Zwischen Schuld und Neuanfang - Anna Sonngarten - E-Book

Zwischen Schuld und Neuanfang E-Book

Anna Sonngarten

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Die Kinderärztin Dr. Anja Frey schaute konzentriert in die Patientenakte des kleinen Jan. Eine beeindruckende Anzahl von Krankheiten stand dort aufgelistet. Sie schaute über ihren Monitor hinweg auf den blonden achtjährigen Jungen, der neben seiner Tante saß und unbeteiligt aus dem Fenster sah, während Sibylle Hartmann ihre Handtasche fest im Griff hielt. Dr. Anja Frey kannte Sibylle Hartmann und ihren Neffen seit vielen Jahren. Und genauso lange schon versuchte die Kinderärztin Frau Hartmann davon zu überzeugen, dass Jan gesund war. Denn so lang die Patientenakte auch war, nichts davon hatte das aufgeweckte Kind wirklich. Aufgelistet waren nur Verdachtsdiagnosen, die sich nach einer ausführlichen Untersuchung in nichts aufgelöst hatten. Eingebildete Krankheiten, die Sibylle glaubte, an ihrem Neffen erkannt zu haben, die er aber in der Realität nicht hatte. Jan war gesund. Anfangs war Dr. Frey der Überbesorgtheit von Sibylle Hartmann mit großem Verständnis begegnet. Das Kind hatte im Alter von zwei Jahren seine Mutter verloren und Sibylle hatte als älteste Schwester, die selbst keine Kinder bekommen konnte, den Jungen als Pflegekind zu sich genommen. Natürlich war Sibylle anfangs unsicher und hatte viele Fragen, aber nach einer Trennung von ihrem Lebensgefährten hatte sich diese Überbesorgtheit verstärkt. Der kleine Jan war kerngesund. Sibylle war krank. Diese Einsicht erlangte die Kinderärztin in dem Moment, als Sibylle sie darum bat, ein Attest für Jan auszustellen. »Jan soll vom Sportunterricht befreit werden. Er hat doch Asthma.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 98 –

Zwischen Schuld und Neuanfang

Unveröffentlichter Roman

Anna Sonngarten

Die Kinderärztin Dr. Anja Frey schaute konzentriert in die Patientenakte des kleinen Jan. Eine beeindruckende Anzahl von Krankheiten stand dort aufgelistet. Sie schaute über ihren Monitor hinweg auf den blonden achtjährigen Jungen, der neben seiner Tante saß und unbeteiligt aus dem Fenster sah, während Sibylle Hartmann ihre Handtasche fest im Griff hielt. Dr. Anja Frey kannte Sibylle Hartmann und ihren Neffen seit vielen Jahren. Und genauso lange schon versuchte die Kinderärztin Frau Hartmann davon zu überzeugen, dass Jan gesund war. Denn so lang die Patientenakte auch war, nichts davon hatte das aufgeweckte Kind wirklich. Aufgelistet waren nur Verdachtsdiagnosen, die sich nach einer ausführlichen Untersuchung in nichts aufgelöst hatten. Eingebildete Krankheiten, die Sibylle glaubte, an ihrem Neffen erkannt zu haben, die er aber in der Realität nicht hatte. Jan war gesund. Anfangs war Dr. Frey der Überbesorgtheit von Sibylle Hartmann mit großem Verständnis begegnet. Das Kind hatte im Alter von zwei Jahren seine Mutter verloren und Sibylle hatte als älteste Schwester, die selbst keine Kinder bekommen konnte, den Jungen als Pflegekind zu sich genommen. Natürlich war Sibylle anfangs unsicher und hatte viele Fragen, aber nach einer Trennung von ihrem Lebensgefährten hatte sich diese Überbesorgtheit verstärkt. Der kleine Jan war kerngesund. Sibylle war krank. Diese Einsicht erlangte die Kinderärztin in dem Moment, als Sibylle sie darum bat, ein Attest für Jan auszustellen.

»Jan soll vom Sportunterricht befreit werden. Er hat doch Asthma. Er kann doch nicht mit den anderen Kindern um die Wette rennen«, sagte Sibylle überzeugt und schaute ihren Neffen an, der aber lieber weiter aus dem Fenster sah und mit den Füßen scharrte.

»Frau Hartmann, Jan hat kein Asthma. Das haben wir doch schon längst untersucht. Er hat auch keine Neurodermitis, kein ADHS, keinen Herzfehler, keine Rachitis, keine Leukämie oder sonst etwas, dass Sie beunruhigen müsste. Jan ist ein ganz normaler Junge und sollte unbedingt am Sportunterricht teilnehmen, damit das auch so bleibt.« Frau Dr. Frey hatte das noch nie so deutlich formuliert. Aber sie wollte jetzt Klartext reden. Sie fuhr fort.

»Jan braucht wie jedes Kind unbedingt Bewegung. Er muss Erfahrungen sammeln, seine Grenzen austesten. Dabei darf er auch mal hinfallen und sich Schrammen zuziehen. Das ist ganz normal und notwendig. Sie packen den Jungen in Watte, Frau Hartmann.«

Sibylle sah die Ärztin unverwandt an und knetete ihre Handtasche. Sie war eine Frau Ende Dreißig, die schon bessere Tage erlebt und auch schon besser ausgesehen hatte. Sie hätte noch gut aussehen können, aber so wie sie jetzt vor Dr. Frey saß, wirkte sie verbittert und auch etwas verhärmt. Frau Dr. Frey seufzte.

»Sprechen Sie doch mal mit Ihrem Hausarzt. Vielleicht würde Ihnen eine Kur guttun. So geht es nicht weiter, Frau Hartmann«, sagte die Kinderärztin und ließ dabei offen, was so nicht weitergehen dürfe. Sibylle Hartmann schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Und wer sorgt dann für Jan? Mein Ex-Lebensgefährte lebt inzwischen mit seiner neuen Familie in einer anderen Stadt. Meine kleine Schwester Franzi macht Karriere. Sie hat nie Zeit.«

»Dafür würde sich eine Lösung finden, Frau Hartmann. Sie kennen doch sicher das Kinderheim Sophienlust. Das liegt doch ganz in unserer Nähe. Ich kenne den Besitzer Dominik von Wellentin-Schoenecker und seine Mutter Denise. Ich könnte …«

»Auf gar keinen Fall. Jan kommt doch nicht in ein Kinderheim«, unterbrach Sibylle die Kinderärztin erbost, während Jan zum ersten Mal Interesse an dem Gespräch zeigte. Mit großen blauen Augen sah er hoffnungsvoll zu seiner Kinderärztin auf. Doch Sibylle stand abrupt auf, nahm Jan fast grob am Arm und zog ihn mit sich. Der Junge warf der Kinderärztin einen letzten fast verzweifelten Blick zu. Dr. Anja Frey spürte wie ihr dieser Blick durch Mark und Bein ging. Aber was konnte sie tun? Sie wollte diesen Fall nicht auf sich beruhen lassen, aber das Wartezimmer war voll und zuerst musste sie ihre anderen kleinen Patienten versorgen. Sie machte sich einen Vermerk in Jans Akte, der sie daran erinnern sollte, mit dem Jugendamt Kontakt aufzunehmen. Frau Hartmann brauchte Hilfe. Allein kam sie aus dieser Spirale der Überbesorgtheit nicht heraus, die dazu führte, einem gesunden Jungen immer neue Krankheiten anzudichten, die ihn vor eingebildeten Gefahren bewahren sollte.

*

Sibylle Hartmann setzte Jan an der Schule ab. Am liebsten hätte sie ihn zu Hause gelassen, aber er hatte schon zu viele Fehlstunden in diesem ersten Halbjahr. Für jede weitere Fehlstunde würde sie ein Attest vorlegen müssen, hatte Jans klassenlehrerein gesagt. Für die ersten beiden Sportstunden, die Jan verpasst hatte, reichte der Nachweis, dass er heute bei der Kinderärztin in der Sprechstunde gewesen war. Sibylle schaute Jan hinterher, bis ihn das Schulgebäude verschluckt hatte. Jan hatte sich nicht mehr zu ihr umgedreht, aber der Junge spürte den Blick seiner Tante im Rücken. Schon wieder hatte er den Sportunterricht verpasst. Dabei liebte er die unbeschwerten Stunden in der Sporthalle, wo er rennen und klettern durfte und dafür auch noch gelobt wurde. Er war immer wieder aufs Neue davon überrascht, dass ihn der Sportlehrer anfeuerte und ihn nicht vor möglichen Risiken warnte. Dass er ihm alles zutraute und ihn nicht davon abhielt, etwas auszuprobieren. Jan stellte seine Schultasche vor der Klassentür ab. Gerade hatte es zur Pause geläutet und seine Mitschüler strömten aus der Sporthalle. Er sah auch Heidi, die in seine Klasse ging. Er wusste, dass die lustige blonde Heidi in Sophienlust lebte, und ihm fiel der Vorschlag der Kinderärztin wieder ein. In den Augen seiner Tante war es das Schlimmste, was einem Kind passieren konnte, wenn es in einem Kinderheim leben musste. Das hatte Tante Sibylle ihm immer wieder erzählt. Deshalb war es für Sibylle auch keine Frage gewesen, ihn bei sich aufzunehmen, als seine Mutter starb. Jan war verwirrt. Wenn es so schlimm war, in einem Heim zu leben, warum war Heidi dann so fröhlich und er oft so traurig. Jan fühlte eine Unstimmigkeit, die er sich nicht erklären konnte. Sibylle tat alles für ihn. Sie wollte ihn beschützen. Ihm sollte nichts passieren. Das war schon in Ordnung. Aber es passierte auch sonst einfach gar nichts. Er hatte keine Freunde und durfte das Haus nicht ohne seine Tante verlassen. Sibylle wollte aber am liebsten immer zu Hause bleiben. Sie fuhren einmal im Monat nach Maibach zum Einkaufen. Wenn alle Schränke bis zum Bersten gefüllt waren, war Tante Sibylle zufrieden.

»So das hätten wir geschafft. Jetzt müssen wir nirgendwo mehr hin.« Diesen Satz wiederholte seine Tante dann jedes Mal. Jan verstand das nicht. Andere Kinder erzählten von ihren Erlebnissen, von Ausflügen, von Kindergeburtstagen. Jan war immer zu Hause. Manchmal puzzelten Tante Sibylle und er zusammen, oder sie las ihm etwas vor, aber oft schauten sie nur fern.

»Hallo Jan, wo warst du denn heute?«, fragte Heidi, die Jans Weg gekreuzt hatte.

»Beim Kinderarzt«, antwortete der Junge gleichmütig.

»Warum? Bist du krank?«, wollte Heidi wissen.

»Eigentlich nicht. Also die Frau Doktor glaubt, dass ich gesund bin, aber meine Tante meint, dass ich Asthma habe«, nuschelte Jan schnell daher. Er wollte die Sache nicht vertiefen, aber auch nicht unfreundlich zu Heidi sein. Heidi stutzte kurz, weil sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. Doch unbekümmert wie sie war, forderte sie Jan auf, mit ihr auf die Kletterspinne zu klettern.

»Kommst du mit. Ich kann jetzt schon ganz nach oben klettern«, sagte sie stolz und rannte los. Jan folgte ihr und mit jedem Meter, den sich die beiden in die Höhe hangelten, vergaß der Junge seine Sorgen. Heidi war klasse. Er mochte sie von den Mädchen am liebsten.

*

Noch vor Schulbeginn wollte der Hausmeister die Papiercontainer zur Abholung bereitstellen. Eine Routinetätigkeit, die seine Aufmerksamkeit kaum beanspruchte. Merkwürdigerweise stand ein ausrangierter Stuhl vor dem Container, den der Hausmeister beim Sperrmüll abgestellt hatte. Als er den blauen Container aus der Ecke zog, hörte er dann ein Geräusch wie ein Kollern, dass zu dem mutmaßlichen Inhalt des Containers nicht passte. Er stutzte. Da hatte schon wieder jemand etwas hineingeworfen, das eigentlich in den Restmüll gehörte, dachte er und schob den Deckel zurück. Doch was er zu sehen bekam, versetzte ihm einen Schock und seine Beine versagten ihm für einige Millisekunden ihren Dienst. Erst als er erkannte, dass das Kind lebte, dass sich unter dem Papier eine Art Nest gebaut hatte, verwandelte sich sein Schreck in Ärger.

»Um Himmels Willen. Was machst du in dem Container. Ihr wisst doch, dass die Container kein Spielplatz sind«, rief er. Jan versuchte, sich hochzurappeln, und murmelte eine Entschuldigung. Der Hausmeister bemerkte eine benommene Schläfrigkeit bei dem Kind, die zu seiner Vermutung nicht passte. Hier spielte niemand Verstecken. Das Kind hatte offenbar in dem Papiercontainer übernachtet. Er schnappte sich den Jungen, zog ihn aus dem Container, griff nach der Schultasche, die ebenfalls im Container gelandet war und marschierte mit ihm auf dem Arm geradewegs in seine Hausmeisterloge. Von dort rief er den Rektor der Grundschule an, den er schon in seinem Büro wähnte. Mit der anderen Hand legte er Jan eine Decke über die Schultern.

»Baumeister«, meldete sich der Rektor.

»Guten Morgen, Herr Baumeister. Könnten Sie bitte zur Hausmeisterloge kommen. Es gibt ein Problem«, bat der Hausmeister. In seiner Stimme lag so viel Ernst, dass der Rektor nicht weiter nachfragte, auflegte und sich zur Hausmeisterloge begab, die in einem anderen Trakt des Gebäudes lag.

»Jan«, sagte der Rektor, als er eintrat und den Jungen mit einer Decke auf einem Stuhl sitzen sah. Es klang sowohl wie eine Frage, als auch wie eine Feststellung. Dann schaute er den Hausmeister fragend an.

»Ich habe Jan im Papiercontainer gefunden. Es sieht so aus, als hätte der Junge darin übernachtet«, erklärte der Hausmeister.

»Stimmt das, Jan?«, fragte der Rektor.

Jan nickte. Plötzlich rollten Tränen, ihm wurde sehr kalt und er begann zu zittern. Der Hausmeister wickelte das Kind in die graue Wolldecke. Die beiden Männer überlegten, was jetzt zu tun war. Der Rektor kannte alle seine Schüler und wusste, dass Jan bei seiner Tante lebte. Er musste sie informieren. Als er wieder zurück in seinem Büro war, hörte er die Schulsekretärin telefonieren. Die Tür stand offen und die Sekretärin winkte ihn aufgeregt herbei. Wortlos formte sie das Wort »Polizei« und reichte dem Rektor das Telefon.

»Es wurde ein Kind Ihrer Schule als vermisst gemeldet. Die Mutter geht von einer Entführung aus«, informierte ihn der Beamte am anderen Ende der Leitung. »Wann wurde der Schüler Jan Hartmann zuletzt gesehen?«

»Soeben. Er sitzt in der Hausmeisterloge. Die Nacht hat er im Papiercontainer verbracht. Er ist wohlauf. Von einer Entführung würde ich nicht ausgehen«, informierte der Rektor den Beamten.

»Sind wir auch nicht«, erwiderte der Polizist.

»Wovon sind Sie dann ausgegangen?«, wollte der Rektor jetzt wissen. Der Beamte zögerte. »Davon, dass der Junge ausgerissen ist«, sagte er.

»Jan Hartmann ist acht Jahre alt. Ich denke, da stimmt etwas nicht. Ein Achtjähriger läuft nicht einfach von zu Hause weg«, überlegte der Rektor laut.

»Ja, das ist richtig. Wir informieren Frau Hartmann und dann das Jugendamt«, versprach der Polizist.

Die Sekretärin machte große Augen. Dieser Morgen fing ja mal gut an. Herr Baumeister hielt sich aber mit weiteren Informationen zurück und überlegte, was er noch über Jan wusste, während er zurück zur Hausmeisterloge ging. Frau Hartmann ist Jans Pflegemutter und alleinerziehend. Seine Mutter starb bei einem Verkehrsunfall, als der Junge zwei war. Bisher war nur aufgefallen, dass Jan sehr oft krank war und selten am Sportunterricht teilnahm. Nach einer Nacht im Papiercontainer würde ich gerne etwas Heißes trinken wollen, dachte der gutmütige Rektor. Und Hunger hat das Kind vielleicht auch, sagte er sich. Aber als er in der Hausmeisterloge ankam, sah er, dass der Hausmeister selbst schon auf die Idee gekommen war, Jan etwas aus seiner Thermoskanne einzuschenken und ihm einen Schokoriegel anzubieten.

»Pfefferminztee«, erklärte er.

Rektor Baumeister nickte beifällig. Dann wandte er sich an Jan, um ihn zu fragen, was er gestern nach der Schule gemacht hätte. Als Grundschulpädagoge wusste der Rektor, dass Achtjährige oft noch keine längeren Begebenheiten flüssig hintereinander erzählen konnten. Jan bildete da keine Ausnahme, aber es kristallisierte sich folgendes Bild heraus: Jan war nach der Schule nicht nach Hause, sondern mit dem Bus nach Wildmoos gefahren. Er wollte wissen, wo Heidi wohnte und wie das Kinderheim, von dem er schon so viel gehört hatte, aussah. Er war den selbst gebastelten hölzernen Hinweisschildern gefolgt und zu einem riesigen Park gekommen, der von einem schmiedeeisernen Zaum umgeben war. Auf dem Gelände stand ein sehr großes Haus, so schön wie ein Schloss. Er war den Zaun entlang gegangen und hatte die Kinder gesehen. Als er Heidi entdeckte, hatte er sie gerufen. Sie hatte sich gefreut, dass er sie besuchen kam, und sie hatten zusammen gespielt. Es gab so viel zu sehen, so viele Tiere und alle waren sehr nett. Da war auch eine Frau, die ihm etwas zu essen gegeben hat. Das war die Köchin. Aber dann wollte ein junger Mann wissen, ob er abgeholt würde. Da hatte er sich überlegt, dass es besser wäre, zu gehen. Der Mann wollte ihn nach Hause fahren, aber Jan hatte gesagt, dass es ganz nah ist und er zu Fuß gehen könnte. Als er in Bachenau an seiner Schule vorbeikam, hat er gesehen, dass es schon sehr spät war. Da hatte er sich gedacht, dass Tante Sibylle sicher sehr böse auf ihn wäre, und er hatte sich nicht nach Hause getraut. In seinem Schulranzen war noch ein Brot. Das hatte er gegessen. Und dann kam die Idee mit dem Container ….

Rektor Baumeister hatte noch eine Frage, die er aber für sich behielt. Warum glaubte der Junge, dass seine Tante so böse auf ihn wäre, dass er sich nicht getraut hatte, nach Hause zu gehen?

»Nun gut. Da wird sich deine Tante aber freuen, dass du gesund und munter bist und nichts weiter passiert ist«, sagte er stattdessen zuversichtlich. In Jans Gesicht fand diese Zuversicht keinen Widerhall. Er schaute skeptisch zwischen den beiden Männern hin und her. Gerne hätte er ihnen gesagt, dass er noch nie so glücklich wie an diesem Nachmittag in Sophienlust gewesen war. Dass er ein Gefühl der Freiheit und Leichtigkeit verspürt hatte, dass völlig neu für ihn war. Sein Herz war auf einmal ganz weit geworden. Aber er hatte keine Worte für seine Empfindungen. Er war schließlich erst acht.

*

Der kleine Jan Hartmann war ein Pflegekind. Seine Tante hatte ihn nicht adoptiert. Der Grund dafür war einfach. Klaus Vogt ihr Ex-Lebensgefährte hatte es nicht gewollt. Als Meike starb, kriselte es bereits zwischen Sibylle und Klaus. Er hatte Sibylle klipp und klar gesagt, dass für ihn eine Adoption nicht infrage käme. Er wäre bereit, das Kind aufzunehmen, aber mehr auch nicht. Für Sibylle machte das keinen Unterschied. Jan lebte bei ihr. Sie verstand sich als seine Mutter. Aber auf rechtlicher Seite gab es sehr wohl einen Unterschied. Das Jugendamt hatte die Vormundschaft für Jan. Deshalb brach eine Welle über Sibylle herein, die sie nicht hatte kommen sehen. Von der Polizei wusste sie, wo Jan die Nacht verbracht hatte. Man hatte ihr gesagt, dass es keine Entführung war, und wo Jan nach der Schule gewesen war. Das Jugendamt wollte darüber hinaus Klarheit: Warum war Jan nicht nach Hause gekommen? Warum hatte er die Nacht in einem Papiercontainer verbracht? Diese Fragen wollte die Beamtin Helga Faber klären.

Am späten Vormittag wusste Sibylle noch nichts von einem Gespräch zwischen Frau Faber und Frau Dr. Frey. Die Kinderärztin hatte der Beamtin des Jugendamtes ihre Einschätzung mitgeteilt.

»Frau Hartmann kümmert sich aufopferungsvoll um Jan. Aber sie ist dabei so überfürsorglich, dass sie dem Jungen mehr schadet als hilft«, hatte die Kinderärztin die Beamtin wissen lassen.