend. Danach begab sie sich in einen Lebensmittelladen und kaufte einige Nahrungsmittel ein. Schließlich, erschöpft von diesem aufregenden langen Tag, nahm sie die Straßenbahn und fuhr in ihre Unterkunft zurück. Als sie das angemietete Zimmer betrat, schloss sie diesmal die Tür ab.

Dann brach auch langsam schon der Abend an und brachte etwas kühlere Abendluft mit. Die warmen, blendenden Strahlen der orangeroten, untergehenden Sonne drangen zwischen den Zweigen des vor dem Haus wachsenden Kastanienbaums durch das kleine Zimmerfenster hindurch und ließen mitten im Raum einen schmalen Lichtkegel entstehen, in dem der Staub schwebte. Sophie verbrachte den Rest des Tages in ihrem Zimmer, beschäftigte sich mit belanglosen Dingen und versuchte ganz leise zu sein, um keinen der Hausbewohner zu stören. Sie bewegte sich sacht und lief wie auf Zehenspitzen über die knirschenden Fußbodendielen. Dennoch hatte sie Angst, zu laut zu sein. Dann, zum Teil aus Langeweile und zum Teil, weil sie müde war, ging sie ins Bett. Es war ein seltsames Gefühl, in ein fremdes Bett zu steigen. Sophie legte sich vorsichtig hin und zog die fremde Bettdecke bis unters Kinn. Bewegungslos lag sie noch lange wach und machte sich verschiedenste Gedanken. Sie dachte über ihre Eltern nach, was würden sie jetzt gerade tun und wie würde ihr Leben ohne Sophie aussehen? Würden sie traurig oder unglücklich sein? Und wie würde Sophies morgiger Tag werden? Dann versuchte sie sich vorzustellen, wie sie in die Schule käme und dann in die Klasse. Wäre sie wieder eines der kleinsten Mädchen? Und was ist, wenn alle wesentlich größer wären als sie? 1,70 m oder 1,80 m groß? Sie war ein schüchternes Mädchen, aber schüchtern und klein? Das ging nicht! Wäre sie bloß ein paar Zentimeter größer, nur ein paar Zentimeter! Und was sollte sie anziehen? Wenn sie schon schüchtern und klein war, wollte sie wenigstens gut angezogen sein! Dann erinnerte sie sich, als ihre Großmutter mütterlicherseits öfters, teilweise zum Trost, weil sie selbst kleinwüchsig und wesentlich kleiner als Sophie war, und teilweise zum Spaß, immer wieder gesagt hatte: „Kleine Menschen hat der liebe Gott geschaffen, die großen Ochsen sind von alleine gewochsen!“ Sophie musste lächeln, als sie Großmutters Spruch in Gedanken wiederholte – ach Omi, du hast immer tolle Erklärungen gehabt! Mit einem Lächeln im Gesicht fiel sie schließlich in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Schulbeginn

Am nächsten Morgen klingelte Sophies Wecker um 6:15 Uhr. Der große Tag war gekommen. Sophie stand auf und zog sich zuerst an. Schließlich wohnte sie unter Fremden, da geht man nicht im Schlafanzug aus dem Zimmer! Dann ging sie ins Bad, danach in die Küche, um sich einen Tee zu brühen, den sie in ihrem Zimmer in aller Ruhe trank. Anschließend packte sie einige Sachen in ihre Umhängetasche und verließ kurz vor 7:00 Uhr das Haus. Den Weg zur Schule kannte sie bereits. Nachdem sie an einer Kreuzung aus der Straßenbahn ausgestiegen war, lief sie noch etwa 200 Meter, bis sie die Schule auf der gegenüberliegenden Straßenseite erreichte. Doch bevor sie über die Straße ging, betrachtete sie das imposante Schulgebäude einen kurzen Moment. Plötzlich überfiel sie das Gefühl der Angst. Aber es war nicht die Schule, die Sophie Angst machte, sondern die unglaubliche Menge junger Menschen davor. Es waren selbstbewusste, ältere, größtenteils Jungen – eigentlich erwachsene junge Männer, die ungehemmt und sicher durch den Eingang in die Schule strömten. Es war 7:45 Uhr. Sophie sammelte ihren Mut, ging über die Straße und mischte sich ungewollt und unsicher unter die vielen jungen Menschen, die sie wie ein Wirbelsturm erfassten. Der große Schuleingang erwies sich nun als viel zu eng, sodass Sophie fast zerquetscht wurde, als sie mit den großen, starken Schülern durch den Türeingang in das Gebäude mitgerissen wurde. Im Gebäude verteilte sich die Schülermenge auf verschiedene Stockwerke und die Korridore waren nun weniger überfüllt, sodass Sophie erstmals aufatmen konnte. Dann suchte sie das entsprechende Klassenzimmer, der Nummer nach musste es sich im ersten Obergeschoss befinden. Sophie begab sich zum Treppenhaus, geriet wieder in die gewaltige Menge der Schüler, die ebenfalls die Treppen nutzten, um in höhere Stockwerke zu gelangen, erreichte den ersten Stock und fand dann auch gleich das Klassenzimmer. Es stand bereits eine Gruppe junger Menschen davor. Vermutlich waren es ihre neuen Klassenkameraden. Sophie traute sich nicht, an diese Gruppe heranzugehen, und wartete in einiger Entfernung ab. Sie fühlte sich fremd und etwas peinlich, so allein da zu stehen, doch ihre Unsicherheit war stärker, als das Bedürfnis, sich dieser Gruppe anzuschließen. Und so stand Sophie an eine Wand gelehnt ganz allein und wie verlassen da, auf die Glocke und die Lehrerin wartend, die den Klassenraum öffnen und die Schüler hineinlassen würde. Auf einmal sah sie ein Mädchen entschlossen auf sich zukommen.

„Wartest du auf die erste geologische Klasse?“, sprach das Mädchen sie an.

„Ja, du auch?“, entgegnete Sophie. Das Mädchen lächelte sie an.

„Ich heiße Rita“, die beiden Mädchen schüttelten sich zur Begrüßung die Hände und wechselten einige Worte