Spiegelmädchen - Katja Montejano - E-Book
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Katja Montejano

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Beschreibung

Ein gefährliches Spiel um Leben und Tod …
Dieser Psychothriller ist nichts für schwache Nerven

Ein brutaler Überfall stürzt das Leben von Jazz in einen Abgrund voller Angst und Grauen. Gleichzeitig verschwinden ihre Mutter und Schwester – die Polizei steht vor einem schier unlösbaren Rätsel. Wurde die Familie Zielscheibe eines perversen Serienkillers oder steckt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit hinter dem schrecklichen Geschehen? Als der Entführer Kontakt zu Jazz aufnimmt, entwickelt sich ein erbarmungsloses Katz- und Mausspiel, dem Jazz nicht entkommen kann …

Erste Leser:innenstimmen
„Packender Thriller mit hervorragenden Perspektivwechseln“
„Nichts für schwache Nerven, aber absolut lohnenswerte Lektüre.“
„Wer jede Menge Spannung und die Auseinandersetzung mit menschlichen Abgründen sucht ist hier genau richtig – 5 Sterne“
„Kaum zur Seite legbarer, schonungsloser Psychothriller, ich bin begeistert!“

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Seitenzahl: 279

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Über dieses E-Book

Ein brutaler Überfall stürzt das Leben von Jazz in einen Abgrund voller Angst und Grauen. Gleichzeitig verschwinden ihre Mutter und Schwester – die Polizei steht vor einem schier unlösbaren Rätsel. Wurde die Familie Zielscheibe eines perversen Serienkillers oder steckt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit hinter dem schrecklichen Geschehen? Als der Entführer Kontakt zu Jazz aufnimmt, entwickelt sich ein erbarmungsloses Katz- und Mausspiel, dem Jazz nicht entkommen kann …

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe Mai 2022

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-640-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-791-5 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-711-3

Copyright © 2015, swb media publishing Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2015 bei swb media publishing erschienenen Titels Zerrspiegel (ISBN: 978-3-94426-473-8).

Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © benjaminlion, © Metelevan, © HorenkO stock.adobe.com: © Cookie Studio, © Alexandr, © Romain TALON Korrektorat: Astrid Pfister

E-Book-Version 09.04.2024, 09:45:59.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Spiegelmädchen

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Spiegelmädchen
Katja Montejano
ISBN: 978-3-98637-711-3

Ein gefährliches Spiel um Leben und Tod …Dieser Psychothriller ist nichts für schwache Nerven

Das Hörbuch wird gesprochen von Kevin Kasper.
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Dieser Roman enthält potentiell triggernde Inhalte:

Explizite Darstellung körperlicher, sexueller und seelischer Gewalt

Wenn du mehr erfahren willst, dann gehe ans Ende des Romans (Achtung Spoiler!)

Prolog

Zwei Jahre zuvor …

Zufrieden liegt er neben ihr, streichelt mit seiner rechten Hand an ihren Beinen entlang, immer weiter nach oben. Selbst durch die feinen Latexhandschuhe hindurch kann er ihre weiche Haut spüren. Wie von selbst finden seine Finger die weiblichen Rundungen des Körpers, der nackt auf den kalten Fliesen des Kellers liegt, erkunden ihn forschend und drängend. Ihre großen Brüste sind zur Seite gefallen, die Brustwarzen schimmern dunkel und weich. Im Dämmerlicht des Kellers funkelt der Brillant ihres Bauchnabelpiercings wie eine kleine Sonne.

Zärtlich betrachtet er ihre Scham; die rosige Haut glattrasiert, so, wie er es am liebsten mag. Er berauscht sich an ihrem Anblick, wie sie hilflos neben ihm liegt.

Bevor sie in den tiefen Dornröschenschlaf gefallen war, hatte sie noch leise vor sich hingemurmelt: »Oh Gott, bitte töte mich nicht …« Dann war sie langsam entschwunden, als hätte eine Wolke sie davongetragen.

Sie sieht so friedlich aus, fast wie ein Engel … oder wie der Tod.

Langsam richtet er sich auf. Neigt den Kopf zur Seite, um das Bild des Engels aus einer anderen Perspektive zu betrachten, während sie im Nirgendwo zwischen Traum und Schlaf schwebt, die Lippen leicht geöffnet, sodass er ihre gleichmäßigen Atemzüge hören kann. Die Luft im Keller ist geschwängert von ihrem süßen Parfüm, doch schon bald wird es sich mit dem ätzenden Geruch von verbranntem Fleisch vermischen.

Ein zufriedener Seufzer zieht die Luft tief in seine Lungen und stößt sie ruhig wieder aus. Bald wird er bekommen, was ihm zusteht. Vater hat ihm vor seinem Tod alles erzählt. Die Wahrheit. Nach so vielen Jahren gibt es endlich eine Spur. Er wird nicht versagen, das hat er seinem Vater auf dem Sterbebett geschworen.

Er verdrängt diesen Gedanken und blickt auf den Totenschädel, der ihn von einem kleinen, mit weißen Narzissen geschmückten, dunklen Altar anstarrt und beobachtet. Der Schwarzweiß-Kontrast gefällt ihm besonders, so wie die Zerrspiegel rundherum.

Er steht auf und knöpft sein Hemd auf, zieht den Reißverschluss seiner Jeans hinunter und lässt sie zu Boden gleiten. Fast schmerzhaft spürt er die Spannung seiner Muskeln, die feinen Nerven vibrieren empfindlich wie Seismografen, als er mit den Fingerkuppen über seine Haut streicht. Sein Herzschlag beschleunigt sich, und er fühlt, wie das Blut in seine Lenden schießt. Es ist kaum mehr als ein Impuls, als er seiner Gier vor den Augen seines toten Vaters nachgibt.

Als es vorbei ist, breitet sich eine sonderbare Leere in ihm aus. Wie ein Künstler, der sein perfekt gelungenes Meisterwerk betrachtet, schaut er auf sie hinab, während er die Jeans wieder hochzieht und sein Hemd richtet. Das Engelsgesicht ist verschwunden. Was er jetzt sieht, ist die Fratze einer verdammten Hure! Zornig wie ein ausbrechender Vulkan, dessen vernichtende Lava in alle Richtungen herausschießt, eilt er zu der Kamera, die auf einem Stativ bereitsteht. Das, was jetzt folgt, überträgt er live ins DARK NET – das Netz der Finsternis – auf unzählige anonyme Monitore in aller Welt.

Bevor er die Frau an Händen und Füßen auf einem Holzstuhl fesselt, zieht er sich einen weißen Schutzanzug an und eine Totenkopfmaske. Sein Blick schweift zu dem grünen Blinklicht der Kamera. Die Aufnahme läuft. Mit einem mit Ammoniak beträufelten Tuch holt er sein Opfer ins Bewusstsein zurück und hält ihr einen Spiegel vor das Gesicht. Mit angstvoll geweiteten Augen starrt sie zuerst darauf, dann sieht sie seine Maske und schreit aus Leibeskräften.

Niemand kann sie hören, ein schöner Moment, den die Kamera perfekt einfängt. »Schau es dir gut an. Dieses Gesicht siehst du zum letzten Mal«, flüstert er ihr zu und legt den Spiegel auf den Boden. Danach nimmt er die bereitgestellte Aluschale, die am Fuße des Altars liegt, und eine Sprühnebelflasche. Beide Utensilien sind mit hochgradig ätzender Säure gefüllt. Er registriert, wie seinem Opfer Tränen über die Wangen rinnen, wie ihr Körper vor Angst zittert und wie sich ihre Blase entleert. Während ihre gellenden Schreie den Raum erfüllen, kippt er ein wenig von der ätzenden Flüssigkeit aus der Schale über ihre Brüste. Zu viel, wie er gerade bemerkt, da sich die Säure in Sekundenschnelle bis auf die Knochen in ihr Fleisch frisst …

Kapitel 1

Kellerwald-Edersee – in einem abgelegenen Landhaus

Nach dem Abwasch sortierte Jazz im Schrank die blumigen Porzellantassen und das übrige Geschirr nach Farben ein. Sie zählte nach. Alles war komplett. Jazz behielt Zahlen und Muster nicht nur, sondern ordnete sie Kategorien, Bildern oder Symbolen zu. Sie hatte nicht die Absicht, es mit all den Dingen um sich herum zu tun – sie tat es einfach. Wie besessen. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Es war ihr Blick auf die Welt, wie sie Informationen interpretierte. Andererseits gelang es ihr kaum, Mimik, Gestik oder Blickkontakt anzuwenden und bei den Menschen richtig zu deuten. Sie beherrschte die Kunst des Small Talks nicht, der von ihr gesellschaftlich erwartet wurde. Undeutliche, mehrdeutige Bemerkungen oder Ironie verstand sie nicht. Metaphern nahm sie wörtlich. Sie dachte in Bildern und wandelte gesprochene Worte in solche um. Daher entgingen ihr in Gesprächen viele Sachverhalte, die andere Menschen ganz selbstverständlich nebenher aufnehmen konnten. Sie war eigen und deshalb schon als Kind oft ausgelacht worden. Veränderungen jeglicher Art oder unvorhergesehene Ereignisse, so wie heute Abend, bereiteten ihr große Probleme. Um der abweisenden Haltung ihrer Umwelt zu entgehen, rauchte sie ab und zu heimlich Marihuana, denn wenn sie stoned war, verschwanden Wut, Traurigkeit und Anspannung. Sie verschmolzen mit dem chaotischen dunklen Rauschen des Alltags, und Jazz wurde, zumindest in diesem Moment, wie jeder andere. Das bedeutete Erleichterung. High zu werden war eine Erholung, aber heute Abend war sie nicht zugedröhnt, sondern nüchtern und zu pleite, um sich in der Kleinstadt Gras zu besorgen.

Jazz blickte zur Küchenuhr. Halb acht. Das Pochen in ihren Schläfen nahm zu. Nervös kramte sie zwei Aspirin aus der Schublade, die dort stets griffbereit lagen. Als sie diese mit lauwarmem Pfefferminztee hinunterschluckte, hörte sie das Handy in ihrem Zimmer im ersten Stock klingeln.

Die Zeit drängte. Jazz eilte die Treppen hoch, griff zum Telefon, das auf dem peinlich aufgeräumten Schreibtisch lag, und las auf dem Display DANIKA. Ihre Zwillingsschwester. Ein Normalo, kein Aspi wie Jazz.

Sie drückte auf die Annahmetaste.

Fröstelnd lief sie zum Fenster und schloss es, dann setzte sie sich auf die Bettkante und starrte auf ihr Bild im Spiegel des Wandschranks. Durch den hellblauen Pyjama-Overall, den sie trug, erinnerte sie an einen gertenschlanken Teletubbie mit rotblondem Pagenschnitt und grünbraunen Augen. Sie besaß sechs davon. Alle in den Farbtönen blau oder grün, so wie ihre farblich sortierten Jeans, Pullis und Schuhe.

»Hi Jazz! Hast du Mama erreicht?«

»Nein«, antwortete sie knapp und massierte sich mit der rechten Hand die Schläfe.

»Scheiße! Wo bleibt sie nur? Sie sollte längst da sein. Ihr Handy ist seit Stunden aus. Das ist unnormal! Aber glaub mir, hier ist die Hölle los! Ich schick dir ein paar Fotos, okay? Schade, dass du nicht mitgekommen bist. Die Kulisse von DIE SCHÖNSTE STIMME DEUTSCHLANDS ist hammermäßig! So viele Leute und ’ne Menge Konkurrenten. Bin so nervös, muss ständig pinkeln. Du, der Empfang ist schlecht, ich muss gleich wieder Schluss machen.«

»Aha«, antwortete Jazz und schwieg. Ihre Schwester war mit einigen Freunden nach Kassel gefahren, die sie für das Casting von DSSD angemeldet hatten. Unter Hunderten von Bewerbern hatte sie es geschafft. Sie war gut in allem, was sie tat. Sehr beliebt, hübsch, musikalisch begabt und hatte seit einem Jahr in Kassel ihre eigene Wohnung. Im Gegensatz zu ihr hatte Jazz keine Freunde, außer Nico.

»Jazz? Bist du noch dran?«

»Jep.«

»Was glaubst du, wo Mama steckt?«

»Keine Ahnung.«

»Na gut, ich muss auflegen. Schalt den Fernseher ein und drück mir die Daumen. Falls sie sich meldet oder ihr Handy wieder einschaltet, schick mir eine SMS. Ich ruf dich nach meinem Auftritt an.«

Jazz schwieg. Sie wäre gerne mit Danika mitgefahren, wenn ihr nicht so viele Hindernisse im Weg gestanden hätten. All die Blicke ertragen zu müssen, das Gedränge und der Lärm … das wäre für sie unerträglich gewesen.

»Ach, Jazz, versuch auch Georg anzurufen. Ihn kann ich ebenfalls nicht erreichen.«

Jazz sah Georgs Gesicht sofort klar vor sich. Die Zahl Null flimmerte auf. Kreis. Vollkommenheit. Kein Anfang. Kein Ende. Ja, das passte perfekt zu ihm. Er war seit drei Jahren Mamas Partner und für Jazz eine Art Vater, da ihr leiblicher Papa längst tot war, so wie seine Schwester, die sich vor den Zug geworfen hatte. Seinen Namen nahm Mama nie in den Mund, weil dies scheinbar Unglück über die kleine Familie Sanders bringen würde. Sie war abergläubisch, was Jazz überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Wie konnte man bloß solchem unlogischen Mist Glauben schenken? Egal, schließlich war jetzt Georg da, ein Glücksbringer, und der hatte keine komische Schwester, nur einen schüchternen, fettleibigen Sohn namens Nico, der seit dem Tod seiner krebskranken Mutter vor sieben Jahren alles in sich hineinfraß. Nein, kein Aspi. Ein Fresssack-Normalo.

»Jazz, bist du high?«

»Nein. Ich hab im Moment kein Geld für Gras.«

»Sollte ich dich jemals wieder damit erwischen, dann fliege ich in die Luft, das garantiere ich dir!«

»Und wohin wirst du fliegen?«, fragte Jazz.

»Stopp! Nicht jetzt, Jazz! Das war ’ne Redewendung. Also, weißt du, wo Georg ist?«

»Nein. Nico meinte, dass er übers Wochenende nach Hamburg geflogen sei. Ein Geschäftstermin mit einem anderen Kunsthändler oder so was.«

»Ich hasse diesen Typ! Er hat immer nur sein blödes Antiquitätengeschäft in der Birne. Hoffentlich hat er keinen Überraschungsbesuch vor.«

»Nein. Nico lügt nicht, und ich verstehe nicht, warum du Georg nicht magst. Er hat keine Schwester, die sich vor den Zug geworfen hat, also wird er nicht aus unserem Leben verschwinden.« Jazz begriff nicht, weshalb Danika ihn nicht mochte. Er war ein verständnisvoller, ruhiger Mann, der Jazz selten überforderte. Ihm verdankte sie ihren Aushilfsjob in seinem Geschäft. Er hatte ihr ein winziges Büro eingerichtet, abseits von Kunden, was es ihr ermöglichte, arbeiten zu können, denn für die Neunzehnjährige mit einer leichten Form des Asperger-Syndroms war nicht nur der Alltag eine Herausforderung, sondern auch der Einstieg in das Berufsleben. Das Abitur hatte Jazz knapp geschafft, aber alle bisherigen Vorstellungsgespräche für irgendein Praktikum scheiterten an ihrer Andersartigkeit.

»Klar magst du ihn, schließlich ist er dein Boss. Jazz, ich muss auflegen. Daumen drücken, ja? Verpass meinen Auftritt nicht, sonst trete ich dir in den Hintern!«

»Klar. Danika?«

»Ja?«

»Ich will eine Katze aus dem Tierheim adoptieren. Kannst du mir helfen, Mama zu überreden? Du weißt, wie sehr ich Tiere mag, und ich wünsch mir schon so lange ein Kätzchen.«

»Keine Chance! Sie ist auf Tierhaare allergisch, also streich das Wort aus deinem Vokabular und lösch den Gedanken aus deinem Gehirn, so wie immer, kapiert?«

Jazz seufzte tief. Was sie jetzt brauchte, war ein Joint. Einen richtig fetten. »Ja. Tschüss«, antwortete sie trocken und beendete den Anruf.

Kapitel 2

Er zog seine schwarzen Lederhandschuhe über. Der Wind brachte die abgefallenen Blätter der Bäume zum Rascheln und verschluckte jedes andere Geräusch. Er wartete. Lauerte. Verharrte regungslos.

Die Stunde des Jägers war angebrochen.

Er spürte das Erwachen der Bestie in sich, das Fließen des Blutes dicht unter seiner Haut. Er sah sich um und schlich lautlos voran. Erregung stieg in ihm auf, als er an seinen Plan dachte. Nachdem er die hohe Lebensversicherungssumme seines Vaters kassiert und das Erbe angetreten hatte, hängte er seinen Job an den Nagel und arbeitete nur noch penibel an seinem perfekten Plan. Die Zeit des Wartens war vorbei. Ebenso das Observieren und Katalogisieren der Figuren auf seinem Schachbrett.

Kalkül. Ausführen. Entkommen. Genießen.

All das in Begleitung seiner besten Freunde: HASS und WUT.

Bei diesem Gedanken verzog er das Gesicht zu einem leichten Grinsen, aber in seinen Augen loderte etwas Wildes auf, etwas, das an einen rudellosen Wolf auf der Jagd erinnerte …

Kapitel 3

Jazz hörte ein merkwürdiges Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Was war das und woher kam es? Aus der Küche? War das Mama? Sie trat ans Fenster. Eine wunderschöne Aussicht auf das Seeufer bot sich ihr. Sie liebte diesen Ort. Oberndorf war umgeben von Wäldern und Hügeln, nahe dem großen Edersee – Natur pur. Jazz’ Lungen füllten sich mit der kalten Luft. Ein wunderbares Gefühl, aber lange nicht so gut wie ein Joint.

Ihr Blick wanderte von links nach rechts. Nichts. Kein Auto. Kein Mensch. Kein Nachbar weit und breit. Die langen, schneeweißen Dunstschwaden vermittelten den Eindruck, als würde langsam eine Daunendecke über die Nacht gezogen werden, verlieh ihr eine Aura des Geheimnisvollen und eine hauchzarte Schönheit.

»Sag mir bitte, wo Mama steckt, sonst tritt mir Danika in den Hintern, und das tut weh«, murmelte Jazz in den Wind. Hatte Mutter sich wegen ihr aus dem Staub gemacht? Für all ihre Probleme gab sie Jazz die Schuld, auch für ihre ehemalige Alkoholsucht. Ein verkorkstes Problemkind allein aufzuziehen, war für sie die Hölle gewesen. Vielleicht war sie abgehauen, um irgendwo ein sorgenfreies Leben zu beginnen. Jazz verstand, dass es für ihre Mutter schwer war, eine Aspi als Kind zu haben, aber Aspi zu sein, war noch schwieriger. Mama hatte keine Ahnung, wie viele Hindernisse sie Tag für Tag bewältigen musste. Es war anstrengend. Privat konnte sich Jazz in ihre Einsamkeit zurückziehen, in der Schule oder in der Arbeitswelt klappte das aber nicht. Ständig gehänselt, verspottet und ausgestoßen zu werden, war in der Vergangenheit kein Zuckerschlecken gewesen. Erst durch den Kampfsport hatte sie etwas Selbstvertrauen gewonnen, konnte ihre motorischen Defizite aufheben, aber ihr Selbstbewusstsein war nach wie vor angekratzt. Nachdem ihr Meister an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte das Dojo in Oberndorf seine Pforten geschlossen. Ein harter Schlag für Jazz. Danika war die Einzige gewesen, die von ihrer Zuneigung zu ihrem Trainer gewusst hatte. Während ihre Schwester bereits Erfahrungen mit Beziehungen und Sex hatte, blieb Jazz nichts anderes übrig, als darüber in ihren zahlreichen Büchern zu lesen und die Bilder in ihrer Fantasie auszuleben.

Welcher Mann würde sich in eine Frau wie sie verlieben? Sie war kein Genie, nicht so, wie oft über Autisten oder Aspis geschrieben wurde. Nein, sie war kein Einstein oder Mozart, sondern nur eine junge Frau, die die gleichen Bedürfnisse und Träume wie jede andere in ihrem Alter hatte.

Erneut unterbrach ein Geräusch ihre Gedanken. Woher kam dieses Knacken? Draußen war nichts zu entdecken. Sie musste nachsehen gehen. Vielleicht hatte Mutter einen Rückfall gehabt und war heimlich ins Haus geschlichen.

»Mama?«

Kapitel 4

Jazz warf einen Blick in das chaotische, schlicht eingerichtete Büro ihrer Mutter. Sie hatte das Zimmer schon mehrmals nach den Seminarunterlagen durchforstet und nichts gefunden. Wahrscheinlich stand in der Einladung eine Nummer, wo sie anrufen konnte, oder eine Adresse. Mutter hatte nach der Fortbildung in Kassel direkt zu Danikas Auftritt fahren wollen, wo sie bisher aber noch nicht eingetroffen war. Weshalb? Hatte sie sich vor den Zug geworfen? Nein, an so etwas durfte sie gar nicht denken. Es war nicht Mamas Art, kein Lebenszeichen von sich zu geben und das Handy auszuschalten.

Jazz fröstelte bei diesem Gedanken. Alles, was vom streng geplanten Tagesablauf abwich, versetzte ihr eine Höllenangst. Möglicherweise fand sich etwas im Friseursalon ihrer Mutter, aber Jazz besaß keinen Cent mehr, um sich ein Taxi zu rufen.

Was zum Teufel hörte sie da ständig im Hintergrund?

Sie stieg die Treppe hinunter und begab sich in Richtung Wohnzimmer. Sie kratzte sich am Unterarm, bis sie fast blutete. Es war ein unbewusstes Ritual, das ihr bereits einige Narben beschert hatte. Auf einmal zuckte sie zusammen. Wieder dieses seltsame Geräusch, und gleichzeitig das Klingeln ihres Handys.

Es war Nico.

»Hey, ich habe Vater endlich erreicht. Er hatte sein Telefon ausgeschaltet.«

»Aha. Ist Mama bei ihm?«

»Nein.«

»Aha.«

Nach ein paar Sekunden fuhr Nico fort: »Jazz, bist du noch da?«

»Jep.«

»Papa hat gesagt, dass er sich gestern mit Verena gestritten hat, weil sie neuerdings mit einem ehemaligen Schulfreund etwas zu viel Kaffee trinken geht oder so was in der Art. Er ist eifersüchtig auf den Kerl. Vielleicht hat Verena wirklich was mit ihm. Was glaubst du?«

»Keine Ahnung, und wenn, hat sie mir nichts davon erzählt. Aber wieso sollte sie nicht ans Telefon gehen, wenn sie einen neuen Kerl hätte? Ist nicht logisch, oder?«

»Stimmt. Geht mich auch nix an. Willst du dir nicht ein Taxi nehmen und zu mir kommen? Wir könnten gemeinsam Danikas Auftritt gucken.«

Jazz stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nein, ich bleib lieber hier. Die Sendung beginnt gleich, und Mama könnte jeden Moment zurückkommen. Vielleicht hatte sie einen Unfall. Jemand aus dem Krankenhaus könnte anrufen.«

»Okay. Melde dich, wenn sie auftaucht. Ich ruf dich nach der Sendung an«, antwortete Nico und legte auf.

Jazz starrte auf die Digitaluhr ihres Handys, eilte die Treppe hinunter und griff nach der Fernbedienung, um den Auftritt ihrer Schwester nicht zu verpassen. Als sie die Lautstärke des Fernsehers einstellen wollte, glaubte sie wieder, etwas gehört zu haben. Sie drückte auf die Stummtaste. Ein schwaches Knarren der Dielen in der Küche ließ sie aufhorchen. Seltsam. Eine Ratte? Das war in dem alten Haus keine Seltenheit. Sie stand auf und lauschte. Mama? Hatte sie sich doch heimlich in die Küche geschlichen, weil sie einen Rückfall erlitten hatte und betrunken war?

Jazz spitzte die Ohren. In ihren Bunny-Pantoffeln ging sie auf Zehenspitzen in Richtung Küche, doch bei jedem Schritt knarrte das Holz unter ihren Füßen. Mist! Ein leises Anschleichen war unmöglich.

Vor dem Kücheneingang tastete sie nach dem Schalter. Als das Licht anging, nahm sie hinter sich eine Bewegung wahr und erstarrte, doch der Angreifer war zu schnell, als dass sie sich noch umdrehen konnte. Ein Arm schlang sich um ihren Hals, zerrte sie zurück und drückte ihr die Luft ab. Aus den Augenwinkeln sah sie eine behandschuhte Hand, die eine Spritze hielt.

Er würde damit zustechen!

Jazz reagierte instinktiv. Mit dem Unterarm schlug sie die Hand mit der Spritze weg, die daraufhin zu Boden fiel. So verschaffte sie sich wertvolle Sekunden, die sie nutzte, um mit der freien Hand hinter sich zu langen und den Angreifer zwischen den Beinen zu packen. Der Einbrecher grunzte vor Schmerz, und für einen Moment lockerte sich der Druck um ihren Hals. Mehr brauchte sie nicht, um sich loszureißen. Sie sah, wie der Mann sich herunterbeugte, um nach der Spritze zu greifen. Jazz wollte durch die Küche in Richtung Haustür rennen, stolperte aber über eine Kiste Mineralwasser, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. Sie rollte sich über die Seite ab und landete mit dem Rücken auf dem Teppichvorleger.

Zum ersten Mal konnte sie ihren Angreifer richtig sehen. Er war groß, mindestens eins fünfundachtzig, hatte breite Schultern, trug eine Kapuzenjacke und eine Skimaske, hinter deren Schlitzen seine Augen kalt funkelten.

Drohend kam er auf sie zu. Im gleichen Moment stand Jazz auf, packte das Fleisch-Messer von der Küchenarbeitsplatte und rannte in den Flur. Aber der Mann reagierte schnell. Er holte sie noch vor der Haustür ein, griff nach ihrem Arm und drehte diesen brutal um. Ihr Handgelenk fühlte sich an, als würde es jeden Moment brechen, und Jazz ließ das Messer vom Schmerz betäubt fallen. Er presste sie gegen die Wand, um ihr die Spritze in den Hals zu rammen. Sie besaß aber noch genügend Geistesgegenwart, gegen seinen Arm zu schlagen, sodass er sie wieder fallen ließ. Anschließend sammelte sie all ihre Kräfte, knallte ihm die Stirn ins Gesicht und trat ihm zwischen die Beine. Er schrie auf und klappte zusammen. In diesem Augenblick konnte sie sich von ihm losreißen und zur Tür rennen. Doch er richtete sich sofort wieder auf und sprang hinter ihr her. Ehe sie den Türknauf erreichte, hatte er sie bereits wieder erwischt und drängte sie zurück durch den Flur in die Küche. Jazz wehrte sich mit aller Macht, versuchte, ihn zu treten und wegzustoßen, aber er war um einiges stärker. Sie roch seine Verärgerung. Wie um es ihr zu demonstrieren, ließ er sie plötzlich los und schlug ihr einmal hart in die Nieren, ehe er an ihren Haaren riss. Er packte ihren Kopf und wollte ihn auf die Küchenablage pressen, als es Jazz gelang, einen der bemalten Flusssteine vor dem Fenster zu packen. Mit letzter Kraft schlug sie ihm damit gegen den Kopf. Sein Griff löste sich sofort, er torkelte nach hinten und hielt sich die Hände vors Gesicht.

Jazz rannte in den Flur, durch die Tür und hinaus in die Kälte des tiefen Winters, ohne eine Ahnung zu haben, wohin sie lief. Irgendjemand da draußen würde einem rennenden, hellblauen Teletubbie mit rotem Pagenschnitt und Bunny-Pantoffeln bestimmt helfen …

Kapitel 5

Ein zügelloses Gefühl des Hasses überfiel ihn, als er im Rückspiegel das Pflaster auf seiner Stirn betrachtete. »Du wirst deine eigene Kotze fressen, das schwöre ich dir!«, zischte er. Als blickte er durch röhrenartige Öffnungen in seinem Schädel in die Vergangenheit, sah er die hagere Rothaarige in diesem lächerlichen Pyjama vor sich und sah auch, wie sich die Muskeln in seinem wütenden Gesicht immer mehr anspannten. Jetzt, in der Erinnerung, war sein Versagen unbegreiflich. Ein klebriges Gefühl der Scham und der Erniedrigung legte sich über ihn. Warum hatte er nicht besser aufgepasst? Du verdammter Idiot, beschimpfte er sich selbst. Ein so fataler Fehler durfte nie wieder passieren. Aber er verdrängte diesen Gedanken und konzentrierte sich auf seinen Plan. Um die rothaarige Schlampe würde er sich später kümmern!

Er sah auf die Uhr des Armaturenbretts. Zwei Uhr morgens. Zufrieden lehnte er sich im Sitz zurück. Mit dem anderen Mädel hatte er ein leichtes Spiel gehabt. Alles war wie am Schnürchen gelaufen. Eine Wiedergutmachung für sein Versagen und das angekratzte Ego.

Der Gedanke an seinen nächsten Schritt fühlte sich berauschend an, wie eine Droge. Nichts auf der Welt konnte diesen Rausch ersetzen. Das Sterben seiner bisherigen Opfer war jedes Mal anders gewesen. Sie hatten gewimmert, ihn flehend angesehen und gebettelt. Nie hatten sie um ihr Leben gekämpft. Die meisten schienen sich ihrem Schicksal einfach gefügt zu haben. Als er den Augenblick ihres Todes klar vor sich sah, stieg Erregung in ihm auf. Er öffnete den Reißverschluss seiner Hose, ergriff mit der rechten Hand den Schaft seines steifen Glieds. Stöhnte leise. Drückte fester zu und schloss die Augen, bewegte seine Hand immer schneller. Nach einem unterdrückten Seufzen kam die Erlösung.

Ein Orgasmus war wie ein kleiner Tod. Hatte etwas Entspannendes. Entkrampfendes. Aufrichtiges. Authentisches. Alles, was das Leben nicht bot.

Bevor er den Zündschlüssel herauszog, sah er sich um. Jemand beobachtete ihn. Dieses Gefühl hatte er schon als Kind oft gehabt. Es war nichts Greifbares, nur ein kaltes Brennen im Nacken, die Ahnung, dass der unsichtbare Geist seines Vaters bei ihm war und jeden seiner Schritte registrierte. Manchmal sah er dessen Gesicht vor sich, wie ein wütender Geist, der in einer Zwischenwelt gefangen war. Er hörte die Stimme seines Vaters. Sein spöttisches Lachen. Glaubte, seinen eigenen Namen zu hören.

Er unterdrückte die Beklommenheit in seinem Kopf und stieg aus. Vor dem Kofferraum blieb er stehen und lauschte. Sie gab keinen Laut von sich. Er hatte sein Opfer beobachtet und sie auf dem Heimweg verfolgt. In einer Seitenstraße hatte er das Messer gezückt und die Frau gezwungen, in den gemieteten Lieferwagen zu steigen. Dort betäubte er sie mit Äther und fesselte sein Opfer. Es war einfach gewesen, die Frau war betrunken und gefügig. Sie hatte sich weder gewehrt noch geschrien.

Er öffnete den Kofferraum und betrachtete sie.

»Du hast keine Ahnung, was ich mit dir anstellen werde. Schlaf weiter, Schneewittchen …«

Kapitel 6

Jazz öffnete langsam die Augen. Das Tageslicht, das zwischen den Lamellen der Jalousie hindurchsickerte, warf schmale Streifen auf den Holzboden. Sie hob den Kopf und presste die Lider wieder zusammen, als der Schwindel kam. Ihre Sinne waren umnebelt, ihr ganzer Körper schien in Watte gewickelt zu sein. Ein stechender Kopfschmerz stieg vom Nacken auf. War sie doch noch im Krankenhaus, obwohl sie sich nach einem Wutanfall davongeschlichen hatte, um nach Hause zu gehen? Sie hasste Krankenhäuser. Um dortzubleiben, müsste sie schon halb tot sein. Dieser grässliche Geruch. Der Lärm. Kranke Menschen, die teilweise wie Monster aussahen mit ihren Verbänden, Gipsen, Kanülen und den angeschlossenen Maschinen, die schreckliche Pieptöne von sich gaben. Die schmerzerfüllten Stimmen. Die angespannten Gesichter. Leid. Schrecken. Tod. Ansteckende Krankheiten. Nein, Jazz Sanders würde lieber sterben, als dort einen Tag länger zu bleiben.

Sie schlug die Augen wieder auf, legte den Kopf zurück. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Gedanken geordnet hatte. An der Wand erkannte sie das überdimensionale Poster von DARTH VADER und wusste plötzlich, wo sie sich befand. Auf dem Stuhl neben dem Bett hockte Nico mit dem Handy auf dem Schoß. Er war eingenickt und sah friedlich aus. Ein täuschendes Bild. Der kleine Fresssack war ihr einziger Freund. Sie verstanden sich gut, weil er sie nie wie eine Abnormale behandelte. Okay, wahrscheinlich weil er selbst in seiner eigenen Welt lebte und sich mit dem Spott der Mitmenschen bestens auskannte. Nico lebte zurückgezogen, umgeben von seinen Science-Fiction- und Mystery-Helden, gefangen in der virtuellen Welt des Internets. In der Schule hatte er keine Freunde. Wegen seines Übergewichts und der Akne wurde er gehänselt, so wie Jazz damals.

Sie atmete tief durch. Nico war siebzehn, ziemlich fett, und neuerdings hatte er sich den Kopf kahl rasiert und einen flaumigen Kinnbart wachsen lassen, um etwas männlicher zu wirken, was ihm mit Georg mächtigen Ärger eingebracht hatte. Er hatte viele Pickel im Gesicht, trug eine farbige Zahnspange und war süchtig nach Snickers.

Jazz’ Blick heftete sich auf sein schwarzes Sweatshirt mit dem Aufdruck ICH BIN DICK UND DU BIST HÄSSLICH – ICH KANN ABNEHMEN, UND DU? War sie wirklich so hässlich oder meinte er mit diesem Schriftzug jemand anderen?

Sie hustete, und ihre Lunge schmerzte. Sie hatte sich eine Erkältung eingefangen. Ihre Glieder fühlten sich steif und bleischwer an. Hatte man ihr im Krankenhaus Beruhigungsmittel verabreicht? Sie war zu schwach, um aufzustehen oder zu sprechen. Mit den Fingern berührte sie ihren Hals und hielt inne. Bildfetzen des vermummten Mannes blitzten in ihrem Gedächtnis auf. Sie verbanden sich zu einem schwarzen Teufel mit einer Heugabel. Die Zahl 666 flackerte vor ihrem geistigen Auge auf. Dieser Kerl hatte sie entführen, vergewaltigen oder töten wollen – oder alles zusammen! Der Schock saß ihr noch tief in den Knochen. Aber sie hatte richtig reagiert, und das verdankte sie ihrer Kampfkunst. Jazz erinnerte sich, wie sie ihm knapp entwischt und in Panik aus dem Haus um ihr Leben gerannt war, quer durch den Wald bis zur nächsten Hauptstraße. Dort war sie kraftlos zusammengebrochen, im Glauben, nun erfrieren zu müssen. Aber es war anders gekommen. Jemand hatte sie gerettet.

Aber wer war ihr Schutzengel gewesen?

»Jazz? Bist du wach?«, flüsterte Nico. Er erhob sich, steckte das Handy in seine Jeans und setzte sich auf die Bettkante neben sie. Dann schaltete er die Nachttischlampe ein und sah sie an. Er wirkte müde und erschöpft, von tiefer Melancholie umgeben. Seine dunklen, mandelförmigen Augen wollten ihren Blick festhalten und ihr etwas erklären, mit Worten, die er nicht zu finden schien.

»Wie lange war ich weg, und wer hat mich gerettet?«, fragte Jazz.

»Der Taxifahrer und ich haben dich gestern Abend reglos auf der Straße gefunden, als ich auf dem Weg zu dir war. Wir haben dich sofort ins Krankenhaus gebracht, aber du hast dich wie ein tollwütiges Tier verhalten und wolltest nach Hause. Also habe ich deinen Hausarzt angerufen, und der hat eingewilligt, dass wir dich hierherbringen. Er war vor zwei Stunden hier und ruft wieder an, um sich nach dir zu erkundigen.«

An seinem Tonfall spürte sie, dass er etwas Unangenehmes vor ihr verbarg. Mit Gesichtsausdrücken hatte es Jazz nicht so, mit Stimmen schon.

»Weshalb bin ich nicht zu Hause bei Mama?«

Sie beobachtete, wie Nico die Lippen zusammenpresste. Dann holte er tief Luft. »Als Danika gestern bei ihrem ersten Auftritt rausgeflogen ist und du nicht ans Telefon gegangen bist, habe ich mir ein Taxi gerufen. Ich war mir sicher, dass was passiert ist, weil du sonst immer antwortest. Auf dem Weg zu dir sah der Fahrer etwas auf der Straße liegen. Also hielten wir an und fanden dich bewusstlos im Pyjama und völlig unterkühlt. Den Rest kennst du. Die Polizei sagt, dass in deinem Haus offenbar ein Kampf stattgefunden hat. Ich war ganz schön fertig deswegen.«

Jazz spürte einen Knoten im Hals, war jedoch nicht in der Lage, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Es war, als würden sie in ihrer inneren Welt stecken bleiben, wie mit Leim festgeklebt. Sie war unfähig zu weinen, unfähig, ihre Angst in Worte zu fassen, unfähig zu schreien und der Außenwelt zu zeigen, was in ihr vorging.

»Danke, Nico. Wo sind Danika und Mama?«, fragte sie schließlich mit monotoner Stimme und nieste.

Nico nahm ein Kleenex vom Nachttisch und reichte es ihr. Sie schnäuzte sich und starrte DARTH VADER an, weil sie Nico nicht in die Augen sehen konnte. Die Reize in diesem mit Bildern und Figuren vollgestopften Zimmer überfluteten ihr Gehirn.

»Hier bist du sicher. Niemand wird dir hier was tun, das verspreche ich dir. Die Bullen werden diesen Mistkerl bald schnappen. Ein Max Krause leitet die Ermittlungen. Er hat ein paar Beamte von der Spurensicherung in euer Haus geschickt. Sein Kollege Joshua Manser will dich heute noch befragen«, erklärte er.

»Man ist nirgendwo sicher, Nico. Es existiert keine Sicherheit, auch nicht in den eigenen vier Wänden. Aber ich verstehe nicht, was er von mir wollte. Ich habe niemanden verärgert, und wir haben auch keine Schätze zu Hause. Es ist eine Bruchbude mit billigen IKEA-Möbeln. Da gibt es nichts zu klauen.«

Nico zuckte mit den Schultern.

»Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet. Wo sind Danika und Mama?«

Nico senkte seinen Blick. »Papa fliegt heute noch zurück«, wich er schon wieder aus.

»Aha. Das wollte ich aber nicht wissen.«

»Ich habe keine Ahnung. Wirklich. Weder die Bullen noch mein Vater oder ich konnten deine Mutter bisher erreichen, und das Handy deiner Schwester ist mausetot. Die war gestern fix und fertig. Hat sich bestimmt volllaufen lassen und schläft jetzt ihren Rausch aus.«

»Was redest du da? Ein Handy kann nicht wie eine Maus sterben. Hast du denn nach ihr gesucht?«

»Natürlich, aber nix zu machen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo die beiden stecken könnten. Ich hab Danikas Freunde via Facebook kontaktiert und sogar ein paar von denen angerufen. Die wissen auch nichts. Nach dem Auftritt sind sie in einen Club gefahren, um sich den Frust wegzutrinken und danach ist alles unklar.«

»Sie können sich nicht in Luft auflösen. Das ist physikalisch unmöglich, und Aliens haben sie auch nicht entführt. Was sagt Rebecca dazu, Danikas beste Freundin?« Jazz richtete sich auf und begann zu husten.

»Sie hat erzählt, dass deine Schwester sich nach ihrem misslungenen Auftritt besaufen wollte. Während die meisten anderen früh gegangen sind, ist Rebecca mit Danika in eine Disco in Kassel gefahren. Rebecca hatte zu viel getrunken und musste sich im Lokal schon übergeben, deshalb wollte sie nur noch nach Hause. Danika aber nicht. Schließlich hat sich Rebecca allein ein Taxi genommen. Von da an verliert sich Danikas Spur. Vielleicht hat ein Typ deine Schwester nach Hause begleitet oder sie ist mit zu ihm gefahren. Das weiß niemand. Rebecca ist heute Morgen kurz zu ihrer Wohnung gegangen, um nachzusehen, aber ihr hat niemand geöffnet, und sie hat auch keinen Zweitschlüssel.«

»Mama hat einen. Wo ist mein Handy? Hat mich Danika angerufen oder auf Facebook geschrieben?«

»Ich habe gestern Abend die Bullen gebeten, dein Handy und ein paar Klamotten herzubringen. Auf deiner Anruf- und SMS-Liste befinden sich seit gestern Abend keine neuen Eingänge. Danikas Einträge auf Facebook sind vor ihrem Auftritt geschrieben worden. Seither ist sie offline. Wahrscheinlich wollte sie in ihrer Enttäuschung nichts lesen oder hören. Ich glaube, dass sie sich im Club ihren Frust runtergespült, sich einen gut aussehenden Kerl geangelt und die Nacht bei dem verbracht hat. Heute wird sie mit einem verdammten Kater aufwachen und dich bestimmt bald anrufen.«

»Glaube ich nicht. Sie hätte mich vor dem Sex angerufen, und zwar direkt nach ihrem Auftritt. Das hat sie mir gesagt. Also ist was passiert. Ich muss sie finden!«