Soziologie der Praktiken - Robert Schmidt - E-Book

Soziologie der Praktiken E-Book

Robert Schmidt

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Beschreibung

Praxistheoretische Zugänge formulieren neuartige theoretische und empirisch-analytische Perspektiven und finden in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren zunehmende Beachtung. Die Aufweichung von epistemologischen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften nach wie vor spalten, sowie ein empirisch orientiertes und methodologisch ausgerichtetes Verständnis von Theorie sind ihre Hauptkennzeichen. Robert Schmidt wendet diese Konzeptionen in unterschiedlichen Forschungskontexten aus den Bereichen des Sports (Handball, Inlinehockey, Triathlon) und der Arbeitswelt (in einem Büro für Software-Entwicklung) an. Es ergeben sich spannungsreiche Konstellationen, an denen sich die Leistungsfähigkeit einer Soziologie der Praktiken beweist.

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Praxistheoretische Zugänge formulieren neuartige theoretische und empirisch-analytische Perspektiven und finden in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren zunehmende Beachtung. Die Aufweichung von epistemologischen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften nach wie vor spalten, sowie ein empirisch orientiertes und methodologisch ausgerichtetes Verständnis von Theorie sind ihre Hauptkennzeichen. Robert Schmidt wendet diese Konzeptionen in unterschiedlichen Forschungskontexten aus den Bereichen des Sports (Handball, Inline-Hockey, Triathlon) und der Arbeitswelt (in Büros für Software-Entwicklung) an. Es ergeben sich spannungsreiche Konstellationen, an denen sich die Leistungsfähigkeit einer Soziologie der Praktiken beweist.

Robert Schmidt ist Gastprofessor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt.

Robert Schmidt

Soziologie der Praktiken

Konzeptionelle Studien und empirische Analysen

Suhrkamp

Zur Erinnerung an Johann Schmidt

(1936–2005)

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-77300-0

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Einleitung

Erster Abschnitt: Eine praxissoziologische Perspektive

Erstes Kapitel: Praxeologisierung als Methodologie

1.1 Praktiken und theoretische Modelle

1.2 Praxeologisierung und die Heuristik des Spiels

1.3 Praxeologisierung, Beobachtung und Beschreibung

Zweites Kapitel: Dimensionen und Trägerschaften von sozialen Praktiken

2.1 Die Temporalität von Praktiken

2.2 Die Körperlichkeit von Praktiken

2.3 Die Materialität von Praktiken

Zusammenfassung

Zweiter Abschnitt: Strategische Forschungsfelder und exemplarische Analysen

Drittes Kapitel: Körperliche Repräsentationspraktiken. Unterscheidungskämpfe im und durch den Sport

3.1 Raum der Sportpraktiken und sozialer Raum. Die Konstruktion eines Modells

3.2 Expansion, Inklusion und Differenzierung

3.3 Hallenhandball, Triathlon, Inline-Hockey und das Brodeln in den mittleren Regionen des sozialen Raumes

3.4 Sport als körperliche Repräsentationsarbeit

6Viertes Kapitel: Exploratives Vergleichen als Werkzeug der Praxeografie

4.1 Präkonstruiertes und exploratives Vergleichen

4.2 Soziologische Sportvergleiche

4.3 Praxeografien vergleichen: Boxen und Programmieren

4.4 Schluss: Vergleichen, um zu entdecken

Fünftes Kapitel: Die Verheißungen eines sauberen Kragens. Zur materiellen und symbolischen Ordnung des Büros

5.1 Büroergonomie

5.2 Die objektuale Integration der Praktiken in einem Software-Büro

5.3 Das Zusammenspiel von Habitat und Habitus

Sechstes Kapitel: Praktiken des Programmierens. Zur Morphologie von Wissensarbeit in der Software-Entwicklung

6.1 Mikroanalyse

6.2 Die Geschichte des Codes

6.3 Die sozio-kulturelle Verfasstheit der Arbeit am Code

6.4 Scrum – ein ethnografischer Epilog

Dritter Abschnitt: Methodologische Reflexionen

Siebtes Kapitel: Stumme Weitergabe. Zur Praxeologie sozialisatorischer Vermittlungsprozesse

7.1 Bourdieus Konzept der stummen Weitergabe in der Diskussion

7.2 Stumme Weitergabe durch Teilnahme an Praktiken

7.3 Ein Plädoyer für mehr Ethnografie in der Sozialisationsforschung

Achtes Kapitel: Wie weit reicht der Blick der Praxeologie? Zur Öffentlichkeit und Beobachtbarkeit sozialer Praktiken

8.1 Selbstgenügsamer Situationalismus?

78.2 Die Öffentlichkeit der Praktiken

8.3 Zwischenfazit: Grundzüge eines praxeologischen Konzeptes der Öffentlichkeit sozialer Praktiken

8.4 Herstellung von Beobachtbarkeit und Perspektivierung

8.5 Öffentlichkeit und Reflexivität der Soziologie

Schluss: Perspektiven einer Soziologie der Praktiken

Literatur

9Einleitung

Aus einer überfüllten U-Bahn strömt eine Menschenmenge zum Ausgang. In entgegengesetzter Richtung drängt ein zweiter Menschenstrom in die zur Weiterfahrt bereitstehende Bahn. Er trifft auf bereits auf dem Bahnsteig Wartende. Es entfaltet sich ein alltägliches öffentliches Geschehen, das sich stets auf gleichförmige Weise vollzieht. Über die Bildschirme der Video-Überwachung kann man beobachten, wie vor den Wagentüren links und rechts Trauben von Einstiegswilligen wachsen, die den Aussteigenden den Vortritt lassen. Zwischen denen, die zum Ausgang streben, und jenen, die in die andere Richtung drängen, entsteht eine unsichtbare Trennungslinie. Sie verläuft ungefähr in der Mitte des Bahnsteigs. Mit dem An- und Abschwellen der beiden Ströme verschiebt sie sich mal zur einen, mal zur anderen Bahnsteigseite hin.

Dieses kollektive Bewegungs- und Verhaltensmuster löst sich mit dem Abfahren der U-Bahn auf, um sich in ähnlicher Weise wieder neu zu bilden, wenn der nächste Zug einfährt. Es wird durch ein Zusammenspiel verschiedenster Elemente möglich. So sind zum einen Konventionen wirksam: Man wartet eben auf die beschriebene Weise. Man verhält sich auf U-Bahnhöfen eben so. Man vermeidet Zusammenstöße mit dem Gegenverkehr, toleriert in dieser Situation aber zugleich bis zu einem gewissen Grad körperliche Berührungen mit Unbekannten. Die Teilnehmer richten durch fortlaufende körperliche Darstellungen ihr Verhalten aneinander aus. Sie tasten sich mit Blicken ab, zeigen sich gegenseitig ihr Gehen, Warten oder Vorwärtsdrängen an und vertrauen darauf, dass alle auch gemäß der Informationen handeln, die sie durch ihre Darstellungen öffentlich zur Verfügung stellen.

An der kollektiven Bewegungsorganisation wirken zudem gegenständliche Artefakte und technische Vorrichtungen mit. Die Architektur der Zu-, Aus- und Übergänge, die farblichen Markierungslinien, die Treppen, Rolltreppen und Fahrstühle, die Anzeigetafeln, die das Einfahren der Züge ankündigen, oder die visuellen und akustischen Warnsignale an den Wagentüren sind an der Choreografie der Bewegungen auf dem Bahnsteig entscheidend beteiligt.

Das Geschehen verlangt bestimmte Formen der Teilnahme, und 10es lässt zugleich Abweichungen zu. Seine Regelmäßigkeit basiert auf einem Zusammenspiel von expliziten Regeln und Vorschriften, in die Artefakte eingelassenen Anweisungen, impliziten Regeln und normativen Verhaltensanforderungen. Dazu zählt auch die weitgehend geteilte Auffassung, dass man bestimmte Regeln ruhig übertreten kann: Hin und wieder werden – begleitet vom Warnsignal und unter den duldenden Blicken der schon Zugestiegenen – die sich schließenden Türen mit Körperkraft blockiert und für Teilnehmer offen gehalten, die unbedingt noch mitfahren wollen. Diese Nachzügler müssen kurz vor ihrem Sprung in den Wagen darauf vertrauen, dass die beteiligten Fahrgäste das Türenschließen wirklich verhindern werden. Zugleich müssen sie demonstrieren, dass sie entschlossen sind, das Risiko, von den Türen eingeklemmt zu werden, auf sich zu nehmen. Eine in dieser Hinsicht überzeugende Darstellung entlastet die, die sich anschicken, die Türen zu blockieren. Die Verantwortung für die kooperative Intervention gegen die technisch automatisierte Zutrittsregelung wird so auf alle Beteiligten verteilt.

Dieses Bild vom Geschehen auf einem U-Bahnhof zeigt die Konturen einer sozialen Ordnungsbildung und veranschaulicht eine soziale Praktik. Soziale Praktiken stehen im Mittelpunkt dieser Studie. Die Praktik des U-Bahn-Fahrens demonstriert bereits ihre wichtigsten Kennzeichen: Soziale Praktiken sind öffentlich. Sie sind an bestimmte Umstände, Orte, Kontexte und materielle Rahmungen gebunden. Sie vollziehen sich überwiegend im Modus des Gewohnten und Selbstverständlichen. Sie haben kollektiven Zuschnitt, das heißt, sie involvieren Teilnehmerschaften und Praktikergemeinschaften: Fahrgäste, Konzertbesucherinnen, Fachleute, Mitarbeiterinnen, Kundinnen, Ausübende, Kenner, Könner, Spezialistinnen. In sozialen Praktiken spielen körperliche Performanzen und Routinen, ein gemeinsam geteiltes praktisches Wissen und die beteiligten Artefakte eine wichtige Rolle. Und schließlich: Soziale Praktiken sind durch eine sich immer wieder aufs Neue bildende Regelmäßigkeit gekennzeichnet.

An diesen letzten und entscheidenden Punkt knüpfen praxistheoretische Ansätze eine weit reichende These: Die Regelmäßigkeit von Verhaltensweisen, die Geordnetheit sozialen Geschehens und die Strukturiertheit sozialer Beziehungen, alle diese Grundmerkmale des Sozialen werden in und durch soziale Praktiken hervorge11bracht. Diese Generalthese wird – mal mehr, mal weniger explizit und stringent – von einem ganzen Bündel durchaus heterogener sozialwissenschaftlicher Ansätze verfolgt. Sie reichen von den Interaktionsstudien Erving Goffmans und der Ethnomethodologie über die von Norbert Elias entwickelte Figurationssoziologie, die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens bis hin zur Praxeologie Pierre Bourdieus. Mit ihrer Konzentration auf die sozialen Praktiken positionieren sich diese Zugänge in kritischer Distanz sowohl zu objektivistischen, holistischen und kollektivistischen Vokabularen, die das Soziale mit Strukturen, Funktionen und Systemen identifizieren, als auch zu jenen Richtungen, die das Soziale aus dem Zusammenspiel von Einzelhandlungen ableiten.

Der anhaltende Erfolg praxistheoretischer Ansätze gilt mittlerweile als Indiz für einen practice turn, für eine an den sozialen Praktiken orientierte soziologische Neuausrichtung. In der vorliegenden Untersuchung wird diese Perspektive kritisch vermessen. Sie wird in Auseinandersetzung mit ihren wichtigsten Vertretern in ihrer methodologischen Dimension rekonstruiert, in empirischen Analysen erprobt und konzeptionell weiter ausgearbeitet.

Auf welche sozialen und wissenschaftssoziologischen Entwicklungen reagiert dieser practice turn? Man kann den Erfolg der praxistheoretischen Zugänge mit dem Scheitern der grand theories, mit der Krise des Funktionalismus, der ›systematischen Gesellschaftstheorie‹ und der in diese Konzepte eingelassenen Vorstellungen über ›die Gesellschaft‹ als eine geschlossene, nationalstaatlich verfasste Einheit in Zusammenhang bringen. In praxistheoretischen Ansätzen wird auf das Erkenntnisobjekt ›Gesellschaft‹ entweder ganz verzichtet, oder es wird von der Veränderlichkeit, Offenheit und den unscharfen Grenzen von ›Gesellschaft‹ ausgegangen. Statt ›der Gesellschaft‹ werden eher fortlaufende Prozesse der Vergesellschaftung untersucht – soziale Vollzüge in räumlich und zeitlich konkret bestimmbaren, materiell situierten und miteinander verknüpften Kontexten.

Für die Soziologie ergeben sich damit neue Aufgaben und Möglichkeiten. Wo sie ihre Zuständigkeit für die Kritik ›der Gesellschaft‹ eingebüßt zu haben scheint – angesichts globaler Gefährdungen werden alarmierende Gesellschaftsdiagnosen und Aufrufe zur Veränderung des gegenwärtigen way of life kaum noch von der 12Soziologie, sondern stattdessen von der Klimaforschung, der Biologie oder den Geowissenschaften formuliert –, da kann sie über die empirische Analyse lokaler, sozio-materiell verankerter und vernetzter Praktiken eine kritische Expertise zurückgewinnen.

Man kann den Aufschwung der Praxeologien aber auch auf die Krise der Rational-Choice-Ansätze mit ihren empirisch unplausiblen handlungstheoretischen Modellannahmen beziehen. Die Praxissoziologien wenden sich gegen Konzeptionen, die das Soziale als Verhalten vieler Einzelner entwerfen und deren interessenbestimmte Kooperationsmuster untersuchen. Sie rücken stattdessen die Analyse situierter communities of practice in den Mittelpunkt. Solche in und durch soziale Praktiken organisierten Kollektive werden als gegenüber den individuellen Handlungen vorgängige soziale Phänomene aufgefasst. Von den Teilnehmerinnen werden solche Praktikergemeinschaften, die über spezifische Formen von knowing how integriert sind, oft als besondere soziale Zusammenhänge erfahren. Sie sind häufig hinsichtlich ihres Klassen-, Milieu- und Geschlechterstatus exklusiv und produzieren fortlaufend soziale und kulturelle Differenzierungen. Mit dieser Sichtweise artikulieren die Praxissoziologien eine Sozialerfahrung, die sich nach dem Verblassen der Individualisierungsszenarien der 1980er und 1990er Jahre wieder verbreitet. Sie beschreiben das Soziale als eine hierarchisch strukturierte, dynamische und relationale Ordnung der sozialen Milieus von Eliten und Prekären, der Arbeits-, Wissenschafts- und Expertenkulturen, der Minderheiten, Szenen, Sportgemeinschaften und Subkulturen.

Neben die Zurückgewinnung kritischer Expertise und die Ausarbeitung einer zeitgenössischen sozialen Erfahrung treten zudem epistemologische Argumente für eine praxissoziologische Orientierung. Die praxistheoretische Perspektive verfolgt ein erkenntniskritisches Projekt. Sie reflektiert den Umstand, dass die sozialwissenschaftlichen Analysen immer selbst Teil der sinnhaften Sozialwelt sind, mit der sie sich befassen. Entsprechend machen die Praxeologien auch die wissenschaftlichen Praktiken von Soziologinnen und Soziologen zu ihrem Gegenstand. Sie bemühen sich darum, Selbstmissverständnisse und Scheinprobleme des wissenschaftlichen Arbeitens aufzuklären, um so zu einem realistischeren Verständnis sozialwissenschaftlicher Praktiken und Analysen beizutragen und deren Möglichkeiten zu entwickeln.

13Die praxistheoretische Perspektive begnügt sich folglich nicht damit, Theorie – wie etwa die marxistische Tradition – in praktischer Absicht zu formulieren. Sie begreift die theoretische Arbeit vielmehr selbst als ein Ensemble von Praktiken, auf das sie sich reflexiv bezieht. Zu ihren wichtigsten erkenntniskritischen Leistungen gehört die Entdeckung der Differenz zwischen der Logik der wissenschaftlichen Beobachtung und der Logik der beobachteten Praktiken, zwischen der Logik der theoretischen Modelle und der Logik derjenigen Praktiken, die durch diese Modelle erfasst werden sollen. Die Praxeologie Pierre Bourdieus, in der die Herausarbeitung dieser Differenz eine entscheidende Rolle spielt, fordert dementsprechend dazu auf, die Kluft zwischen praktischer und theoretischer Logik in die sozialwissenschaftliche Theoretisierung selbst zu integrieren. Dies schließt eine kritische Reflexion der Praktiken des Forschens und der Theoriebildung genauso ein wie die Revision etablierter soziologischer Konzepte.

Wie lassen sich die praxissoziologischen Zugänge hinsichtlich ihrer analytischen Verfahren und Arbeitsweisen charakterisieren? Diesbezüglich sind drei Leitlinien signifikant: Erstens impliziert der practice turn auch einen empirical turn. Das heißt, Theorie wird nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern vorwiegend als Werkzeug der empirischen Forschung verstanden. Die Theoriearbeit wird der empirischen Analyse weder vorgeschaltet noch nachgeordnet, sondern typischerweise in das empirische Forschen selbst integriert. Theoretische Konzepte werden empirienah entwickelt, auf empirische Objekte und Gegenstände bezogen und dauerhaft in einem vom Empirischen irritierbaren und änderbaren Zustand gehalten.

Zweitens schließt der practice turn auch einen body and material turn ein: Handelnde werden nicht als Geistwesen oder lediglich als talking heads konzipiert, sondern immer als körperlich befähigte und körperlich agierende Teilnehmerinnen verstanden. Soziale Praktiken werden entsprechend als ein Zusammenspiel von geübten Körpern, gegenständlichen Artefakten, natürlichen Dingen, Gegebenheiten, sozio-materiellen Infrastrukturen und Rahmungen beschrieben.

Drittens konvergiert der practice turn schließlich auch mit einem ethnographic beziehungsweise praxeographic turn: Da der praxissoziologische Blick sich nicht auf Texte oder Sprechakte verengt, 14sondern auch den nichtlinguistischen Bereich des Sozialen, das heißt öffentliche, stumme, körperliche Vollzüge, situierte bildhafte Performanzen und Ähnliches, mit einbezieht, sind die empirischen Analysen der Praxissoziologien durch eine starke Affinität zur (teilnehmenden) Beobachtung und Beschreibung und durch eine gewisse Skepsis gegenüber Befragungsverfahren gekennzeichnet, die sich bemühen, soziale Phänomene durch die Rekonstruktion der inneren Handlungsmotive der Beteiligten zu erschließen.

Die vorgelegte Arbeit verknüpft die verschiedenen praxissoziologischen Zugänge zu einem Forschungsansatz. Sie setzt sich mit zentralen Kritikpunkten auseinander, stellt empirisch-praxeologische Analysen vor und erarbeitet weiterführende Konzepte. Ihre Entstehung geht zurück auf eine langjährige Forschungstätigkeit im Sonderforschungsbereich 447 »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin. Die interdisziplinäre Beschäftigung mit Phänomenen und Konzepten des Performativen, verschiedene von mir durchgeführte Feldforschungen und empirische Untersuchungen im von Gunter Gebauer geleiteten Teilprojekt zur »Aufführung der Gesellschaft in Spielen« und nicht zuletzt eine fortdauernde Auseinandersetzung mit der Soziologie Pierre Bourdieus eröffneten die entscheidenden Fragestellungen.

Ausgehend von Konzepten der cultural performances, begleitet von empirischen Studien zur körperlichen Performativität in Sport- und Arbeitspraktiken und motiviert durch den Versuch, die sprechakttheoretischen, auf Sprache, Sprecher und diskursives Handeln fokussierten Performativitätskonzepte der Textwissenschaften kulturanalytisch zu erweitern und soziologisch zu reformulieren, rückten dabei in mehreren Schritten, Um- und Irrwegen schließlich die sozialen Praktiken ins Zentrum meines wissenschaftlichen Interesses. Auf diesem Weg von der Kulturanalyse des Performativen zu einer Soziologie der Praktiken hielt sich jedoch ein Grundmotiv der Performativitätskonzepte durch: das der iterativen Hervorbringung der sozialen Wirklichkeit in einem fortlaufenden, sich immer wieder aufs Neue in ähnlicher, regelmäßiger Weise vollziehenden sprachlichen, körperlichen, materiellen und symbolischen Geschehen – das heißt in und durch soziale Praktiken.

Der vorliegenden Studie geht es darum, die praxistheoretische Perspektive in Auseinandersetzung mit ihren wichtigsten Vertretern zu rekonstruieren, sie in exemplarischen Analysen in kontras15tierenden Forschungsfeldern empirisch auszuarbeiten und sie methodologisch zu reflektieren. Weil ein solches Vorhaben quer zur gängigen innerdisziplinären Arbeitsteilung in der Soziologie liegt, lässt es sich mehreren Fachgebieten zuordnen:

Die hier verfolgten Fragestellungen fallen zum einen in den Bereich der soziologischen Theorie. Die Arbeit nimmt die Debatten um eine Praxistheorie des Sozialen kritisch auf. Sie profiliert ein methodologisches Verständnis der praxistheoretischen Perspektive und beschreibt den practice turn als einen theoriebezogenen modus operandi des empirischen Forschens. Damit ordnet sich die vorgelegte Studie zugleich dem Gebiet der Methodologien und der qualitativen empirischen Methoden zu. Sie stellt die enge Verzahnung von ethnografischer oder praxeografischer Forschungshaltung und praxeologischer Theoriebildung heraus und entwickelt Methoden des explorativen Vergleichens, der Videografie und des Beschreibens. Die Sportsoziologie, die Studies of Work und die Organisationssoziologie bilden schließlich diejenigen Teilgebiete, in die sich die vorgelegte Studie mit ihren empirischen Analysen einreiht. Die Untersuchungen zum Raum der Praktiken des Sports, zu den Wissenspraktiken des Programmierens und den Praktiken des Organisierens in der Software-Entwicklung verstehen sich als exemplarische Erkundungen, die neue Sichtweisen auf die jeweiligen Objektbereiche eröffnen und den praxeologischen Ansatz empirisch entwickeln möchten.

Die Gliederung der vorliegenden Arbeit unterstreicht diese Zielsetzung. Sie trägt dem praxistheoretischen Verständnis einer in das empirische Forschen integrierten Theoriearbeit Rechnung und vermeidet daher die übliche Aufteilung von Theoriekapiteln und nachfolgenden empirischen Fallstudien. Stattdessen folgen auf einen einführenden programmatischen Abschnitt die empirischen und ethnografischen Studien, die das Herzstück der Arbeit bilden. In diesen Untersuchungen werden aus den gegenstandsbezogenen Beobachtungen weiterführende Probleme und Fragestellungen der Praxissoziologie herausgearbeitet, die dann in einem weiteren Abschnitt theoretisch und methodologisch reflektiert werden.

Die Studie gliedert sich also in drei Abschnitte und in insgesamt acht Kapitel. Im ersten Abschnitt wird die praxistheoretische Perspektive eingeführt und profiliert. Sie wird im ersten Kapitel zunächst in Auseinandersetzung mit den praxistheoretischen Debatten 16methodologisch reformuliert und als ein Verfahren der Praxeologisierung qualifiziert. Das zweite Kapitel entwickelt diesen Zugang weiter. Es stellt mit Bezug auf wichtige praxissoziologische Autoren und Ansätze die verschiedenen Dimensionen und Trägerschaften von sozialen Praktiken heraus und sondiert diesbezüglich Orientierungspunkte für die praxeologische Analyse.

Der zweite Abschnitt umfasst exemplarische Studien im Bereich des Sports und in der Wissensarbeit. Beide Bereiche werden als Forschungsfelder eingeführt, die, weil sie zueinander konträre und zugleich komplementäre Herausforderungen bereithalten, für die Profilierung einer Soziologie der Praktiken von strategischer Bedeutung sind. Die praxistheoretische Perspektive wird in diesem Abschnitt empirisch enggeführt, aus den verschiedenen empirischen Analysen heraus entfaltet und an kontrastierenden Fällen präzisiert.

So steht im dritten Kapitel zunächst die differentielle und distinktive Logik sportlicher Praktiken im Zentrum. Mit Hilfe von Modellkonstruktionen eines relationalen Raumes der Sportarten und vergleichenden Falldarstellungen wird der besondere Beitrag herausgearbeitet, den Sportpraktiken für die kollektive soziale Arbeit des Sich-sichtbar-Machens und des Sich-Unterscheidens leisten. Im vierten Kapitel stehen Verfahren des Vergleichens im Allgemeinen und Sportvergleiche im Besonderen im Mittelpunkt. In einer komparativen Optik werden Beobachtungen und Beschreibungen von Programmierpraktiken in einer Softwarefirma mit Darstellungen des Boxens überblendet. Im Gegenlicht dieser sportlichen, körperlichen Praktik wird dann die mikrogestische und verkörperte praktische Logik des Programmierens entdeckt und nachgezeichnet – das explorative Vergleichsverfahren bereitet auf diese Weise den Weg zu einem neuen Verständnis dieser Form der Wissensarbeit.

Im fünften Kapitel wird schließlich mit der Form ›Büro‹ die materielle und zugleich symbolisch-kulturelle Rahmung rekonstruiert, in der Programmierpraktiken und andere Varianten von Wissensarbeit stattfinden. Mit Bezug auf das angewandte Wissen der Büroergonomie, den Diskurs der Büromöbelhersteller und ethnografische Beobachtungen werden Büroräume und Büroartefakte als Teilnehmer an Arbeitspraktiken perspektiviert und ihre jeweiligen Beteiligungen herausgearbeitet. Das sechste Kapitel erschließt 17zunächst anhand einzelner Sequenzen und mit Hilfe von praxeografischen Mikroanalysen die materielle Textur, zeitliche Strukturierung, Mikrogestik und Feinmotorik des Programmierens. Diese mikroanalytische Morphologie kann eine sozio-kulturelle Form der Arbeitspraktiken herauspräparieren, die sich, wie die weiteren Analysen zeigen, für die Organisation von und die Kooperation in Software-Projekten als überaus problematisch erweist.

Die empirisch-praxeologischen Studien in diesem zweiten Abschnitt folgen einerseits dem Ziel, über einen Bruch mit den Präkonstruktionen und durch ein Primat des vermeintlich Sekundären, der materiellen Umgebungen und der impliziten, stillen, körperlichen Beteiligungen kaum beachtete Aspekte der untersuchten Gegenstandsbereiche aufzudecken und neue Sichtweisen und Verständnisse zu entwickeln. Andererseits sind sie darauf ausgerichtet, die praxeologischen Verfahren methodisch zu kultivieren.

Demgegenüber stehen im dritten Abschnitt zentrale konzeptionelle Probleme und Lücken der praxissoziologischen Zugänge im Mittelpunkt. Hier wird die praxistheoretische Perspektive mit Kritikpunkten und konkurrierenden Sichtweisen konfrontiert, um Desiderate herauszustellen und Forschungsperspektiven zu verdeutlichen. So beschäftigt sich das siebte Kapitel mit dem Problem der Strukturvermittlung und seinen Fallstricken. Es wird gezeigt, dass der Annahme einer stummen Weitergabe von Schemata und Dispositionen im praxistheoretischen Rahmen zwar zentrale Bedeutung zukommt, dass die Frage nach den konkreten Übertragungsprozessen aber selten überzeugend beantwortet wird. Um die Problematik zu entfalten, werden Bourdieus Idee einer stummen Weitergabe von Schemata, zentrale Einwände gegen diese Konzeption und eine Antikritik diskutiert, die sich auf aktuelle neurophysiologische Forschungen stützt.

Das abschließende achte Kapitel setzt sich mit dem Vorwurf der ›Strukturvergessenheit‹ und ›situationistischen Selbstgenügsamkeit‹ der praxistheoretischen Perspektive auseinander. Auf die in der Diskussion des practice turn vorgebrachte Kritik an der beschränkten Reichweite des praxeologischen Blicks antwortet dieses Kapitel mit einer Skizze der Öffentlichkeit sozialer Praktiken. Es wird herausgestellt, dass die Öffentlichkeitsannahme der Praxissoziologie ein konzeptionelles Desiderat bildet, das erschlossen werden muss, um die praxeologischen Verfahren der Herstellung von Beobachtbar18keit zu fundieren. Im Anschluss wird dann mit Bezug auf Hannah Arendts Öffentlichkeitstheorie und exemplarische praxeologische Untersuchungen ein konzeptioneller Entwurf zur Öffentlichkeit und Beobachtbarkeit des Sozialen präsentiert.

Die Kapitel des zweiten und dritten Abschnitts dieser Studie basieren zum Teil auf Vorfassungen, die ich bereits für Veröffentlichungen verwendet habe.[1] Für die vorliegende Arbeit wurden diese Vorfassungen grundlegend überarbeitet, in Teilen revidiert und ergänzt.

Viele der hier vorgebrachten Argumente und Ideen gehen auf die Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Forschungszu19sammenhang zurück. Für diese Zusammenarbeit bin ich den Kolleginnen und Kollegen am Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin zu Dank verpflichtet. Mein besonderer Dank gilt Gunter Gebauer für vielfältige Anregungen und die mir in dieser Forschungsarbeit gewährten größtmöglichen Freiheiten. Wichtige Impulse verdankt die vorlegte Arbeit darüber hinaus Personen, die Entwürfe kritisch kommentiert, sich auf gemeinsame Projekte eingelassen und Anstöße gegeben haben. Dafür möchte ich mich bei Thomas Alkemeyer, Thomas Scheffer, Jörg Volbers und Volker Woltersdorff bedanken. Für eine seit meiner Diplomarbeit andauernde Diskussion, grundlegende wissenschaftliche Orientierungen, Ermutigungen und entscheidende Anregungen zu dieser Arbeit danke ich Beate Krais.

Das Manuskript der vorgelegten Arbeit wurde im Sommer 2010 vom Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt als Habilitationsschrift angenommen. Die Gutachterin und die Gutachter waren Beate Krais, Rudi Schmiede, Michael Meuser und Hans-Georg Soeffner. In die vorliegende überarbeitete Fassung sind viele wichtige Hinweise und Verbesserungsvorschläge aus den Gutachten eingegangen.

21Erster Abschnitt: Eine praxissoziologische Perspektive

23Wie lassen sich soziale Handlungen und Verhaltensweisen angemessen verstehen und erklären? Wie entstehen soziale Ordnungen? Wie kommt es zur Regelmäßigkeit und repetitiven Beständigkeit des sozialen Lebens? Wie bilden, reproduzieren und verändern sich seine Formen und Strukturmuster? Auf solche Grundfragen der Soziologie[1] antworten seit einiger Zeit neuartige Forschungsansätze und theoretisch-methodologische Zugänge, die sich bei aller Unterschiedlichkeit darin ähnlich sind, dass sie soziale Praktiken ins Zentrum der empirischen und theoretischen Analysen rücken. So konzentriert sich beispielsweise in der Wissenschafts-, der Organisations-, der Medien- oder der Geschlechtersoziologie das empirische Forschungsinteresse zunehmend auf das alltägliche doing, auf Verhaltensweisen, Routinen und Gebrauchspraktiken in den entsprechenden Analysefeldern. In der soziologischen Theorie rückt die Analyse von sozialen Praktiken ins Zentrum von Bemühungen um neue kulturanalytische Fundierungen.[2]

Der Rekurs auf Konzepte sozialer Praktiken wird häufig mit einer Kritik an Verkürzungen handlungstheoretischer Zugänge verknüpft. Entsprechende Argumentationslinien stellen bereits die klassischen sozialphilosophischen Theorietraditionen zur Praxis bereit. So zeigt die Geschichte des Begriffs in der europäischen Philosophie, dass ›Praxis‹ gegenüber dem Begriff des Handelns viel umfassender dimensioniert ist. Hannah Arendt hat aus der auf Aristoteles zurückgehenden Unterscheidung zwischen ›Praxis‹ und ›Poiesis‹ eine begriffliche Differenzierung zwischen den Grundtätigkeiten Handeln, Herstellen und Arbeiten entwickelt, die sie als Modalitäten der vita activa beschreibt.[3] Diese Modalitäten zwischen Praxis und Poiesis möchte das Konzept sozialer Praktiken erschließen.

Praxistheoretische Zugänge konvergieren – bei all ihren sonstigen Nichtübereinstimmungen – in der analytischen Entscheidung, 24bei der Bearbeitung der genannten Grundfragen der Soziologie nicht Bewusstseinsformen, Ideen, Werte, Normen, Kommunikation, Zeichen- und Symbolsysteme, sondern soziale Praktiken in ihrer Situiertheit, ihrer materialen Verankerung in Körpern und Artefakten sowie in ihrer Abhängigkeit von praktischem Können und implizitem Wissen in den Mittelpunkt zu stellen.[4] Der Akzent dieser Zugänge liegt nicht auf den Sichtweisen, Motiven oder Absichten von Individuen, sondern auf deren Aktivitäten. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den in solchem Tun generierten und in ihm sich manifestierenden praktischen Sinn. Praxistheorien interessieren sich für das Vollzugsgeschehen, in das die Teilnehmer einer Praktik involviert sind. Ihnen geht es – mit einer Formulierung Goffmans – »nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen«.[5]

In dieser Orientierung wird den sozialen Praktiken ein ontologischer Vorrang bezüglich der Konstitution des Sozialen zuerkannt. Das Soziale ist demnach wesentlich und allererst ein Beziehungsgefüge situierter Praktiken.[6] Begriffe wie ›soziales System‹ oder ›funktionale Rolle‹ sind in dieser Perspektive wissenschaftliche Konstrukte, denen, weil sie im sozialtheoretischen Diskurs oft substantialisiert und verdinglicht werden, mit grundsätzlichem Misstrauen begegnet wird. Darin artikuliert sich eine Skepsis der empirischen Forschung gegenüber unreflektierten begrifflichen Verselbständigungen und spekulativen Überschüssen ›scholastischer‹, durch die »Illusion von der Allmacht des Denkens«[7] gekennzeichneter Sozialtheorien. Die praxistheoretische Perspektive zielt demgegenüber auf einen anderen, methodologisch ausgerichteten und am Empirischen orientierten Typus von Theorie.[8]

Diese kursorisch zusammengestellten Kennzeichen praxistheoretischer Ansätze weisen bereits auf Themen und Kontroversen hin, die 25in der gegenwärtigen Diskussion um einen sozialwissenschaftlichen practice turn[9] eine wichtige Rolle spielen. Diese Debatte konzentriert sich auf Arbeiten aus dem Umkreis der Ethnomethodologie,[10] auf Goffmans Interaktionsanalysen,[11] auf die neuen Artefakttheorien der soziologischen Wissenschaftsforschung,[12] auf die an den späten Wittgenstein anschließende Sozialtheorie,[13] auf Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung[14] und – nicht zuletzt – auf die Praxeologie Pierre Bourdieus.[15] Auf diese praxissoziologischen Studien wird – noch ergänzt durch die in der Diskussion unterrepräsentierte Figurationstheorie von Norbert Elias[16] und die Inter26aktionssoziologie George Herbert Meads[17] – im Folgenden Bezug genommen.[18]

Die genannten Ansätze bilden ein mehr oder weniger loses Bündel familienähnlicher Theorien und Forschungsrichtungen. Das heißt, sie weisen nicht alle dieselben Ähnlichkeitsmerkmale auf. Bei aller Ähnlichkeit sind sie vielmehr gerade auch durch unterschiedliche und je besondere Akzente gekennzeichnet, die jedoch jeweils für die Darstellung der Familie praxeologischer Zugänge insgesamt aufschlussreich sind.[19] Im Folgenden werden nacheinander die wichtigsten dieser aufschlussreichen Besonderheiten in den Mittelpunkt gerückt. Sie stützen alle auf ihre Weise das hier verfolgte übergreifende Darstellungsziel. Es besteht darin, die praxistheoretische Perspektive nicht als ›Sozialtheorie‹, sondern als eine Forschungshaltung, eine Such- und Findestrategie, eine Herangehensweise und Methodologie der Praxeologisierung herauszustellen.

Diese Akzentuierung wird im ersten Kapitel erläutert und im Kontext konkurrierender Zugänge profiliert. Die praxistheoretische Perspektive konturiert die Differenz zwischen den theoretischen Praktiken und den alltäglichen Praktiken des gewählten Objektbereichs (1.1). Sie perspektiviert das soziale Geschehen mit Hilfe einer Heuristik des Spiels, versteht soziale Praktiken als situierte, interdependente Aktivitäten, die nicht auf individuelle Intentionen oder Motive zurückgeführt werden können (1.2), und hebt schließlich die Öffentlichkeit und prinzipielle Beobachtbarkeit von Prak27tiken hervor (1.3). Nach der Darstellung dieser methodologischen Kernpunkte werden im zweiten Kapitel einzelne Dimensionen und Aspekte diskutiert, auf die sich die Analyse sozialer Praktiken konzentriert. Dazu gehören die Vollzugswirklichkeit und Temporalität sozialer Praktiken (2.1) sowie ihre wichtigsten Träger: Körper (2.2) sowie materielle Gegebenheiten und Artefakte (2.3). Diese Aspekte – zugleich signifikante Eigenschaften von Praktiken und Fokussierungen praxeologischer Analysen – stehen dann im Mittelpunkt der empirischen Fallstudien in für die praxeologische Perspektive strategischen Forschungsfeldern im zweiten Abschnitt sowie der abschließenden, weiterführenden theoretisch-methodologischen Überlegungen im dritten Abschnitt.

28Erstes Kapitel: Praxeologisierung als Methodologie

Die überwiegende Mehrzahl der im Zusammenhang mit dem practice turn diskutierten sozialwissenschaftlichen Ansätze hat sich in enger Verbindung mit der empirischen Forschungsarbeit und über die Reflexion von Forschungserfahrungen herausgebildet. Dies gilt für die Ethnomethodologie genauso wie für Goffmans naturalistische Beobachtungen von Interaktionen, für die Labor- und Fallstudien der Akteur-Netzwerk-Theorie und nicht zuletzt für Bourdieu und seine im Kontext ethnologischer Feldstudien in Algerien entstandene Theorie der Praxis. Der practice turn ist also zugleich ein empirical turn, der seine Theorieentwicklung eben nicht mit theoriearchitektonischer Zielsetzung, sondern aus der empirischen Forschung heraus betreibt.

Dessen ungeachtet werden die praxistheoretischen Ansätze gegenwärtig nur sehr vereinzelt im Kontext empirischer Problemstellungen rezipiert. Sie werden überwiegend in theoretischen Debatten aufgegriffen und als theoretische Neuentwicklungen gelesen. In dieser Sicht steht der practice turn für einen sozial- und kulturtheoretischen Paradigmenwechsel. Die praxeologischen Ansätze markieren demnach eine »Theoriebewegung im kulturtheoretischen Feld«[1] hin zu veränderten Verständnissen von ›Handeln‹, ›Akteur‹, ›Subjekt‹ und ›sozialer Ordnung‹, an denen wiederum ein Wandel der Gegenwartsgesellschaft abgelesen wird. Werden praxeologische Ansätze jedoch hauptsächlich als ›theoretische Strömungen‹ rezipiert, dann werden nicht nur häufig ihre empirisch-analytischen Zielsetzungen übersehen, sondern es werden oftmals auch die kritisch-reflexiven Pointen bagatellisiert, die diese Ansätze gegen ein ›scholastisches‹ Verständnis von Theorie formulieren.[2]

29Dieser Kritik zufolge sind ›scholastische‹ Konzeptionen durch eine epistemische Voreingenommenheit gekennzeichnet. Sie rührt daher, dass sie die besonderen sozialen, institutionellen und empirischen Voraussetzungen theoretischer Sichtweisen, Praktiken und Produktionen nicht reflektieren. Daraus ergeben sich vor allem zwei komplementäre Defizite: Scholastische Ansätze neigen zum einen dazu, die partikularen Perspektiven und Sozialerfahrungen von Theoretikerinnen und Intellektuellen unkontrolliert zu universalisieren und auch den untersuchten Teilnehmerinnen zu unterstellen. Diese werden dann nicht als praktisch Involvierte, sondern als – oft defizitäre – Theoretiker ihrer Praktiken beschrieben; die Logik der Praxis im untersuchten Objektbereich wird auf diese Weise verfehlt.

Zum anderen verfangen sich scholastische Ansätze aufgrund ihrer eigenen, von ihnen aber nicht durchschauten Produktionslogiken in symptomatischen epistemischen Irrtümern. Sie tendieren zum Beispiel dazu, die von ihnen konstruierten theoretischen Modelle der Wirklichkeit als Grundlagen dieser Wirklichkeit zu behandeln. Dieser ›scholastische‹ Kategorienfehler findet sich besonders in Sozialtheorien, denen ein substantialistisches oder realistisches Verständnis sozialer Strukturen, Systeme, Normen, Regeln oder anderer analytischer Kategorien zugrunde liegt.[3] In der folgenden Darstellung wird diese kritisch-reflexive Argumentation als ein wichtiges Kennzeichen praxissoziologischer Zugänge ernst genommen. Die entsprechenden Ansätze werden daher – in einer gewissen Zurückhaltung gegenüber theoretischen Lesarten – vorwiegend im Hinblick auf ihre methodologischen und empirisch-analytischen Bezugsprobleme erläutert.[4]

30Mit der skizzierten Kritik ›scholastischer‹ Sichtweisen rücken praxistheoretische Ansätze die Reflexion der Beziehungen zwischen den Praktiken des Forschens und Theoretisierens und den beforschten Praktiken in den Mittelpunkt. Sie adressieren sozialtheoretische Fragen charakteristischerweise über solche methodologischen Wendungen und zielen auf ein besonderes Verhältnis von Empirie und Theorie.[5] Im Bemühen, die Isolierung von theoretischer und empirischer Arbeit zu überwinden und ihrer wechselseitigen Ignoranz entgegenzuarbeiten, begnügt sich das praxissoziologische Programm aber nicht mit einer ›empirischen Fundierung‹ oder ›Falsifikation‹ von Theorie. Darin werden vielmehr Verfahren erkannt, durch die ›Theorie‹ und ›Empirie‹ als zwei klar voneinander zu trennende Bereiche bestätigt werden, denn es wird ja davon ausgegangen, dass theoretische Aussagen an ›rein empirischen‹, 31nicht selbst durch implizite theoretische Vorannahmen verzerrten Beobachtungen überprüfbar seien.[6]

In der Praxissoziologie wird diese Trennung zwischen Theorie und Empirie destabilisiert. Beide Bereiche werden in ihrer wechselseitigen Verschränkung methodologisch neu veranschlagt. Das heißt, es wird zugleich die Empiriegebundenheit von Theorie und die Theorieabhängigkeit jeder empirischen Beobachtung zum Ausgangspunkt gemacht. Theorien werden – etwa im Anschluss an die ethnografische Wissenschaftsforschung – als Ensembles theoretischer Praktiken empirisiert, und zugleich wird – als produktive Konsequenz aus der unvermeidlichen Theoriegeleitetheit der empirischen Beobachtung – eine explizit theoretische empirische Forschung angestrebt.

Die Praxissoziologien beanspruchen mithin eine besondere Form von Theorie. Sie soll so gebaut sein, dass sie sich vom Empirischen fortlaufend verunsichern, irritieren und revidieren lässt. Ein solcher Theorietyp versucht sicherzustellen, dass theoretische Annahmen (nicht zuletzt auch jene, die schon in die Erhebung von Daten eingehen beziehungsweise die festlegen, was überhaupt als Datum auftauchen kann) nicht der Infragestellung durch Empirie entzogen werden. Praxistheoretische Ansätze versuchen also – wie Bourdieu in Anspielung auf Kant fordert – die eingeschliffene wissenschaftliche Arbeitsteilung zwischen einer blinden empirischen Forschung ohne Theorie und einer leeren, ›scholastischen‹ Theorie ohne Empirie zu unterminieren.[7] Ins Werk gesetzt werden soll dies durch Verfahren der Praxeologisierung, durch die empirische Perspektiven und theoretische Sehinstrumente in interessante und spannungsreiche Konstellationen gebracht werden können.

Kernpunkt dieser Verfahren ist eine praxeologische Konstruktion des Objektes: Praxeologische Analysen situieren ihre Gegenstände in Feldern verkörperter, materiell vermittelter Aktivitäten und Prozesse, die entlang kollektiv geteilter praktischer Wissensformen organisiert sind. Diese spezifischen Praxisfelder werden zugleich als Ausschnitte einer übergreifenden Sozialität konzipiert, die als 32»total nexus«[8] interdependenter sozialer Praktiken und Praxisfelder verstanden wird. Dieses umfängliche Feld der Praktiken[9] – in das auch die Praktiken der Wissenschaft inkludiert sind – bildet den Bezugspunkt und Hintergrund, vor dem die in Frage stehenden Gegenstände als Geflechte von Praktiken perspektiviert und erschlossen werden können. Die Soziologie der Praktiken entwickelt also – trotz aller Nähe zur Empirie – kein empirisch-realistisches, sondern vielmehr ein methodologisch-analytisches Verständnis sozialer Praktiken.

Praxisanalysen vollziehen einen Blickwechsel, um soziale Phänomene in ihrem Zustandekommen, in ihrer prozessualen, sich immer wieder aufs Neue vollziehenden Erzeugung verständlich zu machen. Ihr Fokus liegt auf solchen Vollzugswirklichkeiten, das heißt auf den Prozessen der Hervorbringung sozialer Ordnung in »gegenwartsbasierten Operationen«.[10] Aus dieser methodologischen Entscheidung folgt zugleich, dass deklarative, definitorische und normative Annahmen über die Forschungsgegenstände möglichst vermieden werden. Was oft als unhinterfragte Voraussetzung 33in die empirische Sozialforschung und in gängige Theorien des Sozialen einfließt, wird in empirische Fragen transformiert und zum Untersuchungsgegenstand gemacht. So werden in einem praxeologischen Verständnis beispielsweise Phänomene wie ›Klasse‹ oder ›Geschlecht‹ nicht konzeptionell vorkonstruiert, sondern als Resultate und Voraussetzungen fortlaufender Praktiken des doing class[11] oder doing gender[12] aufgefasst.

1.1 Praktiken und theoretische Modelle

Für ein Verfahren der Praxeologisierung, das soziale Ordnungskategorien und Strukturphänomene an empirische Konstruktions- und Klassifikationspraktiken zurückbindet, steht zunächst beispielhaft die Ethnomethodologie: Sie zielt darauf ab, sichtbar zu machen, wie soziale Ordnungen von Teilnehmerinnen erzeugt und fortlaufend aufrechterhalten werden. Um dies zu erreichen, werden soziale Ordnungsbildungen als situierte accomplishments verstanden, die in lokalen Praktiken und wiederkehrenden Handlungsszenen zustande kommen.[13] Diese methodische Wendung eröffnet analytische Beschreibungsmöglichkeiten: Sie sensibilisiert für die im Selbstverständlichen verborgenen praktischen Konstruktionen und leitet detaillierte Beobachtungen an.[14] Die für die Ethnomethodologie 34charakteristische mikroanalytische Orientierung[15] an den lokalen Konstruktionsakten hat also vor allem den Status einer erkenntnisleitenden Fiktion. Sie soll zu einer Einklammerung des Glaubens an die schlichte Gegebenheit sozialer Sachverhalte beitragen,[16] dem Forscher zu einer »Distanzierung von dem eigenen intuitiven Verständnis«[17] verhelfen und zur reflektierten Verwendung von mitgebrachten Beobachter-Kategorien anhalten.

Eine ähnliche Reflexivität kennzeichnet auch die von Bourdieu entwickelte Perspektive. Sie bemüht sich um eine gleichsam doppelte Praxeologisierung nicht nur des Beobachteten, sondern auch des Beobachtens.[18] Bourdieus Theorie der Praxis zielt nicht nur darauf ab, die Klassifikations- und Konstruktionspraktiken der Teilnehmerinnen im Feld zu beschreiben, sondern sie möchte zugleich auch die wissenschaftlichen Praktiken des Beobachtens, Beschreibens und Klassifizierens ausleuchten und die aus ihren spezifischen Beziehungen zu den beobachteten Praktiken herrührenden Effekte offenlegen.

35Wie Bourdieu deutlich macht, sind die wissenschaftlichen Praktiken von den im Feld herrschenden Dringlichkeiten entlastet. Bleibt diese kontemplative Distanz des wissenschaftlichen Beobachters aber unreflektiert, dann artikuliert sie sich in verzerrten Darstellungen und intellektualistischen Projektionen. Um diese zu vermeiden, insistiert Bourdieus reflexive Praxeologie auf der Differenz zwischen den theoretischen Darstellungen einer Praktik und ihrer empirischen Wirklichkeit. Bourdieu formuliert daran anknüpfend eine doppelten Aufgabenstellung:[19] Um eine realistische, empirisch reflektierte Theorie der Praxis zu erarbeiten, muss die praxeologische Erkenntnisweise erstens eine Theorie des theoretischen Bezugs auf die soziale Welt entwerfen, und sie muss zweitens eine Theorie der praktischen Beziehungen zur beziehungsweise in der sozialen Welt entwickeln. Den ersten Punkt arbeitet Bourdieu vor allem in Form einer Typologie von Varianten des scholastischen Irrtums ab. Zum zweiten Punkt liefert er zwar – etwa in seinen ethnologischen Studien – viele empirische Beschreibungen der Eigentümlichkeit einer praktischen Logik, ihrer Unschärfen, vagen Analogien, unsicheren Abstraktionen und Ähnlichem.[20] Er weist aber zugleich immer wieder auf die Unmöglichkeit hin, ein positives, allgemeines Modell einer Logik der Praxis zu erstellen:[21] »Es ist nicht leicht, über die Praxis anders als negativ zu reden.«[22]

Jenseits empirischer Fallstudien lässt sich die Logik der Praxis also zunächst besser negativ begreifen. Es lässt sich nämlich – auf allgemeine Aussagen zielend – präziser sagen, was sie nicht ist. Deshalb wird die Logik der Praxis vor allem im Kontrast und in ihrer Differenz zu den zu ihrer Darstellung entworfenen konkurrierenden Modellen und Theorien ausgeleuchtet. Bourdieus Theorie der 36Praxis ist vor allem ein erkenntniskritisches Gegenkonzept gegen die scholastic fallacies subjektivistischer wie objektivistischer Theorien, die ihre theoretischen Praktiken und ihre Objektrelation nicht reflektieren.[23]

In dieser von Bourdieu entwickelten Orientierung bemühen sich praxistheoretische Perspektiven also nicht etwa ›positiv‹ um die Beantwortung der (im Grunde ›scholastischen‹) Frage, was denn eine soziale Praktik ist und wodurch sie von anderen, aber verwandten Phänomenen (etwa ›Handlung‹, ›Verhalten‹, ›Interaktion‹ oder ›Kommunikation‹) abgegrenzt werden kann. Einen solchen Eindruck vermitteln allein ihre theoretischen, an einer systematisierenden Rekonstruktion interessierten Rezeptionen. Die praxistheoretische Perspektive versteht sich in ihren reflexiven Varianten vielmehr als ein kritisches, empirisch-analytisches Projekt, das an der Differenz zwischen wissenschaftlicher Objektrelation und den alltäglichen Praktiken ansetzt. Ein praxistheoretischer Zugang markiert in dieser Hinsicht – wie Bongaerts kritisch gegen die theoretische Rezeption des practice turn einwendet – primär einen reflexiven »modus operandi des Forschens«,[24] das heißt eine Methodologie der Praxeologisierung.

Aus der von Bourdieu herausgestellten Differenz zwischen der Theoretisierung und der Logik der Praxis im Gegenstandsbereich können also zwei wesentliche Konsequenzen gezogen werden: Zum einen müssen die aus der theoretischen Objektrelation hervorgehenden Verzerrungen und Grenzen der wissenschaftlichen Sicht objektiviert werden, um diejenigen Eigenschaften sozialer Praktiken zu erschließen, die die theoretische Logik verfehlt. Darüber hinaus wird jedoch noch ein weiterer Forschungs- und Reflexionsauftrag formulierbar, den Bourdieu zwar gelegentlich andeutet,[25] den er aber nicht aufnimmt und weiterverfolgt: In praxeologischer Perspektive können auch die theoretischen Praktiken selbst zum 37Objekt empirisch-praxeologischer Analysen werden. Bei Bourdieu wird die Praxis jedoch – wie Boltanski zu Recht kritisiert – vorwiegend »als Gegensatz zur Scholastik konstruiert«.[26] Diese Gegenüberstellung von ›Praxis‹ und ›Scholastik‹ hat zur Konsequenz, dass ›Scholastik‹ und theoretische Vernunft lediglich als selbstmissverständliche und projektive, systematisch verzerrte Sichtweisen beschrieben, aber nicht selbst als Ensembles von Praktiken verständlich gemacht werden. Die wissenschaftlichen Akteure werden lediglich als irrende Inhaber einer scholastischen Position und Perspektive, nicht aber als selbst praktisch ins wissenschaftliche Sprachspiel Involvierte porträtiert.[27] Eine entsprechende praxissoziologische Empirie der theoretischen Praktiken bleibt – von wenigen Ansätzen in dieser Richtung abgesehen[28] – ein Desiderat.

381.2 Praxeologisierung und die Heuristik des Spiels

Eine wichtige analytische Technik zur Praxeologisierung von Objektbereichen besteht darin, diese als Spiele und Spielfelder zu beschreiben. In vielen praxissoziologischen Ansätzen wird eine Heuristik des Spiels eingesetzt, um die untersuchten Phänomene als praktische Vollzugswirklichkeiten verständlich zu machen. In dieser Hinsicht kann die praxistheoretische Perspektive auch als eine vom Spiel ausgehende Soziologie verstanden werden.[29] Werden die Gegenstandsbereiche als Spielfelder perspektiviert, dann wird die Aufmerksamkeit insbesondere auf die kooperative Verflochtenheit der Teilnehmer, auf die stummen, körperlichen Dimensionen des Geschehens, auf das an den praktischen Vollzügen beteiligte intuitive Erfassen und Antizipieren, auf das Operieren eines praktischen Sinns oder Spielsinns sowie auf die charakteristische Zeitlichkeit der Interaktionen und Vollzüge gerichtet.

Eine solche von den Spielen des Sports ausgehende Konzeption findet sich etwa bei George Herbert Mead. In seinen sozialpsychologischen Vorlesungen beschreibt Mead am Beispiel von Baseball und Boxen die Intersubjektivität sozialen Handelns als körperlich-praktische, gestische Kooperation. Damit gelingt es ihm, die unauflösbare Verbundenheit von mentalen Phänomenen, Gesten und Körperbewegungen in sozialen Praktiken herauszuarbeiten.[30] Meads Praxeologisierung des Phänomenbereichs sozialer Interaktion mit Hilfe des Spielbegriffs wird von LoÏc Wacquant in seiner Ethnografie des Boxens aufgenommen.[31]

Wacquant legt in seiner Ethnografie besonderes Gewicht auf die Rekonstruktion des graduellen Herausbildungsprozesses eines 39boxerischen Habitus. Die Trainings- und Wettkampfpraktiken, denen er sich unterzieht, ermöglichen es ihm, die langwierigen sozialen und zugleich körperlichen Prozesse eines habitus in the making gleichsam an sich selbst zu beobachten. Dabei unterstreicht Wacquant die Potentiale dieser auto-ethnografischen Methode:[32] Ihr kann es in dem Maße, in dem der Ethnograf körperliche Mitspielkompetenzen erwirbt, gelingen, die analytisch schwer erschließbaren feldspezifischen körperlich-praktischen Wissensformen zu rekonstruieren. Eine vom Spiel – hier vom Boxen – ausgehende Soziologie ist für Wacquant in dieser Hinsicht also zugleich eine vom Körper ausgehende Soziologie.[33]

Auch Bourdieu knüpft an die am Boxen orientierten Interaktionsanalysen Meads an.[34] In seiner Soziologie nimmt das Bild des Spiels darüber hinaus insgesamt eine zentrale Stellung ein. Es dient dazu, die Spezifika der praxeologischen Erkenntnisweise zu erläutern. Einer ihrer Kernpunkte besteht darin, zwischen Spielregeln, Strukturen oder Modellen einerseits und den tatsächlich gespielten Spielen und ihren Regelmäßigkeiten andererseits zu differenzieren. Bourdieu zufolge kann man am besten verstehen, wie solche Regelmäßigkeiten in den Praktiken selbst erzeugt werden, wenn man analysiert, wie Spiele tatsächlich gespielt werden. Dazu muss zunächst die Vorstellung aufgegeben werden, dass dies nach von einem Erfinder des Spiels aufgestellten Regeln geschieht. Ein Spiel spielen bedeutet vielmehr, dass

eine Reihe von Leuten an einer geregelten Tätigkeit teilnehmen, einer Tätigkeit, die sich nicht notwendig aus der Befolgung von Regeln er40gibt, sondern die bestimmten Regelmäßigkeiten gehorcht. ›Spiel‹ ist der Ort, an dem sich eine immanente Notwendigkeit vollzieht, die zugleich eine immanente Logik ist. In einem Spiel darf man nicht einfach irgend etwas tun. Der ›Spiel-Sinn‹, der zu jener Notwendigkeit und Logik beiträgt, stellt eine Art Kenntnis dieser Notwendigkeit und Logik dar. Wer beim Spiel gewinnen, sich die Einsätze aneignen, den Ball fangen will, […] der muß über den ›Spiel-Sinn‹ verfügen, also ein Gespür für die innere Notwendigkeit und Logik des Spiels besitzen. Muß deshalb von ›Regel‹ gesprochen werden? Ja und nein. Man kann es tun, vorausgesetzt man unterscheidet klar zwischen Regel und Regelmäßigkeit.[35]

Ein solches Verständnis von Spielen untermauert also das praxeologische Axiom, dass die sozialen Spiele im untersuchten Objektbereich geregelt und regelmäßig sein können, ohne dass ihnen jedoch die Befolgung von Regeln zugrunde liegen muss. Die sozialen Spiele sind strukturiert, jedoch werden diese Strukturen in den Spielen selbst erzeugt, transformiert und (als von vergangenen Spielen in den Körpern niedergelegte oder in Artefakten materialisierte Strukturierungen) aktualisiert. Die Spielstellungen sind ständig im Fluss; bestimmten Spielzügen gehen immer Züge voraus, die wiederum bestimmte Anschlusshandlungen wahrscheinlicher machen als andere. Die beobachtbaren Regelmäßigkeiten der Spiele werden aber nicht von externen, den Spielen äußerlichen Strukturen bewirkt.

Diese Perspektivierung des Sozialen als ein Ineinander verschiedener Spiele, Spielfelder und Spielzustände dient also insbesondere dazu, ontologisierende Gegenüberstellungen von Struktur und Praxis zurückzuweisen. Die strukturierte Regelmäßigkeit von sozialen Spielen wird als empirisch konkretisierbare Konstellation verschiedener, koexistierender Praxiszeiten und (flüssiger oder geronnener, als Habitus verkörperter oder als Habitat materiell fixierter) Praxiszustände dekonstruiert. Die Praxis ist demnach – wie Nassehi formuliert – immer auch »selbst jene Struktur, durch die sie erst ermöglicht wird«.[36]

Das Bild des Spiels unterstützt ein praxeologisches Verständnis des Zustandekommens sozialer Ordnung. Ordnungsbildungen werden – insbesondere in der Ethnomethodologie – aus dem lokalen Geschehen selbst rekonstruiert und als accomplishments von 41Mitspielern verstanden. Sie werden aber auch – insbesondere bei Bourdieu – als Resultate symbolischer Anerkennung (und damit der Verkennung ihrer Willkürlichkeit) beschrieben. Soziale Ordnungen kommen in dieser Sicht also vorwiegend durch praktisch-symbolische Deutungs- und Beglaubigungsvorgänge zustande, die wiederum durch vergangene wie fortlaufende Monopolisierungen von symbolischen Ressourcen gekennzeichnet sind. Hier werden die kollektiven accomplishments als Herrschaftsordnungen verständlich gemacht. Dabei wird insbesondere beleuchtet und herausgearbeitet, wie die Beherrschten – durch die ›gewaltlose Gewalt‹ symbolischer Verkennung und Anerkennung dazu veranlasst – mitspielen, das heißt am Zustandekommen der über sie ausgeübten Herrschaft mitwirken.[37]

Im Bild des Spiels wird ein Primat der Verwobenheiten und der Interdependenzen von Spielzügen gegenüber den individuellen Akten von Spielern postuliert.[38] Der individuelle ›Akteur‹[39] wird aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit geschoben. Einzelne Spieler können in ein laufendes Spiel ein- oder aus ihm austreten, ohne es dadurch zu unterbrechen. Diesen Vorrang des Spiels gegenüber den einzelnen Spielern und ihren Zügen hat Norbert Elias in seinem Figurationskonzept – mit dem die Emergenz von sozialen Ordnungen verständlich gemacht wird – auf den Begriff gebracht:

42Mit dem Begriff der Figuration lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Interdependenzen der Menschen. Die Frage ist, was die Menschen eigentlich in Figurationen zusammenbindet. Fragen dieser Art kann man nicht beantworten, wenn man zunächst einmal alle einzelnen Menschen für sich betrachtet, als ob jeder von ihnen ein ›homo clausus‹ wäre. Damit bleibt man auf der Ebene der Einzelmenschenwissenschaften […]. Man unterstellt stillschweigend, daß Gesellschaften, daß Figurationen, die interdependente Menschen miteinander bilden, im Grunde nichts anderes sind als Häufungen individueller Atome. Vielleicht hilft das Beispiel der Karten- und Fußballspiele ein wenig, die Mängel einer solchen Hypothese sichtbarer zu machen.[40]

Einen wichtigen empirischen Hintergrund des Figurationskonzeptes bilden Fußballspiele, die Norbert Elias und Eric Dunning »in vivo«[41] untersucht haben. Aus diesen Analysen wurde eine Heuristik des Spiels gewonnen, die nun dazu dient, auch andere Praxisbereiche auszuleuchten. Im Fußballspiel organisieren sich die Teilnehmer in zwei in antagonistischer Kooperation aufeinander bezogenen Mannschaften. Sie bilden »kleine Gruppen von Individuen, die ihre Beziehungen zueinander bei fortlaufender gegenseitiger Abhängigkeit voneinander ständig in Raum, Zeit und Bewußtsein, also fünfdimensional, ändern«.[42]

Die Regelmäßigkeit und die (relative) Stabilität des Fußballspiels in der Zeit werden unter anderem durch die Spielregeln bewirkt, die jedoch situationsabhängig immer wieder anders interpretiert werden. Wie sich die Spieler zum Beispiel beim Anstoß aufstellen, wird nicht durch die Regeln bestimmt, sondern »auch durch Konventionen, durch ihre Erfahrung bei vorangegangenen Spielen und oft durch ihre eigenen strategischen Pläne, die mit ihren Erwartungen bezüglich der beabsichtigten Strategie ihrer Gegner zusammenhängen«.[43] Dabei wird das Fußballspielen zwar von allen Mitspielern getragen, es ist aber nicht die Summe ihrer individuellen Zweckhandlungen. Wie das Fußballspiel bilden viele soziale Organisationen Figurationen »aus Individuen von Fleisch und 43Blut«.[44] Es können aber immer wieder andere mitspielkompetente Teilnehmer sein, die in die Spielpraktik eintreten. Mit Hilfe der Spielheuristik werden die auf diese Weise erzeugten Figurationen als wirkliche soziale Gebilde und empirisch konkrete Strukturierungen verständlich – denn das Fußballspiel zeigt »höchst anschaulich, daß Figurationen von Individuen weder mehr noch weniger real sind als die Individuen, die diese Figurationen bilden«.[45]

Die für das soziale Ordnungsmuster der Figurationen typische »Mischung von Festigkeit und Elastizität«[46] entsteht darüber hinaus aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Trägerschaften und Bestandteile der jeweiligen Spielpraktik. Dazu zählen beim Fußballspiel unter anderem: das verkörperte Können der Teilnehmer, zu dem nicht zuletzt auch ihr intuitives Antizipieren von Spielzügen gehört, die explizierten und von allen Teilnehmern praktisch interpretierten Spielregeln sowie die räumlichen und materiell-technischen Komponenten: das Spielfeld mit seinen Markierungen und Toren, der Rasen mit seiner physikalischen Beschaffenheit, die Fußballschuhe mit ihren Gebrauchsgewährleistungen und der Ball als Spielgerät mit bestimmten, festgelegten Eigenschaften (Oberfläche, Größe, Gewicht).

Elias nutzt in seinem Figurationskonzept das Bild des Spiels für ein »spezifisches Training der Vorstellungskraft«.[47] Von der Anschaulichkeit des Figurativen im Fußballspiel ausgehend werden Praktiken-Komplexe, Organisations- und Ordnungsmuster als sich ständig wandelnde Interdependenzgeflechte beschreibbar und in ihrer figurativen Dynamik, ihren fluktuierenden Machtbalancen und Spannungsgleichgewichten zugänglich. Figurationen liegen damit quer sowohl zur üblichen Unterscheidung von Mikro- und Makroebenen des Sozialen[48] als auch zur 44(substantialisierenden) Trennung von Individuum und Gesellschaft.[49]

Über die Heuristik des Spiels wird deutlich, dass die praxistheoretische Perspektive die in der Soziologie gebräuchliche Gegenüberstellung von holistischen oder kollektivistischen und individualistischen Ansätzen unterläuft. Sie formuliert einen Zugang, der nicht Individuen und ihre Handlungen, sondern situierte Interaktionen und Interdependenzgeflechte in den Mittelpunkt rückt. Mit Karin Knorr-Cetina kann eine solche Perspektive sowohl vom methodologischen Individualismus (zum Beispiel der rational choice theory) als auch vom methodologischen Kollektivismus (zum Beispiel der Soziologie Durkheims) abgegrenzt und als methodologischer Situationalismus gekennzeichnet werden.[50] Von dieser Zwischenposition aus begreift die Praxeologie soziale Praktiken als spielähnliche, emergente Phänomene,[51] die weder auf hypostasierte kollektive Strukturen noch auf »dieses epistemologische Hindernis, das Individuum«,[52] zurückgeführt werden können.

1.3 Praxeologisierung, Beobachtung und Beschreibung

Die praxistheoretische Perspektive interessiert sich für die tatsächlichen sozialen Spiele und weniger für Fragen und Vermutungen bezüglich dahinter liegender Motive, Intentionen oder Ideen.[53] Das 45Soziale wird entsprechend als ein öffentliches und beobachtbares Geschehen betrachtet. Annahmen, die innere oder verinnerlichte und unsichtbare Entitäten wie Normen, Überzeugungen, Ziele, Absichten und Ähnliches für die Regulierung von Handlungen verantwortlich machen, werden als notwendig spekulative Mutmaßungen zurückgewiesen. Die praxistheoretische Perspektive konzentriert sich stattdessen auf äußere Schauplätze und offensichtliche Aktivitäten, durch die soziale Ordnungen zustande kommen. »Darauf zu bestehen, dass praktische Übereinkünfte das Fundament aller sozialen Ordnungen sind, bedeutet«, wie Barnes erläutert, »etwas Öffentliches und Sichtbares anzuführen, etwas, das in dem, was Teilnehmer tun manifest ist.«[54] Aufgrund dieser Orientierung am Offensichtlichen und Öffentlichen steht das Verfahren der Praxeologisierung in einer Wahlverwandtschaft zur Beobachtung.[55]

Soziale Praktiken haben als öffentliche Vollzüge eine performative Dimension. Im Vollzug sozialer Praktiken wird meist vor einem alltäglichen Publikum kompetent agiert und vor und mit anderen Teilnehmerinnen und Beobachtern intelligibel etwas getan – es wird aus- beziehungsweise aufgeführt, dargestellt und gezeigt. Als »sozial anerkannte Aktivitätsformen«,[56] das heißt als klassifizierbare und klassifizierte öffentliche Aus-, Auf- und Vorführungen, haben soziale Praktiken eine Wirklichkeit konstituierende Wir46kung.[57] Praktiken zeigen öffentlich an, ›um was es sich hier jetzt handelt‹. Sie identifizieren sich über ihre materiell-symbolischen Settings, Architekturen und Interieurs genauso wie durch Sprechhandlungen, bildhafte Performanzen, Körperbewegungen, Gesten und Haltungen.

Mit Bezug auf diese öffentliche Zeige-Dimension praktischer Vollzüge hat beispielsweise die Geschlechterforschung neue, praxeologische Beschreibungsweisen von ›Geschlecht‹ entwickelt. Im Anschluss an entsprechende Pionierstudien Garfinkels und Goffmans wird ›Geschlecht‹ als Resultat eines fortlaufenden, öffentlichen, erkannten und anerkannten Zeigens gekonnter körperlicher Bewegungen und entsprechender Verhaltens- und Redeweisen verständlich gemacht.[58]

Diese Zeigedimension von Praktiken steht in engem Zusammenhang mit ihrer Form und Formgebung.[59] Praktiken machen sich »accountable«,[60] das heißt, sie haben eine Art Zeichencharakter und treten immer als »klassifizierbare Praxisformen«[61] auf. Als beobachtbares öffentliches Verhalten sind Praktiken immer zugleich veröffentlichendes, auf die soziale Wahrnehmung durch andere orientiertes Verhalten. Sie mobilisieren dabei neben sprachlichen immer auch nicht-sprachliche, insbesondere von Körpern prozessierte visuelle Zeichen wie Haltung, Gestik, Mimik, Blick und Kleidung.[62]47Darüber hinaus transportieren auch die Artefakte und materiellen Träger von Praktiken (wie zum Beispiel Räume, Architekturen, Werkzeuge etc.) immer zugleich symbolische Bedeutungen. Bewirken und Bedeuten, das heißt körperliche, materiell-technische und symbolische Aspekte, fallen in Praktiken also zusammen.[63]

Pierre Bourdieu demonstriert dies in seiner Beschreibung des Olivenerntens in der Kabylei auf exemplarische Weise. Er beobachtet, wie diese Erntepraktiken sich in für die Teilnehmer selbstverständlichen Gebärden, Haltungen und Bewegungen vollziehen:[64] Die Frau reicht dem Mann die Trittleiter und geht stets einige Schritte hinter ihm. Der Mann schüttelt die Oliven mit der Stange vom Baum, die Frau sammelt sie in gebückter Haltung auf. Solche zugleich funktionellen und symbolischen Vollzüge sind Aufführungen, praktische Rückübersetzungen und Bekräftigungen der Geschlechterordnung. Das Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern erhält durch die Aufgabenverteilung bei der Olivenernte, dadurch also, dass Frauen und Männer in der beschriebenen Form der Praktik zugleich ihre Geschlechtsidentität öffentlich aufführen, »die performative Evidenz des selbstverständlich gewordenen Willkürlichen«.[65] Die Rangordnung zwischen den Geschlechtern erscheint so in der Wirklichkeit der Arbeitspraktiken begründet – »was sie faktisch ist, weil sie dazu beiträgt, diese Wirklichkeit zu schaffen, und weil sich die verleiblichten gesellschaftlichen Verhältnisse allen Anschein von Selbstverständlichkeit geben […]«.[66]

48Über die Formseite, die distinktive und intelligible Zeichenhaftigkeit sozialer Praktiken ver-wirklicht sich also die soziale Welt. Die praxistheoretische Perspektive entschlüsselt diesen Zusammenhang nicht nur am doing gender, sondern genauso auch am doing class: Auch diesen grundlegenden sozialen Differenzierungsprozess beschreibt sie als ein öffentliches Geschehen der Klassifizierungs- und Repräsentationsarbeit,[67] durch die sich Gruppen und Klassen verwirklichen.[68] In solchen Praktiken des group making spielen zum Beispiel Mandatsträger, die ermächtigt sind oder sich ermächtigt fühlen, im Namen einer Gruppe zu sprechen, oder Sozialwissenschaftlerinnen, die Klassen auf dem Papier konstruieren und diese Konstruktionen im Verbund mit Journalisten, Politikerinnen und anderen öffentlich als legitime Klassifizierungen durchsetzen können, eine entscheidende Rolle. Solche Klassifizierungspraktiken sind Beispiele für die »performative Macht der Bezeichnung« – für Praktiken also, in denen und durch die »sich Dinge, das heißt Gruppen, mit Worten schaffen lassen«.[69]

Das Verfahren der Praxeologisierung zielt darauf ab, den modus operandi der fortlaufenden symbolischen, performativen und praktischen Hervorbringung der Forschungsobjekte zu erfassen und zu rekonstruieren. Dabei handelt es sich entscheidend um praktische Vermögen, die im Vollzug der Praktiken und bezogen auf konkrete Situationen praktisch fungieren und über die die Teilnehmerinnen nur im Handeln verfügen. Ihnen erschließt sich ihr Verhältnis zu ihrer Praxis deshalb also keineswegs leichter als dem wissenschaftlichen Beobachter – daraus ergeben sich Konsequenzen für die Verwendung geeigneter empirischer Methoden.

Für das Erfassen des praktischen modus operandi erscheinen Verfahren, die wie das Interview auf nachträgliche Teilnehmerdeutungen ausgerichtet sind und die Teilnehmerinnen gleichsam 49als Autorinnen, Interpretinnen und Theoretikerinnen ihrer Praktiken ansprechen, unzuträglich. »Alles weist darauf hin«, konstatiert Bourdieu in diesem Zusammenhang,

daß der Handelnde, sobald er über seine Praxis nachdenkt und sich damit sozusagen theoretisch in Positur wirft, keine Chance mehr hat, die Wahrheit seiner Praxis und vor allem die Wahrheit des praktischen Verhältnisses zur Praxis zu formulieren: die wissenschaftliche Fragestellung verführt ihn, gegenüber seiner eigenen Praxis einen Standpunkt einzunehmen, der nicht mehr der des Handelns ist, ohne deswegen der Standpunkt der Wissenschaft zu sein. […]. Schon weil er über Begründung und Daseinsgrund seiner Praxis befragt wird und sich selbst befragt, kann der Handelnde das Wesentliche nicht mehr vermitteln: das Eigentümliche der Praxis ist gerade, daß sie diese Frage gar nicht zulässt.[70]

Das praxeologische Verfahren steht stattdessen in enger Beziehung zur Beobachtung. Hier rücken die Beobachtung tatsächlichen – das heißt nicht nur sprachlichen, sondern immer auch wortlosen, bildhaften, körperlichen – Geschehens und – eng damit verbunden – die Praxeografie,[71] das heißt dessen sprachliche, beschreibende Artikulation, in den Mittelpunkt. Dabei wird der Umstand genutzt, dass der Beobachter den praktisch involvierten Teilnehmern »voraus hat, die Handlung von außen wie ein Objekt erfassen und […] aus einer Gesamtsicht betrachten zu können«.[72] Die Beobachtung kann ein praktisches Geschehen aus verschiedenen teilnehmenden und distanzierten Perspektiven und aus unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Abständen heraus beleuchten. An solche Perspektivierungen schließt die Praxeografie mit analytischen Beschreibungstechniken (De- und Rekontextualisierungen, exploratives Vergleichen,[73] Verfremdung, perspectives by 50incongruity[74] etc.) an. Diese Techniken laufen auf eine »theorieorientierte Schreibpraxis«[75] zu, die als das methodische Kerngeschäft der Praxeologisierung gelten kann.

51Zweites Kapitel: Dimensionen und Trägerschaften von sozialen Praktiken

Die geschilderten Verfahren der Praxeologisierung sind bestrebt, die Objekte und Analysefelder, auf die sie sich richten, in ein praktisches Prozessgeschehen zu dekomponieren, um sie auf neue Weise verständlich zu machen. Dabei werden immer wieder bestimmte Eigenschaften dieser Objekte und Geschehensabläufe herausgestellt – Eigenschaften, in denen sich diese Verfahren und ihre Methoden zugleich begründen. Zu den wichtigsten zählen erstens die zeitlichen Qualitäten von Praktiken und die damit zusammenhängenden Strategien und Bedeutungen, die in Differenz stehen zum Zeitbezug der Wissenschaft und ihrer Modelle. Dazu gehören zweitens