Späte Erlösung - Hugo Stamm - E-Book

Späte Erlösung E-Book

Hugo Stamm

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Beschreibung

Die Geschichte beginnt auf der griechischen Kykladeninsel Amorgos. Melanie wird Zeugin eines Unfalls, bei dem Marc einen schweren Schädelbruch erleidet. Sie organisiert seine Rettung und besucht ihn später im Krankenhaus in Zürich. Das gemeinsame Schicksal verbindet sie, die beiden verlieben sich. Als Melanie in die Esoterik-Szene abrutscht, kommt es zur Trennung. Marc taucht ebenfalls in die spirituelle Welt ein, um Melanie besser zu verstehen. Er besucht zuerst Seminare in der Schweiz und reist später durch Indien, wo er Ashrams und Gurus besucht. Dabei weckt ein Mönch sein Interesse am Buddhismus. Nach der Rückkehr begründet Marc seine eigene moderate Form der Esoterik und schreibt ein Buch darüber. Anschliessend eröffnet er ein Meditationszentrum. Doch Melanie lässt sich nicht beeindrucken. In seiner Verzweiflung startet er ein riskantes spirituelles Experiment, das ihn an den Abgrund führt. Der Plot des Buches "Späte Erlösung" ist fiktional, die Gruppen und spirituellen Zentren, die Marc besucht, sind jedoch authentisch beschrieben. Deshalb hat das Buch die Qualität eines Aufklärungsromans. Die Leserinnen und Leser bekommen einen Überblick über die esoterischen Phänomene. Sie erfahren aber auch, wo allenfalls Verführung und Indoktrination lauern können. Dazu gehört auch das Abrutschen in eine geistige Parallelwelt, in der die Gefahr der Wesensveränderung nicht ausgeschlossen werden kann. Das Buch beschreibt auch die Faszination, die von esoterischen Disziplinen ausgeht. "Späte Erlösung" vermittelt ausserdem den Leserinnen und Lesern, deren Angehörige sich in radikalen esoterischen Gruppen engagieren, eine Innenansicht. Sie lernen, Faszination und psychische Mechanismen der Betroffenen zu verstehen. Solche Einsichten helfen, sich richtig zu verhalten, um Konflikte zu verhindern. Das Buch enthält deshalb auch pädagogische und psychologische Aspekte.

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Hugo Stamm

Späte Erlösung

© 2020 Hugo Stamm

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-03047-3

Hardcover:

978-3-347-03048-0

e-Book:

978-3-347-03049-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Er stand am Fenster und schaute auf die Strasse hinunter. Seine Augen folgten den vorbeifahrenden Autos, doch er sah nur seine Gedanken. Auf dem Weg ins Schlafzimmer räumte er die Zeitung vom Esstisch und stand plötzlich mit der Milch in der Hand im Badezimmer. Sein Blick streifte beiläufig die Uhr.

Marc packte seine Lederjacke und fuhr mit dem Motorrad zum Literaturgymnasium Rämibühl. Schüler schlurften in kleinen Gruppen über den Pausenplatz und beschäftigten ihre Hände mit Zigaretten oder dem Smartphone. Die Erinnerung an den Geruch von gebohnerten Böden holte ihn ein. Ist das alles, was von damals geblieben ist? Roger Waters Song We don‘nt need no education. … Teachers leave them kids allone drang von weit her an sein Ohr.

Ihre markante Frisur - sie erinnerte ihn an eine Löwenmähne - zeichnete sich verschwommen hinter der Glastür ab. Er wäre ihr gern entgegen gegangen, doch Melanie hatte ihn beim ersten Besuch sanft von sich gestossen. Kein Kuss unter den Augen der Schüler. Er war sich aber nicht sicher, ob sie nicht eher an ihre Kollegen im Lehrerzimmer dachte. Die Blicke der jüngeren Lehrer waren ihm nicht entgangen.

Er liess es bei einem Lächeln bewenden. Ohne sich abzusprechen, fuhr er zur Waid hinauf. Melanie setzte sich auf die Bank, neigte den Kopf nach hinten und liess ihre Beine baumeln. «Dumpfbacken», sagte sie.

Marc schaute sie überrascht an.

«Die Klasse 3b wird immer dreister. In der letzten Stunde machte sie auf passiven Widerstand.»

Marc legte seinen Arm auf ihre Schultern.

«Mach dir nichts draus», versuchte er sie zu beruhigen. «Jede gesunde Klasse setzt von Zeit zu Zeit eine Duftmarke.» Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Gesund …?»

Melanie scharrte mit den Füssen im Kies.

Ein Mäusebussard zog hoch über ihnen ruhig seine Kreise. Marc versuchte, mit den Augen des Raubvogels auf Zürich hinunter zu schauen.

«Gib ihnen die Spielwiese. Sie warten doch nur darauf, dass du aus dem Fenster springst. Part of the game, Meli.» Ihr Bruder hatte als Kleinkind ihren Namen nicht gepackt und die Abkürzung genommen. Marc mochte ihn, Melanie eher nicht. «Erinnert mich irgendwie an Mehl», hatte sie gesagt.

«Die Jungs machen sich ein Spiel daraus, mich mit den Augen auszuziehen.» Marc schaute sie fragend an.

«Bist du immer noch bei deinen Schülern? Sie haben wenigstens Geschmack», versuchte er sie zu besänftigen.

«Ha, ha, sehr witzig», gab Melanie zurück.

«Ach komm, sei nicht so verbiestert. Nimm es als Kompliment. Siehst du den Mäusebussard dort oben? Ein majestätischer Anblick. Schwerelos über der Erde … »

Meli schaute ihn von der Seite an: «Mir ist im Moment nicht nach Fliegen.»

Marc stand auf, steckte die Hände tief in die Hosentaschen und liess seinen Blick über die Dächer der Stadt schweifen. Die Berge waren zum Greifen nah, der Föhn drückte sie an den Zürichsee.

«Sorry, bin heute einfach nicht in Stimmung», fügte sie an.

«Heute? …»

«Na komm. Tu nicht so, als sei ich dauernd verschnupft.»

Marc drehte sich ihr zu.

«Ich habe mich bloss auf dich gefreut …»

«… musst du mir jetzt auch noch Schuldgefühle anhängen?»

«Auch noch?»

Marc ging vor Meli hin und her, den Blick zum Boden gesenkt.

«Ich weiss nicht, wie lang ich es in der Schule noch aushalte. Und dann noch der Streit mit meiner Mutter. Es macht irgendwie alles keinen Sinn. Vielleicht hilft mir der Meditationskurs, gelassener zu werden …»

«Mediationskurs?» Marc stutzte. «Du und Meditation? Im Lotussitz vor dem Meister? Mit Duftkerzen und einer schluchzenden Flöte im Hintergrund?»

«Lass die Sprüche», fauchte Melanie. «Es ist nicht eigentlich ein Meditationskurs, sondern die Selbsterfahrungsgruppe von Beat. Du weisst schon. Wir meditieren zwischendurch auch mal.»

«Ah so? Nun wird mir einiges klar. Seit deine spirituelle Temperatur steigt, fallen die Schwingungen in unserer Beziehung.»

«Du siehst Geister», entgegnete Melanie.

«Wenn ich sie sehen könnte, würde ich sie ausräuchern oder mit Knoblauch in die Flucht treiben.» Er pflanzte sich vor ihr auf, legte die Hände vor der Brust zusammen und gab ein gedehntes Ohhhhm von sich.

Melanie schoss hoch und holte mit der rechten Hand aus. Nadeln bohrten sich in seine Wange. Dann stürmte sie davon. Marc liess sich ins Gras fallen und lag starr auf dem Rücken. Als er sich etwas erholt hatte, sprang er auf und rannte Melanie hinterher.

Sie hob den Blick nicht, als er sie eingeholt hatte. Die Nadeln schienen sich immer tiefer in sein Gesicht zu bohren.

Er wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.

Als die Strassenbahn zu hören war, eilte sie zur Haltestelle.

2

Plötzlich stand Marc vor seinem Haus. Unterwegs hatte er nur das verschwommene Muster des Asphalts und seine Schuhspitzen wahrgenommen. Seine Schritte führten ihn zur Dominobar. Schummriges Licht umfing ihn. Am runden Stammtisch sassen fünf Männer. «Hi», rief Roswita hinter der Theke hervor und hob ein leeres Bierglas in die Höhe.

«Was ist denn mit dir los? Hat dir jemand das Herz aus der Brust gerissen? Und im Wochentag hast du dich auch geirrt.»

«Ach lass. Bin nur leicht von der Rolle.»

«Leicht?» Roswita beugte sich über den Tisch, servierte ihm das Bier ab und schaute ihm in die Augen.

«Mittelschwer», korrigierte er.

«Extrem schwer. So schwer, wie nur die Liebe sein kann», gab sie zurück.

Marc nahm einen grossen Schluck und starrte auf den Tisch.

«Melanie?» Er nickte.

Roswita setzte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Arm.

«Erzähle, das hilft.»

«Danke, aber im Moment fühle ich mich nur leer. Ein kühles Bier hilft vielleicht, die heisse Wange zu kühlen.»

«Sie dir?» Roswita pfiff leise durch die Zähne. «Ein Seitensprung?»

«Nein, Streit über Meditation.»

«Über Meditation? Oder eher über den Meditationslehrer?»

«Vielleicht auch», gab Marc zurück.

«Und weshalb hast du die Ohrfeige kassiert?»

«Weil ich die Geschichte ins Lächerliche gezogen habe.»

Ein Mann am Stammtisch hob sein Bierglas. Roswita nickte ihm zu und erhob sich. «Die sind eifersüchtig, wenn ich mit einem jungen attraktiven Mann spreche.»

Beim vierten Bier legte sie eine rote Karte unter sein volles Glas. «Vier sind genug, Liebeskummer ersäuft man besser nicht im Alkohol.» Das Bier schimmerte rötlich. Er trank es rasch und zahlte. «Nimm auch zu Hause einen roten Glasuntersatz», mahnte sie ihn.

3

Rastlos lief sie durch die Stadt. Ihre Hand brannte. Ich habe ihn geschlagen. Der Satz surrte in einer Endlosschlaufe durch ihren Kopf. Als sie beim Inder vorbeikam, bei dem sie oft bis um Mitternacht gesessen und diskutiert hatten, konnte sie die Tränen nicht mehr unterdrücken. Sie flüchtete in den nächsten Hauseingang und setzte sich auf die Treppe.

Ein leises Geräusch schreckte sie auf. Sie drehte den Kopf, sah aber nur eine markante Nase und ein grosses, dunkles Auge im Türspalt.

«Geht es ihnen nicht gut? Kann ich ihnen helfen?»

Melanie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab und sniefte. «Geht schon», antwortete sie.

«Wirklich?»

Melanie drehte sich erneut um. Der Akzent der Frau und ihr singender Tonfall weckten ihre Aufmerksamkeit. Die untersetzte Frau nahm schwerfällig die Stufen und setzte sich neben Melanie, die ihr Gesicht in den aufgestützten Armen versteckte.

«Kommen sie, in meiner Stube können sie bequemer weinen.»

Melanie reagierte unwirsch. Doch die Frau mit der sonoren Stimme ergriff Melanies Arm und führte sie in ihre Wohnung.

Ein dunkler, schwerer Vitrinenschrank erdrückte das Wohnzimmer. Die linke Seite war gefüllt mit Wein- und Schnapsgläsern, die rechte mit Clowns und Harlekins.

«Ich liebe Kitsch», erzählte die Frau, als sie mit dem dampfenden Kaffee in die Stube zurückkam und Melanies Blick folgte. «Ich heisse Maria, Harlekins waren mein Leben. Mein Vater arbeitete als Clown im Zirkus. Er hatte in der Manege einen Partner. Helmut, ein Deutscher. Als Kind habe ich ihn verehrt. Er war mein Pate und hat mir Deutsch beigebracht. Ich bin Spanierin. Aber das interessiert dich jetzt sicher nicht.»

Maria nahm trotzdem ein Foto vom Schrank. «Das ist Helmut, neben ihm mein Vater.»

Melanie stand wortlos auf und ging zur Wohnungstür.

«Mach es dir nicht so schwer», sagte Maria und hielt Melanie am Arm zurück. «Mein Vater ist während einer Vorstellung vom Huf eines Pferdes getroffen worden und an einer Hirnblutung gestorben. Ich war damals fünfzehn.»

Melanie sah einen kleinen rundlichen Mann mit einer roten Pappnase und einem weiss geschminkten Gesicht, das von zwei dunklen Augen dominiert wurde. Neben ihm stand der schlaksige Helmut.

«Und wer bist du, weshalb bist du in den Hauseingang geflüchtet?»

Melanie erzählte vom Streit mit Marc und von der Ohrfeige.

«Und Beat?», fragte Maria, als Melanies Erzählfluss ins Stocken geraten war. Melanie hob den Kopf und schaute Maria misstrauisch an.

«Beat? Wie meinst du das?»

Maria hielt ihrem Blick stand: «Na, deine Augen verraten mir, dass Beat dich in deine Träume begleitet.»

4

Der Albtraum blieb auch in der Nacht sein treuer Begleiter. Wenn er wach lag, drehte sich sein Kopf, wenn er schlief, das Bett. Und stets sassen Ohnmacht und Schmerz mit auf dem Karussell. Marc fand die Bremse nicht. Er wusste nicht einmal, ob er den Horror besser schlafend oder wach überstehen würde.

Um vier Uhr war sein Wille gebrochen. Das Feuer des Brandweins entflammte seinen Rachen. Ein wohliger Schmerz, der die Lebensgeister weckte und die Ohnmacht verscheuchte. Eine Erlösung auf Zeit, ahnte er nach drei Gläsern. Nach drei weiteren glaubte er, sie würde ewig dauern. Als er sich erhob, um aufs WC zu kommen, fiel der Länge nach hin.

Irgendwann erwachte er, weil seine Blase rebellierte. Auf allen Vieren kroch er ins Bad. Das pulsierende Hirn suchte einen Ausgang aus der Schädeldecke. Es kam ihm wie ein Inferno vor.

Auch den nächsten Tag hätte Marc gern aus dem Kalender gestrichen. Die Erinnerungen kamen zurück, doch das Inferno blieb ihm treu. Er räumte die leere Cognacflasche weg, schloss den Schrank ab und versteckte den Schlüssel.

Vielleicht geht es Meli wirklich nur um die Meditation, versuchte er sich zu beruhigen. Kontemplation in der Selbsterfahrungsgruppe.

Er gab Beats Namen im Computer ein. Eine langsam sich drehende Lotusblüte füllte den Bildschirm, sanfte Weltmusik dudelte aus dem Lautsprecher, der Schriftzug Zentrum Chitradurga tanzte in violetter Zierschrift vorüber.

Marc stutzte. Er versuchte, den Zungenbrecher auf verschiedene Weise auszusprechen, indem er die einzelnen Silben unterschiedlich betonte. Doch keine Variante vermochte seinem Gehör zu schmeicheln. Rasch klickte er den Link zu Beats Porträt an. Ein paar biographische Angaben und viele Bilder. Beat im Lotussitz, Beat mit einem heiligen Sadhu in Indien, Beat vor einer Buddhastatue. Marc spürte einen Stich. Mit dem markanten, schmalen Gesicht, den leicht hervorstehen Backenknochen, dem kantigen Kinn und den tiefliegenden dunklen Augen vermag er seine Anhängerinnen nicht nur spirituell zu überzeugen, befürchtete er.

Hastig überflog er den Lebenslauf. 39 Jahre alt. Drei Jahre älter als Meli. Lehre als kaufmännischer Angestellter, Weiterbildungen, Bankangestellter im Investmentbereich. Genervt würgte er die säuselnde Harfenmusik ab. Meditationskurse, Workshops bei mehreren spirituellen Meistern, alternativmedizinische Ausbildungen. Aufbau einer Osho-Kommune. Das volle Programm, schoss es Marc durch den Kopf.

Osho? Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor. Google brachte die Erleuchtung. Bhagwan. Genau, der indische Guru, der sich nach seiner spirituellen Häutung Osho genannt hatte.

Er setzte sich kerzengerade auf. Ist das nicht der Sex-Guru mit dem Rolls-Royce-Fetisch? Meli im Lotussitz zu Füssen eines Osho-Jüngers? Sein Hirn brannte lichterloh. Von wegen Selbsterfahrungsgruppe. Esoterik, aufgeladen mit Erotik. Meli im Reich der sanften Verführung?

Marc klickte den Link Konzept an. «Osho und seine Therapeuten haben ausgezeichnete neue Methoden entwickelt, Krankheiten nicht nur organisch zu betrachten, sondern auch als Ausdruck spiritueller Blockaden», las er. «Sie konzentrierten sich einseitig auf die übersinnlichen Aspekte, doch ich suchte die Synthese zwischen Körperlichkeit und Spiritualität und fand sie in einer speziellen Form der Meditation.»

Marc lehnte sich zurück. Versteckt sich da Kritik an Osho und seinen Erbverwaltern? Vielleicht praktiziert Beat heute tatsächlich nur eine gemässigte Form der Meditation.

Hastig scrollte sich Marc durch das digitale Album. Die meisten Fotos zeigten ihn zusammen mit seinen Schülerinnen. Unten angelangt, atmete Marc auf. Er wusste nicht, ob sein Bildschirm heil geblieben wäre, wenn ihm Meli entgegengelächelt hätte.

Er pflügte sich weiter durchs Internet und suchte nach Osho-Therapeuten. Das reale Leben ist eine Illusion, die spirituelle Welt die wahre Realität, erkannte er. Oshos Kosmos bestand vor allem aus Energie. Nur die sexuelle Kraft schien handfest zu sein. Irdische Bindungen sind Irritationen, die es zu überwinden gilt. Bedingungslos. Was den Stallgeruch von Spiritualität verströmt, wird transzendiert, Feuchtgebiete hingegen lustvoll materialisiert. Dient nicht beides dem grobstofflichen Lustgewinn, der narzisstischen Selbstverwirklichung, die als Überwindung der irdischen Bindung getarnt daherkommt?

Marc wollte sich einen neuen Kaffee machen, doch unter dem Auslauf der Maschine stand noch eine volle Tasse. Er schüttete er die kalte Brühe weg und braute sich einen neuen Aufguss.

Filmriss, erkannte er. Auf allen Ebenen. Ich habe mich verloren. Eifersucht? Das war ihm bisher fremd geblieben. Dann kommt Meli, und die Schwerkraft gerät ausser Kontrolle.

Erneut rief er sie in Gedanken an. «… ich möchte mich bei dir … es tut mir leid … lass uns in Ruhe darüber … ich schwöre dir …» Ein diffuses Gefühl sagte ihm, dass der Zeitpunkt ungünstig war.

Nach dem ersten Schluck griff er doch zum Handy. «Hallo Christa, ich brauche deinen Rat.»

«Na, wo brennt’s?»

Er schilderte seiner Cousine den Streit mit Meli.

«Oh Gott, weshalb hast du unsere Libido auf die Männer ausgerichtet! Ruf sie einfach an. Wir Frauen sind weniger kompliziert als es eure männlichen Projektionen suggerieren.»

War Christa einmal in Fahrt, gab es kein Entrinnen mehr. Sie war unbestechlich und ihr Urteil messerscharf. Ihre Zuneigung versteckte sie gern hinter ihrem burschikosen Verhalten und ironischen Bemerkungen. Es schien, als könne ihr das Leben nichts anhaben. Mit ihrer kräftigen Figur und dem offenen Blick signalisierte sie, dass Widerspruch zwecklos war. Sie trug das Selbstwertgefühl wie eine Trophäe vor sich her. Und doch mochte er Christa.

Er holte ein Glas Milch aus dem Kühlschrank, zählte langsam auf hundert und nahm zwischendurch einen Schluck.

«Hallo, Meli, wie geht es dir, äh …» Die Pause kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

«Es geht.»

«Ich möchte mich entschuldigen … war wohl ein bisschen heftig.» Marc wartete vergeblich auf eine Antwort. «Ich habe einen Vorschlag. Nimm mich mit zu einer Meditationsstunde. Dann verstehe ich dich vielleicht besser, und wir können sachlich über alles reden … »

«Sachlich?»

Marc sah, wie sie ihren Hals reckte und den Kopf wiegte. Das tat sie immer, wenn sie zögerte. «Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist.»

«Wir müssen es versuchen …» Marc suchte nach Worten. «… ich will nicht mit dir streiten wegen eines Meditationskurses.»

«Es geht um mehr, das weisst du.»

Er spürte, wie ihre Anspannung wuchs. «Auch nicht wegen eines Meditationslehrers», schob er nach und fragte, ob sie sich treffen könnten.

«Lass mir noch etwas Zeit», antwortete Meli.

«Musst du dich zuerst mit Beat absprechen?» Mist, fluchte er in sich hinein und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Seine Gedanken gingen im Summton unter.

Marc warf das Smartphone auf das Sofa. Als er seine Gedanken wieder etwas ordnen konnte, klaubte er es zwischen den Kissen hervor.

«Christa, dein Ratschlag war ein Schuss in den Ofen. Melanie liess mich auflaufen. Dies nur zum Thema weibliche Intuition und Menschenkenntnis.»

«Hoppla», stiess Christa hervor, «da ist aber mächtig Feuer im Dach. Wenn du mir deine Melanie einmal vorgestellt hättest, hätte ich sie besser einschätzen können. Vielleicht hast du dich einfach in ihr vergriffen. Soll ja vorkommen. Wo harzt es denn?»

«Ach lass, ich habe keine Lust, über unseren Knatsch zu sprechen».

«Wieso rufst du mich dann an?»

«Ich musste Dampf ablassen.»

«Okay. Dann mach es aber richtig und gib mir eine Chance, Melanies Reaktion besser zu verstehen.»

Marc druckste eine Weile herum und schilderte seiner Cousine schliesslich den Streit mit Melanie.

«Wenn du so verstockt bist wie nun mir gegenüber, musst du dich nicht wundern, wenn deine Melanie den Stecker zieht.»

«Ich bin ihr gegenüber nicht verstockt, sondern zu direkt», protestierte Marc.

«Dann steckt sie tiefer im Eso-Sumpf, als du wahrhaben willst.»

«Wie kannst du das wissen?»

«Liebe fühlt sich anders an. Ich kann ja verstehen, dass ihr der Kragen geplatzt ist, mit der Ohrfeige sollte die Geschichte aber erledigt sein.»

«Ich habe sie mit meinen heftigen Reaktionen verletzt. Nun glaubt sie mir nicht mehr, dass ich eine sanfte Form der Spiritualität tolerieren könnte.»

«Sanfte Form! Da legt dir die Angst eigenartige Worte in den Mund. Entweder funkt die Esoterik in eure Beziehung oder Beat. Beides schwere Brocken. Ich würde die Flucht ergreifen, bevor sie dich erschlagen.»

Christa machte eine Pause. «Esoterik steht für ein ganzes Weltbild, genau wie dein aufklärerisches Bewusstsein. Mehr Katze und Hund geht fast nicht.»

«Bisher ging’s ja gut», protestierte Marc.

«Verliebte sind bekanntlich blind, und beim Vögeln spricht man nicht über das höhere Bewusstsein oder den Nihilismus.»

5

Marc hangelte sich im Computer von Stichwort zu Stichwort und hoffte, den Code der spirituellen Welt zu knacken. Transformation, höheres Bewusstsein, Chakren, innere Mitte, Channeling, Solar Plexus, Lichtreisen… Er drang immer tiefer in den virtuellen Kosmos. Die sprachlichen Wucherungen faszinierten ihn, die Kultwelt mit ihren blumigen Wortschöpfungen zog ihn in den Bann. Als zerlegte sie sein Hirn in die Einzelteile und konstruierte es neu.

Ein kurzes Signal seines Handys riss ihn aus den Gedanken. «Es ist noch zu früh für ein Treffen. Bin zu aufgewühlt. Entschuldige die Ohrfeige. Melde mich später.»

Die Kurzmeldung versetzte ihm einen Stich. Er hasste die Satzfetzen und fühlte sich den Stakkato-Botschaften ausgeliefert.

Seine Ohnmacht trieb ihn zum Escherwyssplatz. Ein sinnloses Unterfangen, er wusste es. Doch Sinn machte im Moment eh nichts. Vielleicht atmen die Wände Melis Aura aus, vielleicht ist in den Scheiben ihr Schatten eingebrannt, vielleicht kann ich einen Blick in den Meditationsraum werfen. Vielleicht ist da etwas, an das sich meine zügellose Fantasie halten kann, gaben ihm seine Gedanken ein.

Als er mit dem Fahrrad von der Escherwyssstrasse in den grossen Platz einbog, sah er von weitem an der Fassade eines ehemaligen Fabrikgebäudes eine grosse Messingtafel mit dem Schriftzug Meditationszentrum Chitradurga. Spirituelle Seelenmassage in einem urbanen Trendquartier? Früher gossen hier Arbeiter bei brütender Hitze 60 Stunden die Woche Metall, heute hauchen ihre Enkel ein sanftes Ohm in den Kamin, ging es ihm durch den Kopf.

Der grosse Platz wirkte ausgestorben. Die Neugier trieb ihn zum Eingang. Und wenn die Tür direkt in den Meditationsraum führt? Hallo Beat, ich bin Marc, der Freund von Melanie … du weisst schon. Der Kopfmensch ohne Seele. Der Ignorant ohne Sinn für die geistige Welt. Der spirituelle Tiefflieger.

Marc schlenderte wie ein Tourist über den Platz und drückte beiläufig die Türfalle. Zu. Was für ein Scheissglück, entfuhr es ihm.

Er schaute sich nach einem Versteck um. Schliesslich setzte er sich hinter einem Auto auf den Randstein. Wie ein Dieb. Oder Spanner. Nur weg von hier, sagte er sich. Doch die Angst, eine weitere Nacht durch die Hölle zu gehen, hielt ihn gefangen.

Nach einer halben Stunde hatte ihn die Scham weichgekocht. Als er sich wegdrehte, zuckte er zusammen. Beat! Er erkannte ihn von weitem. Mit dem Schwung eines Verliebten öffnete er die Tür zu seinem spirituellen Reich.

So sieht also Eifersucht aus. Eine neue Erfahrung. Sie fühlte sich klebrig an, schmierig. Was er loswerden wollte, haftete an ihm; was er herbeisehnte, flutschte weg. Plötzlich hasste er einen Teil an sich, den er bisher nicht gekannt hatte.

Die Umrisse ihrer lockigen Haare schreckten ihn erneut auf. Ihr energischer Schritt irritierte ihn. Liebeskummer sieht anders aus, schoss es ihm durch den Kopf. Sie kommt viel zu früh zur Meditation. Ähnlich früh wie Beat. Selbsterfüllende Prophezeiung!

Er malte sich das Meditationszimmer aus. Viel Plüsch und Samt, von hellblau bis violett. Ein Altar mit dem Porträt von Bhagwan oder sonst einem Guru, ein kleines Podest samt Sessel für den Meister. Boxen, um die Schülerinnen mit sanfter Harfenmusik oder in Moll schluchzenden Geigen in übersinnliche Stimmung zu bringen. Und im Nebenzimmer steht ein Notbett für den Fall, dass eine spirituelle Überfliegerin die Landung verpasst.

Er ging ins Restaurant Ankor, das den Blick freigab auf das Meditationszentrum. Das Lokal war stilvoll asiatisch eingerichtet, wirkte aber überladen. Er setzte sich an den Tisch beim Fenster. Eine junge asiatische Serviererin lächelte ihn freundlich an und reichte ihm mit einer anmutigenden Bewegung die Karte. Ihr langes, rotes Kleid, bestickt mit goldenen Drachen, erinnerte ihn an einen Bollywood-Film. Er bestellte einen Fruchtcocktail und starrte unentwegt zum Zentrum hinüber.

Asiatinnen haben etwas Geheimnisvolles, sie wirken herzlich, aber auch unnahbar, sinnierte er. Plötzlich schreckte er auf. Durch ein Fenster sah er zwei Schatten an der Zimmerwand des Zentrums, die sich aufeinander zubewegten und sich zu berühren schienen. Schatten sind zweidimensional, rief er sich in Erinnerung.

«Möchten sie etwas essen?», fragte die Asiatin und folgte interessiert seinem Blick durch das Fenster.

«Sorry, ich habe die Karte noch nicht studiert.»

Das reichhaltige Angebot erschlug ihn. Weil ihm eigentlich nicht nach Essen war, wählte er blind eine Vorspeise.

«Der Chicken-Curry-Salat ist aber recht scharf», warnte sie ihn. Der Duft ihres süssen Parfums hüllte ihn ein.

«Umso besser, dann ist wenigstens der Gaumen betäubt», gab Marc zurück und erntete einen irritierten Blick.

Der Chickensalat war kunstvoll arrangiert. Trotzdem stocherte er lustlos im Teller herum und spiesste einzelne Fleischstücke auf die Gabel. Während sein Mund Feuer fing, sah er in Gedanken Meli im Lotussitz zu Füssen von Beat sitzen. Er liess den halbvollen Teller stehen und zahlte. Mit gesenktem Blick, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, schlenderte er durch die Häuserschluchten.

Der kühle Abendwind drang durch sein Hemd, seine dunklen Gedanken liessen ihn frösteln. Die Kraft reichte nicht, seine Fantasie zu zügeln. Er ging zurück ins Restaurant. Die Serviererin schien sich nicht mehr zu wundern. Er bestellte einen Espresso samt Cognac und schaute in immer kürzeren Abständen hinüber zum Meditationszentrum. Wie lang hält es ein Mensch im Schneidersitz aus, fragte er sich. 40 Minuten? Eine Stunde? Vielleicht hebt die Leichtigkeit des spirituellen Seins die Schwerkraft auf. Schliesslich soll es Yogis geben, die schweben können.

Als im Meditationsraum die Lichter ausgingen, stieg sein Puls an. Die ersten Teilnehmerinnen verliessen das Zentrum. Er hielt vergeblich nach Meli Ausschau. Im Nebenraum flackerten Kerzen. Vielleicht braucht sie Nachhilfe. In übersinnlicher Sinnlichkeit? Die Minuten kamen ihm wie Stunden vor. Als es im Zentrum dunkel wurde, schaute er sich nach der Serviererin um.

Plötzlich zuckte er zusammen. Beat hielt Meli elegant die Tür des Zentrums auf. Beschwingt schlenderten die beiden über den Platz. Dann stockte sein Blut. Sie steuerten auf das Ankor zu. Unter der Tür erkannte er im Gegenlicht die Umrisse von Melanies Frisur. Er sprang auf und flüchtete in den Gang, der zur Toilette führt. Die Serviererin schaute ihm ratlos nach. Meli schien irritiert, als Beat ihre Jacke an die Garderobe hängte. Hatte sie ihn gesehen? Er flüchtete in die Toilette, setzte sich auf den Deckel der WC-Schüssel und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Nein, nein, nein, sagte er leise vor sich hin. Sein Körper zitterte.

Nach ein paar Minuten schlich er ins Restaurant zurück. Meli und Beat sassen am Tisch, auf dem noch seine Kaffeetasse stand. Hoffentlich verrät der Stuhl nicht, wer vor ein paar Minuten auf ihm seinen Arsch breitgedrückt hat, ging es ihm in einem Anflug von Sarkasmus durch den Kopf. Marc bewegte sich vorsichtig zur Theke und drückte der Serviererin wortlos eine Note in die Hand. Geduckt ging er zum Ausgang, geknickt marschierte er in die Nacht hinaus. Die Dunkelheit kam ihm wie eine Verbündete vor.

6

Auf der Heimfahrt holten ihn Bilder von den Ferien vor einem halben Jahr ein. Langada, ein kleines Bergdorf auf der griechischen Kykladen-Insel Amorgos. Nikos brachte ihm einen Ouzo und stellte ihn auf den kleinen Holztisch. «Ganz allein?», fragte der Besitzer der Taverne. Marc nickte.

Er war an diesem Nachmittag auf schmalen Pfaden über leuchtende Blumenwiesen zur verlassenen Siedlung Stavros gewandert, begleitet von rotflammenden Büschen. Die Maisonne trieb ihm auf dem steilen Weg den Schweiss aus den Poren. Auf den Kuppen der Hügel breitete er seine Arme aus, um die thermischen Winde einzufangen. Sehnsüchtig beobachtete er die Raubvögel, die den schroffen Felswänden entlang segelten. Auf dem Bergrücken kondensierte die feuchte Meeresluft und überzog die Kuppen mit einer milchigen Nebelkappe.

Marc stieg rasch den steilen Bergpfad hinauf. In der Ferne zeichneten sich schattenhaft die Silhouetten mehrerer kleiner Inseln ab. Inseln, auf denen bis vor kurzem die Autos vier Beine und zwei lange Ohren hatten und deren Huptöne einem melancholischen Wehklagen glichen, wie er von früheren Erkundungen wusste.

Um die Mittagszeit setzte er sich auf einen grossen Felsblock und nahm das Sandwich aus dem Rucksack. Gewohnheitsmässig suchte er mit den Augen die Bergflanke ab, fand aber keine passende Abrissstelle für den grossen Brocken, der ihm als Rastplatz diente. Dabei erkannte er, dass er unter einer anspruchsvollen Kletterwand sass. Behutsam tastete er sie mit den Augen ab und suchte eine gangbare Route. Als sein Blick oben angelangt war, rief er laut: «Free solo.» Allein und ohne Sicherungsseil.

Sorgsam prägte er sich die Route ein und ging die Schlüsselpassagen mehrmals durch. Seine leichten Trainingsschuhe hatten zum Glück wenig Profil. Mit einem Schlachtruf stieg er in die Wand und arbeitete sich zur ersten schwierigen Stelle vor. Mit letzter Konzentration klammerte er sich an der senkrechten Stelle an einer Kante fest und schwang den Körper aus, um den rechten Fuss mit der Ferse auf einen kleinen Vorsprung zu hieven und mit der rechten Hand sofort nachzugreifen. Er jauchzte vor Freude, als er wieder sicheren Halt gefunden hatte.

In rhythmischen Bewegungen durchstieg er die Wand. Seine Unterarme brannten. Der kühle Stein strahlte etwas Sinnliches aus.

Das Knarren der schmalen Holzstiege zur lauschigen Veranda von Nikos Taverne riss ihn aus den Gedanken. Er drehte den Kopf und schaute in grosse, hellblaue, durchsichtig wirkende Augen, die von einer wilden Frisur umrahmt waren. Manchmal reicht ein Augenblick und schon steht das ganze Haus in Brand, wunderte sich Marc. Vorsichtig setzte sie sich auf den kleinen geflochtenen Stuhl am Nebentisch, sorgsam bedacht, ihre langen Beine nicht an einer Tischkante anzustossen. Seine Blicke schienen an ihr abzuprallen. Sie hatte nur Augen für die Sonne, die zu einer grossen Kugel angeschwollen war und die Schleierwolken über Naxos in ein Farbenmeer tauchte.

Ohne den Blick vom Horizont abzuwenden, kramte sie in ihrer Tasche und legte ein Buch mit einem grün-blauen Umschlag und die Sonnenbrille auf den Tisch. Dabei trafen sich ihre Blicke für einen flüchtigen Moment. Wie haben diese hellen Augen nur zu diesem dunklen Teint und den braunen Haaren gefunden, fragte er sich.

«Liest sich der neue Hohler gut?», hörte Marc sich sagen.

Die Fremde drehte überrascht den Kopf und musterte ihn. «Ich bin erst bei der zweiten Wanderung», erwiderte sie, ohne sich die Verwunderung anmerken zu lassen. «Kennst du das Buch?» Sie machte dabei ein Gesicht, als bereute sie ihre Gegenfrage.

«Ich habe es in einer Buchhandlung in Zürich gesehen», entgegnete Marc. Die Fremde nickte beifällig. Nach einer Weile fügte er an: «Aus welcher Gegend kommst du?»

«Auch aus Zürich.»

«So ein Zufall. Wie hat es dich hierher verschlagen?»

«Der Tipp einer Freundin», gab sie zurück und widmete sich ihrer Sonnenbrille, die sie mit dem T-Shirt reinigte.

«Eine fantastische Aussicht. Ein Platz für griechische Götter.»

«Und für Göttinnen», fügte sie maliziös hinzu.

Liebe Aphrodite, gib mir eine Chance, flehte Marc. Verrate mir den erlösenden Code. «Bist du bei Nikos einquartiert?»

«Wer ist Nikos?»

Marc spielte mit seinen Fingern. «Nikos führt diese Taverne. Da hinten gibt‘s ein paar Zimmer.» Marc zeigte mit der Hand über seine Schulter hinweg. «Es lohnt sich auch, hier zu essen. Nikos' Schwester kocht ausgezeichnet. Nicht die übliche griechische Ölkrise, wenn du weisst, was ich meine.»

Sie lächelte. «Du meinst das Ölbad im Teller?»

Immerhin, atmete Marc auf und setzte ein breites Grinsen auf. Sie zog ihre Mundwinkel leicht nach oben. Ihr kleines Muttermal auf der Oberlippe bewegte sich neckisch. «Besonders empfehlenswert ist der Auberginen-Auflauf. Ein Gedicht.»

Marc ahnte, dass jeder weitere Satz ihre Geduld zusätzlich strapaziert hätte. Was bewegt sie, der Welt die kalte Schulter zu zeigen, fragte er sich. Sicher, er war nicht die Welt, aber auch keine Schande für die Menschheit. Vielleicht will sie mit ihrer kühlen Art griechische Machos und männliche Touristen von sich fernzuhalten, überlegte er.

Die Sonne verschwand am Horizont, der Himmel flammte auf. Als die Farben verblassten, verabschiedete er sich mit einem knappen Tschüss. Sie nickte ihm teilnahmslos zu. Er nahm das schmale Gässchen nach Ägiali hinunter.

Plötzlich schlugen die schrillen Glocken der nahen Kapelle an und läuteten Sturm. Um diese Zeit, wunderte sich Marc. Ist jemand gestorben? Als er um die Ecke bog, kam ihm eine Prozession aus dunkel gekleideten Gestalten entgegen. Alte Männer in schwarzen Anzügen führten schleppenden Schrittes den Umzug an. Ihre eleganten Hüte wollten nicht recht zu den zerfurchten Gesichtern passen. Die jüngeren trugen einen Sarg. Ihre gebückte Haltung verriet Marc, dass sie schwer an der Leiche trugen. Eine Beerdigung zu so später Stunde? Vielleicht hatte sich die Fähre mit den Trauergästen verspätet.

Marc drückte sich an die Wand und liess den Trauerzug passieren. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn, als er in Tuchfühlung mit dem Sarg stand. Eben noch hatte die attraktive Zürcherin in ihm das pralle Leben geweckt, nun erinnerte ihn der Tod an das Ende aller Gefühle. Er stellte sich vor, dass eine alte, dicke Frau zum Friedhof getragen wurde. Eine Greisin, die Amorgos vielleicht nie verlassen hatte und deren Biografie auf einem Blatt Papier Platz gefunden hätte. Eine lustige Grossmutter, die die Welt ausserhalb der Kykladen erst kennenlernte, als der erste Fernseher in der Dorftaverne aufgestellt wurde.

Dem Sarg folgte ein alter Mann, gestützt von zwei jungen Frauen. Ob die Enkelinnen ahnen, dass sie den nächsten Todeskandidaten begleiten, fragte sich Marc. Stumm nahmen die drei den langsamen Schritt der Träger ab und starrten zu Boden. Hinter ihnen marschierten die Frauen des Dorfes in schwarzen Röcken, die älteren verhüllt mit einem Kopftuch. Das hektische Geläut der Glocken durchschnitt die Stille. Ein Esel gab Laute von sich, die ihn an Klageschreie erinnerten. Der Trauerzug in der archaischen Kulisse liess ihn melancholisch werden. Zwischen mir und dem Tod liegen viele Jahre, die gelebt werden wollen, beruhigte er sich. Er konnte sich nicht vorstellen, dereinst selbst in einer solchen Holzkiste zu landen. Eingepfercht und abgeschnitten von der Welt.

Der Schrei eines Kindes riss ihn aus den Gedanken. «Mama». Ein kleines Mädchen kam aus einer Seitengasse gerannt und schaute verzweifelt um sich.

«Komm», sagte Marc und streckte ihm die Hand entgegen. Das Mädchen, dessen Gesicht von wilden Haarsträhnen halb bedeckt war, hielt inne und schaute misstrauisch zu ihm hoch. «Komm», wiederholte Marc und nahm seine Hand. Vorsichtig marschierte er los und zog es hinter sich her. Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen, sein Widerstand wurde mit jedem Schritt kleiner.

Bald flogen seine Beinchen. Bei den Treppenstufen hob er es im Laufen hoch. Es schnalzte vor Vergnügen, als wollte es Marc antreiben, noch schneller zu rennen. Bald kam der Trauerzug in ihr Blickfeld, doch das Mädchen schien vergessen zu haben, dass es seine Mutter suchte. Als sie die ersten Männer eingeholt hatten, verlangsamte Marc den Schritt. Plötzlich stürmte ein älterer Mann auf sie zu, dessen Schnurrbart sich bis zu den Ohren reichte.

Marc blieb stehen. Der Grossvater, vermutete er und ging auf ihn zu. Händeringend schrie der knorrige Alte «fiche, fiche». Hau ab.

«Ich tue dem Kind nichts», beschwichtigte Marc auf Englisch, doch der Schnauzbärtige liess sich nicht beruhigen. Auch nicht, als Marc ihm das Mädchen entgegenstreckte. Er schaute in ein ledernes, zerfurchtes Gesicht, das von einer roten Knollennase dominiert wurde. Wäre er dem urigen Griechen auf dem Dorfplatz begegnet, hätte er versucht, ihn heimlich mit dem Teleobjektiv einzufangen.

Der Alte schnaubte vor Wut und ballte die Fäuste. Marc legte schützend die Arme um das Mädchen und drehte seinem Angreifer den Rücken zu. Vorsichtig stellte er das Kind ab, als ihn ein Schlag am Hinterkopf traf. Marc schoss herum. «So nicht», zischte er auf Deutsch. Rasch packte er den Alten am Jackett und stiess ihn von sich. «Ich bringe das Mädchen zu seiner Mutter», radebrechte er auf Griechisch.

Der Schnauzbärtige stürmte aber wieder auf ihn los. «Du sturer Büffel», rief Marc und packte ihn am Kragen. Eine deftige Fahne aus Ouzo, Knoblauch und Tabak wehte ihm entgegen. Marc drehte ihm mit dem eigenen Hemd den Atem ab. Der Langader japste nach Luft und ruderte mit den Armen.

Schon eilten mehrere Männer herbei. Ihre Gesichter verrieten nichts Gutes. Marc stiess den alten Griechen von sich und rannte in eine Seitengasse. Das Stimmengewirr wurde immer lauter, schien aber nicht näher zu kommen. Verwundert schaute er zurück. Die Männer brüllten sich gegenseitig an und gestikulierten wild. Ihm schien, als stünden sich zwei Lager gegenüber. Bald flogen die Fäuste, dann die Hüte von den Köpfen.

Das Mädchen begann wieder zu weinen. Vorsichtig ging Marc zurück und nahm es unbemerkt auf den Arm. Er rannte an den lamentierenden Männern vorbei und trat ein paar herumliegende Hüte platt. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als er jeweils in Regenpfützen stapfte und sich freute, wenn das Wasser auf alle Seiten hoch spritzte.

Er schaute noch einmal zurück und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Genau deshalb liebe ich die Inseln, erkannte er. Das Archaische steckt nicht nur in den schroffen Felswänden, sondern auch in den Köpfen der Bewohner.

Als er die Wegbiegung erreichte, kamen ihm die Frauen der Prozession entgegen. Das Geschrei der Männer hatte sie aufgeschreckt. Nur die Sargträger, der Witwer und die Enkelinnen standen verlassen in der Gasse. Plötzlich löste sich eine junge Frau aus der Gruppe und kam mit wehenden Haaren daher gerannt.

«Mama», rief das Mädchen und streckte seine Arme aus. Die junge Frau mit den grossen, dunklen Augen schaute ihn verwundert an. «Efcharisto poli», danke sehr, sagte sie und schloss die Kleine in ihre Arme. Ein dankbarer Blick streifte ihn.

Die Frauen eilten zum Tatort und rissen die Männer mit einem Lamento an Ärmeln und Jacketts auseinander. Das Geschrei wurde allmählich leiser, der Knäuel entwirrte sich. Murrend trotteten die Helden der Langader Beerdigung hinter ihren Frauen her und stiessen verhaltene Drohungen nach links und rechts aus.

Auf dem Weg hinunter nach Ägiali malte sich Marc aus, wie die Männer den Streit auf dem Dorfplatz verbal fortsetzten. «Ich hätte Jorge den Hals umgedreht, wenn Maria nicht dazwischengekommen wäre», plärrte Manolo. «Ich hatte ihn bereits im Schwitzkasten.» «Bravo», pflichtete ihm Vassili bei, «dann hätten wir uns endlich für den alten Ziegenstall bei Stavros rächen können, den uns die hinterhältige Evangelisti-Sippe im Erbstreit von 1875 weggeschnappt hat.»

Der Himmel wurde im Osten bereits dunkelblau, die Farben verblassten. Als Marc den Dorfrand erreichte, leuchtete ihm die Venus entgegen.

7

Marc hütete sein Handy wie ein rohes Ei, nachts legte er es neben das Bett. Den Gitarrenriff, den er als Klingelton für Melis Nummer ausgewählt hatte, schlug immer wieder an, aber nur in seinem Kopf. Er war allein. Sogar der Schlaf flüchtete vor ihm.

Acht Tage nach ihrem Streit hielt er es nicht mehr aus. «Ich weiss, ich hätte mich melden sollen …»

«Ja», sagte Marc bestimmt, «du hast es mir versprochen.»

«… ich habe es einfach nicht geschafft. Es geht mir irgendwie zu nah …»

«Und du bist mir entschieden zu fern. Deshalb möchte ich dich zum Inder einladen. Wir können unsere Geschichte doch nicht wortlos in der Schwebe lassen.»

In der Leitung blieb es stumm. «Am Dienstag?», hakte Marc nach. Nach einigem Zögern willigte Meli ein. Marc liess sich in den Sessel fallen.

Zwei Wörter sind tabu, beschwor er sich auf dem Weg zum Inder. Meditation? Nie gehört. Beat? Wer heisst schon Beat! Er traf eine Viertelstunde zu früh ein.

Wie immer begrüsste er den Affengott Hanuman und den heiligen Stier Nandi, die den Eingang des Restaurants Varanasi bewachten, mit einem leisen Halleluja. Ökumenisches Ritual, nannte er die Begrüssung.

Vidija, der indische Kellner, kam mit ausgestreckten Armen hinter der Theke hervor, als er Marc unter der Tür entdeckte. «Du kommst doch nicht allein?», fragte er und setzte ein Gesicht auf, als wollte er Marc gleich wieder rausschmeissen. Seine Miene verriet, dass er ohne Melanie nur ein halber Gast war, quasi amputiert.

«Eine so schöne Frau gehört auch ein bisschen der Allgemeinheit. Als Kunst an der Menschheit», stellte der Kellner fest. Sein verschmitztes Lächeln gefror ihm aber, als er Marcs Gesichtsausdruck beobachtete.

«Sorry, ich habe mich wohl verhauen», entschuldigte er sich.

«Lass nur. Melanie kommt schon, doch ich befürchte, dass sie momentan etwas mehr der Allgemeinheit gehört, als mir lieb ist.»

Vidija schaute ihn mit grossen Augen an.

«Wir haben Zoff und treffen uns zu einer Aussprache.»

«Das tut mir leid. Ihr seid für mich immer das Paar schlechthin gewesen.»

«Das ruft halt die Konkurrenz auf den Plan», erwiderte Marc.

Der Kellner brachte ihm unaufgefordert ein Mango-Lassi. Wenigstens ging die Welt hier noch ihren gewohnten Lauf.

Er nippte am schmalen hohen Glas und schaute immer wieder auf die Uhr. Seine Stimmung drohte abzusacken.

Als sie unter der Tür erschien, schaute sie sich hastig um.

«Entschuldige, die Strassenbahn …» Ein gequältes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Marc streckte ihr die Arme entgegen, liess sie aber schnell wieder sinken. Meli begrüsste ihn mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange und setzte sich.

Sie schaute auf den Tisch und spielte mit ihren Fingern.

«Entschuldige, ich habe mich wie ein Büffel benommen», sagte Marc.

Meli nickte unmerklich.

«Der Büffel ging durchs Fegefeuer und ist nun ziemlich geläutert,» fügte Marc an.

Sie lächelte gequält.

«Ich möchte mich auf deine geistige Welt einlassen. Du musst mir dabei helfen.»

Meli schaute ihn misstrauisch an.

«Habt ihr schon ausgewählt, oder darf ich euch euer Spezialmenü bringen?», fragte Vidija ungewohnt zurückhaltend.

«Für einmal kein Tandoori», antwortete sie, «ich versuche das Lamm-Curry.»

Marc schluckte leer und blieb beim Tandoori-Chicken.

«Ich befürchte, du unterschätzt deinen Freigeist», gab Melanie zu bedenken. «Und dein Temperament.»

«Gib mir eine Chance», erwiderte Marc.

Meli spielte mit ihrem Glas und unterdrückte ihre Tränen.