Inhalte
Titelangaben
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Bibliographische Angabe
Mehr Bücher mit Mütze und Karl-Dieter im Prolibris Verlag
Mehr Bücher von Johannes Wilkes im Prolibris Verlag
Info
Johannes Wilkes
Spaghetti bolognese
Italien-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie des Autors, ebenso
der Umberto-Eco-Preis für Semiotik. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen, profane oder kirchliche Denkmäler und Schauplätze in Italien und besonders in Bologna sowie Ereignisse der neueren Geschichte,
wie etwa das Bombenattentat auf den Hauptbahnhof in Bologna, bei dem 85
Menschen im Alter von 3 bis 86 Jahren ums Leben kamen. Unter ihnen war nicht
der in diesem Roman erwähnte neunjährige Marcello. Auch die Website, auf der die Erinnerung der Opfer lebendig
gehalten werden soll, gibt es leider nicht.
Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen Nachdrucks
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©Prolibris Verlag Rolf Wagner, Rasenallee 23 d, 34128 Kassel
Titelfoto © Fotomontage aus:
©Piazza Maggiore in Bologna, Foto von Artem, AdobeStock_796708147 und
© Bolognese Pasta von Melipo-Art, AdobeStock_582996099
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-274-4
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich:
ISBN: 978-3-95475-264-5
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Johannes Wilkes, Mediziner mit einer Praxis für Jugendpsychiatrie in Erlangen, ist Autor zahlreicher Bücher und Träger mehrerer Literaturpreise. Zu seinen Werken gehören populärwissenschaftliche Sachbücher, Reiseführer und viele Kriminalromane. Darin lässt er seine immer größer werdende Fangemeinde gerne auch mal auf unterhaltsame Weise in literarische
Welten eintauchen, als deren Kenner er sich erweist.
Sein humoristisches, bisweilen schwarzhumoriges Talent mit Hang zum Skurrilen
bewies Johannes Wilkes erstmals in „Ein Terrorist im Gepäck“ und zuletzt in dem literarischen Krimi „Kommissar Goethe: Schillers Schädel“.
Auch seine Kriminalromane würzt er gern mit einer Prise Humor. Als Ermittler setzt er meist ein Pärchen ein, das inzwischen Kultstatus hat: den Bühnenbildner Karl-Dieter und den Kriminalhauptkommissar Mütze, eine Paarung aus »echter« Seele und »hartem Hund«. Im Prolibris Verlag begann ihr Siegeszug auf der Insel Spiekeroog, auf die sie
immer wieder zurückkehren. Eigentlich wollen sie dort nur Urlaub machen ... Das haben sie mit dem
Autor gemein, meist kommt dabei zur Freude ihrer Fans ein neuer Krimi heraus.
Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren
Dante, Göttliche Komödie, Inschrift über dem Höllentor
DONNERSTAG
Kapitel 1
»Einmal Spaghetti bolognese!«
Karl-Dieter wäre vor Scham fast gestorben. Warum war Mütze aber auch solch ein Ignorant? Hatte er ihm nicht schon wiederholt erklärt, dass es in Bologna keine Spaghetti bolognese gab? Niemand hier käme auf die Idee, die wunderbare, über viele Stunden gegarte Fleischsoße mit Spaghetti zu servieren. Tagliatelle! Zu diesem Fleischgericht – italienisch Ragù – gehörten unbedingt Tagliatelle!
»Scusi«, beeilte sich Karl-Dieter zu sagen, dem das degoutante Lächeln des jungen Kellners nicht entgangen war, »mein Freund meint Tagliatelle al Ragù.«
Als der Kellner wieder davongeeilt war, erklärte Karl-Dieter es Mütze ein letztes Mal. »Tagliatelle sind rauer, nehmen den Saft besser auf. Spaghetti sind zu glatt, an
ihnen rutscht alles ab.«
»So ein Käse!« Mütze schüttelte den Kopf. »Bei Tante Dörte ist nichts abgerutscht und Tante Dörte hat die besten Spaghetti der Welt gekocht. Weißt du noch, wie sie prüfte, ob sie gar waren?«
»Natürlich weiß ich das noch. Sie hat eine Nudel an die Wandfliesen geworfen. Blieb sie kleben,
war das Essen fertig.«
»Siehst du. So geht italienische Küche.«
Karl-Dieter seufzte. Italienische Küche Ende der 1960er-Jahre in Dortmund-Hörde, der glanzvolle Höhepunkt der Haute Cuisine, ganz klar. Karl-Dieter sah die Nudel noch vor sich,
wie sie zwischen den Pril-Blumen klebte. Auf Tante Dörte ließ er nichts kommen, aber Italien war Italien! Genussvoll widmete sich der
erfolgreiche Bühnenbildner des Erlanger Theaters seinem Vorspeisenteller, Mortadella mit
Auberginencreme, ein Gedicht.
Eine Woche Bologna, was für ein Geschenk! Ein Wunder, dass Mützes Chef, der Leiter der Erlanger Polizeiinspektion, den jeder nur der Alte nannte, der Reise zugestimmt hatte. Weil Mütze vor einiger Zeit mitgeholfen hatte, den Fall Caruso in Neapel zu lösen, hatte ihm Bellini, der zuständige Neapolitaner Commissario, die Einladung für die Fortbildung in Bologna geschickt. Sie wurde ausgerichtet vom Institut
Umberto Eco der dortigen Universität. Umberto Eco, unsterblich durch seinen Roman Der Name der Rose, hatte in Bologna als Professor gelehrt, dort den Lehrstuhl für Semiotik innegehabt. Und genau darum ging es bei der Tagung, um Semiotik.
»Um was für einen Tick?«, hatte Mütze gefragt, als ihm Karl-Dieter die Einladung zu dem Kongress vorgelesen hatte.
»Semiotik. Die Lehre von den Zeichen.«
»Zeichenlehre? Ein Malkurs?« Mütze runzelte die Stirn, hatte ihm doch der alte Beinecke, sein Kunstlehrer am
Dortmunder Reinoldus-Gymnasium, regelmäßig seine Werke zerrissen.
»Dummkopf!«, antwortete Karl-Dieter.
Semiotik war so etwas wie eine Wissenschaft von den Wissenschaften, eine
Metawissenschaft gewissermaßen. Gesprochene Wörter waren nichts anderes als codierte Gedanken, geschriebene Sprache nichts
anderes als eine codierte Lautsprache. Es ging um das Verschlüsseln und Entschlüsseln von Gedanken, Gefühlen, Ideen. Mimik, Gestik, Sprache – mit solchen Phänomenen beschäftigte sich die Semiotik. Die Tagung an der Bologneser Universität trug den etwas komplizierten Titel: »Sichtbar/Unsichtbar. Entstehung und Scheitern von Kriminologie und Kriminalistik
als semiotische Disziplinen«.
Das Tollste aber war: Für alles kam die italienische Polizei auf! Auch für die Unterkunft, eine schicke Wohnung in einem prächtigen Stadtpalast an der Via Guido Guinizelli, im Südosten der Innenstadt, etwas außerhalb der ehemaligen Stadtmauer. Bologna im Frühling! Während in Erlangen die Magnolien erfroren, bevor sie erblühen konnten, hatten sich die Bäume Italiens bereits in ein farbenprächtiges Kleid geworfen. Schon bei der Anreise, ökologisch korrekt mit dem Zug natürlich, hatte Karl-Dieter über den sich bietenden Anblick gestaunt: La Rossa, das leuchtend rote Bologna vor der malerischen Hügelkette. Zwar lag die Hauptstadt der Emilia-Romagna noch in der Po-Ebene, aber
doch bereits so dicht an den Ausläufern des Apennin, dass sich die Bologneser an einer Bergkulisse erfreuen
konnten.
Das Schwierigste war gewesen, Irmhild, seine Intendantin, von der Woche
Osterurlaub zu überzeugen. Mitten in der Theatersaison wollte sie auf ihren Bühnenbildner nur ungern verzichten. Karl-Dieter hatte ihr hoch und heilig
versprechen müssen, rechtzeitig zur Premiere von Gott des Gemetzels wieder zurück zu sein. Zudem hatte er mit Anastasia die beste Stellvertreterin der Welt.
»Sie wird das Bühnenschiff schon schaukeln«, hatte er sich für seine junge Kollegin ins Zeug geworfen.
»Na hoffentlich wird keiner seekrank«, hatte Irmhild in ihrer trockenen Weise geantwortet.
Nun saß Erlangens erfolgreicher Bühnenbildner, den eine Feuilletonistin mit dem Ausdruck Raumkreator geadelt hatte, mit seinem Freund Mütze, den er heimlich seinen Mann nannte, in einer typischen Vorstadttrattoria
unweit ihrer Wohnung. Aber was hieß schon typische Trattoria? Jede unterschied sich doch in spezifischer Weise. Über dem Eingang von Il Pellegrino hing ein gerahmtes Halbrelief aus Ton, das die Verkündigung darstellte: Erzengel Gabriel und die Jungfrau Maria in grünen Neonfarben angestrahlt. Allein das war schon ziemlich einmalig, fand
Karl-Dieter, jedenfalls konnte er sich an keinen Italiener in Erlangen
erinnern, bei dem man mit einem Bibelzitat empfangen wurde. Noch einmaliger war
die Speisekarte. Karl-Dieter liebte die italienische Küche und konnte sich nicht zwischen den Köstlichkeiten entscheiden. So bestellte er viel zu viel: Mortadella, überbackene Auberginen, Tortellini al Ragù, Kalbschnitzelchen mit Zitrone und grünem Salat und zum Nachtisch Semifreddo pistazie. Zum Dahinschmelzen! Martino, der junge, etwas übergewichtige Kellner, dem die Hose wie ein zu weiter Sack hinunterhing, füllte mit den Resten eine Styroporbox.
»So haben wir einen Notfallvorrat, falls uns in der plötzlich der Hunger packt«, sagte Karl-Dieter, während sie hinaus in die Nacht traten.
Auf dem Heimweg kamen sie an einer Statue des heiligen Antonius vorbei, die sich
glänzend vom Nachthimmel abhob, vom wechselnden Licht der Ampel farbig beschienen. In
schwungvoller Gebärde, ein Buch in der Hand, hob der Heilige ein Bein spielerisch an, so dass die
Sandale locker am Fuß zu baumeln schien. Dabei deutete Antonius auf die nahe Backsteinkirche, die
seinen Namen trug: Basilica di Sant’Antonio da Padova. Auf die schritten die Freunde nun zu. Ein Seiteneingang, zu
dem es ein paar Stufen hinaufging, lag in einer Nische, daraus leuchtete bläulich ein Gesicht hervor. Ein Obdachloser hatte sich vor der Pforte
ausgestreckt. Seine Siebensachen in Plastiktüten neben sich betrachtete er ein Filmchen auf seinem Handy.
»Sie gehen mit der Zeit, unsere lieben Obdachlosen«, grinste Mütze.
Karl-Dieter jedoch blieb stehen. War die Welt nicht unfair? Während sie ein schönes Abendessen hatten genießen dürfen und sich satt und zufrieden auf das warme Bettchen freuten, lag der arme
Mann hier schutzlos in einem Kircheneingang. »Geh du schon mal vor«, sagte er zu Mütze.
Dann ging er auf den Mann zu und sprach ihn an.
Kapitel 2
»Habt ihr noch Karten gespielt?«, gähnte Mütze, als Karl-Dieter endlich ihr Apartment betrat.
»Du hättest sehen sollen, wie es ihm geschmeckt hat.«
»Sag nicht, du hast unseren ganzen Proviant an ihn verfüttert.«
»Mütze!«
Karl-Dieter wusste, dass Mütze es nicht so meinte, dennoch, manche seiner Sprüche waren nur schwer zu ertragen. Lag das am Beruf? Wurde man so, wenn man ständig mit dem Elend der Menschheit konfrontiert wurde? Giorgio, so hieß der Obdachlose, hatte sich tatsächlich sehr über das Essen gefreut. Und während er hungrig die noch halbwarmen Speisen verzehrt hatte, waren sie ins Gespräch gekommen. Karl-Dieter hatte sich zu ihm auf die Treppenstufen gesetzt und
zugehört. Wie alt mochte Giorgio sein? Auf dreißig, höchstens vierzig schätzte er ihn. Er stamme aus Syrien, eigentlich sei sein Name Georges, in Italien
aber nenne ihn jeder Giorgio. Er lebe schon seit vielen Jahren in Bologna, hatte er Karl-Dieter erzählt. Bologna hieße nicht umsonst auch la Grassa. Kaum eine andere Stadt in Italien, wo man so gut und üppig speisen könne.
»Und wo man üppig speist, da fällt auch etwas für den armen Giorgio ab«, hatte er gegrinst.
Nicht überall aber sei man freundlich zu seinesgleichen. So sei Bologna zwar berühmt für seine langen Arkadengänge, hänge man sie hintereinander, könne man bei der vorsommerlichen Hitze, die hier seit vielen Wochen herrsche, im
kühlen Schatten bis nach Ferrara laufen. Auch gegen Regen würden sie schützen, wann aber regne es schon mal? Er könne sich nicht entsinnen, wie sich Regen überhaupt anfühle. In all den langen Arkadengängen aber, eigentlich die perfekten Schlafstätten, dürfe man sich nicht niederlassen, sofort würde die Polizia aufkreuzen.
»Das geht ja nicht an, dass auf den edlen Terrazzoböden einer von uns seinen Hintern plattsitzt.« Auf ansteckende Weise hatte Giorgio dazu gelacht.
Karl-Dieter hatte gestaunt, wie weiß und schadlos seine Zähne waren. Ob er sie regelmäßig putzte? War das für einen Obdachlosen nicht unüblich?
Giorgio deutete auf die Heiligenstatue. Beschützt vom heiligen Antonius ließe man ihn in Ruhe. Antonius habe ein Herz für die Armen gehabt, da wage die Polizia nicht, ihn zu verscheuchen.
Karl-Dieter hätte es interessiert, zu erfahren, was Giorgio wohl aus der Bahn geworfen hatte.
Zum Obdachlosen wurde man schließlich nicht geboren, da gab es doch eine Vorgeschichte, eine Verkettung unglücklicher Umstände, einen Schicksalsschlag. Giorgio wirkte nicht dumm, ganz im Gegenteil. Auch
wenn Karl-Dieters Italienisch nicht perfekt war, erkannte er doch, wie gewählt sich sein Gegenüber auszudrücken verstand. Plötzlich aber erschrak Karl-Dieter. Aus dem Dunkeln hinter der Backsteinsäule neben dem Eingang löste sich ein Schatten, zwei schwarze Augen funkelten ihn an.
»Darf ich vorstellen? Das ist gaga«, sagte Giorgio, worauf sich der Hund weiter hervortraute und mit dem Schwanz zu
wedeln begann.
»Hier Gaga, sollst auch etwas abhaben«, sagte Giorgio und warf ihm das letzte Stück Kalbsschnitzel hin, der Kleine verschlang es. Zutraulich kam das Hündchen näher, und als ihm Karl-Dieter die Hand hinhielt, fing es an, sie mit seiner
spitzen Zunge abzuschlecken.
»Das tut er sonst nie, darauf darfst du dir etwas einbilden«, hatte Giorgio gesagt.
Mütze lag bereits in den Federn. Karl-Dieter hängte sein Jackett an den Haken und strich Mützes Schimanskijacke glatt. Heimlich beschloss er, Giorgio morgen wieder zu
besuchen und auch Gaga nicht zu vergessen. So ein süßes Wollknäuel! Ein Pudel schien zu seinen Ahnen zu gehören, vielleicht auch ein Chow-Chow, wer konnte das bei einem Straßenhund schon sagen?
»Gute Nacht, Knuffi«, sagte Mütze und wälzte sich auf die andere Seite.
»Gute Nacht, Mütze!«
Kapitel 3
Nacht über Bologna. Die letzten Nachtschwärmer verlassen die Bars und Trattorien und ziehen lachend und plaudernd nach
Hause. Nun erst kommt die Stadt zur Ruhe. Zwei Wächter aber geben weiter acht, zwei schlanke Türme, die ihre Hälse in den dunklen Himmel strecken, Garisenda und Asinelli. Sie erheben sich im
Zentrum der Stadt, nicht weit von der Basilika und der Piazza Maggiore, an der
Kreuzung der Wege, die zu den fünf Toren Bolognas führen. Die Torre della Garisenda ist deutlich kleiner als ihre Schwester, die Torre degli Asinelli und noch schiefer, sogar schiefer als der Turm von
Pisa. Einst hat die beiden in luftiger Höhe eine Brücke miteinander verbunden, die Brücke aber stürzte ein, weshalb die Türme nun getrennt voneinander Wache halten müssen über die Stadt, die man nicht nur die Rote und die Fette nennt, sondern auch die
Gelehrte, la Dotta, denn stolz ist man auf die Universität, die als die älteste Europas gilt.
Bewegte Zeiten hat Bologna erlebt, da tun Wächter not. Stets hat man im Streit gelegen mit den Nachbarstädten, mit dem reichen Venedig vor allem, aber auch mit Modena. Um Geld und Macht
ist es gegangen und darum, wer es mit dem Kaiser hielt und wer mit dem Papst.
Aber auch viele der Bologneser Patrizierfamilien sind untereinander verfeindet
gewesen, weshalb sie ihre Stadtwohnungen zu wahren Festungen ausgebaut haben,
mit Mauern und Zinnen und als Höhepunkt und Statussymbol mit einem mächtigen Geschlechterturm. An die 180 Türme hat man auf alten Stadtansichten gezählt, die größten stießen bis zu hundert Metern in den Himmel. Das alte Bologna, ein Manhattan der
Renaissance, imponierend und unsinnig zugleich, denn bewohnen konnte man die Türme nicht oder doch nur in höchst unbequemer Weise, war der Aufzug doch noch nicht erfunden.
Die meisten Türme sind längst verschwunden, geschleift oder eingestürzt, Garisenda und Asinelli aber sind geblieben, wachen weiter über die Stadt und sehen, was anderen verborgen bleibt, verborgen bleiben soll.
Ohne die Türmer aber, die früher hoch oben bei den Zinnen dem Schlaf trotzten, sind Garisenda und Asinelli zu
ohnmächtigen Wächtern geworden, zu passiven Chronisten, die nur beobachten können, was geschieht, stummen Zeugen gleich, die nicht um Hilfe rufen können, wenn es nötig wird. Und wie bitter nötig wäre in dieser Nacht ein Hilfeschrei gewesen!
Kein größerer Schmerz als sich erinnern
glücklich heiterer Zeit im Unglück.
Nach Dante, Die Göttliche Komödie
FREITAG
Kapitel 4
Mütze war schon aus dem Haus, als Karl-Dieter noch die Küche machte und die Arie Sempre libera aus La Traviata dazu pfiff. Trotz des Mehraufwands war der Bühnenbildner von Herzen froh, in einer Wohnung zu leben und nicht in einem
Hotelzimmer. Karl-Dieter liebte es, Hand anzulegen und sich gemütlich einzurichten. Und wenn Mütze nicht so ein Stoffel gewesen wäre, hätte er Karl-Dieter sehr dafür gelobt. Die in dezenten Grau- und Brauntönen gestaltete Altbauwohnung lud allerdings wie kaum eine zweite dazu ein,
eigene Akzente zu setzen. Zum Wohlfühlen brauchte es immer auch einen blühenden Strauß. Die leuchtenden Ranunkeln hatte Karl-Dieter in einem kleinen Blumenladen in
der nahen Via Santo Stefano erstanden. Die nette Floristin hatte lächeln müssen, als er gesagt hatte, die Blumen kämen sicher aus Italien. »No, Signore«, hatte sie erwidert, »kommt alles aus den Niederlanden!«
Auch das Frühstück vorzubereiten, machte Karl-Dieter nichts aus. Was gab es Schöneres als ein Frühstück daheim? Wie bequem war es doch, sich im Pyjama auf dem Stuhl zu lümmeln, statt sich in einem lärmigen Frühstücksraum am Büfett zu drängeln. Und dann die Schuhfrage. Beim Hotelfrühstück verboten sich Adiletten und dass Mütze garantiert mit diesen Dingern aufkreuzen würde, war ein weiteres Argument gegen das Hotel. Zudem: Was war denn eine
Unterkunft ohne Kochstelle? Die Küche war doch das Herz jeder Wohnung. Nur über den modernen Induktionsherd schimpfte Karl-Dieter heimlich. Wo lag der
Vorteil, statt mit einem Handgriff einen Drehknopf zu betätigen, um eine Temperatur auszuwählen, diese festzulegen, indem man rote Punkte auf dem Ceranfeld kitzelte und
als Antwort rote Digitalziffern erhielt? Dennoch war es ihm gelungen,
fluffigstes Rührei zu zaubern, so, wie Mütze es am liebsten mochte.
Gleich würde die Tagung im Universitätsviertel eröffnet. Um die Mittagszeit wollte Karl-Dieter sich mit Mütze auf der Piazza Maggiore zu einem Imbiss treffen. Also blieb ihm der
Vormittag für einen ersten Erkundungsgang. Bologna kannte er noch nicht. Er war gespannt auf
die Stadt mit dem klangvollen Namen, an der man gewöhnlich nur vorbeifuhr, auf dem Weg in die Toscana oder an die Adria. Ein Blick
aus dem hohen Fenster zeigte ihm, dass es ein schöner Tag werden würde. Durch das Grün der Platanen flirrten die Sonnenstrahlen und auf den Vespas und Mopeds knatterten die Fahrer bereits mit kurzen Hemden vorbei. Karl-Dieter wählte eine leichte Leinenjacke, dann machte er sich auf den Weg.
Wieder kam er an der Antoniuskirche vorbei, wieder lag Giorgio im Eingang des
Seitenportals. Er schien noch zu schlafen und rührte sich nicht. Karl-Dieter lächelte. Mit welchem Appetit hatte Giorgio die Reste verzehrt. Bestimmt schlief
er deshalb so gut. Was sorgte für besseren Schlaf als ein voller Magen? Unwillkürlich aber blieb Karl-Dieter stehen. Was war denn mit Gaga los? Der kleine Hund
war seinem Herrchen auf die Brust gesprungen und leckte dessen Gesicht. Wieder
und wieder glitt seine kleine Zunge über die Wangen des Schlafenden, dazu stieß er leise, winselnde Laute aus.
Wie fest musste man schlafen, um das nicht zu bemerken, dachte sich Karl-Dieter,
dann jedoch durchfuhr es ihn. Blut! Wo kam es her? Dunkel quoll es vom
Hinterkopf des Schlafenden und bildete einen roten See, von dessen vorderem
Ufer es bereits die erste Treppenstufe hinabgetropft war. Karl-Dieter stockte
der Atem. Ohne zu zögern, eilte er hinauf und hob den Kopf des Schlafenden an.
»Mein Gott, Giorgio! Giorgio, wach auf!«
Giorgio aber erwachte nicht. Er sollte niemals mehr erwachen.
Kapitel 5
»Ein Unfall«, sagte Commissario Schnauzbart.
»Er ist gestürzt, unglücklich auf den Hinterkopf.« Bestätigend nickte sein Kollege, ein klein gewachsener Mann mit dem unruhigen Blick
des Hyperthyreotikers. »Wahrscheinlich ist er sturzbetrunken gewesen.«
Karl-Dieter schüttelte ungläubig der Kopf. Er war doch gestern Nacht dabei gewesen, als Giorgio die Reste vom Pellegrino verspeist hatte. Weder Wein noch Bier oder gar Schnaps hatte er dazu getrunken,
lediglich Wasser aus einer Plastikflasche.
»Und was ist das hier?« Commissario Schnauzbart griff nach einer leeren Flasche und lachte. »Pignoletto, kein schlechter Tropfen, gedeiht aufs Schönste in unseren Bergen.«
Karl-Dieter ging in die Knie und hielt dem Toten die Hand. Für die beiden Polizisten war die Sache klar. Wenn ein Obdachloser unter diesen
Umständen gefunden wurde, war er selbst schuld an seinem Tod. Was würden die Herren Commissari wohl machen, wenn es sich nicht um die Leiche eines
Obdachlosens, sondern um die eines Bankers handeln würde? Es war zum Heulen. Aber so war es eben, es interessierte keinen, warum und
woran ein Mensch gestorben war, der am Rand der Gesellschaft sein Dasein
fristete. Wäre doch wenigstens Mütze zur Stelle! In einem ersten Reflex hatte Karl-Dieter den Freund angerufen. Mütze war auch gleich drangegangen, hatte aber gemeint, das sei eine Sache für die italienischen Kollegen, er könne und wolle sich nicht einmischen. Außerdem stehe er schon vor dem Eingang, in fünf Minuten beginne der Kongress.
»Wahrscheinlich war er noch mal austreten«, sagte der Schnauzbartträger. »Als er zurückkehrte und die Treppe hinaufwollte, ist er gestolpert, vielleicht über den Kleinen da vorne.«
Gaga hatte man nicht dazu bewegen können, von seinem Herrchen zu weichen. Als die Polizisten ihn mit Gewalt
fortziehen wollten, hatte er wütend gebellt und nach ihnen geschnappt. So hatten sie ihm kurzerhand einen
Strick um den Hals gelegt und ihn an einem nahen Laternenpfahl gebunden. Dort
zog er wie verrückt an dieser »Leine« und jaulte und bellte vor sich hin.
»Wenn man eine Treppe hinaufsteigt, fällt man aber doch nach vorne«, sagte Karl-Dieter, so gut es sein Italienisch erlaubte.
»Dann ist er eben beim Hinabsteigen gestürzt«, sagte der Commissario mit dem flackernden Blick und rollte genervt die
hervorstehenden Augen.
Mit Blaulicht fuhr ein Krankenwagen vor. Zwei Rettungssanitäterinnen stiegen aus und liefen auf sie zu.