Spaziergang im Regen - Alison Barnard - E-Book

Spaziergang im Regen E-Book

Alison Barnard

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Beschreibung

Es ist eine eine einmalige Chance für ihre Karriere: Schauspielerin Shara Quinn soll in einem Film die faszinierende, offen lesbisch lebende Dirigentin Jessa Hanson verkörpern. Während der Vorbereitungen auf die Rolle kommen sich Shara und Jessa unerwartet nah, aber eine Liebesbeziehung zwischen ihnen würde allem widersprechen, was die Welt von ihnen erwartet. Zudem ist Shara doch zweifellos hetero ... oder vielleicht doch nicht?

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Alison Barnard

SPAZIERGANG IM REGEN

Aus dem kanadischen Englisch übersetzt von

Originalausgabe: © 2010 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-000-0

Coverillustration:

Kapitel 1

»Nein, Lisa. Das mache ich nicht mit. Das ist eine fürchterliche Idee.« Jessa Hanson runzelte die Stirn und tigerte verärgert durch den Raum, während sie sprach.

Lisa Guthrie, ihre Agentin, beobachtete sie über den Rand ihrer Brille hinweg und unterdrückte ein Lächeln, weil Jessa manchmal so berechenbar sein konnte. Sie hatte sich gegen die Frühstückstheke in Jessas großzügiger Londoner Loftwohnung gelehnt und sprach in ruhigem Ton zu ihrer Lieblingsklientin: »Im Gegenteil, es ist sogar eine sehr gute Idee. Genauso wie es damals eine gute Idee war, beim Verfassen der Biographie mitzuarbeiten, um so wenigstens ein bisschen Kontrolle zu behalten. Auf diesem Weg können wir am bestem jeder Sensationsheische Einhalt gebieten. Deine Lebensgeschichte ist dramatisch: die erste bekennende Lesbe, die als Musikdirektorin ein bedeutendes Symphonieorchester leitet; eine der jüngsten Musikdirektorinnen eines Orchesters in Nordamerika überhaupt; die erste klassische Musikerin mit einer CD an der Spitze der Pop-Charts; die erste Musikerin, deren Biographie auf beiden Seiten des Atlantiks an Nummer Eins auf den Bestsellerlisten für Sachbücher steht – du bist ein Star.«

»Ich hasse das Wort.« Jessas Stirnrunzeln verwandelte sich in einen finsteren Blick. »Außerdem, abgesehen von der Tatsache, dass ich Musikdirektorin des TSO sein werde, was allerdings auch erst in gut einem Jahr passiert, hatte all das überhaupt nichts mit mir zu tun. Die CD ist nur so hoch in den Pop-Charts, weil ich mit Norah Jones zusammengearbeitet habe.«

»Dein Name und dein Bild waren vorn auf der CD –«

»Noch so eine unsinnige Idee. Ich habe die CD nur produziert und bei einigen Stücken gespielt, weil Norah mal eine andere Richtung ausprobieren wollte. Es hat mir wirklich gut gefallen, gemeinsam mit ihr zu schreiben, aber ich hätte nie mein Einverständnis für das Cover-Foto geben sollen. Das hat doch einen vollkommen falschen Eindruck vermittelt.«

»Jessa, krieg dich ein. Ja, auf dem Foto ist dein Bauchnabel zu sehen, und einige in der Klassik-Gemeinde haben sich den Mund darüber zerrissen. Offensichtlich nehmen sie dich aber trotzdem noch für voll, sonst wärst du für die nächste Saison nicht so ausgebucht. Ganz zu schweigen von dem Zweijahresvertrag mit dem Torontoer Symphonieorchester. Mal ganz im Ernst: habe ich dich in meiner Funktion als deine Managerin jemals gebeten etwas zu tun, was sich dann als schlecht für deine Karriere herausstellte?«

Jessa schaute betreten zu Boden. Lisa war ja so viel mehr als nur eine Managerin. Je nach Bedarf war sie große Schwester, Ersatzmutter, Agentin und sogar Finanzberaterin. Inzwischen wurde sie zwar dafür entsprechend gut entlohnt, aber das war nicht immer so gewesen, und Jessa verdankte ihr mehr als irgendeinem anderen Menschen in ihrem Leben. Allerdings erwähnte Lisa nie all diese persönlichen Dinge, die sie für Jessa getan hatte, sondern erinnerte sie lediglich, wie auch jetzt wieder, an berufliche Entscheidungen, und auch dann nur, wenn sie der Meinung war, dass Jessa unvernünftig auf einen ihrer Vorschläge reagierte.

»Nein«, gab Jessa seufzend zu. »Du hast zwar einige verrückte Entscheidungen getroffen, über die Richtung, in die ich meine Karriere entwickeln sollte, aber die haben sich alle als vorausschauend erwiesen. Und wenn du meinst, dass ich die künstlerische Kontrolle über die Verfilmung meiner Lebensgeschichte behalten soll, dann liegst du da wahrscheinlich wieder richtig. Mir widerstrebt aber die Art und Weise, wie ich das machen soll. Die nächsten zwei Monate werden arbeitsreich und stressig: eine Woche in New York, dann eine Woche in Toronto – und dort nicht nur Dirigieren, sondern auch die Öffentlichkeitsarbeit anlässlich der Bekanntmachung meiner Berufung –, dann eine Woche Berlin und dann zurück nach London. Ich brauche da wirklich nicht noch zusätzlichen Stress durch eine selbstsüchtige Schauspielerin, die mir überallhin folgt und mich ständig von dem ablenkt, auf das ich mich konzentrieren muss!« Jessas Stimme war im Verlauf des letzten Satzes immer lauter geworden und hatte einen wehleidigen Quengelton angenommen.

»Jessa, du weißt doch gar nicht, ob sie selbstsüchtig –«

»Sie ist eine Schauspielerin! Und noch dazu erfolgreich! Hast du schon mal von einer erfolgreichen Schauspielerin gehört, die nicht selbstsüchtig ist und – in einer fast kranken Zweiteilung – außerdem Angst davor hat, sie selbst zu sein? Sich berufsmäßig ständig für jemand anderen auszugeben, kann doch nicht gesund sein!«

»Du kennst Shara doch gar nicht. Sie ist emotional stabil, und ihr Leben ist nicht ihre Arbeit. Sie ist nicht mit ihrer Karriere gleichzusetzen.«

»Ach, jetzt ist es schon ›Shara‹? Woher weißt du denn so viel darüber, wie sie so ist?«

»Weil ich sie schon ein paarmal getroffen habe.«

»Oh.« Jessa wandte sich ab, aber Lisa konnte zuvor noch den Schmerz auf ihrem Gesicht sehen.

Wenn Jessa sich inmitten von anderen Musikern und Partituren befand, dann war sie äußerst selbstsicher. Aber ihr Innerstes war von Unsicherheit beherrscht, seit sie im jungen Alter von sechzehn Jahren von ihren Eltern im Stich gelassen worden war. Danach hatte sie zwar gelernt, sich durchzuschlagen und sich nach außen hin hart zu geben, aber selbst bei den Menschen, denen sie erlaubte, ihr nahe zu kommen, lag sie immer auf der Lauer, um die ersten Hinweise auf einen möglichen Verrat nicht zu übersehen.

»Jessa, ich würde dich nie darum bitten, mehrere Wochen – noch dazu so entscheidende – mit einer Person zu verbringen, die schlecht für dich sein könnte. Außerdem konnte ich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, auf diesen Film Einfluss zu nehmen. Um dir eine gute Managerin – und eine gute Freundin – sein zu können, musste ich mich einfach mit Shara Quinn treffen. Ich wollte sehen, ob sie die Art Person ist, die es wert ist, dass du deine Zeit auf sie verwendest, und ob Du ihr erlauben solltest zu beobachten, wie es ist, du zu sein. Sie hat schon mal mit dem Regisseur gearbeitet, und er hat den Ruf, seinen Schauspielern Mitsprache bei seinen Projekten zu gewähren, besonders solchen Schauspielern, deren Urteil er vertraut. Wenn du Shara erlaubst, einen ungeschminkten Blick auf dein Leben und deine Karriere zu werfen, könnte das den entscheidenden Unterschied machen. Allerdings nur, wenn sie intelligent und aufmerksam genug ist, um über den Zauber und die Belastung hinwegzusehen, die mit deinem Terminplan einhergehen. Nachdem ich mit ihr mehrere Male und für längere Zeit gesprochen habe, kann ich dir ohne Vorbehalte versichern, dass sie es in der Tat wert ist.«

»Wie oft hast du sie denn getroffen?« Jessa war beunruhigt, dass Lisa von mehreren Malen gesprochen hatte, da sie berüchtigt dafür war, Leute sehr schnell und genau einzuschätzen. Sie fragte sich, ob Lisa vielleicht anfänglich Bedenken gegen diese Frau gehabt hatte, was kein gutes Zeichen wäre.

»Dreimal.«

Jessa hob fragend ihre Augenbrauen.

»Das erste Mal haben wir uns mittags zum Essen getroffen, zusammen mit ihrem Partner, einem Mann namens Derek Finch, der genauso aufmerksamkeitsbedürftig ist wie ein kleines Kind. In seiner Gegenwart war es unmöglich, mehr zu besprechen als eine grobe Skizze dessen, was sie vorhat, zumal er überhaupt nicht davon begeistert war, dass sie sechs Wochen lang unterwegs sein würde. Also bat sie mich um ein weiteres Treffen. Beim nächsten Mal aßen wir in meinem Büro zu Mittag, und sie sprach eine Gegeneinladung zu sich nach Hause aus, zum Abendessen. Weil wir uns wirklich gut verstanden, nahm ich an.«

»Und jetzt? Geht ihr jetzt fest miteinander?« Jessa war sauer, und sie wusste, dass ihre Eifersucht übertrieben war, aber Lisa war berüchtigt für ihre Ungeselligkeit. Sie musste so viele Geschäftsessen über sich ergehen lassen, dass sie sehr darauf achtete, ihre freie Zeit mit ihrem Partner und ihrer Familie zu verbringen. Dieses Gefühl der Geschwisterrivalität, das Jessa in bezug auf die unbekannte Schauspielerin verspürte, die es geschafft hatte, Lisa zu einem privaten Abendessen zu ködern, war kindisch und traurig, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.

»Jessa, sei nicht albern. Hetero Frauen gehen nicht ›fest miteinander‹, wir haben Essen unter Freunden.«

»Bist du sicher, dass sie hetero ist? Erinnerst du dich an die Mode-Designerin, die wollte, dass ich ihre Hemden trage, und die dann bei der Anprobe wortwörtlich die Gelegenheit ergriff –?«

»Jessa, sie ist hetero. Ich habe ihren Partner getroffen. Das ist übrigens zum Teil der Grund, warum sie dies tun will und in deiner Welt leben möchte. Ihre beste Freundin ist zwar lesbisch aber eine Privatperson. Shara möchte gern den zusätzlichen Druck verstehen, den die Berühmtheit und das Lesbischsein auf dein Leben als Musikerin, Komponistin und Dirigentin ausübt.«

»Ich bin keine Berühmtheit – nicht in demselben Ausmaß wie sie. Ich werde nicht unerlaubt für Klatschmagazine in meiner Unterwäsche fotografiert, und ich gehe auch nicht auf Filmpremieren.«

»Stimmt, aber du kannst auch nicht einfach in einer Flughafen-Lounge auf deinen Abflug warten, im Kaufhaus einkaufen gehen oder als gewöhnliche Zuhörerin ein klassisches Konzert besuchen, ohne einen Tumult zu verursachen.«

»Stimmt, aber doch nicht, weil ich eine Lesbe bin. Sie muss das Ganze doch zehnmal so schlimm kennen, also muss sie dafür keine Zeit mit mir verbringen. Die Beweisaufnahme ist damit abgeschlossen.«

»Jessa, es geht doch nicht nur um dein Lesbischsein, sondern auch um deinen Terminkalender: Reisen, Proben, Öffentlichkeitsarbeit, gesellschaftliche Verpflichtungen und Aufnahmen. Sie möchte alle diese Dinge zusammen mit dir erleben, anstatt sich nur vorzustellen, wie es ist.«

Jessa seufzte. »Wie soll das denn praktisch funktionieren? Sie bucht ein Hotelzimmer, wo immer ich auch bin, und dann muss ich mich vom Frühstück an mit ihr herumschlagen?«

Zum ersten Mal schaute Lisa unbehaglich drein. »Nicht so ganz.«

Jessa kniff die Brauen zusammen. Sie ahnte, dass ihr Lisas Antwort nicht gefallen würde. »Also, wie denn dann, so ganz?«

»Sie wird bei dir wohnen –«

»Nein! Auf keinen Fall. Mein Wohnraum ist für meine Arbeitsweise äußerst wichtig. Ich kann mich nicht auf meine Übungen, aufs Schreiben oder Lesen konzentrieren, während eine verwöhnte Egomanin sich die Nägel lackiert und herumnörgelt. Nie im Leben.«

»Jessa, es geht aber doch nur so. Es wird auch nicht so schwierig werden. In New York wohnst du in Stephans Loft, und der ist riesig und hat zwei Schlafzimmer. In Toronto haben sie dir ein Penthaus gemietet, in dem es auch zwei Schlafzimmer gibt, und in Berlin bist du in der Gästewohnung in der Meinekestraße untergebracht – und da werdet ihr euch ganz sicher auch nicht gegenseitig auf die Zehen treten.«

»Lisa, ich schreibe mitten in der Nacht und dulde dabei keine Ablenkungen. Die meisten Menschen, bei denen es sich nicht mal um verwöhnte Schauspielerinnen handelt, können es nicht aushalten, dieselben sechs Takte immer wieder auf einem Klavier vorgespielt zu bekommen, während ich die letzten Macken aus einer Komposition herausarbeite – vor allem nicht um zwei oder drei Uhr morgens!«

»Genau das ist es doch, was sie wissen muss, wenn sie dich in einem Film spielen soll.«

»Die ganze Idee ist total lächerlich.«

»Der Film wird dadurch stimmiger werden.«

»Ich meinte, die Idee einen Film zu drehen, das ist lächerlich. Ich lebe doch noch, zum Teufel. Wenn die Leute wissen wollen, wie ich bin, dann können sie zu einer Vorstellung kommen; ich bin in dieser Saison wirklich ausgesprochen erreichbar – außer sie leben zufällig in Asien. Nächsten Februar bin ich sogar in Argentinien. Und wenn sie mehr über mich erfahren wollen, dann können sie das Programm durchlesen. In diesem verfluchten Buch steht mehr über mich, als mir lieb ist.«

»Aber die meisten Leute lesen nicht.«

»Und genau da liegt heutzutage die Welt im Argen«, spottete Jessa. »Uns ist doch beiden klar, dass mein Leben einfach nicht interessant genug ist, um irgendwen im dunklen Kino am Einschlafen zu hindern.«

»Es sei denn, sie sind von Shara Quinn gefesselt«, scherzte Lisa.

»Und das ja auch noch: Die Frau könnte mir nicht unähnlicher sein, wenn sie’s versuchte! Ich habe sie im Fernsehen gesehen: Sie ist zierlich, hat lange Haare und graue Augen.«

»Sie sind grünbraun – aber darum geht’s ja gar nicht. Sie ist eine Schauspielerin. Ihr Haar wird für die Rolle geschnitten, und sie freut sich schon richtig darauf, einen Frack zu tragen, und auch darauf, dass die Aufnahmewinkel sie größer erscheinen lassen, als sie ist.«

»Oh Gott. Sechs Wochen zusammen mit einer Schauspielerin. Weiß sie überhaupt, was ich mache? Hat sie schon mal eine Symphonie gehört?«

Jetzt war es an Lisa zu seufzen. »Jessa, du musst wirklich deine Vorurteile überwinden. Sie mag symphonische Musik aus der Klassik, zieht aber Kammermusik den Werken vor, die für ein großes Orchester geschrieben wurden – allerdings mag sie Oper am liebsten. Glaubst du wirklich, dass ich dich darum bitten würde, mit einer Person zu leben, die sich nichts aus Musik macht?«

»Ich hatte nicht gedacht, dass du mich bitten würdest, mit überhaupt jemandem zusammenzuleben«, antwortete Jessa leise.

»Sie ist nicht Stephanie. Sie will auch nicht Stephanie sein. Sie ist eine nette Frau, die eine gute Arbeit abliefern will. Vielleicht musst du mal mit einer Person leben, sei es auch nur freundschaftlich, die dich daran erinnert, dass Gesellschaft nicht immer mit einem hohen Preisschild verbunden ist.«

»Ich will keine neuen Freundschaften.« Jessas letzter Einwand klang lahm, sogar für ihre eigenen Ohren.

»Vielleicht ist das der beste Umstand, eine neue zu gewinnen«, entgegnete Lisa standhaft. »Jetzt muss ich aber los. Ich habe eine Besprechung mit einem Filmproduzenten. Er will für seinen Film das Stück benutzen, das du letzten Winter geschrieben hast. Das könnte sich zu einem richtig großen Projekt für dich entwickeln, und du hast da doch die Lücke nächstes Jahr, zwischen Buenos Aires und Toronto.«

»Das nennt sich Urlaub«, erwiderte Jessa ironisch. »Du solltest das mal versuchen. Ich meine das ernst, weißt du.«

»Was?« fragte Lisa unschuldig.

»Alles. Du solltest weniger arbeiten; ich hätte gern nächstes Frühjahr frei, weil ich im Herbst für meine erste feste Stelle nach Kanada ziehe; und, das ist ganz wichtig, wenn sich herausstellt, dass deine Schauspielerin eine Nervensäge ist, oder dass sie mir irgendwie bei meiner Arbeit in die Quere kommt, dann schmeiße ich sie im hohen Bogen raus.«

»Ist das alles?« Lisa hob fragend eine Augenbraue.

»Nein, das ist noch nicht alles.« Jessa ging zu ihr hinüber und umarmte sie. »Danke. Ich weiß, dass du nur das Beste für mich willst, und du bist die einzige Person in meinem Leben, die das immer ehrlich gemeint hat.«

Lisa drückte Jessa an sich. »Das ist sehr gern geschehen, Jessa«, sagte sie mit erstickter Stimme. Sie wusste, dass Jessa nicht bemerkt hatte, wie deutlich in ihrer Aussage Einsamkeit und Erfahrung mit Verrat mitgeschwungen hatten – in dieser Aussage einer erst Dreiunddreißigjährigen.

Kapitel 2

Shara Quinn legte den Taktstock beiseite und bewegte ihre Schultern, um die verkrampften Muskeln zu lockern, während der zweite Satz von Beethovens Fünfter Symphonie ohne sie begann. André Previn leistete auch weiterhin ausgezeichnete Arbeit auf der CD, und die Royal Philharmoniker bemerkten ihre Abwesenheit nicht.

Dieses Werk war nicht in Jessa Hansons Standardrepertoire, und Shara würde es sicher nicht im Film dirigieren müssen. Ein befreundeter Musiker hatte es ihr aber trotzdem als gute Übung empfohlen, da das Tempo durchgehend einfacher zu verfolgen war als in Holsts Planeten oder in einem der anderen Werke aus Jessas berühmten Aufnahmen. »Damit wirst du die Technik deiner rechten Hand so verbessern, dass du nicht mehr über das Tempo nachdenken musst und dich auf alles andere konzentrieren kannst«, hatte Julian ihr mit beruhigender Stimme versichert.

Shara konnte nur daran denken, dass sich das, was sie sich als den spaßigen Teil des Unterfangens vorgestellt hatte – männliche Kleidung zu tragen und einen Taktstock zu schwingen –, als weitaus größere Herausforderung entpuppte, als meisterhafte Klavierdarbietungen zu imitieren. Sie spielte Klavier und konnte auch auf der Geige einfache Stücke bewältigen, ohne allzu viele Fehler zu machen, zumal sie mehrere Monate lang intensiv geübt hatte, um beim Vorsprechen für die Rolle einen Vorteil zu haben.

Es war von vornherein klar, dass ihr Aussehen ihr eher dabei im Wege stehen würde, die Hauptrolle in Peter Garofolos neuem Film zu bekommen. Aber seit sie die Gerüchte gehört hatte, dass die Filmrechte zu Jessa Hansons Biographie vergeben worden waren, hatte sie Privatstunden genommen und damit begonnen, ihre Fähigkeiten auszubauen, weil sie noch nie zuvor eine Rolle dermaßen gewollt hatte.

Sie bezweifelte, dass irgendeine Schauspielerin so wie Jessa Hanson acht Instrumente beherrschte. Sie selbst aber war sehr gut am Klavier und spielte recht leidlich Geige und Gitarre, und das wollte sie nutzen, so gut sie konnte.

Sie hatte auch mit einer Sprachtrainerin daran gearbeitet, vorübergehend ihren irischen Akzent auszumerzen, der ihr damals zum Durchbruch in Hollywood verholfen hatte. Den Erfolg ihrer ersten großen Rolle und die Oskar-Nominierung hatte sie ihrer Glaubwürdigkeit zu verdanken, und nun hoffte sie, dass sie es mit Glaubwürdigkeit auf musikalischer Ebene wiederholen könnte.

Sie seufzte und schaltete die Musik ab. Sie musste etwas gegen die Muskelverspannung tun, also zog sie sich Shorts, T-Shirt und Turnschuhe an und begann auf ihrem Heimtrainer zu joggen.

Sie ärgerte sich über die Tatsache, dass sie inzwischen öfter auf ihrem Heimtrainer lief als im Freien, aber sie hasste es, wenn sie beim Joggen erkannt wurde. Drinnen zu laufen war zwar nur halb so gut wie draußen, aber es war immerhin besser, als angestarrt oder, noch schlimmer, beim Jogging angehalten zu werden.

Sie konnte es kaum abwarten, den Mietvertrag für ihr Haus in den Hügeln von Hollywood zu kündigen und zurück nach London zu gehen, obwohl Derek hier so glücklich war. Er hatte seine Gärtnerei verkauft, um bei ihr zu sein und auch, weil er diese Einkommensquelle gar nicht brauchte, aber seine andauernde Gegenwart begann an ihren Nerven zu zerren. Als sie vor einem Monat für drei Wochen in London gewesen war, um sich mit Jessas Agentin zu treffen, die ihr Zugang zur Hauptperson des Films verschaffen wollte, hatte er sich selbst eingeladen und die ganze Zeit über wie ein totaler Idiot benommen.

Sie musste sich wirklich etwas wegen ihm einfallen lassen, aber er bot Gesellschaft und Sex, wenn sie es brauchte, und er wollte nicht mehr von ihr, als er auch von einer unbekannten Privatperson mit einem durchschnittlichen Gehalt gewollt hätte. Ihr war bewusst, dass dies fürchterliche Gründe waren, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten, aber sie verabscheute den Gedanken, allein zu sein und nach einem neuen Partner suchen zu müssen.

»Hallöchen Schatzi.«

Als hätten ihre negativen Gedanken ihn herbeigezaubert, stand Derek plötzlich in der Tür zum Fitnessraum. Sein Haar fiel jungenhaft über seine Stirn, und sein schlanker Körper steckte in einer lässigen Jeans und einem fast durchsichtigen, weißen Hemd. Er war barfuß und hielt zwei seiner gesunden Joghurtshakes in den Händen. »Ich dachte, ich mache dir was Nettes als Belohnung fürs Training.«

»Danke«, sagte Shara. In einem Zug trank sie den Rest des Mineralwassers, das sie aus dem kleinen Kühlschrank in der Ecke des Zimmers genommen hatte, und nahm den Shake entgegen. »Was hast du heute vor?« Dereks berufliche Untätigkeit faszinierte sie, obwohl sie eine angeborene Abneigung gegen Menschen hatte, die nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten.

Dereks Freunde in England und die kleine Clique, in der er sich hier bewegte, würden ihre Einstellung ohne Zweifel kleinbürgerlich und langweilig finden. Sie waren nicht berühmt, aber sie waren reich – die Kinder und Enkel von Hollywood-Legenden und einflussreichen Großanlegern, die ihre Bekannten danach bemaßen, welcher Tisch ihnen im jeweiligen In-Lokal zugewiesen wurde.

»Brent fährt die Küste hoch, um sich mit einer Künstlerin zu treffen, deren Ausstellung er finanziert.«

Shara vermutete, dass Brent Heywoods unrentable Galerie in Venice Beach nur dazu diente, Vernissagen zu veranstalten, über die dann Leute mit Namen wie Tiffany, Tory oder Justin schwärmen konnten, in ebenso unrentablen Zeitschriften mit exklusiver Kleinauflage. Von der Kunstwelt jedenfalls wurden diese Ausstellungen regelmäßig ignoriert.

Diese Kunstmäzene, Avantgarde-Journalisten und die Künstler selbst schienen Teil einer südkalifornischen Elite, einer Schickeria mit Treuhandfonds. Derek kam zwar aus einem anderen Land, hatte sich aber erschreckend einfach und nahtlos in diese Szene eingefügt.

Shara nahm an, dass die ›Fahrt die Küste hoch‹ an einem Haus am Strand endete, das den Eltern der Künstlerin gehörte. Dort würden Brent, Derek und mindestens ein makellos gebräuntes weibliches Wesen Champagner schlürfen oder sich ein paar illegale Drogen gönnen. Im Hintergrund würde das Demo einer unbekannten Band dudeln, das von einem Mäzen wie Brent bezahlt und in einem kleinen, unbedeutenden Hochglanz-Musikjournal – herausgegeben von einem Bekannten Brents – in die Höhe gelobt worden war.

Derek würde erst kurz vorm Abendessen nach Hause kommen, ausgelaugt und in sich gekehrt oder aufgekratzt, redselig und geil – je nach Droge und Gesellschaft.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Derek attraktiv auf die Frauen wirkte, mit denen er gesellschaftlich verkehrte, aber Shara war sich sicher, dass er sie nie betrog. Derek liebte sie, also versuchte sie, sich dafür dankbar zu zeigen, anstatt über die Leere nachzudenken, die sie manchmal in ihrer Beziehung wahrnahm.

Sie war überzeugt davon, dass sie einfach nicht für Beziehungen gemacht war, denn alle bisherigen hatten sich durch die gleiche Rastlosigkeit ausgezeichnet. Zumindest war Derek die Art Person, die sie sich ausgedacht hätte – wenn sie es denn gemusst hätte –, um ihre eigene Persönlichkeit zu ergänzen. Er war gelassen, sie intensiv, er mochte körperlich anspruchsvolle Aktivitäten, wohingegen sie hochgeistige Dinge bevorzugte. Er liebte es, sie im Scheinwerferlicht über den roten Teppich zu führen, und sie verabscheute diesen Aspekt ihres Berufes. Er dachte nicht viel darüber nach, wie er in Erscheinung trat, und sie war völlig paranoid, wenn es darum ging, wie sie sich in der Öffentlichkeit zeigte. Arbeit war für ihn etwas, was man tat, weil man es tun musste, sie aber neigte dazu, sich vollkommen darauf zu konzentrieren und alles andere zu vernachlässigen. Er ging auf die Menschen zu und liebte Geselligkeit, während Shara es prinzipiell vorzog, zu Hause zu bleiben, bei einem guten Buch und guter Musik. Je nach Tag wirkten ihre Unterschiede entweder ausgleichend oder führten zu fast unerträglichen Querelen.

»Und du?« fragte Derek. »Hast du irgendwas vor? Du kannst gern mit uns fahren, wenn du keine Pläne hast.«

Shara überkam für einen Moment Panik, aber dann fiel ihr ein, dass sie eine legitime Ausrede hatte. »Danke, Schatz, aber ich muss mich weiter auf meine neue Rolle vorbereiten. Heute Nachmittag habe ich Klavierstunden, und danach werde ich wahrscheinlich ein paar DVDs von Barenboim und Karajan anschauen.«

»Ist es nicht genug, dass du volle sechs Wochen darauf verwendest, dieser Frau hinterherzulaufen? Wie schwierig kann das schon sein, eine Lesbe zu spielen, die sich bei der Arbeit in Männerklamotten verkleidet?«

Shara presste die Lippen aufeinander, und ihre Nasenflügel bebten. Derek verachtete ihre Arbeit oft, aber für gewöhnlich konnte er es besser verbergen. Mit Mühe unterdrückte sie den Impuls, ihn anzuschnauzen. »Ich werde eine Person verkörpern, die unter den Lebenden weilt, und die noch nicht einmal den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht hat. Ich will der Rolle gerecht werden, und ich will mit meiner Darstellung Respekt für die Frau zum Ausdruck bringen, die zu sein ich vorgeben werde. Das bedeutet Musiktraining und ein Verständnis für ihr Leben zu bekommen. All das nimmt eine Menge Zeit in Anspruch, aber es ist eine Ehre, diese Gelegenheit zu bekommen, und ich will so perfekt wie möglich sein.«

»Mit einem Wort gesagt: dein Lebensmotto, nicht wahr, Shara? So perfekt wie nur möglich zu sein?«

»Höre ich da Kritik?«

»Nein, nicht wirklich. Aber das ist ein ziemlich dicker Brocken für gewöhnlich Sterbliche.«

»Derek, ich gebe mir alle Mühe, mich auf eine Rolle vorzubereiten, die mir viel abverlangt. Habe ich dich je um mehr gebeten, als zu verstehen, warum ich für eine Weile fort muss?«

»Eine Weile? Du bist ganze sechs Wochen lang weg! Und, soweit ich das recht verstehe, wirst du in der Zeit mit einer Lesbe leben.«

»Du weißt ganz genau, dass ich nur im rein praktischen Sinn mit ihr leben werde. Ich möchte Einsicht in ihre Gewohnheiten und Belastungen bekommen und verstehen, welchen Einfluss das auf ihre Gefühle hat. Verschlossen wie sie ist, grenzt es an ein Wunder, dass sie dem zugestimmt hat, denn es bereitet ihr mit Sicherheit einige Unannehmlichkeiten.«

»Na, da bin ich aber froh, dass du dir wenigstens um ihre Unannehmlichkeiten Gedanken machst. Ich kann mich nämlich nicht erinnern, dass du meine bedacht hast, bevor du diese Rolle übernahmst.«

»Ist es das, was dich so wurmt? Dass ich vor dem Vorsprechen nicht deine Erlaubnis eingeholt habe? Für eine Rolle, von der ich fasziniert bin, seit ich die Biographie gelesen habe, die als Vorlage für den Film dient? Wann hast du jemals Interesse für meine Karriere gezeigt, dass ich ermutigt wäre, meine zukünftigen Rollen mit dir zu besprechen? Ich lasse mich gern eines Besseren belehren, aber jedesmal, wenn ich mit dir über Drehbücher spreche, die ich gerade durchlese, scheinst du dich gedanklich zu verabschieden.«

Derek schaute leicht betreten; offensichtlich hatte er angenommen, seine Langeweile besser überspielt zu haben. »Hör mal, ich sage ja nur, dass eine sechswöchige Abwesenheit etwas ist, das wir vorher hätten besprechen sollen.«

»In diesen sechs Wochen kannst du mich besuchen, sooft du willst. Du kannst nicht über Nacht bei mir bleiben, aber soweit ich es richtig verstanden habe, übt die gute Frau täglich zwei Stunden Klavier, verwendet Zeit aufs Komponieren und probt jeden Wochentag zwischen zwei und vier Stunden mit dem Orchester; außerdem hat sie zwei Konzerte pro Woche. Es ist also nicht so, als hätte ich keine freie Stunde. Willst du wirklich eine Frau, die um deine Erlaubnis bittet, bevor sie eine Reise arrangiert? Wir sind jetzt seit fünf Jahren zusammen, und das habe ich noch nie so gemacht.«

»Vielleicht liegt es ja daran. Vielleicht würdest du dich mehr mit mir verbunden fühlen und mehr mit mir besprechen, wenn unsere Beziehung offizieller wäre.«

Shara runzelte die Stirn in sichtbarer Verwirrung. »Derek, worauf willst du jetzt hinaus?«

»Ich will darauf hinaus, dass du vielleicht überlegen würdest, welchen Einfluss deine Karriere auf mein Leben hat, wenn wir verheiratet wären. Du wärst dann meine Frau und nicht mehr nur meine Freundin.«

»Ich bin eine Schauspielerin. Ich war bereits eine Schauspielerin, als wir uns kennenlernten. Der Großteil meiner Arbeit sind Filme, und das bedeutet wochen- oder gar monatelange Aufenthalte an einem Drehort. Selbst als ich Gastrollen im Fernsehen übernahm, wusstest du und warst damit einverstanden, dass sie auf beiden Seiten des Atlantiks sein könnten. Wann hat das alles denn angefangen, problematisch für dich zu sein?«

»Ich bin jetzt zweiunddreißig. Als wir letzten Monat zu Hause waren, ist mir klargeworden, dass die meisten meiner Freunde inzwischen ein geregeltes Leben und eine Familie haben. Selbst hier drüben bleiben die Leute nicht auf der Stelle stehen. Wusstest du, dass Brent und Soraya sich verlobt haben? Das alles und auch all die Andeutungen, die meine Eltern schon seit Jahren machen, haben mich nachdenklich gemacht.«

Shara setzte das Glas mit dem Joghurtshake ab; ihr war plötzlich leicht übel. »Aha, deine Freunde heiraten oder haben Kinder, und folglich sollten wir das Gleiche tun. Danach sollte ich dir dann fortan alle Entscheidungen bezüglich meiner Karriere zur Billigung unterbreiten. Habe ich irgendwas vergessen?«

»Du verdrehst mir die Worte im Mund. Das habe ich so nicht gemeint.«

»Dann sag mir, wie du’s gemeint hast, Derek. Wir leben jetzt seit gut vier Jahren zusammen; ich dachte, wir wären einigermaßen glücklich. Alles läuft gut, und meine Karriere hat stärker eingeschlagen, als jeder angenommen und ich es je zu hoffen gewagt hatte. Und jetzt regst du dich plötzlich über etwas auf, was ich als eine riesige Chance für meine Karriere sehe. Und es ist ein Problem für dich, dass ich nur deine Freundin bin, wenn doch all deine Freunde Verlobte oder Ehefrauen haben.«

»Ich will nicht mit dir darüber streiten. Ich meine ja nur, dass es an der Zeit ist, unsere Beziehung einen Schritt weiter zu bringen.«

Shara schüttelte ungläubig den Kopf. »Ist das jetzt ein Heiratsantrag?«

»Ja, ich nehme an, dass es das ist. Ich will, dass wir verheiratet sind, Shara, und miteinander umgehen wie verheiratete Leute . . . und auch ein paar Kinder haben. Du wärst eine großartige Mutter.«

Shara spürte, wie der halb-verdaute Shake seinen Weg nach oben suchte, und zwang sich, tief durchzuatmen. »Ich kann das jetzt nicht besprechen. Ich bin gerade eine ungeheure Verpflichtung eingegangen und habe zuvor Monate investiert, um mir die Gelegenheit dazu zu erarbeiten. Wenn du jetzt von mir verlangst, mich umzuorientieren und alles rückgängig zu machen, für das ich gearbeitet habe, dann muss ich dir klipp und klar sagen, dass ich das nicht kann.«

»Es muss ja nicht sofort sein, aber du hast doch nicht etwa angenommen, dass wir auf unbestimmte Zeit einfach so weitermachen können?«

Um ehrlich zu sein, doch. »Können wir das weiter besprechen, wenn ich aus London zurückkomme? Gedulde dich bitte bis dahin. Diese Rolle bedeutet mir wirklich sehr viel.«

»Shara, ich habe dich gerade gebeten, mich zu heiraten.«

»Ich weiß«, sagte sie unglücklich und eilte an ihm vorbei aus dem Zimmer.

Kapitel 3

Shara konnte kaum glauben, wie nervös sie war, als sie auf den Eingang des umgebauten Lagerhauses zuging. Sie hatte gedacht, Jessa hätte eine piekfeine Wohnung in Mayfair oder eine Villa in Highgate. Deshalb war sie erstaunt, als der Taxifahrer vor einem Wohnblock in Clerkenwell anhielt, nördlich des Stadtbezirks der City of London und nahe dem Sitz des Londoner Symphonieorchesters im Barbican Centre. In diesem weitläufigen Kulturzentrum fanden das ganze Jahr über auch andere Kunst-, Film- und Musikveranstaltungen statt, aber obwohl die Gegend sehr beliebt war bei Bankiers, Börsenmaklern und anderen Büroarbeitern, war sie eher praktisch als renommiert. Daran änderten auch die Schickimicki-Restaurants und Galerien nichts, die in den vergangenen zehn Jahren aus dem Boden geschossen waren.

Shara war – wie wahrscheinlich die meisten Leute – davon ausgegangen, dass Operndiven und weltbekannte Dirigenten in reinem Luxus lebten und ihre formelle Kleidung selbst zum Frühstück trugen. Aber dann dachte sie, dass Leute sicher ähnliches auch von Schauspielerinnen annahmen, die sie nur dann außerhalb einer Rolle sahen, wenn sie in einer Talk-Show oder bei einer Filmpremiere erschienen – und das war natürlich auch vollkommen absurd. Da sie persönlich es zum Beispiel selbstverständlich fand, für sich selbst zu kochen, hätte es sie auch nicht überraschen sollen, dass Jessa Hanson es bevorzugte, in einem unauffälligen Gebäude zu wohnen, dessen einziges hervorstechendes Merkmal die raumhohen Fenster waren, die die rote Backsteinfassade dominierten.

Sie ging zögerlich auf die Empfangstheke zu, nachdem sie zweifelsohne bereits die Aufmerksamkeit des Mannes dahinter auf sich gezogen hatte, weil sie draußen mehrere Minuten lang herumgelungert hatte. Sie hatte keine Bedenken erkannt zu werden, weil sie ihrem üblichen Filmstar-Image so unähnlich sah, wie Jessas Wohnung einer Villa in Mayfair. »Guten Tag. Ich möchte bitte zu Jessa Hanson?« Sie hörte die Unsicherheit in ihrer eigenen Stimme.

Der Portier bemühte sich nicht sehr, sein Misstrauen zu verbergen, und betrachtete sie flüchtig.

Sharas dunkelgefärbte Haare waren geschnitten wie eine Zobelmütze, die weich hin und her wiegte, wenn sie sich bewegte. Die leicht getönte Armani-Sonnenbrille verbarg ihre charakteristischen grünbraunen Augen, und ihr einziges Make-up war das klare Lipgloss, das die sanfte Fülle ihrer Lippen betonte. Sie trug auch ungezwungenere Kleidung als bei öffentlichen Auftritten, eine auf den Hüften sitzende Jeans mit einem breiten, schwarzen Gürtel und Zehensandalen mit sieben Zentimeter hohen Absätzen. Sie hatte an diesem warmen Tag keine Jacke an, nur ein enganliegendes Oberteil aus dünnem, weißen Baumwollstoff, in dem ihr Körper von den Ellenbogen bis zum Schlüsselbein deutlich abgezeichnet war und dessen weiter Ausschnitt die Sicht auf die makellose Haut ihres Halses freigab und auf das goldene Kreuz, das an einer dünnen Goldkette hing, und das sie immer trug, wenn sie nicht arbeitete.

Das Oberteil schmiegte sich an ihre Brüste und ihren flachen Bauch und endete knapp oberhalb ihres Nabels, um den kleinen, silbernen Ring zu offenbaren, der die Haut darüber durchstach und im Schein der Lampen der Eingangshalle glitzerte. Über einer Schulter trug sie eine riesige Handtasche.

Shara wusste, dass sie jünger aussah als neunundzwanzig und wurde leicht rot, weil sie sich angesichts der Reaktion des Portiers nun fragte, ob Jessa Hanson weibliche Groupies hatte, die regelmäßig versuchten, unerlaubten Zutritt zu ihrer Wohnung zu bekommen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, erläuterte der Portier nun höflich: »Guten Tag, gnädige Frau. Ich fürchte, alle Besuche müssen angekündigt werden. Nennen Sie mir bitte Ihren Namen und die Nummer von Frau Hansons Wohnung?«

»Shara Quinn und es ist Wohnung Nummer Sieben.« Shara wusste, dass sie leicht überheblich klang, aber das war nur eine Abwehrreaktion gegen die Verlegenheit, fälschlicherweise für jemanden gehalten zu werden, der anderen Leuten nachstellte.

»Oh. Aber sicher doch.« Nun schaute der stämmige Portier etwas verlegen drein, aber Shara war nicht sicher, ob es daran lag, dass er ihren Namen erkannt hatte, oder weil ihm nun seine vorherige Haltung einer von Jessas Besucherinnen gegenüber bewusst wurde. »Ich werde anrufen und Sie ankündigen.« Er nahm das Telefon, das sich in den Tiefen der Theke versteckt gehalten hatte, und sagte: »Frau Shara Quinn ist hier.« Er lauschte ein paar Sekunden der Stimme im Hörer und fügte dann hinzu: »Aber ja, sofort, Frau Hanson.« Nun die Verkörperung berufsmäßiger Diskretion wandte er sich wieder Shara zu. »Wenn Sie bitte durch die Tür zu Ihrer Rechten gehen, Frau Quinn, dann sehen Sie die Aufzüge gleich direkt vor sich. Fahren Sie bis zum Penthaus hoch, wo Frau Hanson Sie bereits erwartet.«

»Vielen Dank«, sagte Shara und ging auf die Tür zu, die sie bislang nicht bemerkt hatte. Sie hörte ein leises Klicken, als der Portier einen Schalter betätigte, um die Tür zu öffnen, und Shara erkannte, dass das Gebäude viel besser gesichert war, als es den Eindruck machte.

Auf der kurzen, stillen Fahrt zur vierten Etage fühlte sie, wie sie immer nervöser wurde; sie betrachtete sich kritisch in dem leicht getönten Spiegel, der die gesamte Rückwand des geräumigen Aufzugs einnahm. Auf einmal fühlte sie sich nackt, so fast ungeschminkt und ohne die üblicherweise viel größere Menge Haar. Sie war froh, dass die Tönung ihm nicht den gesunden Glanz genommen hatte, aber sie hatte immer noch Mühe, sich selbst zu erkennen, obwohl es mittlerweile vier Tage her war, dass sie ihrem Friseur die durchgreifende Änderung ihres Aussehens aufgetragen hatte.

Ein leises Läuten erklang, bevor sich die Aufzugtüren öffneten und den Blick auf einen kleinen Vorraum freigaben, in dem ein Tischchen aus Kirschbaum stand, mit einem getrockneten Blumenstrauß darauf. Die Wände waren mit einer weißen Leinentapete geschmückt, und der Boden mit einem lodengrünen Teppich ausgelegt, der so dick war, dass sie am liebsten ihre Schuhe ausgezogen hätte, um darin mit den Zehen zu wackeln. Die Wohnungstür war aus dem gleichen tiefdunklen Kirschbaumholz wie der Tisch, und kurz bevor sie sich öffnete, wurde Shara plötzlich klar, dass sie keine Ahnung hatte, was sie erwartete.

Sie hatte Jessa Hansons Biographie gelesen und auch das Drehbuch, das sich auf die Jahre zwischen ihrem achtzehnten und sechsundzwanzigsten Lebensjahr konzentrierte, mit einigen Rückblenden auf das sechzehnte; sie hatte Aufnahmen ihrer musikalischen Darbietungen angehört und Duzende von Fotos gesehen, auf denen eine hübsche Frau mit großen, dunklen Augen, mit einem höflichen Lächeln oder aber einem gereizten Stirnrunzeln zu sehen gewesen war, aber sie hatte nie ein Video von ihr gesehen. Es gab zwar Videos von Jessa, zahlreiche Nachrichtenausschnitte und Dokumentationen von Musiksendern, aber alle diese Aufzeichnungen waren auf einer DVD zusammengefasst worden, die erst am folgenden Tag per Post bei Shara eintreffen sollte. So hatte sie bislang noch keine wirkliche Vorstellung von der Frau, für die sie sich in weniger als zwei Monaten ausgeben sollte.

Jessa öffnete die Tür und fühlte sich, als hätte ihr Herz plötzlich aufgehört zu schlagen. Sie hatte gewusst, dass Shara Quinn hübsch war: ihr Gesicht prangte auf Kinoplakaten in ganz London, und Jessa hatte einen Bericht gesehen, in dem sie über den roten Teppich zur Verleihungsfeier schritt, als sie für einen Oskar für ihre Rolle in Gegen den Staat nominiert worden war.

Jessa hatte mit einem tagelangen Anfall von Schlaflosigkeit gekämpft, die sie regelmäßig plagte, und so hatte sie sich die DVD ausgeliehen, weil sie neugierig auf die irische Schauspielerin war, die in Amerika so Furore gemacht hatte. Der Film war gut gewesen und Shara hervorragend als die missbrauchte Ehefrau eines englischen Physikers, dem letztendlich wegen Landesverrats der Prozess gemacht wurde, nachdem sie seine Forschungsergebnisse an den Höchstbietenden verkauft hatte. Jessa bewunderte das Talent der Schauspielerin, die den Oskar für die beste weibliche Darstellerin erhalten hatte, aber sie fand trotzdem, dass Shara hätte gewinnen sollen.

Während sie die Tür öffnete, bereitete sie sich auf den Anblick von schönen, grünbraunen Augen und hübschen Lippen vor, umrahmt von glänzendem, dunkelblondem Haar. Sie bereitete sich darauf vor, eine verwöhnte Schauspielerin zu sehen, die egoistisch genug war, sich einzubilden, die schmerzvollsten Jahre in Jessas Leben portraitieren zu können, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich nicht im Entferntesten ähnlich sahen und auch sonst nichts gemein hatten.

Statt dessen sah sie in Augen, deren Farbe sie zwar durch die graugetönten Gläser in Sharas Sonnenbrille nicht bestimmen konnte, in deren Tiefen jedoch deutlich eine fast panische Angst zu sehen war. Sharas Haar war glänzend und kurz, und ihre vollen, rosa Lippen formten ein zögerndes Lächeln, das Grübchen in ihren Wangen erscheinen ließ. Jessa stockte der Atem.

»Hiya, Sie müssen Jessa sein. Ich bin Shara.« Ihre Stimme war tiefer, als Jessa erwartet hatte, obwohl sie sie bereits gehört hatte, und zwar auf dem Besten, das Bang & Olufsen zu bieten hatte.

Jessas Herz begann wild zu klopfen, und sie versuchte sich trotz des ablenkenden Geräusches in ihrem Inneren darauf zu konzentrieren, sich nicht vollkommen zur Närrin zu machen. »Das bin ich. Danke, dass Sie heute vorbeikommen konnten. Ich weiß, es war sehr kurzfristig, aber ich wollte unser erstes Treffen hinter uns bringen, und ich habe vor meiner Abreise noch so viel zu tun.« Sie trat beiseite. »Kommen Sie herein.«

Shara war sicher, dass sie genauso dämlich dreinschaute, wie sie sich fühlte. Wieso nur hatte niemand ihr gesagt, dass Jessa Hanson hinreißend war? Aber auch wenn sie hinreißend war, wieso fühlte sich Shara, als wäre die Welt aus den Fugen geraten? Sie lebte in LA, wo der Anteil an ungewöhnlich umwerfenden Menschen lächerlich hoch war, aber dies war ihr noch nie passiert – und mit Sicherheit nicht während der Begegnung mit einer anderen Frau.

Sie durchschritt den kleinen Flur und trat in den großen Wohnraum, wobei sie für einen Moment in eine dezente Duftwolke eintauchte, während sie an Jessa vorbeiging. Sie nahm zunächst ihre Umgebung gar nicht wahr, weil sie nicht über ihren ersten persönlichen Eindruck von Jessa hinwegkommen konnte.

Jessa trug eine bronzefarbene Leinenhose und ein weißes Spitzentanktop, das sich an ihren Körper schmiegte. Sie hatte eine leichte Bräune und ihre Haut sah weich und gesund aus. Shara bemerkte die Muskeln an Jessas schlanken Armen und starken Schultern, und das Tanktop ließ ein gutes Stück ihres flachen Bauchs frei. Für einen Moment war Shara besorgt, dass die nur mit einer Kordel zusammengehaltene Hose von Jessas schmalen Hüften rutschen könnte. Sie war überrascht, dass diese Vorstellung einen seltsamen Effekt auf ihre Herzfrequenz hatte.

Aber was Shara wirklich den Atem gestohlen hatte, war der erste Blick in Jessas Augen. Sie waren braun, aber selbst durch die getönten Gläser ihrer Brille konnte Shara sehen, dass es ein anderes Braun war, als sie es aufgrund der Fotos erwartet hatte. Sie waren wie geschmolzene Schokolade mit Zimt, und Shara fragte sich, wie sie wohl im Sonnenlicht aussehen würden. Jessas Wimpern waren lang und dicht, und Shara vermutete, dass sie nichts davon einem Kunstgriff verdankten. Sie verspürte den Drang, ihre Sonnenbrille abzunehmen und diese faszinierenden Augen näher zu betrachten, und dieser Impuls erschreckte sie. So unwahrscheinlich es auch war, aber diese Frau hatte Shara angeschaut, und Shara hatte den Faden verloren.

Sie vermutete, dass Jessa irgendetwas Vernünftiges auf ihre Begrüßung erwiderte, aber sie konnte es nicht hören, weil in Jessa Hansons wunderschönen Augen eine tiefe Besorgnis lag, während sie die Frau ansah, die in den nächsten zwei Monaten in ihrem Leben herumspuken würde. Shara war tief getroffen, die Ursache für eine solche Besorgnis zu sein. Nach allem, was sie über sie gelesen hatte, wusste sie, dass Jessa recht zurückgezogen lebte, weshalb der Eingriff in ihre Privatsphäre, der mit der Einwilligung in Sharas Vorschlag verbunden war, enorm sein würde.

Bevor sie die Wohnung betreten hatte, waren Shara mit einem Mal Bedenken gekommen, ob sie vielleicht dabei war, etwas Falsches zu tun; sie wollte sich entschuldigen und erklären, dass sie ihre Meinung geändert hatte und einen anderen Weg finden würde, für die Rolle zu recherchieren. Aber Jessa war beiseite getreten und hatte Shara bedeutet, ihr voran in die Wohnung zu gehen, und Sharas Beine hatten ihr blind gehorcht, bevor ihr Gehirn sich wieder zu Dienst melden und sie daran hindern konnte.

Das erste, was Shara vom Wohnraum wahrnahm, war Licht und Weite. Er war viel größer, als sie vermutet hatte. Die Wand zu Sharas Linken war von raumhohen Fenstern dominiert, und nahe der Tür, durch die sie hereingekommen waren, stand ein Konzertflügel. Der glänzende Deckel des Flügels reflektierte das Licht und die Umrisse der Pflanzen, die strategisch zwischen den Fenstern platziert waren. Die Bewegungen ihrer Blätter trugen zu dem Eindruck bei, dass der Raum nach außen hin offen war. Allerdings war keinerlei Geräusch zu hören, weshalb die Bewegung der Blätter und die Kühle des Raumes wohl ein Hinweis darauf waren, dass die Wohnung eine zentrale Klimaanlage hatte, mit allerdings geschickt verborgenen Luftschächten.

Am anderen Ende des Raumes, ihnen gegenüber, gab es eine Frühstückstheke und dahinter eine offene Küche. Wären da nicht die traditionellen tibetanischen Teppiche gewesen, die auf dem polierten Eichenboden verstreut lagen, hätte Shara sich gut vorstellen können, den Raum zum Rollschuhlaufen zu benutzen – er war so riesig.

Einige Meter vor der Frühstückstheke und relativ nah der Fenster standen mehrere karamellfarbene Sofas und eierschalenfarbene Sessel mit niedrigen Rückenlehnen um einen aus Holz geschnitzten Couchtisch herum, und Shara fielen die Hi-Fi-Lautsprecher auf, die im Raum verteilt waren; nichts war unternommen worden, um sie zu verkleiden, weil ihr Design zu dem lässig modernen Ambiente der Wohnung passte.

Die den Fenstern gegenüberliegende Wand, zu Sharas Rechten, war fast vollständig mit einem maßgeschreinerten Regal bedeckt, das eine horizontale Aussparung in der Mitte hatte, in der ein langer, rechteckiger Spiegel hing, der den Raum noch größer erscheinen ließ. Direkt unter dem Spiegel stand eine elegante, fast unmöglich flache Stereoanlage und in den Regalen sah Shara zahlreiche Partituren, Fachbücher und CDs – die einzigen Hinweise auf Jessas Beruf, abgesehen von dem Flügel.