Space-Thriller 4: Mauern der Macht - Konrad Schaef - E-Book

Space-Thriller 4: Mauern der Macht E-Book

Konrad Schaef

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Beschreibung

Die Erde im 49. Jahrhundert: Polizisten finden eine männliche Leiche; es ist ein Agent des irdischen Geheimdienstes, dem offenbar das Gehirn ausgebrannt wurde. In New York erledigt ein geheimnisvoller Killer mit einer altertümlichen Feuerwaffe eine unbekannte Frau – und wird hinterher selbst Opfer eines Attentates. Und nacheinander verschwinden terranische Techniker und Wissenschaftler auf geheimnisvolle Weise, ohne dass klar ist, ob sie entführt wurden und von wem. Seit einem Jahr ist Bron Keijze, Agent des Terranischen Liga-Dienstes, von seinen Vorgesetzten kaltgestellt worden. Grund dafür ist der Tod seiner ehemaligen Gefährtin, die bei einem Einsatz ums Leben kam. Keijze erhält den Auftrag, sich um die verschwundenen Menschen zu kümmern. Sehr schnell erkennt der Agent, dass er auf ein Wespennest gestoßen ist, das wahrhaft kosmische Ausmaße besitzt ...

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Cover

Rückentext

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Impressum

Die Erde im 49. Jahrhundert: Polizisten finden eine männliche Leiche; es ist ein Agent des irdischen Geheimdienstes, dem offenbar das Gehirn ausgebrannt wurde. In New York erledigt ein geheimnisvoller Killer mit einer altertümlichen Feuerwaffe eine unbekannte Frau – und wird hinterher selbst Opfer eines Attentates. Und nacheinander verschwinden terranische Techniker und Wissenschaftler auf geheimnisvolle Weise, ohne dass klar ist, ob sie entführt wurden und von wem.

Mauern der Macht

von Konrad Schaef

Für Hanns Kneifel, er weiß, warum.

1. Kapitel

Gia de Moleon starrte den im Holodisplay abrollenden Text mit einer Intensität an, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Dann seufzte sie.

Ein Laut, der Jed Secor, der ihr gegenüber am Schreibtisch saß, erstaunte. Viele Male hatten sie schon zusammengesessen, um schwierige Probleme zu lösen. Aber er konnte sich nicht erinnern, dass sich die Direktorin des Terranischen Liga-Dienstes bei einem dieser Anlässe auch nur ansatzweise die leiseste Emotion hatte anmerken lassen. Sollte sie plötzlich alt werden?

Er schwieg und wartete. Schließlich desaktivierte sie mit einer wie angewidert wirkenden Handbewegung das Holo und wandte sich ihm zu. »Du hast also noch nichts von Gambucci gehört?«, fragte sie. Es klang mehr wie eine Feststellung.

»Nein. Nicht, seit er vor zwei Tagen aus seinem Hotel im Großraum New York verschwunden ist.«

»Was war es noch, worum er sich kümmern sollte?«

Sie weiß es, dachte er, sie weiß es, so wahr ich Secor heiße. Aber sie möchte es wieder von mir hören – sie wird sich nie ändern! Laut sagte er: »Er wollte sich mit jemandem treffen, von dem er sich die bewussten Informationen erhoffte.«

»Hat uns dieser Vorgang nicht bereits einige Agenten gekostet?«

Secor zog eine säuerliche Miene und nickte widerwillig.

»Sagtest du nicht, dass du Gambucci mit dieser Aufgabe betraut hast, weil er die entsprechenden Voraussetzungen dafür hätte?«

Ohne angesichts dieser unausgesprochenen Kritik mit der Wimper zu zucken, erwiderte er: »Gambucci ist ein hervorragender Agent. Wenn er nichts von sich hören lässt, dann hat er mit Sicherheit stichhaltige Gründe dafür.«

Die Nacht war sternenlos. Dunst deutete auf Regen hin. Die Lichter hinter den Fassaden der Wohntürme und Hotels glichen matten Augen; in dem leichten Nebel verwischten sämtliche Konturen.

Der Mann im 72. Stock des Clairion Tower nahm den Blick vom Monitor und rieb sich die Stirn; die Konzentration, mit der er den winzigen Bildschirm betrachtete, hatte seinen Nacken verspannt. Ein Muskel zuckte unterhalb seines linken Auges. Er hatte Verlangen nach einer ordentlichen Portion Speed oder Hyb, unterdrückte diese Begierde aber. Auch das Bedürfnis nach einer Zigarette schob er beiseite. Er durfte nichts zurücklassen, nicht einmal einen Krümel Zigarettenasche.

Profis hinterließen nicht den Hauch einer Spur während eines Auftrags.

Und er war ein Profi.

Um die Spannung abzubauen, atmete er tief ein und aus. Geduld war das erste, was er in seiner Laufbahn gelernt hatte.

Geduld und Unauffälligkeit.

Die überwiegende Zahl seiner Opfer hatte ihn nie zu Gesicht bekommen, ebenso wenig die meisten seiner Auftraggeber. Die Aufträge wickelte er ausschließlich über seinen Syntron ab; erst wenn er die Daten – natürlich kodifiziert – transferiert bekam und das Honorar ausgehandelt war, trat er in Aktion. Seine an Pedanterie grenzende Vorsicht diesbezüglich hatte ihn bis heute überleben lassen.

Langsam wurde es Zeit, dass das Zielobjekt erschien.

Zu seiner Linken, nicht mehr als drei Kilometer Luftlinie von seinem Standort entfernt, sah er die strahlend hell erleuchtete, dreieckförmige Konzernzentrale der Nicon Electric Company, deren Lichtdome sich in einem weiten Halbkreis über die gewaltige Anlage in den Nachthimmel wölbten. Ihr Hologramm-Logo, das von dem altchinesischen Schriftzeichen für Glück abgeleitet war, durchstieß die Wolkendecke und schuf eigenartige Lichtspiele darüber. Früher einmal – sehr viel früher – hatte an seiner Stelle das UN-Hauptquartier gestanden; aber davon wusste der Mann nichts.

Aus Richtung des Verkehrsraumhafens wetterleuchtete ein Neonsturm gegen die Nacht an – ein Raumschiff, das sich auf die Reise in die Tiefen des Alls begab. Für einen Moment sah er sein Gesicht in der polarisierenden Scheibe; ein Gesicht, das niemand länger als einige Minuten im Gedächtnis behielt, da es sich ständig veränderte. In einer obskuren Hinterhof-Klinik von Lepso hatte er sich von einem Ara-Mediker ein Geflecht elektrisch stimulierbarer Monofilamente in die tieferen Schichten seiner Gesichtsepidermis implantieren lassen. Gesteuert von einem Schaltkreis hinter seinem Jochbein, konnte er sein Aussehen innerhalb gewisser Grenzen nach Belieben verändern. Ein Triumph der Mikrochirurgie über Nervenbahnen, Muskelfasern und Fleisch. Die Behandlung hatte ihn ein halbes Vermögen gekostet, aber sie hatte sich bezahlt gemacht. Keine Frage.

Wieder beugte er sich zu dem winzigen Monitor der Zieleinrichtung hinunter und starrte über den Straßencañon hinüber zu dem Wohnturm, der in die Tiefe versetzt zwischen dem wiederaufgebauten Marriott East Side Hotel und der neoklassizistischen Kathedrale der Trump Mall stand. Die Entfernung betrug exakt vierhundertsechs Meter; eine unbedeutende Distanz. Er hatte eine Auflage für sein Typhoon-Gewehr direkt am Fenster aufgebaut, das zwei Handbreit aufgeschoben war. Das kurze Dreibein ruhte erschütterungs- und rückstoßfrei auf einem Antigravpolster. Zusätzlich zum Drei-Kammer-Kompensator verfügte die Waffe über einen EM-Schalldämpfer, der allein fünfzig Prozent der Lauflänge umschloss. Ein mikrosyntronisch unterstütztes Nachtsichtvisier war mit einer Laserkennung kombiniert, so dass er trotz der Dunkelheit jede Einzelheit hinter den im Augenblick noch unbeleuchteten Scheiben des gegenüberliegenden Appartements würde erkennen können.

2.15 Uhr ...

Sein Armbandkom zirpte.

»Ja?«, murmelte er.

»Das Objekt betritt die Lobby«, sagte eine raumlose Stimme hinter seinem linken Ohr.

»Allein?«

»Allein.«

Dann herrschte wieder Ruhe.

Die Nacht war bestens geeignet für diesen Job.

Fast windstill.

Er hatte seinem Auftraggeber gleich gesagt, dass er die Aktion abblasen würde, falls stärkerer Wind aufkäme. Er holte die Geschosse aus der Brusttasche seiner Jacke. Die schlanken Projektile waren seine eigene Anfertigung. Auch das war bezeichnend für ihn; die wenigsten seiner Klienten wussten, dass jede Entfernung eine andere spezielle Treibladung erforderte. Er hatte sich dieses Wissen von ein paar uralten Dateien transferiert, die er beim Stöbern in einem Tech-Antiquitätenladen gefunden hatte. Die Projektilspitzen waren außerdem molekular behandelt; sie würden sich wenige Sekunden nach dem Auftreffen in einer Art Kettenreaktion zersetzen und für die Scanner der GNY-Polizei keine verwertbaren Rückstände hinterlassen. Außerdem – wer würde schon nach Rückstandsspuren einer antiken Feuerwaffe suchen?

Er drückte eine Patrone ins Magazin – falls er beim ersten Schuss nicht traf, was so gut wie ausgeschlossen war –, schob die zweite in die Kammer, schloss mit einem Daumendruck den Riegel und entsicherte. Dann hockte er sich hinter die Waffe auf den klappbaren Jagdstuhl und brachte die noch immer dunkle, wandhohe Scheibe des Appartements auf den fünf mal fünf Zentimeter großen Monitor. Deutlich wie am helllichten Tag konnte er die Zimmereinrichtung erkennen; egal, ob das Opfer Licht machte oder nicht – es war nicht von Bedeutung.

Der Mann schwenkte den Lauf ein paar Grad nach links und rechts, um das Schussfeld einzugrenzen. Ein dünnes Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. Es war ein ausgezeichneter Platz. Sein unbekannter Auftraggeber hatte gut vorgearbeitet, wie er neidlos anerkennen musste. Auch, was seine Wahl betraf. Es war nicht so einfach, im neunundvierzigsten Jahrhundert alter Zeitrechnung Mörder zu finden, die ihr Metier beherrschten und dennoch den planetaren und stellaren Polizeiorganisationen nahezu unbekannt waren.

Drüben wurde Licht gemacht ...

Der Mann pfiff tonlos durch die Zähne, als er sah, dass es sich um eine junge Frau handelte, der er auf eine fast erschreckend intime Weise nahe war: Der Zoom der Zieldarstellungskamera zog sie direkt zu ihm heran. Eine große Reisetasche hing von ihrer Schulter. Sie warf sie jetzt achtlos auf den Boden, entledigte sich der Stiefel und begann damit, sich aus dem weißen Overall zu schälen, der so absolut zu ihrer blauschwarzen Edo-Pagenfrisur kontrastierte. Darunter war ihr braungebrannter Körper bis auf ein winziges Etwas ... nackt? Ja. Er blinzelte. Kein Zweifel, sie war bis auf einen Slip nackt. Seine Gesichtshaut spannte sich, als er ihre spitzen Brüste von der Seite sah. Plötzliche Erregung hüllte ihn in eine heiße Lohe. Und für den Bruchteil eines Augenblicks fühlte er so etwas wie Bedauern darüber, was er in wenigen Sekunden tun würde. Dann tat er diese Anwandlung mit einem Achselzucken ab und verbannte sie aus seinem Kopf. Für ihn war jede Person nur ein Objekt, das Geld brachte. In diesem Fall war es sehr viel Geld.

Über den Monitor sah er, wie die junge Frau in dem Zimmer hin und her ging, Einbauschränke öffnete und wieder schloss. Dann stand sie mit dem Rücken zu ihm.

Jetzt ...

Er nahm sie ins Visier und schaltete den Laser-Scanner hinzu. Der im unsichtbaren Spektrum angesiedelte Strahl zuckte hinüber. Zahlenkolonnen flimmerten über den Bildschirm und versorgten den Pikosyn der Zielautomatik mit den nötigen Daten. Langsam atmete er aus und richtete den fragmentierten Zielkreis auf den Nacken der jungen Frau, genau dorthin, wo die schmale Goldkette verlief. Dann nahm er Druckpunkt am Abzug und zog völlig ruhig an.

Der Schuss löste sich.

Die Treibladung beschleunigte das Geschoss auf sechzehnhundertachtzig Metersekunden, mehr als vierfache Schallgeschwindigkeit. Die Mündungsbremse ließ den Rückstoß zu einem leichten Rucken verkümmern, und der EM-Schalldämpfer machte aus dem sonst üblichen Krachen nur ein dumpfes Blaffen. Dafür zerbarst drüben die Fensterscheibe in eine Wolke Glassitkrümel, die von der Rückhaltevorrichtung aufgefangen und in der Luft gehalten wurde; auf dem Monitor war einen Augenblick lang außer etwas Rotem, Schaumigem, das sich zu einer schaurigen Blüte entfaltete, nichts zu sehen. Als die Sicht wieder besser wurde, sah der Killer, wie die jetzt kopflose Gestalt der jungen Frau langsam an der Schrankwand hinunterrutschte und auf den Boden sank, wobei das Blut aus den zerfetzten Arterien spritzte.

Dort, wo sich der Kopf der Frau befunden hatte, besaß die Schrankwand ein faustgroßes Loch mit ausgezackten Rändern.

Links und rechts des Appartements wurde es in den angrenzenden Räumen hell. Das Bersten des Fensters hatte die Gäste aus ihren Träumen gescheucht.

Höchste Zeit, die Szene zu verlassen.

Der Hotelsyntron würde sicher nichts Eiligeres zu tun haben, als sich mit seinem Syntron-Kollegen im Polizei-Hauptquartier ins Vernehmen zu setzen und ihm den Vorfall wie eine geschwätzige Daten-Base zur Kenntnis zu bringen.

In der Dunkelheit des Raumes klappte er Dreibein und Jagdstuhl zusammen, vergewisserte sich, dass sich die leere Hülse noch im Schloss befand, und zerlegte mit vier in Fleisch und Blut übergegangenen Bewegungen das Gewehr. Die Einzelteile brachte er in den ausgepolsterten Vertiefungen des schwarzen Diplomatenkoffers unter. Als letzte Handlung befestigte er Stuhl und Dreibein mit Klettbändern am Deckel des Koffers, um ihn dann zuzuklappen.

Kurze Zeit später trug ihn der Turbolift in die Tiefgarage des Clairion Tower. Zwischen den langen Reihen der geparkten Gleiter fand er sein Fahrzeug. Er stieg ein, warf den Koffer auf die Rückbank und startete das Aggregat.

Mit leisem Brummen glitt das unauffällig lackierte Gefährt auf seinen Prallfeldern die Rampe hinauf, die in die Mission Street mündete.

Das dünne Lächeln nistete nach wie vor in den Mundwinkeln des Schützen.

Auch dann noch, als sein Fahrzeug in einem Glutball zerbarst.

Schräg gegenüber auf der anderen Seite der Straßenschlucht saß ein Mann in einer der durch Säulen unterteilten Nischen des Restaurants des Barbizon-Plaza-Hotels, das trotz der späten Stunde noch gut besucht war.

Vor allem die Bar im Hintergrund war brechend voll.

Im vorderen Teil ging es wesentlich gediegener zu. Die kühle Atmosphäre wurde noch durch unauffällig aufmerksame menschliche Kellner unterstrichen.

Die Nebennische links von ihm war leer. In der rechten saß eine junge Frau, die seit einer Weile versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; er erweckte offensichtlich ihre Neugierde.

Schließlich wurde es ihm zuviel. Er hob den Kopf und blickte sie an – und ihr Interesse erlosch wie eine Kerzenflamme im Fallwind der Straßenschluchten. Sie schien zu frösteln. Außer einer offen zur Schau getragenen herablassenden Miene kam bei diesem Mann noch etwas hinzu: Er war – jedenfalls schien es ihr so – in höchstem Maße gefühllos. Noch stärker war der Eindruck von Kälte, der von ihm ausging und sie bis ins Mark erschauern ließ.

Sie ließ den Kopf sinken, um diesen kalten Augen und der metallenen Schwärze hinter den Pupillen zu entgehen. Einige Augenblicke später verließ sie die Nische und gesellte sich zu den Gästen an der Bar, wo man sie mit lärmender Ausgelassenheit willkommen hieß.

Der Mann schien auf etwas zu warten. Er hatte den Drink kaum angerührt, der vor ihm stand.

Die hohen Fenster boten eine hervorragende Sicht nach draußen. Von seinem Platz aus hatte er sowohl die transparente, hell erleuchtete Lobby des Clairion Tower als auch die Ein- und Ausfahrt der Tiefgarage im Auge.

Der fließende Verkehr, der sich überwiegend über der Straße abspielte, hatte sich trotz der späten Stunde kaum verringert. Auf dem Straßenniveau waren nur vereinzelte Passanten zu sehen.

Plötzlich brach ein Lichtorkan aus dem Rechteck der Garagenausfahrt und machte für Sekunden die Nacht zum Tag. Wie aus einer Venturidüse schossen Rauch und Flammen und brennende Fahrzeugteile über die Rampe ins Freie. Dann erst wurde der Donner der Detonation hörbar; die Druckwelle versetzte die Glassitfenster des Restaurants in brummende Schwingungen.

Aufgeschreckt stürzten die meisten der Gäste hinaus auf die Straße, auf der sich innerhalb kürzester Zeit eine große Menschenmenge ansammelte.

Der Mann hörte die Spezialfahrzeuge eines Löschkommandos herankommen und begab sich ebenfalls nach draußen. Der Nachtwind, zusätzlich angefacht von dem Feuer auf der Rampe, schlug ihm den dünnen, weiten Mantel um die Beine. Seine Augen registrierten jede Einzelheit des Geschehens. Sirenen von Einsatzfahrzeugen der GNY-Polizei wimmerten durch die Nacht, kamen näher und näher. Vier Gleiter tauchten auf und senkten sich auf die Fahrbahn herunter; einer davon, weiß lackiert, trug das rote Kreuz mit dem stilisierten Äskulapstab auf allen vier Flanken.

Eine Szene wie aus einem mittelmäßigen Trivideo.

Polizeiroboter errichteten energetische Absperrungen. Andere drängten die Neugierigen zurück. Die Spurensicherung wurde aufgenommen, und detaillierte Hologramme vom Geschehen würden angefertigt. Niemand bemerkte die nur fingerlange Flugsonde, die von Mikrogravitatoren angetrieben in ihrem Deflektorfeld unmittelbar am Ort des Geschehens jede Einzelheit registrierte.

Der Beobachter verfolgte noch ungefähr zehn Minuten lang die Bemühungen des Löschkommandos, den Brand, der auf der Rampe wütete, unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich rief er die Sonde zurück, die, von keinem Außenstehenden bemerkt, mit ihm verschmolz. Seine Auftraggeber durften beruhigt sein. Die Aufgabe war erledigt. Später würde er sich mit seinem Partner treffen, der die zweite Hälfte des Auftrags ausführte. Endlich mal ein leicht verdientes Geld!

Ohne Hast ging er mit weit ausgreifenden Schritten zur nächsten Rapidbahnstation und verschwand in den stygischen Korridoren der unterirdischen Rohrbahnen von Lower Manhattan.

In einem luxuriös eingerichteten Büro hoch über den Straßen New Yorks, kilometerweit vom Ort der Explosion entfernt, löschte ein Mann mit einer knappen Handbewegung die Holographie-Projektion über der Onyxplatte seines Schreibtisches, die ihm einen Überblick über die Geschehnisse aus dem Blickwinkel der Spionsonde geliefert hatte.

Erst jetzt wurde erkennbar, dass keine einzige Lichtquelle brannte. Riesige Werbeholos am Himmel über dem Broadway warfen zuckende Lichtkaskaden in den Raum und zerhackten die Dunkelheit in breite Schwarzweißbahnen.

Der Mann vergrub sich tiefer in seinen Formsessel. »Alles okay?«, fragte er.

Der Besucher im Holokubus nickte. Es gab nichts zu sagen; seine Arbeit war stets erstklassig. Weshalb dann noch Worte darüber verlieren?

»Noch was übrig von ihm?«

Der Besucher dachte an den Haufen verglühten Schrott, den eine Sternenlichtbombe von einem Gleiter übrigließ, und schüttelte den Kopf.

»Und?«

»Was und?«

»Was ist mit unserem anderen Problem?«

»Keine Sorge. Es erledigt sich gerade ...«

»Sehr gut!« Der Gutgekleidete konnte seine Zufriedenheit kaum verbergen. Er machte eine beiläufige Handbewegung.

Das Hologramm flackerte und löste sich auf.

Minutenlang geschah nichts.

Schließlich drehte der in exquisites Tuch gekleidete Mann den Formsessel zur Seite, erhob sich und bewegte sich gemessenen Schrittes – Männer in seiner Position gingen nicht, sie schritten, so, wie sie üblicherweise auch keine Hosen trugen, sondern Beinkleider – zum Panoramafenster, das die ganze Wand einnahm. Er stützte die Hände auf die innen verlaufende Balustrade und blickte hinaus.

Der gesamte Horizont war von der hell erleuchteten Skyline New Yorks erfüllt. An klaren Tagen war die Aussicht aus dem hundertzweiundvierzigsten Stockwerk atemberaubend.

Eine hohe Position hatte zweifellos ihre Vorteile.

Der Mann lachte leise über die Doppeldeutigkeit dieses Gedankens.

Gambucci kam wieder zu sich. Er hatte dabei das Gefühl, als tauche man ihn mit den Füßen voran in siedendes Öl. Eine starke Lichtquelle unter der Decke blendete ihn. Er wollte sich zur Seite drehen, um der Helligkeit zu entgehen, merkte aber, dass er gefesselt war. Lediglich den Kopf konnte er ein wenig bewegen. Eine Weile versuchte er, dem unbarmherzigen Griff des Stasisfeldes zu entkommen, das ihn X-förmig an den Tisch fesselte, bis er die Nutzlosigkeit seines Tuns erkannte und wusste, dass jeder Widerstand sinnlos war. Vorrangig galt für ihn, am Leben zu bleiben und soviel wie möglich an Informationen zu erlangen.

Er lockerte seine Muskeln und wartete ab, bis er wieder klar denken konnte. Er versuchte sich zu erinnern. An ein Leben vor dem gnadenlosen Licht, das sich wie eine Lanze durch seine Körpermitte bohrte und ihn gleichsam aufspießte wie ein seltenes Insekt.

Der letzte klare Augenblick war vor der Tür seines Appartements in New Manhattan gewesen. Er war gerade von einem Treffen mit dem Mittelsmann zurückgekommen, der den Kontakt herstellen wollte, als der Schlag ... Nein. Kein Schlag. Zuerst hatte etwas Spitzes seinen Nacken berührt. Eine Nadel. Die Droge, die ihm die von Mikrogravitatoren angetriebene Stechmücke unter die Haut geschossen hatte, glich nur der Wirkung eines Schlages. Er war sofort in tiefe Bewusstlosigkeit gefallen. Zwischen dieser Bewusstlosigkeit und dem Erwachen hatte er einen Traum gehabt, besaß aber nur noch sehr unklare Vorstellungen über dessen Inhalt. Irgendjemand stellte immer wieder hartnäckige Fragen, wollte etwas haben, das ihm Gambucci nicht geben konnte. Gegen Verhördrogen war er immunisiert.

Mechanisch begann er mit Atemübungen, um seinen Kreislauf zu stabilisieren und von den Nachwirkungen der Droge zu befreien. Wie lange war er bewusstlos gewesen? Wie spät es wohl war?

Die Beantwortung dieser Fragen musste er vorerst wohl zurückstellen. Die Informantin wartete sicher schon auf ihn. Sie würde vergebens warten.

Seine Augen passten sich langsam der blauweiß schimmernden Helligkeit an. Die Wände waren mit versetzt angeordneten Platten aus stumpfgrauem Material ausgekleidet. Und plötzlich dämmerte es ihm.

»Ich bin in einem schalldichten Raum«, sagte er. Seine Stimme klang fremd, gedämpft und unvertraut. Dann schrie er: »Hallo!« Keine Reaktion.

Er lag da und wartete ab.

Nichts passierte.

Wie lange er so dalag, vermochte er nicht zu sagen. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht eine halbe Stunde. Dann hörte er Leute eintreten.

Es waren zwei Männer.

Der eine in der um das Jahr 1281 Neuer Galaktischer Zeitrechnung üblichen Straßenbekleidung. Der andere in einem klinisch sauberen, lindgrünen Arztmantel.

»Warum bin ich hier?«, fragte Gambucci. In den achtundfünfzig Jahren seines Lebens war er in viele scheinbar ausweglose Situationen gerutscht, aber diesmal hatte er ein höchst merkwürdiges Gefühl. Es war eine Unsicherheit höchsten Grades, die sich bei jedem weniger disziplinierten Mann als Angst ausgewirkt hätte.

Das Gesicht des Arztes tauchte über ihm auf. Es war schmal; eine glänzende chirurgische Lupe saß über dem linken Auge und starrte ihn an. Das rechte blickte ausdruckslos.

»Darüber würde ich mir keine Gedanken machen«, erwiderte er mit leiser, sanfter Stimme. Er verschwand hinter Gambucci.

Ein Summen ertönte, steigerte sich zu einem Winseln. Und wie eine monströse Gottesanbeterin hob sich ein vielgliedriger Mechanismus aus der Dunkelheit unter dem Tisch, faltete sich auseinander und senkte sich sirrend auf Gambuccis Kopf herab. Chromblitzende Insektenbeine umklammerten geschäftig seinen Schädel, machten sich an seiner Schläfe zu schaffen.

Gambucci blinzelte in das kalte, harte Licht. Er spürte, wie sich etwas in seinem Kopf veränderte. Die Furcht schlug endgültig über ihn zusammen.

»Wartet!«, stieß er hervor. »Wir könn...«

Der Schmerz traf ihn wie die weißglühende Lanze eines Plasma-Schneiders, die sich rauchend durch seinen Kopf grub. Er keuchte und würgte. Krämpfe schüttelten ihn; Übelkeit schoss in ihm hoch wie dicker, heißer Nebel. Abrupt überfiel ihn eine mörderische Angst vor dem Tod. Sie schnürte ihm die Kehle zu. Er ballte die Hände und bäumte sich gegen die Umklammerung des Stasisfeldes auf. Und während er noch nach Atem rang, zuckte bereits die zweite Schmerzwelle wie eine reißende Klinge flüssigen Stickstoffs durch sein Gehirn.

Er röchelte.

Tränen liefen ihm übers Gesicht, seine Wahrnehmung begann zu verschwimmen.

Panik.

Irgendetwas vermittelte ihm den Schimmer eines unvorstellbaren Grauens, das tief in der archaischen Matrix seines Unterbewusstseins vergraben gelegen hatte und sich nun gewaltsam Bahn brach.

»Aufhören ...«, wimmerte er. »Aufhören ...«

Aber es war noch nicht zu Ende. Noch lange nicht.

Nur seine Schreie wurden leiser, verloren an Kraft, je aussichtsloser sein Kampf gegen die gierigen, gefräßigen Insekten wurde, die an seinem Bewusstsein nagten, es verschlangen, aussaugten und den unbrauchbaren Rest wieder ausspuckten.

Schließlich wimmerte er nur noch. Etwas später verstummte er ganz ...

»Man hat Gambucci gefunden«, sagte Secor.

Gia de Moleon runzelte die Stirn. »Berichte!«

Er machte eine vage Geste. »Russo ist tot!«

»Tot, sagst du?«

»Man fand seine Leiche vor zwölf Stunden in einem Tunnel der Lower Eastside.«

»Lower Eastside?«

»New Manhattan. Großraum New York«, warf Cygan rasch ein.

Eine Falte erschien über Secors Nasenwurzel, als er seinen Assistenten für Sekundenbruchteile fixierte, doch dann fuhr er fort: »Die dortigen Polizeiorgane haben den Fall unter die Lupe genommen und sind zu dem Schluss gekommen, es sei ein Unfall gewesen. Man nimmt an, dass er aus Versehen unter die Rohrbahn geraten ist.«

»Und?«

»Was – und?«

»War es das? Ein Versehen?«

»Keine Spur. Sicherheitsleute der dortigen TLD-Operative, die wir in die Ermittlungen einschalteten, fanden an und in Gambuccis Körper Spuren, die eindeutig auf vorsätzliche Tötung hinwiesen.«

»Spuren welcher Art?«

»Nachlässig implantiertes Neuro-Wipe-Modul; man hat keine große Sorgfalt darauf verwendet. Nachdem sie sein Wissen abgezapft hatten, haben sie ihn ganz leergebrannt und dann einfach ...« Er verstummte für einen Augenblick, und seine Augen schlossen sich kurz. »... einfach weggeworfen.«

Sie starrte einen Moment abwesend ins Leere. Schließlich sagte sie: »Also, äh ... es ist dir doch klar, dass du jemand anderen an seiner Stelle schicken musst.«

Ärger stieg in Secor auf, aber er ließ sich nichts anmerken.

Cygan verstand ihn. Es war eine jener Pechsträhnen, die sich manchmal nicht vermeiden ließen. Innerhalb zweier Monate hatte ihre Abteilung bereits drei Top-Leute verloren. Einem war in Nouveau Angeles die Kehle mit einer rasiermesserscharfen Klaue aufgeschlitzt worden, als er in einer obskuren Bar einem Nicht-Menschen die falschen Fragen stellte; ein zweiter wurde in Luna City auf dem Mond in ein Feuergefecht mit mutmaßlichen Anhängern der Galactic Guardians verwickelt, er konnte nur noch anhand eines DNS-Scan identifiziert werden; der dritte erlitt einen mysteriösen Unfall, als er den Personentransmitter zwischen Bombay und Neu-Edo benutzte.

Im Augenblick standen nur noch wenig erfahrene Agenten zur Verfügung.

Und nun auch noch der Verlust Gambuccis. Zum Haareraufen. Zu allem Überfluss begann de Moleon Secor zu nerven, die ihn nach wie vor mit schweigender Herausforderung anblickte.

Secor räusperte sich. »Natürlich, Direktorin«, sagte er mit einem spröden Unterton in der Stimme, der ein wenig von seiner aufgestauten Ungeduld über diese Unterredung verriet. »Hast du einen Vorschlag?« Auf seinem Gesicht lag dabei das Lächeln eines Basilisken.

Cygan hielt für einen Moment den Atem an.

Wenn sie den Spott überhaupt wahrnahm, so ging sie jedenfalls darüber hinweg. »Ich bin überzeugt, dass du auch diesmal wieder jemanden für diese Aufgabe finden wirst. Du hast freie Hand in dieser Angelegenheit.«

Sie beendete die Besprechung, indem sie abrupt die Verbindung trennte. Das Hologramm verlor an Intensität; die schwindende Darstellung verlor ihre Dreidimensionalität, zog sich in einen schwarzen Mikro-Tunnel zurück, der sich selbst verschlang. Einen Lidschlag später war die Anwesenheit der Chefin des Terranischen Liga-Dienstes Geschichte.

Jed Secor starrte noch kurze Zeit auf die Stelle, dann zuckte er mit den Achseln.

»Das Teuflische daran ist, dass sie es wirklich will«, sagte er. »Was sie anbelangt, so kann ich, wie's scheint, unsere Leute von ihr aus weiter in eine nahezu aussichtslose Schlacht schicken, bis die Abteilung aufgerieben ist.« Er knackte mit den Fingerknöcheln. »Aber ich denke nicht daran, das zu tun.«

Jon Cygan wusste stets, wann er den Mund halten musste. Aber er wusste auch, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem Secor aufhörte, mit den Fingern zu knacken, um ihn erwartungsvoll anzusehen. Das würde das Signal für ihn sein.

Jed Secor hörte auf und sah ihn herausfordernd an.

»Ich weiß, ich habe diesen Vorschlag schon einmal gemacht, Jed«, sagte Cygan ohne Zögern, »aber ich frage mich, ob wir diese Anregung jetzt nicht doch ernsthaft in Erwägung ziehen sollten.«

»Welche Anregung?«

»Bron Keijze zu reaktivieren. Er ...« Secor unterbrach ihn mit einer knappen Handbewegung, aber Cygan ging tapfer den einmal eingeschlagenen Pfad zu Ende. »Er liegt nun schon über ein Jahr auf Eis. Wenn er erst einmal mitkriegt, dass Gambucci tot ist, wird er vermutlich seine eigene Vendetta starten. Wäre es da nicht besser, er würde das mit unserer Billigung machen?«

Secor musterte seinen zweiten Mann eine kurze Zeit lang prüfend. Schließlich sagte er: »Du spielst auf Rakakurris an?«

Cygan schwieg vielsagend.

Secor stand auf und wanderte im Raum auf und ab. Er machte einen ablehnenden Eindruck, aber Cygan gab sich darüber keinen Illusionen hin. Er kannte seinen Vorgesetzten.

Secor blieb vor dem Schreibtisch stehen, beugte sich vor und sah Cygan an. »Warum sollten wir das tun? Der Mann war lange weg!«

»Aus dem ganz einfachen Grund, weil Keijze einfach Keijze ist! Er war jahrelang in unserer Abteilung. Er kennt die Interna wie kein anderer. Ich bin überzeugt, dass er der Richtige für diesen Job ist. Nein, Jed, diese Nuss kann nur von jemandem geknackt werden, der sich in Gambucci hineinversetzen kann. Ein Außenstehender unserer Abteilung brauchte zu lange, sich zurechtzufinden.«

Secor sah Cygan eine Weile schweigend an.

»Ja«, sagte er dann plötzlich, was ihm nun doch einen überraschten Blick von Cygan eintrug, der mit wesentlich mehr Widerstand gerechnet hatte. »Ja, warum auch nicht? Ich frage mich, ob es einen besseren Vorwand gibt.«

»Kaum.« Cygan wirkte erleichtert. Trotzdem irritierte ihn etwas an Secors plötzlicher Bereitschaft. Nur konnte er den Grund dafür im Augenblick nicht erkennen. Vorwand für was? Innerlich zuckte er mit den Achseln, stand auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und sah Secor fragend an.

2. Kapitel

Bron bewegte sich im Schlaf, murmelte und stöhnte so laut, dass er darüber erwachte. Etwas mühsam rollte er sich auf die Seite, strampelte das schweißfeuchte Laken von sich, stemmte sich hoch und stützte sich auf die Ellbogen.

Benommen blinzelte Bron in die vertraute Umgebung seines Appartements. Sein Herz klopfte, und er konnte den Puls in seinen Schläfen hämmern spüren. Nur langsam klärte sich sein Geist; der Albtraum zog sich zurück, löste sich in nichts auf. Nur, es gab kein Entrinnen davor, wie er wusste. Entgegen den Versicherungen der Ärzte auf Mimas, die einen Teil seines Erinnerungsvermögens mit einer Blockade versehen haben wollten, schaffte er es nicht, ihn aus seinem Gedächtnis zu streichen. Ständig beschäftigte sich sein Unterbewusstsein mit jenem verhängnisvollen Einsatz auf Rakakurris.

Mit Gambucci.

Mit Chess.

Vor allem mit Chess!

Irgendwann, so erkannte er, würde er sich diesem Teil seines Lebens und den Erkenntnissen der Vergangenheit stellen müssen. Aber bis dahin ... Vielleicht sollte er sich wieder in die Obhut des Medik-Zentrums in Terrania City begeben. Doch die Erinnerung an die letzte Prozedur ließ ihm diese Idee als wenig erstrebenswert erscheinen. Immerhin schaffte sie es, ihn vollends wach zu machen. Er atmete geräuschvoll aus; fürs erste war er dem Traum entronnen und den vielbeinigen, klauenbewehrten Monstren seiner dunklen Phantasie.

Kopfschüttelnd richtete er sich ganz auf und starrte in das Halbdunkel.

Sein Appartement bestand aus einem einzigen großen Raum, einem ehemaligen Probestudio einer der zahlreichen Theatergruppen der Terra-Nostalgiker, bevor sie diesen Komplex am East River aufgegeben hatten, um ein paar Blocks weiter zu ziehen.

Der Raum war zehn Meter breit und exakt zwanzig Meter lang. In der Mitte stand ein bis zur Decke reichender, verchromter Zylinder. Der wahre Mittelpunkt des Appartements, der Hygienemodul und Kücheneinheit wie die beiden Pole Yin und Yang in sich versetzt beherbergte. Daneben enthielt er die syntronische Energieversorgung sowie die Milieusteuerung. Links von ihm bestand die Wand aus einer synthetischen Ziegelmauer. Weiß gestrichen, von mehreren hohen Fenstern unterbrochen. Sie gaben den Blick auf ein ehemaliges Industriegelände frei, das vor zwei Jahren von der Stadtverwaltung mit Hilfe NATHANS zu einem Abenteuer- und Freizeit-Park umgearbeitet worden war. Von seinem Bett aus gesehen stand am anderen Ende des Raumes in der Ecke neben der Tür die Butler-Manifestatur seines Heimsyntrons in Gestalt eines lamellengepanzerten Kriegers aus einer längst vergangenen Epoche. Die Wand zur Rechten wurde von einem vier mal zwei Meter großen Trividschirm dominiert. Ansonsten war der Raum kaum möbliert, abgesehen von ein paar schmalen Schubladencontainern zwischen den Fenstern.

Licht sickerte durch die halb geöffneten Jalousien vor den verschmutzen Fenstern; von draußen drangen die Geräusche des Tages herein. Geräusche, die ihn vermutlich geweckt hatten.

»Guten Morgen. Es ist ...«, sagte die Stimme seines Heimsyntrons.

»Halt die Klappe!«, knurrte Keijze misslaunig. »... sieben Uhr dreißig, Mittwoch, der vierte Mai des Jahres 1281 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Und es liegen keine Nachrichten vor.«

»Auch recht ...« Er gähnte ausgiebig.

Als er sich zur Seite drehte, fiel sein Blick auf zarte Unterwäsche und ein paar Kleidungsstücke für darüber, die den Boden vor dem Bett bedeckten; ein hochhackiger Stöckelschuh stand weiter entfernt inmitten des Raumes, sein Pendant lag umgefallen zwei Schritte daneben ...

Die junge Frau hinter ihm bewegte sich in den Kissen, wachte jedoch nicht auf.

Er drehte sich um und hielt für einen Moment den Atem an vor dem Anblick, der sich ihm bot. Eine irrsinnige Hoffnung blitzte in ihm auf – dann verzog er den Mund.

Es war nicht Chess, die da auf dem Laken neben ihm lag.

Nein, das war sie nicht, wenngleich Ana ihr, was das Äußere anbelangte, verdammt nahekam, vor allem in gewissen Situationen. Und sie war da. War präsent. Die wirkliche Chess hatte ihn längst verlassen. Es fiel ihm noch immer schwer, sich mit ihrer Abwesenheit abzufinden, sie fehlte ihm, mehr, als er sich eingestehen wollte. Viele Nächte lang hatte er schlaflos verbracht, hatte ihrem Atem nachgespürt, ihrem warmen Körper. Er hatte im Schlaf mit ihr gesprochen, bloß um zu erwachen und sich daran zu erinnern, dass sie fortgegangen war.

Ein Geräusch draußen vor den Fenstern ließ Keijzes Gedanken in die Gegenwart zurückkehren. Er griff nach dem Handgelenk der Nackten.

Ihre Augen öffneten sich.

»Wach auf!«, sagte Keijze.

Es war keine überflüssige Aufforderung. Anas Augen standen zwar offen, doch wie er wusste, bot das keine Gewähr, dass sie auch wirklich wach war. Deshalb fuhr Keijze fort, ihre Handgelenke zu drücken, bis sich schließlich ihre Augenlider bewegten.

»Himmel, bin ich müde!«, murmelte sie träge und verschlafen und streckte sich.

»Weiß ich«, nickte er.

Sie setzte sich auf. »Wie spät?«

Er sagte es ihr.

Es entstand eine kurze Pause.

Dann schimpfte sie mit Inbrunst und leichtem Erschrecken: »Mist, verdammter! Der Termin ...« Sie schüttelte den Kopf, dass das lange, dunkle Haar nur so flog, und flitzte – nackt, wie sie war – aus dem Bett. Sie war braun gebrannt, gerade gewachsen und mit vollen Brüsten. Mit hektischen Bewegungen raffte sie ihre Kleider und ihre Tasche auf und verschwand damit im Bad.

Als sie daraus hervorkam, bis auf die Schuhe vollständig angekleidet, hatte sich erneut die erstaunliche Metamorphose vollzogen, die aus einer leidenschaftlichen Geliebten eine kühle, pragmatisch denkende Dr. Anabel Cory machte, geschäftsführende Teilhaberin der renommierten Anwaltskanzlei Asprin, Perry & Shepherd. Keijze war stets aufs neue fasziniert von dieser Verwandlung. Das dunkle Haar von der Farbe gebrochener Kohle hatte sie straff im Nacken zurückgebunden, was ihre hohe Stirn betonte. Sie trug eine weiße Bluse unter dem blauen Kostüm, dessen enger Rock ihre Schenkel umspannte, und sie verbreitete einen Hauch von teurem, aber unaufdringlichem Parfüm.

Sie blieb vor ihm stehen, sah ihn an. »Ich habe nicht ausgeschlafen«, sagte sie. Es klang vorwurfsvoll, anklagend.

Keijze saß noch immer auf der Bettkante und hatte sich nicht gerührt. »Habe ich wieder im Schlaf gesprochen?«

»Tust du das nicht immer?«

»Natürlich. War es schlimm?«

»Nicht schlimmer als sonst.«

Danach herrschte Schweigen.

Schließlich ging sie langsam durch den Raum und schlüpfte in ihre Schuhe. Dann sank sie in einen Sessel neben dem Bett, sah ihn an und seufzte. Ihre langen Beine waren ausgestreckt, das Kostüm modellierte ihren Körper nach. Keijze betrachtete sie. Eine begehrenswerte Frau. Eine Schönheit – nur eben nicht Chess. »Du solltest dich mal analysieren lassen«, sagte sie nach einer Weile.

»Dein Termin«, erinnerte er. »Sagtest du nicht, du hättest es eilig?«

Sie bewegte leicht den Kopf und beobachtete ihn aufmerksam. »So eilig auch wieder nicht.« Es klang beiläufig, aber Bron hörte die unausgesprochenen Fragen dahinter. Fragen, die sie früher oder später doch laut stellen würde. Und die er dann beantworten musste, wenn er Wert darauf legte, dass ihre Beziehung Bestand haben sollte. Aber er war sich nicht sicher, ob das überhaupt erstrebenswert war. Er versuchte sie als das zu sehen, was sie war: eine begehrenswerte Frau. Sie war es auch. Trotzdem würde er sie ständig mit Chess vergleichen – und das hatte sie nicht verdient.

Jetzt sagte sie: »Dieser Einsatz auf Karrako... Rakko...« Sie suchte nach dem richtigen Namen.

»Rakakurris«, half er ihr.

Sie nickte. »Genau das ist der Name, den du immer in deinen Träumen murmelst und stöhnst.« – Neben dem Namen von Chess natürlich, dachte er, aber das erwähnst du nicht. – Sie fuhr fort: »Weshalb hat man dich eigentlich auf Eis gelegt nach diesem Einsatz?«

Keine Antwort. Nach einigen Sekunden schien es klar, dass auch keine Antwort kommen würde.

Ana befeuchtete sich die Lippen. »Sehen wir uns wieder?«

Nicken.

»Wann?«

Achselzucken.

Eine oder zwei Minuten lang sagte keiner von ihnen etwas. Dann seufzte sie erneut. Sie erhob sich mit einem »Bemüh dich nicht, ich finde den Weg allein« und ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Lediglich ihr Geruch in den Bettlaken erinnerte daran, dass sie dagewesen war.

Bron stand auf und streckte sich. Er war einsfünfundachtzig groß und breitschultrig. Sein Gesicht war hager, von den Strapazen vieler Einsätze gekennzeichnet. Er hatte auffallend klare, hellbraune Augen. Über den hohen Backenknochen und der breiten Stirn wuchs dunkelblondes Haar. Er trug es länger, als es die zur Zeit herrschende Mode eigentlich vorschrieb. An den Schläfen wurde es bereits von ersten grauen Fäden durchzogen. Falten einer Müdigkeit lagen um seine Mundwinkel, die keinesfalls von zuwenig Schlaf herrührten. Er war ein introvertierter Einzelgänger, vorsichtig und misstrauisch wie ein angeschossener Naarg, aber auch empfindsam und empfänglich für die feineren Strömungen des Lebens, die Illusionen schaffen oder zerstören konnten.

Als er in Richtung Bad schlurfte, erwachte der Trividschirm lärmend zum Leben und bot ihm auf den schachbrettartig angeordneten Insert-Displays die augenblicklich laufenden Programme der 24-Stunden-Nachrichtensender an.

Das übliche Konglomerat.

Keijze hörte schon gar nicht mehr hin, sondern flüchtete vor der überbordenden Flut an Spekulationen, Halbwahrheiten und den wenigen wirklichen Informationen dazwischen in die Hygienezelle.

Als er nach einer ausgedehnten Reinigungsprozedur aus dem Bad kam, starrte ihn eine füllige Frau mit einem mächtigen Busen offenen Mundes an.

Er erschrak leicht, hüstelte und suchte mit fahrigen Bewegungen seine Blößen zu bedecken.

In einer Überblendung wurde das Gesicht der Frau unscharf. Plötzlich sah man säuberlich aufgereihte Möbel und Küchengeräte, vor denen eine hochgestylte Schönheit von den Sternen stand, die der anderen mit einem Tonfall, wie man ihn quengelnden Kleinkindern gegenüber anwandte, auseinandersetzte, was sie alles an Preisen gewinnen konnte, wenn sie nur die nächste Serie von Fragen richtig beantwortete ...

Oben rechts begann ein Symbol zu blinken, und sein Syntron meldete sich. »Bron! Ein Anruf liegt vor.«

Keijze hüpfte gerade auf einem Bein herum und versuchte, in seine Hose zu schlüpfen, ein Unterfangen, das am frühen Morgen neben einer ausgefeilten Technik vor allem eine wohldurchdachte Koordination von Körper und Geist erforderte, die allerdings jetzt von dieser Störung zunichte gemacht wurde.

»Mist!«, knurrte Keijze inbrünstig und schleuderte das Beinkleid von sich. »Wer?«

»Jon Cygan«, antwortete sein Heimsyntron.

Cygan ... Secors rechte Hand, der wiederum zu Gia de Moleons engerem Stab gehörte – seine Vergangenheit schien ihn einzuholen.

»Sag ihm, ich bin nicht da!«, suchte Keijze das Unvermeidliche hinauszuzögern.

»Er weiß, dass du da bist. Er besteht darauf, dich zu sprechen.«

Bron stieß erneut eine Verwünschung aus. Dann besann er sich und sagte: »Gib ihn mir!«

Jon Cygans Gesicht erschien als Insert-Bild des großen Schirmes.

»Keijze? Hier ist Cygan«, sagte er mit seiner kühlen Stimme.

»Was willst du so früh, Jon?«

»Ich glaube, du wirst hier gebraucht. TLD und Secor wollen dich sehen, in dieser Reihenfolge.«

»Um die Wahrheit zu sagen, Jon, ich habe keine Lust. Schon vergessen? Mein Status ist ›beurlaubt‹.«

»Haha«, sagte Cygan, ohne zu lachen. »Dieser Status ist mit sofortiger Wirkung in ›voll einsatzfähig‹ umgewandelt worden.«

»Von wem?«

»De Moleon.«

Keijze sah seine Befürchtungen bestätigt. Gia de Moleon, die fast allmächtige Leiterin des hydraköpfigen Terranischen Liga-Dienstes TLD und – wenn man so wollte – seine oberste Dienstherrin.

Die Vollbusige auf dem Videoschirm begann zu schreien, ein keuchendes, japsendes Gebrüll. Es war nicht zu unterscheiden, ob sie Schmerzen hatte oder in Ekstase verfallen war.

»Hast du eine Nutte bei dir?«, fragte Cygan gelangweilt.

Keijze schnippte mit den Fingern, um den Ton leiser zu stellen. »Schön wär's. Nein. Das ist nur im Fernsehen.«

»Gute Güte, es klang, als hätte sie einen Orgasmus.«

»Ich glaube, sie hatte auch einen«, kommentierte Keijze, dem es endlich gelungen war, in seine Hosen zu schlüpfen. »Sie hat gerade ein postmodernes Antigravbett gewonnen.«

»Was sagt man dazu?« Jon schüttelte grienend den Kopf. Dann wurde er wieder ernst. »Nun? Die Leute in Terrania warten.«

»Darf man Einzelheiten erfahren?«

»Hat sich Secor vorbehalten. Er wird dich über alles umfassend informieren.«

»Großartig«, sagte Keijze. »Kann ich mich weigern?«

»Kaum. Es ist bereits alles in die Wege geleitet. Ein TLD-Gleiter holt dich ab.«

Jon Cygan verschwand mit einem Grinsen auf den Lippen in den Abgründen einer virtuellen Datenbank.

»Danke, Jon«, sagte Keijze mechanisch und stellte mit einer wedelnden Handbewegung den Trivid ab, um die hysterisch jaulende Schlampe nicht mehr sehen zu müssen, die gerade ein Appartement in einer Tasai-Stadt in der Südsee gewonnen hatte, in das sie das Antigravbett hineinstellen konnte.

Sich umsehend betrachtete er seine kleine Welt, die ihm für die Dauer von ziemlich genau dreizehn Monaten als Refugium gedient hatte; sie war erfüllt mit den Schatten seiner Vergangenheit, den verschwommenen, gesichtslosen Trugbildern, von denen er geglaubt hatte, sie würden nie mehr zurückkehren. Nun hatten sie ihn wieder eingeholt, hatten ihn zurück ans Ufer des Heute, des Hier und Jetzt gespült.

Mit sparsamen Bewegungen kleidete er sich vollständig an. Ein paar Augenblicke stand er dann überlegend, ehe ihm einfiel, was er noch benötigte. Wieder benötigte.

Mit raschen Bewegungen zog er die Schubladen des mittleren Containers auf. In der untersten schließlich fand er, wonach er suchte: den Energienadler. Ein Relikt aus seiner aktiven Zeit, bevor man ihn nach seiner Wiedergeburt »beurlaubt« hatte. Es war eine nach seinen Wünschen modifizierte Ausfertigung der üblicherweise recht kleinen Waffe.

Er nahm sie in die Hand.