Sozialraumorientierung 4.0 -  - E-Book

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Beschreibung

Sozialraumorientierung 4.0 - aktuelle Entwicklungen und Tendenzen kompakt und verständlich dargestellt Sozialraumorientierung stellt seit über 30 Jahren die Grundlage für zahlreiche Innovationsprozesse in unterschiedlichen Praxisfeldern der Sozialen Arbeit dar. Dieses Buch fasst aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse in der Fachdebatte sowie in der Praxis zusammen, dokumentiert und bewertet sie. Unter den Autor*innen finden sich Expert*innen aus Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und dem Quartiermanagement, die Sozialraumorientierung als leitende Konzeptfolie in diesen Arbeitsfeldern verankert haben. Eine übersichtliche Gliederung sowie die Berücksichtigung der neuesten Forschungsarbeiten machen das Buch zu einem wertvollen Nachschlagewerk für Studierende, für Praktiker*innen und für die Aus- und Weiterbildung..

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Seitenzahl: 442

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UTB 5515

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Roland Fürst/Wolfgang Hinte (Hg.)

Sozialraumorientierung 4.0

Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

Facultas Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Satz: Hannes Strobl, Satz·Grafik·Design, Neunkirchen

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

UTB-Band-Nr.: 5515

ISBN 978-3-8252-5515-2

e-ISBN 978-3-8385-5515-7

epub 978-3-8463-5515-2

Inhalt

Einleitung: Wolfgang Hinte/Roland Fürst

1.Original oder Karaoke – was kennzeichnet das Fachkonzept Sozialraumorientierung?

Wolfgang Hinte

2.Die fünf Prinzipien: Grundlagen, Vertiefungen und Praxisbeispiele

Manfred Tauchner

„Ja, dürfen’s denn das?“ – Die Welt als normierter Wille und sozialräumliches Vorstellungsvermögen

Bernhard Demmel

Die Orientierung am Willen in der Praxis – einfach, aber nicht leicht

Frank Dieckbreder/Sarah Dieckbreder-Vedder

„Uns wird der Arsch nicht mehr hinterhergetragen.“ – Behinderte Menschen und die Umsetzung des BTHG in Deutschland

Andrea Stonis/Thomas Steinberg/Karen Haubenreisser

Personelle und sozialräumliche Ressourcen kreativ verbinden

Michael Noack

Diverse Gruppen im Quartier

Wolfgang Hinte/Roland Fürst

Die Dominanz des ökonomischen Systems verhindert Solidarität – Finanzierungsparadigmen als Hürde für Kooperation

3.Prozesse und Projekte

Hanne Stiefvater/Karen Haubenreisser/Armin Oertel

Von der Sonderwelt ins Quartier – Organisations- und Konzeptentwicklung (in) der Evangelischen Stiftung Alsterdorf

Ingrid Krammer/Michael Terler

Weniger ist mehr: Innovation durch Kooperation in der Grazer Kinder- und Jugendhilfe

Christa Quick/Matthias Kormann

Professionelle Gestaltung von flexiblen Unterstützungsprozessen am Beispiel Familien Support Bern West

Walerich Berger

Sozialraumorientierung: Ein Paradigmenwechsel für Unternehmen, Mitarbeitende und Menschen mit Behinderungen

Thomas Wittmann

Sozialraumorientierte Jugendhilfe in der Stadt Rosenheim: Ein Finanzierungsmodell zur Unterstützung sozialarbeiterischer Fachlichkeit

André Chavanne

Zwischen Abgabemustern und Elternaktivierung: Von der Notwendigkeit, Grenzen neu zu denken

Margrit Lienhart/Alexander Kobel

Passgenaue Massnahmen im Rahmen sozialräumlicher Kooperationen von Sozialdiensten und Leistungserbringern im Kanton Bern

Hannes Schindler/Bettina Oschgan/Elisabeth Pilch/Matthias Liebenwein/Martin Baumann

Ein Unternehmen integriert Sozialraumorientierung

Birgit Stephan

Sozialraumorientierung in der Freien und Hansestadt Hamburg – dargestellt am Jugendamt Wandsbek

4.Forschungsbefunde und Perspektiven

Michael Noack

„Gibt es dazu auch Forschungsergebnisse?“ – Zur Empirie der „Big Five“

Roland Fürst

Professionelles Schreiben und Dokumentieren als Grundlage fachlicher sozialräumlicher Sozialer Arbeit

Stefan Bestmann

Auf dem Weg zu einer Theorie Sozialer Arbeit? Baustellen, Entwicklungsnotwendigkeiten und Perspektiven

Autoreninformationen

Einleitung

Im Jahr 2014 erschien unser erstes gemeinsames Buch „Sozialraumorientierung – Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten“. Mittlerweile ist das Buch in der dritten Auflage erschienen und aus dem Studien- und Lehrbetrieb nicht mehr wegzudenken, weil es nach wie vor das einzige aktuelle Studien- und Lehrbuch ist, welches das Fachkonzept Sozialraumorientierung in unterschiedlichster Weise in den Fokus nimmt. Das Buch findet nicht nur in den Ausbildungsstätten der Sozialen Arbeit an den verschiedenen Hochschulen im deutschsprachigen Raum Verwendung, sondern wird auch von den Organisationen und Administrationen entsprechend rezipiert. Vor einiger Zeit hat sich nun die Frage gestellt, ob wir das Studien- und Lehrbuch für eine neue Auflage überarbeiten oder ob wir aktuelle Beiträge von unterschiedlichen Autor/innen zu einem Buch zusammenfassen sollen, um den derzeitigen Anforderungen der Leserschaft in Profession und Disziplin gerecht zu werden, denn der Boom, den das Fachkonzept Sozialraumorientierung ausgelöst hat, ist ungebrochen. Wir haben uns für die zweite Variante entschieden, wobei uns mehrere Anlässe dazu bewogen haben, das folgende Buch „Sozialraumorientierung 4.0 – Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven“ herauszugeben.

–Da sind zum einen die zahlreichen Prozesse in Organisationen der Sozialen Arbeit sowie in regionalen Landschaften, bei denen vor dem Hintergrund je spezifischer lokaler Gegebenheiten versucht wird, Soziale Arbeit auf der Basis des Konzepts „Sozialraumorientierung“ zu qualifizieren, sei es in der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Arbeitsförderung, dem Quartiermanagement, der Arbeit mit geflüchteten Menschen oder der Pflege. Diese an vielen Orten laufenden Prozesse sind nur selten systematisch dokumentiert und nur wenig miteinander verzahnt. Einzelne lokale Akteure/innen aus verschiedenen Regionen lernen zwar voneinander, indem sie im Austausch stehen oder sich wechselseitig besuchen, doch der Großteil der organisationalen und regionalen Umbauten erfolgt nur selten unter Rückgriff auf anschaulich dokumentierte Erfahrungen aus anderen Prozessen, die inhaltlich vom Fachkonzept Sozialraumorientierung gespeist wurden. Wir haben für dieses Buch Akteure/innen aus den verschiedenen Regionen gebeten, Beiträge zu schreiben, die fachlich ausgewiesen in verantwortlichen Funktionen derlei Prozesse auf den Weg gebracht und gesteuert haben, und sie gebeten, zentrale Erfahrungen mitzuteilen, kritisch zu reflektieren und sie möglichst nachvollziehbar für interessierte Leser/innen zu präsentieren.

–Seit der Publikation „Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe“ (von Wolfgang Hinte und Helga Treeß) im Jahre 2007 (Erstauflage) und des Studienbuchs „Sozialraumorientierung“ (von Roland Fürst und Wolfgang Hinte) im Jahre 2014 (Erstauflage) sind einige Jahre ins Land gegangen. In dieser Zeit haben sich einige offene Fragen bezüglich konzeptioneller Grundlagen geklärt, sind neue offene Fragen entstanden, und es liegen neue Erkenntnisse sowohl aus den lokalen Prozessen wie auch darauf bezogenen Evaluationen vor. Zu diesen Fragen und Erkenntnissen äußern sich im vorliegenden Buch Autor/innen, die sowohl über die notwendige Feldkenntnis als auch über Kenntnisse zur aktuellen Debattenlage verfügen.

–Verwirrung und Unklarheit bezüglich dessen, was das Fachkonzept Sozialraumorientierung ausmacht und leisten kann, entstehen derzeit dadurch, dass über Erzählungen, Parolen und/oder Seitengespräche etwa auf Kongressen irgendwelche Halbwahrheiten über unter der Chiffre „Sozialraumorientierung“ firmierende Prozesse in verschiedenen Regionen von Personen verbreitet werden, die wiederum über mehrere Stationen irgendetwas gehört haben, das sie anschließend als Tatsache ausgeben und umgehend von einigen Zuhörenden geglaubt und dann weitergetragen wird. So entstehen Behauptungen wie etwa: „Bei dem Prozess in der Stadt XY geht es doch nur ums Sparen.“ Oder: „Die haben ja erstmal im Landkreis AB das halbe Personal ausgetauscht und konnten letztlich den Prozess nur gegen den Widerstand der Beschäftigten durchsetzen.“ Oder: „Seit der Sozialraumorientierung gibt es in Stadt EF doch erheblich schlechtere Leistungen als vorher.“ Wenn solche Parolen gelegentlich (vornehmlich aus dem akademischen Intrigantenstadl) noch angereichert werden durch Zwischenrufe von sich am Spielfeldrand tummelnden Akteur/innen, die sich als Forscher/innen verstehen und sich doch eher verhalten wie Kommentator/innen einer Sportart, von der sie weder die Regeln kennen noch die aktuellen Player, dann entsteht in den Augen interessierter Betrachter/innen sehr leicht ein Bild über so manchen Prozess, das mit der Wirklichkeit vor Ort kaum noch etwas zu tun hat.

Aus diesen Gründen liegt uns in dieser Publikation daran, lokale Akteure/ innen zu Wort kommen zu lassen, die in verantwortlicher Position engagiert und reflektiert Prozesse in Gang setzen und begleiten, die sich auf das Fachkonzept Sozialraumorientierung berufen und über fachliche Implikationen hinaus Auswirkungen auf Strukturen und Organisation zeitigen.

Wir nähern uns der Bestandsaufnahme der aktuellen Situation mit einem Potpourri von Beiträgen verschiedenster Couleur: Vom persönlichen Erfahrungsbericht über eine systematische Prozessreflektion, klassische Fachaufsätze mit entsprechenden Literaturhinweisen, essayistischen Kommentaren, Interviews, exegetischen oder hermeneutischen Beiträgen bis hin zu solchen Aufsätzen, die sich nicht eindeutig einem Genre zuordnen lassen, sondern einfach informativ, anschaulich und inhaltsreich sind.

Zu Beginn des Bandes im ersten Kapitel steht ein Beitrag von Wolfgang Hinte zur Vergewisserung darüber, was das Fachkonzept Sozialraumorientierung kennzeichnet und welche Wirkungen die Arbeit nach diesem Konzept auf die verschiedenen Phasen der Erbringung sozialstaatlicher Leistungen zeitigt.

Das zweite Kapitel bietet Vertiefungen und Praxisbeispiele zu den grundlegenden fünf Prinzipien des Fachkonzepts Sozialraumorientierung. Manfred Tauchner reflektiert historisch und philosophisch fundiert das Prinzip „Ansatz am Willen“, und Bernhard Demmel beschäftigt sich mit praktischen Herausforderungen bei der Umsetzung des Prinzips. Frank Dieckbreder und Sarah Dieckbreder-Vedder beleuchten und präzisieren die im Prinzip zwei getroffenen Aussagen zu den Chancen der Nutzung der eigenen Aktivität von behinderten Menschen im Leistungsgeschehen nach dem deutschen Bundesteilhabegesetz, und inhaltlich wie systematisch knüpfen daran Andrea Stonis, Thomas Steinberg und Karen Haubenreisser mit ihrem Beitrag zur konsequenten Ressourcenorientierung in der Stiftung Alsterdorf in Hamburg an. Der zielgruppen- und bereichsübergreifende Blick beim sozialräumlichen Arbeiten wird exemplarisch dargestellt im Beitrag von Michael Noack zur Diversität in lokalen Quartieren. Wolfgang Hinte und Roland Fürst beleuchten danach die Widersprüche, die insbesondere durch Finanzierungsstränge entstehen, die die allseits gewünschte Kooperation zumindest erschweren.

Im dritten Kapitel geht es um konkrete Projekte und Prozesse in verschiedenen Organisationen und Gebietskörperschaften. Die Entwicklung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg von der Sonderwelt ins Quartier beschreiben Hanne Stiefvater, Karen Haubenreisser und Armin Oertel. Ingrid Krammer und Michael Terler reflektieren den Aufbau kooperativer Strukturen in der Grazer Kinder- und Jugendhilfe. Der Familien Support Bern West ist eine Organisation, in der seit vielen Jahren mit dem Fachkonzept Sozialraumorientierung flexible Unterstützungsprozesse für Kinder, Jugendliche und Familien gestaltet werden: Wie das konkret aussieht, beschreiben Christa Quick und Matthias Kormann. Walerich Berger erzählt im darauffolgenden Interview, wie sich der Paradigmenwechsel in Richtung Sozialraumorientierung für verschiedene Ebenen eines Unternehmens auswirkt, das Leistungen für Menschen mit Behinderungen in der Steiermark anbietet. Der Zusammenhang zwischen einem auf dem Budgetgedanken beruhenden Finanzierungsmodell und der Unterstützung sozialarbeiterischer Fachlichkeit wird von Thomas Wittmann aus der Stadt Rosenheim dargestellt, und wie sich Grenzen zwischen einzelnen Leistungssäulen mehr und mehr auflösen, wenn man mit sozialräumlichem Blick der Dynamik von Familiensystemen folgt, geht aus dem Beitrag von André Chavanne aus Langenthal in der Schweiz hervor. Im Kanton Bern kooperieren einige Sozialdienste auf der Grundlage einer vertraglichen Vereinbarung mit der Organisation SORA, um mit sozialräumlichem Blick passgenaue Maßnahmen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu entwickeln: Margrit Lienhart und Alexander Kobel präsentieren die Erfahrungen bei der Entwicklung dieses Kooperationszusammenhangs. Die Diakonie de La Tour in Kärnten realisiert in mehreren Leistungsfeldern konsequent die fachlichen Implikationen sozialräumlichen Arbeitens: Wie das gelingen kann, beschreiben Hannes Schindler, Bettina Oschgan, Elisabeth Pilch, Matthias Liebenwein und Martin Baumann am Beispiel der Quartierarbeit und der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Für die Kinder- und Jugendhilfe der Freien und Hansestadt Hamburg ist Sozialraumorientierung eine zentrale fachliche Grundlage: Wie sich die Realisierung in einem partizipativen Prozess im Jugendamt Wandsbek gestaltet, berichtet Birgit Stephan.

Die Beiträge im vierten Kapitel beschäftigen sich mit Forschungsbefunden und daraus abgeleiteten Perspektiven. Michael Noack fasst Forschungsergebnisse zusammen, die sich auf die fünf Prinzipien des Fachkonzepts beziehen, Roland Fürst nennt Leitlinien für das Verfassen von Berichten, Gutachten und Dokumentationen in der sozialräumlichen Arbeit, und Stefan Bestmann rundet den Band mit Hinweisen auf Baustellen, Entwicklungsnotwendigkeiten und Perspektiven sozialräumlicher Arbeit ab, die auch als Bruchstücke auf dem Weg zu einer Theorie Sozialer Arbeit verstanden werden können.

Insgesamt baut das vorliegende Buch mit neuen Originalbeiträgen und weiterführenden inhaltlichen Perspektiven auf die im ersten Buch gelegten Grundlagen auf und antwortet damit sowohl auf aktuelle Fragen aus Praxis und Theorie Sozialer Arbeit als auch auf in den Diskursen über Sozialraumorientierung aufgeworfene Fragestellungen.

Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren, die sich die Zeit genommen haben, neben den zahlreichen Herausforderungen in ihrem Arbeitsalltag die vorliegenden Beiträge zu verfassen und sich mit den nicht immer einfach zu realisierenden Korrekturwünschen der Herausgeber auseinanderzusetzen. Geduld, Übersicht und hervorragende Beherrschung der Technik sind wesentliche Qualitäten, die Andrea Schmelzer auf sich vereinigt und damit einen erheblichen Anteil dazu beigetragen hat, dass das Buch in dieser Fassung vorliegt. Sowohl ihr als auch Susanne Fürst für das abschließende Korrekturlesen gebührt unser großer Dank.

Wolfgang Hinte/Roland Fürst

Essen und Wien im Mai 2020

Wolfgang Hinte

1.Original oder Karaoke – was kennzeichnet das Fachkonzept Sozialraumorientierung?

Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Soziale Arbeit, vom Fall zum Feld: Was einst an mit diesen Schlagworten umschriebenen Suchbewegungen initiiert wurde, ist mittlerweile zu einem konzeptionell fundierten und in der Praxis weit verbreiteten Strang Sozialer Arbeit geworden, dessen Bedeutung weit über die anfänglichen Ursprünge (Arbeit im Quartier, Dezentralisierung Sozialer Dienste, Lebensweltbezug in der Kinder- und Jugendhilfe) hinausreicht und zu einem sämtliche Felder Sozialer Arbeit durchziehenden Fachkonzept geworden ist. Dieses prägt – mehr oder weniger – nicht nur die praktische Arbeit der Berufsgruppe, sondern dient auch als Grundlage für zahlreiche Prozesse der Neuorganisation (insbesondere seit den 1980er Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe und seit den 1990er Jahren auch in der Behindertenhilfe). Dass die Motive der in diesen Feldern agierenden Akteure/innen vielfältig und gelegentlich widersprüchlich sind, liegt auf der Hand: Sozialraumorientierung ist längst eine wehrlose Konzeptvokabel geworden, die – nicht immer im Sinne ihrer Begründer/innen – für zahlreiche Merkwürdigkeiten herhalten muss, die nicht mehr allzu viel mit den ursprünglich entwickelten und immer wieder formulierten und beschriebenen (s. dazu Hinte/Treeß 2014; Noack 2015) Prinzipien zu tun haben, sondern oft auch einer bunten Mischung aus gedanklicher Bequemlichkeit, akademischen Eitelkeiten oder lokalen Handlungszwängen entspringen. In dieser Gemengelage ist es durchaus herausfordernd, konzeptionell Kurs zu halten und dem Publikationsallerlei ein konsistentes Gebilde aus fachlicher Konzeption und Hinweisen für hilfreiche Bedingungen im Aufbau einer Organisation und flexiblen Finanzierungsstrukturen zur Seite zu stellen (um nicht zu sagen: entgegenzusetzen), das theoretisch wie praktisch Orientierung bietet, aber selbstverständlich auch zu Kritik und Weiterentwicklung anregt.

Zum Fachkonzept Sozialraumorientierung lässt sich unter historischen, systematischen, methodischen und strukturellen Aspekten kaum noch etwas substantiell Neues sagen – die Prinzipien wurden vielfach rauf und runter erklärt, in ihren Verästelungen beschrieben, in ihren Auswirkungen beforscht und mit Beispielen aus zahlreichen Arbeitsfeldern illustriert. Seit den 2000er Jahren geht es im Grunde darum, dieses Konzept in der Praxis so zu erden, dass es in seinen Umsetzungsmöglichkeiten ausgelotet wird und durch entsprechende Veränderungen in Struktur und Finanzierung Unterstützung findet. Dazu liegt mittlerweile eine Vielzahl von Erfahrungen vor, die indes noch nicht systematisch und in einer Art und Weise dokumentiert wurden, die konkret genug ist, um weiteren interessierten Akteur/innen in den Gebietskörperschaften präzise Informationen darüber zu geben, welche Chancen und Risiken in solchen Prozessen liegen bzw. welche To-dos und Not-To-dos zu beachten sind.

Kern des Fachkonzepts sind die hinlänglich bekannten fünf Prinzipien, die auf den ersten Blick in ihrer Schlichtheit ungemein selbstverständlich wirken, deren Qualität und „Sprengkraft“ sich indes erst bei genauerem Hinsehen erschließen.1

–So scheint auf den ersten Blick der Hinweis auf den „Ansatz am Willen“ trivial. Doch wenn klar ist, dass es einen Unterschied zwischen Wunsch und Wille gibt, dass ein Wille eine andere Kategorie ist als ein Bedürfnis oder der Bedarf, dass die aus einem Willen abgeleiteten Ziele sich wie „rote Fäden“ durch ein Arbeitsbündnis ziehen – dann wird z. B. klar, dass ein versäultes Hilfesystem, durch das der Wille eines Menschen immer wieder schon durch das System verformt und zurechtgeruckelt wird, einem solchen Ansatz zuwiderläuft. In klassischen Systemen werden Wille und Ziele der leistungsberechtigten Menschen den jeweils vorhandenen, historisch entwickelten und auf der Grundlage von Leistungs- und Entgeltvereinbarungen finanzierten Hilfen angepasst – in einem konsequent dem Fachkonzept folgenden System müsste sich ein Hilfesystem jeweils passgenau den speziellen individuellen Willen und Zielen der Menschen anschmiegen und sich – nur leicht übertrieben gesagt – bei jedem „Fall“ neu justieren.

–Wenn die eigene Aktivität des betroffenen Menschen Kern eines professionellen Arbeitsbündnisses ist, dann hat das Konsequenzen für die Aufstellung solcher Institutionen, in denen Betreuung und Kundenzufriedenheit entscheidende Parameter für „Erfolg“ sind. Denn dort werden oft die Rechte und die Eigenaktivität des Menschen gleichsam erschlagen (Pestalozzi soll gesagt haben: „Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade.“) von der Wohltätigkeitsbereitschaft des Systems und insbesondere der Professionellen. Wer Kund/innen bedient, fördert eine passive Grundhaltung und bietet sich geradezu an als jemand, an den man Verantwortung abgibt und der in perfekter Weise alles herrichtet. Dagegen fördert die Konzentration auf die eigene Aktivität des Menschen alltägliche Normalität, und dazu gehören Unfertigkeit sowie Dinge, die schiefgehen, dazu zählen Selbstorganisation bis hin zu Systemveränderung durch Widerstand.

–Wenn persönliche Ressourcen zentral sind für gelungene Unterstützungsprozesse, dann hat das Konsequenzen für leistungsbegründende Vermerke: Defizitdiagnosen und gut gemeintes „Kaputtschreiben“ von Menschen zum Zwecke der Leistungsbegründung müssen mehr und mehr abgelöst (zumindest aber ergänzt) werden durch die Beschreibung von Eigenschaften, die in wichtigen Lebenskontexten Ressourcen, Kompetenzen und Fähigkeiten sind. Zahlreiche Gutachten, die bei genauem Hinsehen eher „Schlechtachten“ sind, müssten sich verstärkt auf die erfolgreichen Bewältigungsstrategien von Menschen auch in prekären Lebenslagen richten, die bislang dazu beigetragen haben, dass Menschen (wenn auch mehr schlecht als recht) durchs Leben gekommen sind.

–Wenn zielgruppenübergreifende Arbeit ein fachlicher Standard ist, dann dürfen sich die Akteure/innen in den unterschiedlichen Gesetzeskreisen nicht ausschließlich auf die korrekte Feststellung und Erbringung der in einem bestimmten Gesetzbuch verbrieften Leistungen konzentrieren. Dazu reicht es nicht, dass man grundsätzlich „vorrangige Leistungen“ aus jeweils anderen Gesetzbüchern prüft. Vielmehr geht es darum, dass zum einen Leistungen aus jeweils anderen Leistungsgesetzen klug miteinander kombiniert werden, zum anderen aber, dass der eine Leistung beantragende Mensch nicht vorrangig oder gar ausschließlich gesehen wird als „anspruchsberechtigt nach …“, sondern in seinen gesamten Lebenszusammenhängen betrachtet und auf dieser Grundlage eine (leistungsgesetzlich begründete) Unterstützung gemeinsam mit dem leistungsberechtigten Menschen entwickelt und beschrieben wird, die dann in Kooperation von mehreren Leistungsträgern, auch aus unterschiedlichen Gesetzeskreisen, erbracht wird. Konsequent weitergedacht würde das z. B. auch heißen, dass Aktivitäten im Bereich „fallunspezifische Arbeit“ (s. dazu Hinte 1999) nicht gesetzbuchspezifisch erbracht werden, sondern von eigens dazu eingerichteten Instanzen (in manchen Städten heißen sie „Netzwerker/innen“), die mit breitem Blick und ohne zielgruppenspezifische Einschränkung ihre Kenntnisse über Ressourcen im Sozialraum bei der Kreation passgenauer Leistungen einbringen.

–Kooperation beschreibt eine basale Grundhaltung für sozialräumliches Arbeiten. Angesichts einer derzeit immer noch zahlreiche Quartiere prägenden destruktiven Konkurrenzsituation – insbesondere unter den dortigen Trägern und Verbänden, zum Teil gar angefacht von den Leistungsträgern mit der Absicht, Dumping-Preise zu befördern – ist es hilfreich, die Währung „Geld und Macht“ durch die Währung „Vertrauen“ zu ersetzen und lokale Kooperationsmodelle aufzubauen, bei denen nicht die jeweils eigenen Interessen der Trägerinstitutionen im Vordergrund stehen, sondern das Bewusstsein für die Arbeit an einer gemeinsamen Sache, nämlich der Arbeit für gute Lebensbedingungen im Quartier und der Gestaltung passgenauer Unterstützungs-Settings für (leistungsberechtigte) Menschen. Dazu braucht es Finanzierungsvarianten, die nicht diejenigen unterstützen, die die meisten „Fälle“ in ihren Einrichtungen beherbergen, sondern diejenigen, die bereits im Vorfeld sozialer Auffälligkeit dazu beitragen, diese zu lindern oder zu verhindern, also im guten Sinne Prävention betreiben und nicht erst warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Konkurrenz und ungesteuerte Märkte führen zu Abschottung, kriegerischen Handlungen und Kämpfen untereinander. Bei der Gestaltung regionaler Landschaften im Sinne sozialräumlichen Arbeitens geht es nicht um Kampf und egoistisches Streben nach Erfolg, nicht ausschließlich um den Bestandserhalt der eigenen Einrichtung oder gar die Expansion des eigenen Trägers, sondern um Zusammenhalt, Abstimmung und Kooperation. Vertrauenspartnerschaften sind tragfähiger als nur von Berechnung getragene Geschäftsbeziehungen.

Somit ist klar, dass diese Prinzipien, deren Ausgangspunkt der Versuch war, wesentliche Qualitätselemente sozialarbeiterischen Handelns auf den Punkt zu bringen, bei durchdachter Nutzung und radikaler Anwendung enorme Konsequenzen für Aufbau von Organisationen, Strukturen Sozialer Arbeit und insbesondere Finanzierungsformen von sozialstaatlichen Leistungen haben.

Das Fachkonzept: Verkürzungen, Missverständnisse und Klärungen

Mittlerweile gehört es fast schon zum guten Ton, „Sozialraumorientierung“ irgendwie gut zu finden. Bei der Debatte um die Reform des deutschen Kinder- und Jugendhilferechts wurde und wird wie selbstverständlich von „sozialräumlichen“ Ansätzen gesprochen, im deutschen Bundesteilhabegesetz (BTHG) taucht fast schon verdächtig häufig „Sozialraumorientierung“ auf, Publikationen mit sozialraumaffinen Titeln häufen sich, und irgendwie ist man sich in einheitlicher Diffusität einig: „Sozialraumorientierung“ ist gut. Die einen meinen damit, dass Soziale Arbeit nicht nur den Fall, sondern auch den Raum betrachten sollte (trivial und selbstverständlich, seit hundert Jahren unumstritten), andere betrachten den Sozialraum als Ressourcen-Steinbruch für Soziale Arbeit und nutzen das als Begründung für den Abbau sozialstaatlicher Leistungen (auch diese Hinterlist gab es immer schon), wieder andere wollen sozialräumliche Netze aufbauen und stärken und damit Lebenswelten vor zu starken professionellen Eingriffen schützen (gar nicht mal schlecht), und wieder andere nutzen die Sozialraum-Chiffre, um etwa stationäre Einrichtungen aus ihrer Fixierung auf die jeweils eigene Immobilie zu befreien und sie anzuregen, sich dem sozialen Umfeld zu öffnen. Mal wird der Sozialraum als Territorium gesehen, mal als virtueller Raum, mal wird der Raum kritisiert als Container, der wahlweise ein- oder ausschließt, und wieder andere würden am liebsten alle gesetzlichen Leistungsfelder in einem sozialräumlichen Konzept aufgehen sehen, bei dem Einzelfall-Leistungsansprüche durch konstruktive Sozialraumstrukturen aufgefangen werden, und all das wiederum ruft Kritiker/innen auf den Plan, die bemängeln, dass künftig der Sozialraum als Fall gesehen werden könnte.

Hilfreich ist deshalb gelegentlich eine Vergewisserung darüber, was mit dem hier in Rede stehenden „Fachkonzept Sozialraumorientierung“ gemeint ist. Aufschlussreich (und vielleicht auch ganz unterhaltsam) ist es, dazu zunächst den Blick auf einige Publikationen zu werfen, die sich zwar verbal mit „Sozialraumorientierung“ beschäftigen, dabei jedoch zumindest den in dieser Publikation gemeinten Gegenstand (gezielt oder schlichtweg fahrlässig) verfehlen und damit eher zur Verwirrung und Desorientierung beitragen.2

Exemplarisch lohnt sich diesbezüglich der Blick auf die Kollegen Kessl/ Reutlinger 2018, bei deren Publikationen – egal, ob sie einzeln oder als Duo schreiben – drei Elemente hervorstechen:

–Sie nehmen die Chiffre „Sozialraumorientierung“ sowie die Praxis vor Ort vornehmlich über von ihnen sorgfältig selektierte Publikationen wahr und entwickeln beachtliche Fähigkeiten darin, ihrer Position zuwiderlaufende Publikationen auszublenden oder zu verschweigen. Ok, kann man so machen, und es passt auch in die Zeit von Twitter und Trump, doch es kratzt zumindest an dem auch von diesen Kollegen gepflegten Habitus der forscherisch-kritisch objektiven Distanz. Entlarvend passt ins Bild, dass sie zur Untermauerung so mancher Behauptung auf „Expert/innengespräche“ verweisen, die „im Rahmen einer Vorstudie zu einer international-vergleichenden Forschungsarbeit (Deutschland/Schweiz) durchgeführt“ wurden (2018, S. 1072). Das ist schon stark: Da bringen sie vermeintlich (man kann es nicht nachprüfen) wörtliche Zitate (Sozialraumorientierung sei ein „Verkaufsschlager“ – S. 1084, es gäbe einen „Kritiker- und Beratermarkt“ – S. 1085, Kritiker/innen der Sozialraumorientierung würden beschimpft als „Ketzer und Häretiker“ – S. 1082 – und vieles andere mehr) und daraus abgeleitete Einschätzungen, die mit leichter Hand irgendwelchen nicht näher benannten Expert/innen „repräsentativer deutschsprachiger Fachverbände“ (S. 1072) zugeschrieben und quick and dirty einfach mal so dem lesenden Publikum in dem Übersichtswerk „Kompendium Kinder- und Jugendhilfe“ (Böllert 2018) präsentiert werden – also in etwa so, als wenn ich behaupten würde, ich hätte in einer Vorstudie zu einer Forschungsarbeit, die noch im Dunkeln bleibt, mit einer nicht näher bezifferten Anzahl von Studierenden gesprochen, die mir unverblümt mitgeteilt hätten, dass sie beim Kollegen Kessl in ihrem sechssemestrigen Bachelor-Studium nun wirklich gar nichts Brauchbares für ihre spätere Praxis gelernt hätten – was beurteilen zu wollen mir natürlich fern liegt.

–Sie lesen die angegebene Bezugsliteratur entweder gar nicht oder nur oberflächlich (das sogenannte „Giffey“-Syndrom). Kleines Beispiel: Als Bezugsliteratur für „sogenannte Sozialraum-Budgets“ (Kessl/Reutlinger 2018, S. 1068) werden Publikationen von Städten bzw. Autor/innen genannt, die mit Sozialraumbudgets so wenig zu tun haben wie die AFD mit Klimaschutz (Landeshauptstadt München: Schröer 2005; Hermann 2006), während Gebietskörperschaften, die langjährig erfolgreich und evaluiert mit Budgets arbeiten, schlichtweg keine Erwähnung finden (etwa die Städte Rosenheim oder Graz oder der Landkreis Nordfriesland).

–Der nur mühsam in schriftliche Form verpackte Ärger von Kessl/ Reutlinger darüber, dass insbesondere das Fachkonzept Sozialraumorientierung in zahlreichen Gebietskörperschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz engagiert, mit Hochs und Tiefs, inhaltlich gesteuert und ökonomisch fundiert, viel diskutiert und beachtet sowie mit gut dokumentierten erfreulichen Folgen für den Umbau von Strukturen und Finanzierungsformen umgesetzt wird, führt zu abstrusen Kommentaren wie: „Insofern ist die feststellbare Etablierung der Sozialraumorientierung (immerhin! W.H.) im Feld der Kinder- und Jugendhilfe nicht mit der Etablierung eines bestimmten Niveaus der Reform der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe zu verwechseln, sondern – zumindest in ihrer vorherrschenden Form – eher als Etablierung bestimmter dominierender Beraterprogramme.“ (2018, S. 1079). Sie meinen wohl: Das Konzept wird umgesetzt, die Nachfrage der Akteure/innen in den Gebietskörperschaften (also der Expert/innen) ist groß, viele Profis arbeiten mit diesem Ansatz, aber es sind ja nur „Beraterprogramme“ (S. 1079) oder „Heilsversprechen“ (S. 1080) oder all das beruht auf einer „Esoterik der Ganzheitlichkeit“ (S. 1081). Und sie weisen auf die unbestrittene Tatsache hin, dass auch mit diesem Konzept längst nicht der Stein der Weisen gefunden ist, sondern bedeutsame Dinge damit nicht bearbeitet wurden, die auf dieser Flughöhe formuliert werden: „Fragen, wie die sozialraumorientierte Dezentralisierungsstrategie im konkreten urbanen Kontext zu beobachtbaren Auf- und Abwertungstendenzen (Gentrifizierung) in Beziehung gesetzt werden kann und sollte oder wie Aktivierungsstrategien angesichts der zunehmenden Legitimation der neuen Klassengesellschaft durch das bürgerschaftliche Engagement in der Mitleidsökonomie … zu problematisieren und neu zu justieren sind … bleiben dann unbeantwortet“ (S. 1081). Ja, da haben sie wirklich recht: Diese Fragen sind tatsächlich nicht beantwortet, ebenso wie Fragen danach, wie man endlich eine Gleichstellung der Geschlechter erreicht, die Welt friedlicher gestaltet, die Genderfrage endgültig klärt und wie man Professorenstellen für Sozialarbeit an Universitäten so besetzt, dass Studierende anschließend gut ausgebildet werden. In der Tat werden diese und viele andere Fragen durch die Realisierung des Fachkonzepts Sozialraumorientierung in Städten, Landkreisen, Kantonen und Bezirkshauptmannschaften nicht beantwortet – doch genau das hat auch niemand behauptet.

–Und regelmäßig wird (entweder frech oder kenntnislos) auf die vermeintlich „fehlenden externen Evaluationen“ (S. 1079) verwiesen. Die trotz dieser Behauptungen vorhandenen und nachlesbaren Arbeiten (etwa Noack 2017) sowie meine diesbezüglich immer wieder gern publizierten aufklärenden Anmerkungen (etwa Hinte/ Noack 2017) werden schlichtweg nicht wahrgenommen. Weiterer Bemerkungen dazu bedarf es nicht.

Wer sich seinen Gegenstand so zurechtschreibt, wird geradezu umweht vom Generalverdacht der Sucherei nach einem Haar in einer Suppe, die man meint, aus der Ferne nach ihrem Duft beurteilen zu können. Unterm Strich: Von „Sozialraumorientierung“ schreiben viele – doch das Fachkonzept ist das Original, die anderen machen Karaoke.

1.„Sozialraumorientierung umsetzen?“

Angesichts der Konjunktur von „Sozialraumorientierung“ überrascht es nicht – auch wenn es hier und da zwiespältige Gefühle hinterlässt –, dass immer mehr öffentliche und freie Träger, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, der Altenhilfe sowie der Behindertenhilfe, in Fachaufsätzen und/ oder in Werbematerialien darüber informieren, dass sie „Sozialraumorientierung umsetzen“. Eine solche Formulierung mutet schon sprachlich merkwürdig an, doch vor allen Dingen zeigt sie, dass die für sich werbende Institution konzeptionell (vielleicht auch nur sprachlich) noch nicht Tritt gefasst hat. Zumindest das hier vertretene „Fachkonzept Sozialraumorientierung“ kann man nicht „umsetzen“, aber man kann es als konzeptionelle Leitlinie für professionelles Handeln nutzen. Damit diese konzeptionelle Folie nachhaltige Konsequenzen für das alltägliche Handeln der Professionellen zeitigt, hat es sich zum einen bewährt, das Personal durch systematische (verpflichtende) Qualifizierungen zu unterstützen. Zum anderen aber (und das ist gelegentlich mit „Umsetzung“ gemeint) sind bestimmte organisatorische Strukturen, Abläufe, Finanzierungs- und Kooperationsstrukturen hilfreich, damit die Prinzipien des Fachkonzeptes ihre Wirkung entfalten können.

Die fünf Prinzipien sowie die daraus folgenden Hinweise für Methodik, Struktur und Finanzierung als Orientierung zu wählen, liegt natürlich auf der Hand. Die aktuellen Herausforderungen, die sich in zahlreichen Prozessen in den Gebietskörperschaften stellen, beziehen sich auf Arbeitsfelder, die durch Rechtsansprüche aus verschiedenen Sozialgesetzbüchern, die sich fast ausschließlich auf Einzelansprüche beziehen, gerahmt werden. In diesen häufig traditionell geprägten, gelegentlich sogar stärker juristisch als sozialarbeiterisch beeinflussten Prozessen des Leistungsgeschehens sich konsequent an den Prinzipien des Fachkonzepts auszurichten, ist angesichts der tradierten Prägungen in vielerlei Hinsicht schwierig (anders etwa als im Arbeitsfeld Gemeinwesenarbeit – s. dazu Hinte 2018). Leistungsfelder, die überhaupt nur deshalb existieren, weil Menschen als bedürftig, notleidend, belastet, gehandicapt usw. etikettiert werden müssen, sperren sich naturgemäß solchen Ansätzen, die die Ressourcen und Potentiale, den Willen und die Ziele sowie die eigenen Kräfte der Menschen in den Fokus stellen und damit so manche korrekte Leistungsfeststeller/in ins Schwitzen bringen. Feststellung, Rahmung und Erbringung der gesetzlich verbrieften Leistungen bieten einige Herausforderungen, wenn man die Prinzipien der Sozialraumorientierung ernst nimmt.

Beispiele dafür:

–Wenn der Wille der leistungsberechtigten Menschen eine wesentliche Grundlage professionellen Handelns im gesamten Hilfeverlauf darstellt, dann muss insbesondere die Phase der Leistungsfeststellung („Falleingangsphase“) so gestaltet werden, dass die Fachkräfte methodisch und zeitlich in der Lage sind, mit den betroffenen Menschen deren Willen herauszufinden (und evtl. daraus folgende Ziele mit ihnen zu formulieren). Methodisch hat das zur Folge, dass eine „kundenorientierte Haltung“ mit einer Frage wie: „Was kann ich für Sie tun?“ weniger angezeigt ist als eine Haltung, aus der heraus systematisch die Interessen und der Willen der betroffenen Menschen erkundet werden. Hohe Klarheit seitens der beteiligten Akteure/innen über den Willen der leistungsberechtigten Menschen führt häufig zu ganz anderen als den gerade vorhandenen und institutionell standardisierten Leistungen. Grundsätzlich gilt: Leistungsumfang und Leistungserbringung müssen (natürlich auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen) dem Willen und den Zielen der Menschen folgen und nicht umgekehrt. Somit ist die Frage danach, was den Menschen auf der Grundlage eines Katalogs versäulter Angebote „zusteht“, oftmals irreführend: Sie verführt die Akteure/innen dazu, die Menschen der Logik des Systems anzupassen anstatt das System herauszufordern, sich auf den Eigensinn der Menschen mit einer flexiblen Angebotsstruktur einzulassen.

Grundlage jedweder Leistung sind die gesetzlichen Bestimmungen in den jeweiligen Gesetzeskreisen. Das ist selbstverständlich. Doch während derzeit immer noch relativ eng und standardisiert danach geschaut wird, was dem leistungsberechtigten Menschen zusteht bzw. was ihm nicht zusteht, wird diese Frage mit einem sozialraumorientierten Blick gerahmt durch die am Anfang des Leistungsgeschehens zu stellende Frage, was der (möglicherweise) leistungsberechtigte Mensch in seiner jeweiligen Situation erreichen will, was für ihn in seinem Leben wichtig ist, welche (realistischen) Perspektiven ihn leiten und welche Lebenszusammenhänge für ihn Relevanz besitzen. Damit wird die Konzentration auf zahlreiche andere Ausschnitte seiner Lebenswirklichkeit gelenkt als ausschließlich auf die zu diagnostizierende bzw. empfundene Bedürftigkeit: Nicht das, was der Mensch „braucht“, steht im Mittelpunkt, sondern das, was er will. Damit wird bereits zum Beginn des Leistungsgeschehens fokussiert auf seine eigene Energie, seine Lebenserfahrungen, sein eigenes Radar und seinen Lebensentwurf. Erst auf dieser Grundlage wird darüber nachgedacht, wie die in dem jeweiligen Gesetz zur Verfügung stehenden sozialstaatlich garantierten Ressourcen genutzt werden zur gemeinsamen mit den betroffenen Menschen vorzunehmenden Gestaltung eines Hilfearrangements. Dieses setzt sich aus personellen und sachlichen Leistungen des professionellen Systems wie auch aus zahlreichen anderen Mosaiksteinen zusammen, die u. a. aus lebensweltlichen Ressourcen jedweder Art bestehen. Diese schon in der Anfangsphase des Leistungsgeschehens zu gestaltende Kombination von Bürokratie und Lebenswelt, von sozialstaatlich garantierten und professionell geleisteten Elementen sowie durch vorhandene Netze erbrachte Unterstützungsleistungen zieht sich dann wie ein roter Faden durch das gesamte Leistungsgeschehen.

–Wenn man konsequent verfolgt, die Ressourcen und die eigene Aktivität der Menschen als wesentlichen Bestandteil der Leistungserbringung anzusehen, muss sich der Fokus in der Falleingangsphase genau darauf richten und nicht auf die häufig im Vordergrund stehende „Bedürftigkeit“, die zu Gesprächssequenzen folgt, die eher eine Problemtrance befördern, bei der die demoralisierenden Erfahrungen, Niederlagen und Misserfolge der Menschen im Vordergrund stehen. Somit ist klar, dass etwa das Formularwesen in einer Institution die Professionellen darauf orientieren muss, möglichst diejenigen Tatsachen zu dokumentieren, die Aufschluss geben über die Stärken der Menschen, ihre bisherigen Bewältigungsstrategien sowie die zahlreichen kleineren und größeren Kraftquellen, aus denen sie bislang geschöpft und mit denen sie so manche schwierige Situation mehr oder weniger gut überstanden haben.

–Leistungsrahmung: Die derzeit geradezu reflexartig gestellte Frage seitens der Leistungsträger: „Wer nimmt bzw. wer kriegt den Fall?“ oder: „Wo kriegen wir ihn unter?“ wird abgelöst von der gemeinsam mit den Leistungserbringern vorzunehmenden Suche nach einem passgenauen Arrangement, bei dem der professionelle Anteil durchaus auch in Kooperation von mehreren Leistungserbringern erbracht werden kann.

Wenn der Wille und die Ziele der Menschen im gesamten „Fallverlauf“ im Vordergrund stehen, braucht es möglichst regional aufgestellte Einrichtungen, die allenfalls einen geringen Grad an Standardisierung und Versäulung aufweisen und stattdessen konsequent darum bemüht sind, mit Blick auf die jeweilige individuelle Situation eine „passgenaue Maßnahme“, die sich im Extremfall ständig ändern kann, zu kreieren. Es braucht also ein Hilfearrangement, das in seinen Einzelaspekten die Stärken und Potentiale des leistungsberechtigten Menschen ergänzt und unterstützt, neue Ressourcen und Optionen schafft und einen Mix darstellt aus professioneller Tätigkeit, sozialräumlichen, materiellen wie personellen Ressourcen, technischen Hilfsmitteln und eigener Aktivität des leistungsberechtigten Menschen, der letztlich immer wieder selbst darüber befinden muss, ob das vereinbarte Arrangement ihn in guter Weise unterstützt.

–Das wiederum hat Konsequenzen sowohl für die Leistungserbringung als auch die Finanzierung der gewährten Leistungen. Fachleistungsstunden, Tagessätze und Pflegesätze sind nur selten unterstützend für passgenaue Hilfearrangements, weil sie der in Geld gegossene Ausdruck einer vorgehaltenen, standardisierten und unabhängig von der jeweils leistungsberechtigten Person entwickelten Hilfeform sind, die häufig die Menschen an die vorhandene Struktur anpasst und sich nicht an ihrer Individualität ausrichtet. Flexible Leistungserbringer, die passgenau und nicht auf der Grundlage festgelegter Stundensätze oder Betreuungsdetails eine flexible Hilfe durchführen, benötigen Pauschalfinanzierungen in Form von Pools, Budgets oder anderen stundenunabhängigen Finanzierungsvarianten, die viel Freiheit lassen für nicht vorhersehbar auftauchende Entwicklungen, die nicht vorab prognostiziert, geschweige denn in Stundenaufwänden prospektiv beschrieben werden können. Auf der Grundlage des in der Phase der Leistungsrahmung vereinbarten Arrangements wird dann ein flexibles Hilfesetting erbracht, das ständig geändert werden kann. Völlig deplatziert sind also im Vorhinein fest vereinbarte Stundenkontingente oder immer wieder neu zu „verschreibende“ vorgehaltene Leistungen, die dann, koste es, was es wolle, auf jeden Fall erbracht oder „an die Person“ gebracht werden müssen.

So weit einige Beispiele dafür, was es heißt, wenn man die inhaltlichen Aspekte des Fachkonzeptes konsequent zu Ende denkt und entsprechende Konsequenzen für Struktur und Finanzierung zieht.

2.Bewährte Strukturelemente

Die Implementation des Fachkonzepts Sozialraumorientierung – in welche Institution auch immer – hat nicht unbedingt zur Voraussetzung, dass konsequent regionalisiert wird, Sozialraumteams eingerichtet werden, mit einem Budget gearbeitet wird, fallunspezifische Arbeit möglich ist oder das Verhältnis zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringer neu justiert wird. Zahlreiche Elemente aus den fünf Prinzipien können als aufklärende und wegweisende Anregung dienen, den eigenen professionellen Alltag zu hinterfragen und zu verändern, auch unter nicht immer günstigen Bedingungen. Dennoch haben wir nach mittlerweile 30 Jahren Erfahrung in der (kürzeren und längeren) Begleitung von Organisationen gelernt, dass sich bestimmte Strukturelemente an den meisten Orten als Organisations- und Finanzierungsrahmen bewähren, der es den Fachkräften erleichtert, nach dem hier vertretenen Konzept zu arbeiten. Dazu zählen

–Finanzierungsformen, die ausdrücklich diejenigen Leistungserbringer „belohnen“, die bereits frühzeitig („präventiv“) ins Leistungsgeschehen einsteigen und während der Leistungserbringung den Fokus darauf richten, Verselbstständigungsprozesse zu unterstützen und zu diesem Zweck die jeweiligen Lebenswelten zu stärken;

–Kooperationsvarianten zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer sowie zwischen den Leistungserbringern untereinander, bei denen das Leistungsgeschehen als gemeinsame Aufgabe betrachtet wird, die auf der Grundlage einer gemeinsamen Fachlichkeit erfüllt wird und nicht dem klassischen Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis entspricht;

–die Bildung von regionalen Steuerungseinheiten, die für alle beteiligten Organisationen (also auch für den öffentlichen Träger) gelten und somit die Grundlage darstellen für die regionale Konzentration von finanziellen und personellen Ressourcen zur Unterstützung von nahräumlichen Arrangements innerhalb der Lebensräume der Menschen;

–eine Aufbauorganisation, die den sozialen Raum zumindest als gleichberechtigte Steuerungsgröße (neben der Steuerung über Fachabteilungen, Immobilien oder Einzelfälle) abbildet und diesbezüglich klare Zuständigkeiten für Leitungsfunktionen beinhaltet.

3.Zur Gestaltung von Reformprozessen

Die seit Ende der 1990er Jahre gewonnenen Erfahrungen aus Reformprozessen in kommunalen Gebietskörperschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigen, dass u. a. folgende Bedingungen hilfreich sind für eine erfolgreiche SRO-Implementierung:

–Grundlage für die Innovation muss ein durchdachtes und überzeugendes Konzept („Vision“) sein, das von glaubwürdigen und engagierten Personen getragen wird, am besten von solchen, die zentrale Entscheidungsträger/innen sind oder die nachhaltigen Einfluss auf solche Entscheidungsträger/innen ausüben können.

–Durch vielfältige öffentliche Diskussionen muss ein unterstützendes fachliches Umfeld geschaffen werden, das den inhaltlichen Rahmen für die Reform bildet. Wer sich dieser fachlichen Debatte entzieht, muss unter starken öffentlichen Begründungsdruck kommen.

–Innovationen funktionieren nicht als Solonummer einzelner Personen, sondern über Allianzen – etwa zwischen Führungskräften und Personalvertretungen, Geschäftsführungen von Verbänden und Politiker/innen, engagierten Fachkräften und Verwaltungsspitzen usw. Derlei Koalitionen werden häufig informell geschmiedet, müssen aber ab einem bestimmten Zeitpunkt öffentlich agieren und eindeutig „Flagge zeigen“.

–Reformprozesse müssen transparent ablaufen. Lenkungsgruppen müssen öffentlich tagen bzw. ihre Beschlüsse zeitnah veröffentlichen, finanzielle Rahmenbedingungen müssen klar benannt und nicht in ein fachliches Mäntelchen gehüllt werden, temporäres Chaos im Prozess (ist kaum vermeidbar!) darf nicht schöngeredet, sondern muss offensiv gemanagt werden, Umwege und evtl. notwendige Kompromisse müssen zeitnah kommuniziert werden.

–Gestützt werden muss eine regionale Reform von politischen Beschlüssen, die möglichst von allen Parteien getragen werden. Eine Reform darf nicht das Anliegen oder gar das Vorzeigestück einer einzigen Partei sein, sondern muss – angesichts regelmäßig wechselnder politischer Mehrheiten – über Parteigrenzen hinweg gemeinsames Anliegen möglichst aller Politiker/innen sein.

–Gerade in größeren Systemen benötigen durchgreifende Reformen klare Kontrakte zwischen den beteiligten Instanzen. Vertrauen ist gut, Kontrakte sind besser. Geschäftsordnungen, Controlling-Verfahren, Prozessvereinbarungen und Zeit-Ziel-Planungen müssen ausgehandelt und schriftlich fixiert werden, sodass sie überprüfbar, korrigierbar und orientierend sind.

–Gezielter externer Einfluss durch Beratungs- und Qualifizierungsinstanzen ist in unterschiedlichem Ausmaß notwendig. Externe Berater/innen, aber insbesondere Qualifizierungsinstanzen sind notwendig für Coaching, Prozessberatung, Vergewisserungsschleifen sowie kritisches Feedback an zentralen Prozesspunkten – dies indes in sehr unterschiedlicher Dichte und Tiefe, je nach in der Institution vorhandenem Know-how. Grundsätzlich gilt: Externe Instanzen dürfen konsequent nur solche Funktionen erfüllen, die innerhalb der Institution noch nicht eigenständig leistbar sind, und dies immer mit dem Ziel, das implementierte Wissen innerhalb der Institution möglichst dauerhaft zu verankern. Externe sollten deshalb sparsam, aber gezielt je nach Bedarf eingesetzt werden.

Anachronistisch, allenfalls gelegentlich recht niedlich, letztlich indes jegliche Innovation verhindernd sind immer wieder vorfindbare Orientierungen wie etwa:

–Bei Führungskräften des Leistungsträgers: „Wer die Musik bezahlt, bestimmt auch, was gespielt wird: Wir handeln erstmal die Tagessätze/Fachleistungsstunden runter, und dann sehen wir weiter.“

–Bei Geschäftsführungen von Leistungserbringern: „Wir machen jeden Trend mit, den man uns vorgibt, und bieten das an, was der Markt verlangt und bezahlt wird.“

–Auf Seiten der Fachkräfte: „Wir sitzen jede Welle aus und haben bisher noch jeden Trend unbeschadet überstanden.“

Derlei Einstellungen degradieren jedwede Innovation zum Schneeball in der Hölle; da helfen kein Vortrag, kein Kongress und keine Fachpublikation. Um den Kreislauf der wechselseitigen Borniertheitszuweisungen und Innovationsverhinderungen zu durchbrechen, sind nach meinen Erfahrungen u. a. folgende Einstiege für ein Reformvorhaben erfolgversprechend:

–Der öffentliche Träger geht mit einem Konzept in die Offensive, garantiert den Leistungserbringern Bestandssicherung, fordert aber von ihnen fachliche Innovation im Sinne des Fachkonzepts Sozialraumorientierung.

–Leistungserbringer gehen mit einem inhaltlichen Konzept in die Offensive und bieten dieses dem örtlichen Leistungsträger an, und zwar mit der Zusage, gemeinsam Fach- und Finanzverantwortung zu tragen und hohe Transparenz bei internen Veränderungsprozessen zu garantieren.

–Einzelne Akteure/innen auf Seiten des öffentlichen wie auch der freien Träger, die sich gegenseitig in ausreichendem Maß vertrauen, vereinbaren eine gemeinsame Strategie und beginnen gleichzeitig in ihren Institutionen mit dem Veränderungskonzept.

Wenn man sich in Organisationen dazu entscheidet, die Umsetzung des Fachkonzepts durch eine darauf bezogene Weiterentwicklung der institutionellen Strukturen sowie der das Feld prägenden Finanzierungsströme zu unterstützen und damit eine möglichst nachhaltig wirkende organisationale Rahmung zu schaffen, benötigt man einen langen Atem sowie die Aufsetzung eines gut geplanten und gemanagten Organisations-Entwicklungsprozesses, der alle beteiligten Akteure ziemlich herausfordert und gleichzeitig der Organisation für die Erledigung ihrer Aufgaben einen neuen Qualitätsschub verleiht. Dies hat sich bereits zu Beginn der 2000er Jahre u. a. gezeigt in Berlin (Brünjes 2006), in Zürich (Waldvogel 2007), im Landkreis Nordfriesland (Stephan 2006), sowie später etwa in Rosenheim (Pichlmeier/Rose 2010), Graz (Krammer/Punkenhofer 2019), der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (s. dazu den Beitrag von Stiefvater/Haubenreisser/Oertel i. d. Band) oder in der Eingliederungshilfe in Nordfriesland (Hinte/Pohl 2018) – um nur einige zu nennen, von denen übrigens die meisten gut dokumentiert und ordentlich beforscht wurden (s. dazu Hinte/Noack 2017; Noack 2017; für den Bereich der Frühen Hilfen: Thiesen 2018; für das Thema „freiwilliges Engagement“: Schaden 2019). Oft zeigt sich, dass die Implikationen des Fachkonzepts auf eine langjährig gepflegte Kultur treffen, die geprägt ist durch die einseitige Konzentration auf eng definierte leistungsgesetzliche Ansprüche, hochgradig differenziert entwickelte versäulte Hilfeformen, Betreuungssettings jenseits der jeweiligen Adressat/innen-Milieus sowie einem Betreuungsimpetus, der weder das viel beschworene Empowerment fördert noch die konstruktiv funktionierenden Kräfte der jeweiligen Herkunftsmilieus.

In den groß angelegten Umbauprozessen insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Eingliederungshilfe wird dieser Paradigmenwechsel mit zum Teil erheblichen Anstrengungen, Umwegen, Lernerfahrungen und Erfolgen ganz konkret vollzogen und bildet sich ab u. a. in neuen Aufbau- und Ablaufstrukturen, einer engen und partnerschaftlich gepflegten Kooperation zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern, zahlreichen innovativen Hilfe-Arrangements unter Beteiligung der betroffenen Menschen und einem beachtlichen Kompetenzzuwachs des in den Prozess einbezogenen Fachpersonals.

Literatur

Böllert, Karin (Hg.) (2018): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe, Band 2. Wiesbaden

Brünjes, Volker (2006): Der sozialräumliche Umbau der Berliner Jugendhilfe. In: Budde u. a. (2006), S. 73-108

Budde, Wolfgang/Früchtel, Frank/Hinte, Wolfgang (Hg.) (2006): Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. Wiesbaden

Feil, Naomi/de Klerk-Rubin, Vicki (2017): Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen, 11. Auflage. München

Fürst, Roland/Hinte, Wolfgang (Hg.) (2019): Sozialraumorientierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten, 3. Auflage. Wien

Haller, Dieter/Hinte, Wolfgang/Kummer, Bernhard (Hg.) (2007): Jenseits von Tradition und Postmoderne. Sozialraumorientierung in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Weinheim/München

Herrmann, Heike (2019): Soziale Arbeit im Sozialraum. Stadtsoziologische Zugänge. Stuttgart

Herrmann, Klaus (2006): Einleitung. In: Herrmann, Klaus (Hg.) (2006): Leuchtfeuer querab! Wohin steuert die Sozialraumorientierung?, S. 20-40. Berlin

Hinte, Wolfgang (1999): Fallarbeit und Lebensweltgestaltung – Sozialraumbudgets statt Fallfinanzierung. In: ISA (Hg.) (2019): Soziale Indikatoren und Sozialraumbudgets, S. 82-94. Münster

Hinte, Wolfgang/Treeß, Helga (2014): Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen, Handlungsprinzipien und Praxisbeispiele einer kooperativ-integrativen Pädagogik, 3., überarbeitete Auflage. Weinheim/München

Hinte, Wolfgang (2018): Gemeinwesenarbeit. In: Graßhoff, Gunther u. a. (Hg.) (2018): Soziale Arbeit, S. 205-216. Wiesbaden

Hinte, Wolfgang (2019): Gemeinwesenarbeit – unter Wert verkauft? In: Sozial extra 6/2019, S. 398-403

Hinte, Wolfgang/Noack, Michael (2017): Sozialraumorientierung: Ein unerforschtes Feld? In: Noack (2017), S. 11-22

Hinte, Wolfgang/Pohl, Oliver Marco (Hg.) (2018): Der Norden geht voran. Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe im Landkreis Nordfriesland. Berlin

Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (2018): Sozialraumorientierung. In: Böllert (2018), S. 1067-1093

Krammer, Ingrid/Punkenhofer, Sonja (2019): Sozialräumliche Finanzierung in der Grazer Kinder- und Jugendhilfe. In: Fürst/Hinte (2019), S. 248-257

Miller, William R./Rollnick, Stephen (2015): Motivierende Gesprächsführung: Motivational Interviewing, 4. Auflage. Freiburg

Noack, Michael (2015): Kompendium Sozialraumorientierung. Geschichte, theoretische Grundlagen, Methoden und kritische Positionen. Weinheim/ Basel

Noack, Michael (Hg.) (2017): Empirie der Sozialraumorientierung. Weinheim/Basel

Pichlmeyer, Werner/Rose, Gerhard (Hg.) (2010): Sozialraumorientierte Jugendhilfe in der Praxis. Handreichung für kommunale Entscheidungsträger am Beispiel der Stadt Rosenheim. Berlin

Rosenberg, Marshall B. (2016): Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens, 12. Auflage. Paderborn

Schaden, Elias (2019): Freiwilliges Engagement in der sozialraumorientierten Kinder- und Jugendhilfe. Opladen/Berlin/Toronto

Schröer, Hubertus (2005): Zur Notwendigkeit sozialräumlicher Orientierung in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Sozialraumorientierung in der Münchner Kinder- und Jugendhilfe. Tagungsdokumentation 18.02.2005, S. 24-42. München

Stephan, Birgit (2006): Das Sozialraumprojekt in der Jugendhilfe des Kreises Nordfriesland. In: Budde u. a. (2006), S. 147-167

Thiesen, Andreas (Hg.) (2018): Flexible Sozialräume. Der Fall im Feld der Frühen Hilfen. Weinheim/Basel

Waldvogel, Rosann (2007): Zürichs Soziale Dienste – ein umfassender Change. In: Haller u. a. (2007), S. 140-150

Fußnoten

1 Zahlreiche Schnittmengen sowohl bezüglich Menschenbild und Grundhaltung als auch methodischer Herangehensweisen gibt es zum „Motivational Interview“ (Miller/Rollnick 2015), zur gewaltfreien Kommunikation (Rosenberg 2016) sowie zur Theorie und zu Techniken der Validation (Feil/de Klerk-Rubin 2017).

2 Ich will nicht verhehlen, dass mich – gerade in letzterem Zusammenhang – manche Publikation der Kollegen Kessl/Reutlinger (s. u.) und May (s. dazu Hinte 2019) zwar nerven, mir jedoch die Hinweise auf einige in diesen Texten vorfindbare intellektuelle Unsauberkeiten oder gedankliche Verwirrungen umso mehr Freude bereiten.

2.Die fünf Prinzipien: Grundlagen, Vertiefungen und Praxisbeispiele

Manfred Tauchner

„Ja, dürfen’s denn das?“ – Die Welt als normierter Wille und sozialräumliches Vorstellungsvermögen

Eine an der Queen’s University in Belfast geführte Fachdiskussion im Juli 2018 gab unmittelbar Anstoß zu diesem Beitrag. Roland Fürst und ich von der Fachhochschule Burgenland1 stellten im Rahmen einer Studienreise das Fachkonzept Sozialraumorientierung (SRO) als Schwerpunkt unseres Studiengangs Soziale Arbeit vor. Den britischen Kolleg/innen eher rudimentär im Sinne Wolfgang Hintes „wehrloser Konzeptvokabel“ (Fürst/Hinte 2017, S. 10) des kontinentaleuropäischen, v. a. deutschsprachigen Diskurses bekannt, stieß eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den grundlegenden fünf Prinzipien und deren Implikationen für die derzeitigen Systeme sozialer Daseinsvor- und Nachsorge auf größtes Interesse der Fachleute aus Praxis und Lehre an der führenden Universität Nordirlands.

Dass die Kritik an der SRO innerhalb der deutschsprachigen Fachwelt Irritationen bis hin zu einem teilweise verschwörungstheoretisch anmutenden Ausmaß annehmen konnte (vgl. Fehren/Kalter 2012) verursachte auf den Gesichtern der Belfaster Kolleg/innen ein erstauntes „Why is that so?“.

Mit einem konsequenten Fokus auf dem Willen der leistungsberechtigten Adressat/innen, einer eindeutigen Präferenz der Aktivierung vor Betreuung, einem permanenten Pendelblick auf Ressourcen, mit zielgruppen- und bereichsübergreifenden Aktivitäten sowie der integrativen Vernetzung der sozialen Dienste und Stakeholder im jeweiligen Fallraum stelle SRO als Konzept ein modernes Verständnis von Sozialer Arbeit dar, was in der angloamerikanischen Tradition mittlerweile „state of the art“ sei, so der britische Tenor. Warum also diese augenfällige Reaktanz innerhalb der deutschsprachigen Fachwelt, die lokale Umsetzungsformen und Modellprojekte dieses Fachkonzepts „aus einem Guss“ (ebd.) in Kommunen und Regionen eher mit Argwohn als Neugier begleitete (vgl. Höllmüller 2014) und das Fachkonzept SRO bisweilen sogar mit einem von expansiver Exportlogik getragenen Krankheitserreger vergleicht (vgl. Schreier/Reutlinger 2013)?

1.Kritik der Kritik aus dem Elfenbeinturm

Eine „Kritik der Kritik“ am Konzept der Sozialraumorientierung erfordert es, die Kanten zu schärfen und aufzuzeigen, dass die gegenüber dem Konzept SRO und dessen konkreter Umsetzung in verschiedenen Kommunen bislang formulierten Besorgnisse eher einem Generalverdacht gleichen.

Ein engführendes Missverstehen zentraler Elemente der SRO wie des „Willens“ und ein Anspruch von theoretischer Deutungshoheit zum Begriff „Sozialer Raum“ münden in vordergründigen Argumenten: SRO diene sich als Komplizin neoliberaler Workfare-Methoden der Individualisierung, Responsibilisierung und Aktivierung an und betreibe – naiv oder als „hidden agenda“, da sind sich die Expert/innen im Elfenbeinturm nicht ganz einig – die Kürzung von Sozialbudgets, sie habe das politische Mandat im Sinne kritischer Sozialarbeit stillschweigend entsorgt (vgl. Bettinger 2012; Diebäcker 2008; Kessl/Reutlinger 2010; Otto/Ziegler 2008).

Zugegeben, auch meine erste Reaktion als Praktiker (2006) in der Sozialen Arbeit mit Straffälligen auf die fundamentale Infragestellung des aktuellen Gepräges der Sozialarbeit und Sozialpädagogik durch die Sozialraumorientierung war vor vielen Jahren ein kritisches „Woher nimmt sich dieses Konzept das Recht, die Verhältnisse neu zu deuten und zu gestalten?“.

Tatsächlich ist diese Reaktanz schon selbstreferenziell; zeugt die massive Skepsis doch davon, dass die Erschütterung, die das Konzept der SRO v. a. für das nur vermeintlich geltende, gemeinsame Verständnis von Fachlichkeit in der Sozialen Arbeit darstellt, tiefgeht, tatsächlich – im Sinne von an die Wurzel gehend – radikal ist und so die Frage aufwirft: Was will die Soziale Arbeit im Europa des 21. Jahrhunderts? Wenn der SRO en passant Beliebigkeit und Konturlosigkeit vorgeworfen wird (Schreier/Reutlinger 2013), drückt sich hier etwa die eigene professionelle Verunsicherung einer Profession auf tönernen Füßen aus? Im Gefolge dieser Debatte spitzt sich offensichtlich eine Ex-Kathedra-Diskussion zu: Was dürfen die Adressat/innen und die Profis wollen?

Die Antwort darauf ist vielschichtig, weil sie viele gewohnte Annahmen vom Kopf auf die Beine stellen muss. Die Ursachen liegen dabei m. E. auch in den nach wie vor wirksamen Entwicklungslinien Sozialer Arbeit in deutschsprachigen Ländern theokratischer Prägung und monarchisch-obrigkeitsstaatlicher Tradition sowie deren Tendenz, einen an konkreten Lösungen orientierten Pragmatismus dem Moloch einer nur scheinbar verallgemeinerbaren, theoretischen Begründbarkeit des Handelns zu opfern.

Der Unterschied in der historischen Entwicklung ähnelt dem im angloamerikanischen Raum prominenten „Case Law“ zum kontinentaleuropäisch materiell-rechtlichen Zugang zur Rechtsprechung und Fortschreibung, indem auf die Komplexität des jeweiligen Sachverhalts nicht in erster Linie ein formalistischer Katalog angelegt wird, sondern die Form dem Inhalt folgt und pragmatisch-evolutionär passgenaue Lösungen weiterentwickelt werden.

An den fachlichen Verwerfungen rund um den Respekt vor dem Willen der Adressat/innen Sozialer Arbeit zeigt sich eine Starrheit Sozialer Arbeit in behördlich-obrigkeitsstaatlicher Tradition („Europäische Schule“) im Vergleich zu einer adaptiv-flexiblen Provenienz („Angloamerikanische Schule“). Die „Titanic“-Sozialarbeit, die sich in erster Linie als Teil staatlicher Hoheitsverwaltung versteht und als solche dem Eigenwillen der Nutzer/innen prinzipiell eher argwöhnisch begegnet, bewegt sich auf Kollisionskurs mit dem „Eisberg“ der Sozialraumorientierung.

Diesem traditionellen Diskurs auf dem falschen Dampfer stellt sich SRO ja in den Weg als Ausdruck eines theoretisch breit fundierten, jedoch unprätentiösen, „polytheistischen“ Pragmatismus, wie er von Ludwig Marcuse (1994) beschrieben wird und von dessen streitbarem Geist auch die angloamerikanische Sozialarbeit durchdrungen ist.

2.Historischer Exkurs: Bürokratischer Paternalismus und der Versuch einer Normierung des Willens

Das Establishment der Sozialen Arbeit teilt also gegenüber der SRO und ihren Implikationen das Erstaunen Ferdinand des Gütigen (1793-1875) angesichts der revoltierenden Arbeiterschaft in Wien 1848: „Ja, dürfen‘s denn das?“, meinte der österreichische Kaiser naiv, als die Arbeiter/innen auf die Barrikaden stiegen. Sie dürfen nicht nur – sie wollen und tun.

Als im 18. Jahrhundert das politische Konstrukt einer „volonté générale“ – eines fiktiv allgemeinen Willens, der den Willen Einzelner bzw. sozialräumlicher Gruppen ex lege normieren soll und darf – seinen Siegeszug antrat, baute sich in dessen Schlagschatten eine Bürokratie auf, die sowohl dem Monarchen als auch dem – im noch unerfahrenen Parlamentarismus sich entwickelnder Demokratien – mächtigen Staat die Umsetzung der vorherrschenden Interessen ermöglichte. Soziale Arbeit entwickelte sich in und an den Bruchlinien dieser höchst divergenten und machtungleichen Interessen. Ihre Pionier/innen griffen insbesondere Gesundheit und soziale Absicherung der arbeitenden Bevölkerung „bottom up“ auf.

So waren es der notwendigerweise in manchen Phasen auch auf die „Straßen getragene“ manifeste Wille und die Wirkmacht der Betroffenen, die Normentwicklung und Normänderungen teils auf revolutionärem, teils auf demokratischem Wege erreichten. Parallel zu diesem Prozess progressiver Etablierung von Wohlfahrtsstaaten gingen der Parlamentarismus und die jungen Demokratien jedoch daran, Soziale Arbeit breitflächig zur Normanpassung in den sich entwickelnden Industriegesellschaften zu instrumentalisieren. Die dunkelsten Kapitel der Professionsgeschichte in Faschismen und Totalitarismen unterschiedlichster Provenienz legen grausames Zeugnis darüber ab.

Nach dem bösen Erwachen infolge von Diktatur und Weltkrieg konnten sich auch die Protagonisten der Sozialarbeit dem Sog des gesellschaftlichen Umbruchs der 1968er-Bewegung nicht entziehen – ja, trugen diesen vielerorts auch innovativ-radikal mit, wenn wir etwa an die Deinstitutionalisierung der 70er Jahre und den ersten Boom der Gemeinwesenarbeit denken.

3.Sozialraumorientierung versus Status quo – wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing

Längst hat jedoch Ende des 20. Jahrhunderts die Soziale Arbeit einen Burgfrieden mit dem neoliberal aktivierenden Workfare-State geschlossen, den ihre Vertreter/innen in Sozialpolitik und Sozialadministration sowie ihre Vertragspartner/innen bei den Trägerinstitutionen nun durch das aufrührerische Konzept der Sozialraumorientierung bedroht sehen. Der SRO gleichzeitig zu unterstellen, dass sie diese Komplizenschaft selbst betreibe, ist Ausdruck einer klassischen „Haltet den Dieb!“-Strategie.

Denn wenn die SRO einen „New Deal“ einfordert, der v. a. die Interessen und den Willen der unmittelbar von Interventionen und Angeboten der Sozialen Arbeit Betroffenen im Fokus hat, macht sie sich hoch verdächtig, diesen Burgfrieden zu stören.

SRO tut dies in zweierlei Hinsicht: Einerseits, indem sie die gewohnte Marktlogik und die Finanzierung der Träger über das Lukrieren ihrer jeweiligen Spezialfälle auf die Vorderbühne zerrt. Andererseits macht dieses Fachkonzept insbesondere durch die Fokussierung auf die im Sozialraum vorhandenen (oder eben aufgrund struktureller Benachteiligung eben nicht vorhandenen) Ressourcen aufmerksam und zwingt – freundlich, aber konsequent – die kommunal sozialpolitisch und -planerisch Verantwortlichen zu einem Offenbarungseid. Hic Rhodos, hic salta, Kommunalpolitik!

Wenn die einzelnen Träger in Sozialraumteams ihre Interessen vor allen Stakeholdern und letztlich auch vor den Nutzer/innen Sozialer Arbeit offenlegen müssen, wird der (grundsätzlich auch nicht unberechtigte, weil vom Willen der Einrichtungsbetreiber getragene) Eigennutzen vor dem Sozialraumnutzen rasch transparent und somit verhandelbar.

Diesen Institutionen und den dort beschäftigten Kolleg/innen die Sorge zu nehmen und deutlich zu machen, dass unter Umständen ihr derzeitiges institutionell-professionelles Produkt in der konkreten Situation oder in absehbarer Zeit nicht mehr nachgefragt wird bzw. – im Sinne eines sozialpolitisch-gesellschaftlichen Fortschritts – glücklicherweise nicht mehr nachgefragt werden muss, gilt es in der Fachöffentlichkeit sowie in den Aus- und Fortbildungsinstitutionen klar zu kommunizieren.

An dieser Stelle sei mir ein mehr als augenfälliges Beispiel gestattet: Hätte die Institution der Tuberkulose-Fürsorge, die im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts die Gesundheitssituation in den Wohnquartieren massiv verbessert hat, dafür sorgen sollen, dass ihre Leistungen auch weiterhin dauerhaft nachgefragt werden? Eine horrende Vorstellung, die letztlich auf Neuinfektionen durch Hintertreibung des eigentlichen Ziels hinausgelaufen wäre! Wenn es jedoch ein – auch klar budgetiertes – Commitment der politisch Verantwortlichen im Sozialraum gibt, die Gesundheit der Menschen über das bewältigte Thema TBC hinaus weiter zu verbessern, ist gesichert, dass die professionelle Erfahrung und das Know-how dieser Institutionen und der darin beschäftigten Fachkräfte für ähnlich gelagerte oder neue Themen nutzbar bleiben (Prävention, Sucht, HIV…).

Die in praktischen Umsetzungskonzepten der Sozialraumorientierung angelegte Strategie, die Anbieter Sozialer Arbeit und die meist behördlichen Auftraggeber in Sozialraumteams auf Augenhöhe an einen Tisch zu bringen und über ein Sozialraumbudget zu finanzieren, zog und zieht vordergründig die Kritik auf sich, hier träfe sich ein abgeschlossener Zirkel und verteile in „quasimafiöser“ Manier die vorhandenen bzw. per politischem Federstrich gedeckelten Mittel.

Dass hier jedoch genau sozialplanerisch das passiert, was pragmatisch Sinn macht, wird außer Acht gelassen: Die Versäulung der Angebotspalette, die in einer Erhaltungs- und Expansionslogik notwendigerweise zu steigenden Fallzahlen in den jeweiligen Spezialeinrichtungen führen muss, wird thematisiert. Das Gerangel „um den Klienten/die Klientin“ wird in kleinräumigen Einheiten besonders deutlich: Ein Klient „beschäftigt“ eine Vielzahl von Institutionen und wird in aufwändigem Schnittstellenmanagement von einer Spezialeinrichtung zur nächsten gereicht. Fallvermeidung bzw. frühzeitige Unterstützung durch fallunspezifische, zielgruppenübergreifende Arbeit ist in diesen Abläufen naturgemäß kein Thema.

Auch das augenfällige Hysteron-Proteron von „Containerisierung“ bzw. einem Einsperren von soziomateriell marginalisierten Gruppen in ihren deprivierten Regionen und Stadtteilen (vgl. Kessl/Otto 2007) durch die Protagonist/innen der SRO erfüllt vollkommen den englischen Begriff für absurd, i. e. „preposterous“, in dessen Etymologie die Verwechslung von „Vorher“ und „Nachher“, von Ursache und Wirkung deutlich wird. Kurzum: Die Mechanismen von Armutsverdrängung und Deprivation waren schon wirksam, ehe die SRO den Finger auf die Wunde legte.

4.Fiat voluntas tua – Dein Wille geschehe?

V. a. das zentrale und oberste Prinzip der SRO („Am Willen des Klienten ansetzen“) erschüttert nach wie vor vielfach das Selbstverständnis der Praktiker/innen.

Die unlautere Verkürzung dieses Prinzips als unkritische Willfährigkeit gegenüber den Wünschen der Nutzer/innen (vgl. Fürst/Hinte 2017, S. 18) verkennt allerdings, dass sich der Wille eines Menschen permanent in seiner jeweiligen Existenz manifestiert. Und zwar je nach den Möglichkeiten, die dem Intellekt des Individuums im jeweils konkreten sozialräumlichen Arrangement, i. e. seiner „Welt“, zugänglich sind, also willkürlich im Sinne Arthur Schopenhauers (vgl. Schopenhauer 1996).

Ja, die Suche der Expert/innen nach diesem unter Wünschen nur scheinbar „verschütteten echten“ Willen der Leistungsberechtigten gestaltet sich nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil er manifest vor den Augen ist, sich aber im gesellschaftlich-normativen Kontext häufig so nicht manifestieren soll.