Hilfe, ich bin ein Genie! - Anna Sonngarten - E-Book

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Anna Sonngarten

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Kim Son Re war aufgeregt. Gerade erst waren die Herbstferien vorüber und ab heute begann die Projektwoche: »Klang und Rhythmus«. Heidi, die schon in die dritte Klasse ging, hatte Kim erzählt, wie cool eine Projektwoche sein konnte. Keine Hausaufgaben, kein Matheunterricht und überhaupt war dann alles anders als normal. Die Kinder der Klasse 2a saßen in der Aula im Kreis. In der Mitte lagen auf einem großen Tuch jede Menge Instrumente. Klanghölzer, Doppelte Schellen, Triangeln, Rhythmusstäbe und verschiedene Schlaginstrumente. Zwei Lehrer aus der Musikschule von Maibach begrüßten die Kinder der Grundschule in Bachenau mit einem Lied. Dabei setzten sie die Orff-Instrumente aus dem Sammelsurium am Boden gekonnt ein. Die Kinder kicherten. Das schien nicht so schwierig zu sein. Kim hoffte, dass er bald auch selbst die Instrumente ausprobieren konnte, und hatte bereits das Tamburin im Blick. Wie die meisten zappelte er auf seinem Stühlchen herum und konnte kaum abwarten, wie es weiterging. Nur Matteo schien unbeeindruckt, denn er schaute lieber aus dem Fenster. Kim sah zu ihm herüber. Matteo war erst nach den Herbstferien in Kims Klasse gekommen. Er hatte noch nicht mit dem Jungen gesprochen, der etwas seltsam aussah mit seinen wirren lockigen Haaren und der grün gerahmten Brille. »Wir fangen gleich an«, versprach der Musiklehrer, der die gespannte Erwartung der Kinder spürte. »Aber zuerst stellen wir uns vor.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 106 –

Hilfe, ich bin ein Genie!

Unveröffentlichter Roman

Anna Sonngarten

Kim Son Re war aufgeregt. Gerade erst waren die Herbstferien vorüber und ab heute begann die Projektwoche: »Klang und Rhythmus«. Heidi, die schon in die dritte Klasse ging, hatte Kim erzählt, wie cool eine Projektwoche sein konnte. Keine Hausaufgaben, kein Matheunterricht und überhaupt war dann alles anders als normal. Die Kinder der Klasse 2a saßen in der Aula im Kreis. In der Mitte lagen auf einem großen Tuch jede Menge Instrumente. Klanghölzer, Doppelte Schellen, Triangeln, Rhythmusstäbe und verschiedene Schlaginstrumente. Zwei Lehrer aus der Musikschule von Maibach begrüßten die Kinder der Grundschule in Bachenau mit einem Lied. Dabei setzten sie die Orff-Instrumente aus dem Sammelsurium am Boden gekonnt ein. Die Kinder kicherten. Das schien nicht so schwierig zu sein. Kim hoffte, dass er bald auch selbst die Instrumente ausprobieren konnte, und hatte bereits das Tamburin im Blick. Wie die meisten zappelte er auf seinem Stühlchen herum und konnte kaum abwarten, wie es weiterging. Nur Matteo schien unbeeindruckt, denn er schaute lieber aus dem Fenster. Kim sah zu ihm herüber. Matteo war erst nach den Herbstferien in Kims Klasse gekommen. Er hatte noch nicht mit dem Jungen gesprochen, der etwas seltsam aussah mit seinen wirren lockigen Haaren und der grün gerahmten Brille.

»Wir fangen gleich an«, versprach der Musiklehrer, der die gespannte Erwartung der Kinder spürte. »Aber zuerst stellen wir uns vor. Das ist Sandra Völker und ich bin Charles Cameron. Wir bilden gleich zwei Gruppen, damit jeder so oft wie möglich drankommt.« Da Frau Völker etwas streng aussah mit ihrem schwarzen Dutt und den dunkelrot geschminkten Lippen, hoffte Kim in die Gruppe von Herrn Cameron zu kommen. Er sah sehr nett und freundlich aus. Außerdem gefiel Kim, dass der Musiklehrer einen Akzent hatte. Das klang lustig und sympathisch und erinnerte Kim daran, dass er am Anfang auch nicht perfekt Deutsch gesprochen hatte, als er nach Sophienlust gekommen war. Frau Völker trommelte auf ihr Tamburin. Sie ging den Kreis ab, sah jedes Kind der Reihe nach an und zählte immer eins, zwei, eins, zwei, nachdem sie erklärt hatte, dass die Kinder sich ihre Zahl merken sollten. Dann sollten sich alle entsprechend ihrer Zahl verteilen. Das klappte aber irgendwie nicht, und es gab ein großes Durcheinander. Trotzdem fand sich Kim zu seiner Freude am Ende in Charles Camerons Gruppe wieder. Aber zunächst ging es ohne Instrumente weiter, was Kim etwas enttäuschend fand.

»Unsere Projektwoche heißt ›Klang und Rhythmus‹. Aber was ist das genau? Was ist Rhythmus?«, wollte Herr Cameron von den Kindern wissen. Da niemand antwortete stampfte der Musiklehrer abwechselnd mit jedem Fuß auf den Boden und sagte: »eins zwei Pause eins zwei Pause …« Dann forderte er die Kinder auf mitzumachen. Matteo verdrehte die Augen und folgte widerwillig der Aufforderung. Dann klatschte Herr Cameron immer an der Stelle, wo die Pause war. Alle machten mit und Kim war begeistert, wie interessant das klang. Dann unterbrach der Musiklehrer die kleine Übung.

»Kann jetzt jemand sagen, was Rhythmus ist?«, fragte er in die Runde.

»Also irgendwie immer gleich …«, versuchte Kim eine Erklärung.

»Sehr gut …«, lobte Herr Cameron. Doch bevor sich Kim über das Lob freuen konnte, fuhr Matteo dazwischen.

»Rhythmus ist die zeitliche Anordnung von Noten und Pausen in einem Takt. Das ist doch doof, was wir hier machen. Das ist doch Kindergarten«, sagte er gelangweilt. Alle starrten den Jungen an. Die Kinder, weil es das Erste war, was sie überhaupt von Matteo zu hören bekamen, da er bisher im Unterricht noch keinen Pieps gesagt hatte, und Charles Cameron, weil er vor Überraschung nicht wusste, was er sagen sollte. Irritiert fuhr er dann trotzdem fort.

»Ja, das ist richtig … gut. Dann kommen wir zum Klang. Was ist denn der Unterschied zwischen einem Klang und einem Geräusch?«, fragte er, obwohl er schon ahnte, dass der Junge mit den wirren Haaren auch diese Frage doof finden würde.

»Ein Geräusch hört sich nicht so gut an«, sagte Lotta tapfer mit Blick auf Matteo und die anderen Kinder nickten.

Charles Cameron nahm ein Blatt Papier und zerknüllte es. »Geräusch oder Klang?«, fragte er und alle riefen »Geräusch!«

»Gut, jetzt macht jeder von euch ein Geräusch. Überlegt euch, womit man Geräusche machen kann«, forderte der Musiklehrer die Kinder auf. Alle überlegten, wie sich das bewerkstelligen ließ, außer Matteo. Er saß mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin, während alle anderen sich vor Eifer fast überschlugen und nacheinander ihre Geräusche vorstellten. Lotta schlurfte mit ihren Füßen auf dem Boden, Lara rieb ihre Hände aneinander, Kim klopfte auf seinen Stuhl, Oskar klatschte mit flachen Händchen auf seinen Oberschenkeln herum. Herr Cameron lobte die Einfälle der Kinder und sah dann zu Matteo.

»Und was hast du dir überlegt?« Der Junge stand auf und ging zum Klavier, das wie abgestellt in einer Ecke stand. Er öffnete den Deckel und haute mit beiden Händen auf die Tastatur. Das klang nicht gut.

»Das ist nur ein Geräusch. Die Schwingungen sind uneinheitlich. Für einen Ton oder einen Klang müssen die Schwingungen eine gleichmäßige Frequenz haben. Also so«. Er setzte sich und spielte den dritten Satz der Mondscheinsonate. Seine kleinen Hände flitzen nur so über die Tastatur und sein Spiel war von einer Leichtigkeit und Musikalität, die Charles Cameron die Tränen in die Augen trieb. Als sich Matteo wieder an seinen Platz gesetzt hatte, konnte man die sprichwörtliche Nadel fallen hören, so still war es in der Aula geworden. Die beiden Musiklehrer starrten sich an. Frau Völker sah mit ihrem Tamburin plötzlich irgendwie fehl am Platze aus und schien nicht zu wissen, wie es jetzt weitergehen sollte. Als einige Kinder vorsichtig klatschten schlossen sich die Musiklehrer zögernd an. Matteo nickte verlegen. Er schien keinen Applaus zu wollen.

*

Kim war nicht mehr der Jüngste im Kinderheim Sophienlust, seit die zweijährige Marie und der vierjährige Leon dazu gekommen waren. Dennoch war er oft zu schüchtern, um sich beim Mittagessen, wenn alle zusammenkamen, Gehör zu verschaffen. Heute war es jedoch anders, denn Kim war aufgewühlt. Er wollte unbedingt erzählen, was heute in der Aula passiert war. Vor Aufregung fiel er in alte Sprachmuster zurück, die der kleine vietnamesische Bootsflüchtling eigentlich schon abgelegt hatte. Es brauchte etwas Zeit, bis alle verstanden hatten, was Kim so aufregte.

»Du willst uns erzählen, dass ein Wunderkind in deine Klasse geht?«, fragte Pünktchen nach, denn sie hatte richtig verstanden, dass ein Matteo mal eben ein sehr schwieriges Klavierstück von Beethoven gespielt hatte.

»Was ist ein Wunderkind?«, wollte Heidi wissen.

»Ich glaube, heutzutage sagt man das nicht mehr. Aber gemeint ist ein Kind mit einer besonderen Begabung. Mozart war ein Wunderkind. Er hat schon im Kleinkindalter komponiert und sein Vater ist mit ihm durch Europa gereist und ließ ihn an den aristokratischen Höfen auftreten«, erläuterte Dominik von Wellentin-Schoenecker, der von allen Nick genannte wurde.

»Komponieren ist Musik erfinden, oder?«, fragte Kim noch mal nach.

»Ja, genau. Mozart konnte schon als kleines Kind Klavier und Geige spielen. Er war ein musikalisches Genie«, ergänzte Nick.

»Er war aber auch ein armer Tropf und ist mit 35 schon gestorben«, wandte Magda ein.

»Wieso war er ein armer Tropf?«, wollte Angelika wissen, der dieser Begriff nicht geläufig war.

»Na ja, ich glaube Magda will sagen, dass das Leben im achtzehnten Jahrhundert auch als Wunderkind nicht gerade einfach war«, meinte die Heimleiterin Regine Rennert.

»Mozart hatte Schulden, obwohl er für damalige Verhältnisse viel verdient hat. Er war zwar musikalisch hochbegabt, aber im normalen Leben oft überfordert. Dann wurde er schwer krank und ist, wie Magda richtig gesagt hat, sehr jung gestorben«, fasst Denise von Schoenecker, Nicks Mutter, zusammen.

»Aber Matteo wird doch nicht jung sterben«, fragte Kim erschrocken.

»Nein, mein Junge. Natürlich nicht.« Magda umarmte Kim und zog ihn dicht an sich heran. »Heute ist das alles anders. Man achtet darauf, dass Wunderkinder nicht wie Zirkuspferde vorgeführt werden, und die Medizin ist ja auch viel weiter.«

Kim nahm diese Information erleichtert zur Kenntnis, aber es lag ihm noch etwas anderes auf dem Herzen. Er gab sich einen Ruck.

»Ich möchte auch Klavier spielen lernen«, sagte er bestimmt und schaute in die Runde und damit in überraschte Gesichter. Wenn es in Sophienlust bei den so unterschiedlichen Kindern mit so unterschiedlichen Schicksalen eine Gemeinsamkeit gab, dann war es ihre Liebe zu Tieren. Martin Felder wollte sogar Tierarzt werden, sein gleichaltriger Freund Simon van Beek liebte seine Amazone Hugo, die zusammen mit dem Papagei Habakuk den Wintergarten bevölkerte. Der vierzehnjährige Fabian war ein Jahr älter und der dritte Junge im Bunde. Ihm gehörte die Dogge Anglos, die mit dem gutmütigen Bernhardiner Barri gerne über das Gelände von Sophienlust stromerte. Pünktchen und Nick waren die Pferdenarren und besonders Angelina Dommin, wie sie eigentlich hieß, war eine hervorragende Reiterin. Vicky, die kleine Schwester von Angelika und Heidi liebten die Ponys und Pferde ebenso und waren oft im Pferdestall anzutreffen. Angelika zog sich auch gerne einmal mit einem Buch zurück und konnte für Stunden darin versinken. Kurzum, Musik hatte in Sophienlust keinen sehr hohen Stellenwert und keiner der Kinder spielte bisher ein Instrument.

»Warum nicht, Kim. Natürlich kannst du Klavier spielen lernen«, sagte Denise sofort. Ihre Zeit als Balletttänzerin lag lange zurück, aber sie hatte eine musikalische Ader und freute sich über Kims Interesse.

»Das alte Klavier von Sophie von Wellentin müsste aber gestimmt werden«, warf Else Rennert ein. Die Heimleiterin wusste am besten über das Inventar Bescheid und auch, dass das Musikzimmer momentan eher eine Abstellkammer war. Das ließe sich natürlich leicht ändern.

»Meint ihr, dass es überhaupt noch zu gebrauchen ist?« Nick war skeptisch. Schließlich lebte seine Urgroßmutter schon lange nicht mehr. Sie hatte Nick nicht nur Sophienlust vererbt, sondern auch verfügt, dass das Herrenhaus zu einem Heim für in Not geratene Kinder umgestaltet wurde. Jetzt war der junge Mann für die Geschicke des Heims und seiner jungen Bewohner verantwortlich. Seine elegante Mutter Denise stand ihm nur noch beratend zur Seite, nachdem sie sein Erbe jahrelang verwaltet hatte.

»Es ist ein Bechstein«, wusste Denise und dachte, dass damit alles gesagt sei.

»Was ist ein Bechstein, Tante Isi«, fragte Vicky.

»Eine sehr hochwertige traditionsreiche Firma, die erstklassige Klaviere und Flügel gebaut hat und immer noch baut. Ich denke, dass es, nachdem es gestimmt wurde, Kim gute Dienste leisten wird«, sagte sie lächelnd und schaute Kim dabei an. Er bekam vor Freude glänzende Augen und fühlte sich plötzlich ganz besonders. In seiner Fantasie sah er sich schon so spielen wie Matteo und stellte sich vor, wie er alle in Bann schlagen würde. Pünktchen sah es ihm an und lächelte. Sie verstand nur zu gut, wie sich der kleine Kim fühlte. Sie war als zwölfjährige nach Sophienlust gekommen. Nick hatte sie gerettet, als ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben kamen. Ihren Kosenamen verdankte sie ihren Sommersprossen und den rotblonden krausen Haaren. Nach einem Schicksalsschlag brauchte man Menschen, die an einen glaubten. Sie hatte Nick so viel zu verdanken und ihre gemeinsame Liebe zu Pferden würde sie für immer verbinden. Dass Denise gar keine Zweifel hatte und sich sofort für Kims Wunsch einsetzte, war so typisch für Sophienlust. Hier fanden in Not geratene Kinder nicht nur ein Zuhause, sondern auch Menschen, die sich für sie einsetzten und an sie glaubten.

*

»Die Mutter von Matteo heißt Clara Benrath?«, fragte Charles Cameron noch einmal nach. Etwas klingelte da bei ihm, aber für den Moment fiel ihm nicht ein, wo er den Namen schon einmal gehört hatte. Charles war mit der Klassenlehrerin unterwegs zur Adresse des kleinen Musikgenies, das den ersten Projekttag mit seiner unverhofften Darbietung durcheinandergebracht hatte.

»Ja, genau. Clara Benrath. Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, die Familie kennenzulernen. Sie müssen erst vor Kurzem hierhergezogen sein. Unsere Rektorin hat mir den Jungen einfach in die Klasse gesetzt.« Die erfahrene Lehrerin Sabine Jakob hatte sofort eingewilligt, als Charles Cameron ihr von dem Ereignis in der Aula erzählt und sie darum gebeten hatte, mit ihm zusammen der Familie einen Besuch abzustatten. Frau Jakob hatte in den vielen Jahren ihrer Berufstätigkeit schon viel erlebt, war aber immer noch engagiert und mit dem ganzen Herzen dabei. Ein sogenanntes Wunderkind war ihr jedoch auch noch nie begegnet. Aber damit war sie nicht allein.

»Ich habe geglaubt, meinen Ohren nicht trauen zu können. Meine Kollegin und ich standen wie zwei Trottel da mit unseren Klanghölzern und Tamburinen, während das kleine Kerlchen aus dem Stegreif Beethoven in die Tasten haute. Wir waren weder vorbereitet noch haben wir ein Konzept für ein musikalisch hochbegabtes Kind. Ich weiß nicht, wie ich Matteo einbinden soll«, hatte der sympathische Musiklehrer unumwunden zugegeben. Frau Jakob musste sich ein Lächeln verkneifen, als sie sich die Situation vorstellte, in die Matteo die beiden Musiklehrer gebracht hatte. Ihr selbst war Matteo im Unterricht weder positiv noch negativ aufgefallen. Aber sie kannte den Jungen erst seit einer Woche.

»Sie wohnen im Forellental in der alten Wassermühle. Die Mühle steht unter Denkmalschutz. Die Stadt Maibach hat sie gekauft, aber für die Renovierung hat der Stadtrat bisher kein grünes Licht gegeben. Offenbar scheut man die Kosten. Ich wusste nicht, dass man in dem alten Kotten überhaupt wohnen kann«, teilte Sabine Jakob mit. Sie saßen in Charles Wagen, der das Lenkrad, wie in England üblich, auf der rechten und damit für deutsche Vorstellungen auf der falschen Seite hatte.

»Ich weiß gar nicht, wo das ist. Kennen Sie den Weg?«, fragte Charles die Lehrerin.

»Ja, es liegt ziemlich außerhalb. Da vorne gleich rechts«, lotste sie den Musikpädagogen und wunderte sich, dass er kein Navigationssystem hatte. Aber so erstaunlich war das eigentlich nicht, wenn man das Baujahr dieser Klapperkiste von Auto berücksichtigte. Nach einigen steilen Kurven, die sie ins Tal führten, waren sie da. Das alte Haus mit seinen Nebengebäuden lag einsam in einem Waldstück direkt am Fluss. Auf Frau Jakob machte die alte Wassermühle einen beinahe unheimlichen Eindruck. Das Gemäuer war vom Moos grünlich verfärbt. Es erschien ihr feucht und modrig, was auch daran liegen konnte, dass der Herbst mit Regen und Wind Einzug gehalten hatte. Vor dem Haus stand ein großer SUV. Charles Cameron parkte seine Klapperkiste neben dem teuren Auto. Sie stiegen aus und hörten schon aus einiger Entfernung den Klang einer Violine. Sie waren angemeldet, aber man schien sie nicht zu erwarten. So war jedenfalls Frau Jakobs Eindruck. Charles konzentrierte sich nur auf die Musik und erkannte Tschaikowski. Die Klassenlehrerin drückte auf die Klingel. Es dauerte eine Weile bis eine Frau Anfang dreißig die Tür öffnete. Das Violinspiel war plötzlich sehr laut zu hören und die Frau winkte ihre Gäste zunächst wortlos herein. Sie trug mehrere lange Pullover in einem wilden Mix übereinander und mit ihren dunkelbraunen Locken schien sie sich für die gleiche Frisur wie ihr Sohn entschieden zu haben. Für einen kurzen Moment hatte Charles blaue Augen aufblitzen gesehen.

»Gehen wir in die Küche. Ich möchte Matteo nicht stören«, sagte sie leise und ging voran. Die beiden Lehrer folgten der Frau durch einen verwinkelten Flur in die Küche. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, drehte sie sich lächelnd um. Sie zeigte ihren Gästen ein offenes Gesicht mit klaren blauen Augen, in denen ein Spur angespannte Wachsamkeit zu erkennen war.

»Jetzt können wir sprechen. Was führt sie zu uns?« Sie blickte zwischen den beiden Lehrern hin und her, nicht wissend, wer beginnen wollte. Charles machte schließlich den Anfang.

»Wir haben in der Grundschule zurzeit ein Projekt der Musikschule mit dem Titel: ›Klang und Rhythmus‹. Viele Kinder lernen heutzutage kein Instrument mehr und wir wollen spielerisch das Interesse an Musik wecken«, erklärte er.

»Das ist sicher schön für die Kinder«, sagte Clara Benrath, schien aber nicht sonderlich interessiert.

»Ja, die Kinder sind begeistert bei der Sache, aber für Matteo ist das nicht das Richtige, fürchte ich«, versuchte Charles auf den Punkt zu kommen. »Ich bin übrigens Charles Cameron. Ich leite diese Projektwoche.«