Vikings - Vergangene Zeiten - Katja Montejano - E-Book

Vikings - Vergangene Zeiten E-Book

Katja Montejano

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Beschreibung

Eines Nachts besucht der mysteriöse »Hütchenmann« die todkranke Aurora und bietet ihr einen teuflischen Deal an. Er stellt drei besondere Hütchen vor ihr auf. Unter jedem befindet sich ein früheres Leben Auroras – aber der Pakt ist tückisch: Nur in einem jener Leben aus fernen Zeiten wird sie länger als ein Jahr überleben. Wenn Aurora nicht mitspielt und keines der Hütchen wählt, wird sie am nächsten Morgen sterben. Da Aurora nichts mehr zu verlieren hat, geht sie auf den Deal ein und verliert das Bewusstsein. Völlig verwirrt wacht sie im Jahre 868 auf einer verlassenen Insel neben einem attraktiven, schwer verletzten Wikingerkrieger namens Rodmar auf, den sie nur dank ihrer neuen Gabe als Heilerin vor dem Tod retten kann. Zwischen beiden entbrennt eine leidenschaftliche Liebe, die sie atemlos macht – und dann finden sie sich plötzlich in einem gefährlichen Abenteuer wieder! Jetzt geht es um mehr als um Lust, um mehr als die Rückkehr in Rodmars Heimat und um mehr als ihre Liebe: Es geht ums nackte Überleben ...

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Kurzbeschreibung:

Eines Nachts besucht der mysteriöse »Hütchenmann« die todkranke Aurora und bietet ihr einen teuflischen Deal an. Er stellt drei besondere Hütchen vor ihr auf. Unter jedem befindet sich ein früheres Leben Auroras – aber der Pakt ist tückisch: Nur in einem jener Leben aus fernen Zeiten wird sie länger als ein Jahr überleben. Wenn Aurora nicht mitspielt und keines der Hütchen wählt, wird sie am nächsten Morgen sterben. Da Aurora nichts mehr zu verlieren hat, geht sie auf den Deal ein und verliert das Bewusstsein. Völlig verwirrt wacht sie im Jahre 868 auf einer verlassenen Insel neben einem attraktiven, schwer verletzten Wikingerkrieger namens Rodmar auf, den sie nur dank ihrer neuen Gabe als Heilerin vor dem Tod retten kann. Zwischen beiden entbrennt eine leidenschaftliche Liebe, die sie atemlos macht – und dann finden sie sich plötzlich in einem gefährlichen Abenteuer wieder! Jetzt geht es um mehr als um Lust, um mehr als die Rückkehr in Rodmars Heimat und um mehr als ihre Liebe: Es geht ums nackte Überleben ...

Katja Montejano

Vikings Vergangene Zeiten

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2020 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2020 by Katja Montejano

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Kanut Kirches

Korrektorat: Vera Baschlakow

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-349-6

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www.edelelements.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1: »Das Leben ist nichts für Feiglinge!«

I. Florenz – Damals in der Zukunft: »Aurora und Nico«

Kapitel 2: »Countdown«

II. Florenz – Damals in der Zukunft: »Tot oder lebendig«

Kapitel 3: »Rette sich wer kann!«

III. Florenz – Damals in der Zukunft: »Schmerzliche Wahrheit«

Kapitel 4: »Das Spiel beginnt!«

IV. Florenz – Damals in der Zukunft: »Einsam«

Kapitel 5: »Böses Erwachen«

V. Florenz – Damals in der Zukunft: »Gefühlschaos«

Kapitel 6: »Schnell reitet der Tod!«

VI. Florenz – Jetzt in der Zukunft: »Schrei nach Rache«

Kapitel 7: »Unheil zieht auf!«

VII: Nico – DU oder ICH

Kapitel 8: »Die Erinnerung stirbt nie«

VIII: Nico – Vom Tode geküsst

Kapitel 9: »Das Spiel mit der Wahrheit«

IX: Nico – Doppelte Identität

Kapitel 10: »Im selben Boot«

X: »Ausgetrickst«

Kapitel 11: »Der Tod ist taub«

XI: »Wir oder die!«

Kapitel 12: »Auge um Auge«

XII: »Töte oder stirb!«

Kapitel 13: »Blutvergießen – Der Tod wartet«

XIII: »Kämpfe oder brenne!«

Kapitel 14: »Der Preis der Freiheit«

Epilog

Prolog

Florenz – Gegenwart

»Willst du leben oder sterben?«, fragte eine tiefe, raue Stimme. Aurora, die als einzige Patientin im stickigen Krankenhauszimmer lag, schlug die Augen auf und registrierte, wie das Dämmerlicht ihrer Nachttischlampe seltsam flackerte. Die Schmerzen in ihrem Körper waren kaum auszuhalten. Jede kleinste Bewegung war eine Qual.

»Aurora, hörst du mich? Wach auf, wir haben nicht viel Zeit.«

»Wer sind Sie?«, flüsterte Aurora schlaftrunken und hörte ein metallenes Rasseln. Auf einmal trat eine Gestalt mit unklaren Umrissen in ihr vernebeltes Blickfeld. Wer zum Henker war das? Seit Wochen hatte sie niemand mehr besucht, und jetzt musste es mitten in der Nacht sein?

»Ich bin der Hütchenmann, aber das ist im Moment nicht so wichtig. Wir müssen dringend reden. Meine Zeit ist begrenzt«, erklärte der Unbekannte.

Aurora rieb sich die Augen. Fassungslos starrte sie auf den hageren Mann im dunklen Anzug. Die goldenen Manschettenknöpfe hatten die Form von Totenköpfen, und seine silberweißen Haare hatte er zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug ein anthrazitschwarzes Hemd mit einer orangefarbenen, gemusterten Krawatte, auf der ein paar schwarze Teufelchen mit Mistgabeln tanzten. Ein seltsamer Geruch drang in Auroras Nase. Eine Mischung aus süßem Tabak und Thymian. Angeekelt registrierte sie, wie der Fremde in seiner geschwollenen, übergroßen Warzennase bohrte, als hätte sich eine Spinne darin verkrochen, die er herausziehen wollte. Aurora verzog angewidert eine Grimasse. Igitt! Was machte der Kerl da bloß? Ihr fiel auf, dass an seiner Stirn ein blutverschmiertes Pflaster herunterhing, das eine tiefe Schramme offenbarte. Anscheinend störte ihn das weniger als der Dreck in seiner Vogelnase. Die ebenfalls geschwollenen, blau umrandeten Augen des Mannes waren schwarz und schienen keine Iris zu haben. Sein rechter Arm lag in einer Schlinge. Der Hütchenmann stand neben dem Beistelltisch, wippte mit dem Fuß auf und ab und trank Auroras Kamillentee in einem Zuge aus. Dann warf er die Tasse in die Luft. Es war, als würde sich die Zeit in Slowmotion ausdehnen. Die Porzellantasse landete in Zeitlupe auf dem Boden, ohne zu zerbrechen.

»Verflucht noch mal! Wer zum Teufel sind Sie? Ein Patient? Hatten Sie einen Unfall, oder wurden Sie etwa verprügelt?« Aurora suchte nach dem Dosierknopf für das Morphium. Das Einstichloch der Kanüle in ihrem Arm schmerzte genau so wie ihr gesamter Körper.

»Ähm, ich würde es als Arbeitsunfall abhaken. Mein Job ist kompliziert und gefährlich. Da passieren oft unvorhersehbare Dinge, die man ausbügeln muss. Einen richtigen Namen, so wie mein Onkel, der Todesengel Aszrael, habe ich nicht. Nenn mich Magier oder Hütchenmann. Wisse, dass ich über Fähigkeiten verfüge, die du dir nicht mal in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst.« Er räusperte sich und kräuselte die Lippen. »Kurz gesagt, ich bin kein Engel und will nicht so genannt werden. Was ich bin, spielt für dich keine Rolle, denn ich bin nur hier, um dir zu helfen. Hör zu, wir haben nur ein paar Minuten Zeit. Also fangen wir doch gleich an.« Er fischte drei goldene Hütchen aus seinem metallenen Koffer und reihte diese auf dem Beistelltisch auf.

»Du hast Darmkrebs im Endstadium, richtig?« Seine Stimme klang jetzt so monoton, als würde er ihr den Wetterbericht vorlesen.

»Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Bitte verschwinden Sie – oder ich rufe die Krankenschwester … oder am besten gleich die Polizei.« Sie langte nach dem Rufknopf, der neben ihrem Kissen lag.

»Oh, das ist doch nicht nötig, meine Liebe. Du bist ja selber Polizistin, oder? Ach, wie unachtsam von mir, bitte entschuldige die Wortwahl: Du WARST eine.« Der Hütchenmann nahm den Zigarillo aus dem Mund und schnalzte mit der Zunge. Dabei entstand ein unerträgliches Geräusch, wie das Quietschen von Kreide auf einer Tafel.

»Hören Sie mit Ihrem blöden Geschwafel auf und verschwinden Sie von hier. Das ist meine letzte Warnung!«

»Und was, wenn ich dich heilen kann? Möchtest du weiterhin wie ein Morphium-Junkie in diesem Bett liegen, umgeben von Desinfektionsmittel, arroganten Pflegerinnen, Krankheit und Tod? Ich weiß, dass du dich Tag für Tag nach dem metallischen Geschmack deiner Dienstwaffe in deinem Mund sehnst, um all dem endlich ein Ende zu setzen, nicht wahr? Oh, ich weiß alles über dich, meine Liebe. Leider warst du damals in deinem Wohnzimmer zu feige, um abzudrücken. Tja, dein Pech. Aber hey, kein Grund zum Verzweifeln! Ich bin die Lösung für dein Problem – die allerletzte Lösung! – und ich bin hier, bei dir. Du kämpfst einsam gegen dein Schicksal an, und so wie ich das sehe, frisst dich diese Einsamkeit innerlich auf, auch wenn du das nie zugeben würdest, nicht wahr?« Er räusperte sich, steckte sich den roten Zigarillo in den Mund und schenkte ihr ein schiefes Grinsen. Aurora hätte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht gerammt, aber sie hatte kaum noch Kraft zum Atmen. Und wenn er ihr wirklich helfen konnte?

Der Hütchenmann kratzte sich am Kinn und fuhr fort: »Dann fassen wir mal zusammen: Dein fieser Ex-Mann Nico hat dich im Krankenhaus nicht ein einziges Mal besucht. Ah sorry, klar doch! Er vögelt ja jetzt mit Vergnügen deine ehemalige beste Freundin Elena und schwängert sie sogar.«

Er pfiff durch die Zähne und lächelte. »Babys sind echt putzig, findest du nicht? Den ganzen Tag sind sie mit Essen, Trinken, Scheißen, Furzen und Schreien beschäftigt. Ein solch kleines Wesen zu sein ist auch ein harter Job, glaube mir. Ich weiß, wie sehr du dir Kinder von ihm gewünscht hast, aber leider hat er sich lieber mit deiner Elena vergnügt und fortgepflanzt, während du dich in deinem Schneckenhaus voller Selbstmitleid verkrochen hast. Tja, und was ist mit deinen Arbeitskollegen? Genau! Sie haben sich längst verdrückt, dich vergessen, so als hättest du nie mit ihnen gearbeitet oder gar existiert. Somit bin nur noch ich für dich da!«

»Hören Sie sofort auf damit, oder ich schwöre, ich …«

»Oder was? Wirst du mir das Genick brechen oder mich erschießen? Wie denn? Hey, wach auf, Signorina! Im Ernst, schau dich doch mal an. Du weißt es noch nicht, aber in genau sechs Stunden, siebenundvierzig Minuten und acht Sekunden wirst du sterben, meine Liebe, also machen wir schnell, okay?«

»Was wollen Sie von mir, Sie verfluchter Schweinehund?« Aurora drückte verzweifelt auf den Dosierknopf für das Morphium. Die Schmerzen waren die Hölle.

»Nein, Bella, die Frage lautet: Was willst du von mir? Denn in deiner jetzigen, verkorksten Situation bin ich dein einziger Ausweg. Also sei etwas freundlicher zu mir, okay?«

Aurora rieb sich nochmals fest die Augen. Hoffte, dass dieser Kerl verschwinden würde, dass das alles nur ein Traum war. Vergeblich. »Es ist das Morphium«, sagte sie laut zu sich selbst. »Ich halluziniere, der Spinner da ist nicht echt, er existiert nur in meinem blöden Kopf. Hütchenmann … so was von bescheuert …«

»Hey, ich bin real! Schau hierher, meine Liebe. Ich habe eine kleine Überraschung für dich!«

Aurora sah, wie die drei goldenen Zylinderhütchen auf einmal in der Luft schwebten. Unter jedem Hütchen strahlte ein gleißendes, hellblaues Licht.

»Was zum Teufel machen Sie da – und was ist das?«

»Später. Beantworte mir zuerst eine Frage: Wie war dein bisheriges Leben?«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ehrlich? Naja, es war einfach grandios! Toll, echt toll, aber ich dachte, Sie wüssten ja schon alles über mich, oder etwa nicht? Sagen Sie mir endlich, was dieses Theater hier soll.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

»Nun gut, ich verstehe deine Verwirrung. Deshalb helfe ich dir etwas auf die Sprünge.« Er kratzte sich kurz am Hintern, presste die Lippen zusammen, als würde er sich soeben einen Furz verkneifen. »Dein jetziges Leben war die Hölle. Du hast dich schon als Kind oft einsam und nicht geliebt gefühlt. Kein Wunder. Vater abgehauen. Rabenmutter eine psychotische Nutte. Und beide sind dann früh über den Jordan gegangen. Sie sind so richtig tief abgesoffen, dafür habe ich gesorgt. War ja nicht weiter schlimm, denn die beiden haben sich ohnehin einen Dreck um dich geschert. Du warst für beide eine Belastung, und deine Mama hat dich schwer misshandelt. Also kein großer Verlust, oder? Und danach? Weder die Arbeit, der Alkohol noch die Schlaftabletten, die Eiscrèmes oder sonst was konnten deine innere Leere nach deiner gescheiterten Ehe füllen. Sobald dir eine Person zu nahekommt, vertreibst du sie, egal ob Frau oder Mann. Ich, meine Liebe, bin der Einzige, der dich mag, ja sogar auf meine perverse Art liebt.« Er lächelte sie schief an und entblößte dabei seine spitzen, gelben Zähne. »Dein Temperament, dein Mut, dein Beschützerinstinkt, dein Gerechtigkeitssinn, deine verborgene Zerbrechlichkeit und nicht zu vergessen deine Art zu fluchen, sind einfach klasse! Du hast es verdient zu leben, Aurora. Wie dein Name schon sagt – ich wünsche mir, dass du noch viele Morgenröten erlebst. Deshalb erhältst du eine zweite Chance, irgendwo ganz neu anzufangen. Na, wie klingt das in deinen Ohren?« Er zwinkerte ihr zu. Dann linste er auf seine goldene Rolex, hob die Augenbrauen und tippte mit dem Finger auf das Glas. »So ein Mist! Ich habe zu viel gequatscht. Wir haben keine Zeit mehr!«

»Was haben Sie mit diesem Licht und den Dingern da vor?« Aurora streckte die Hand aus. Sie wollte einen dieser schimmernden Lichtstrahlen berühren, aber der Hütchenmann packte blitzschnell ihr Handgelenk.

»Nein!«, brüllte er sie an. »Wage es nicht, eines von den Lichtern oder Hütchen anzufassen. Wenn du das tust, wirst du bei lebendigem Leib verbrennen. Also hör mir zu: Deine Uhr tickt, und in ein paar Minuten werden dich Wellen von Schmerzschüben erfassen, die unerträglich sind. Dein Ende naht.«

»Meine Uhr tickt schon lange, Blödmann – oder meinen Sie etwa, dass ich zum Spaß an dieses Bett gefesselt bin, hä? Wenn Sie mir irgendwie helfen wollen, dann hören Sie mit Ihrem verfluchten Gelaber auf und unternehmen Sie endlich etwas! Und …« Ein Hustenanfall unterbrach ihren Satz. Aurora hatte das Gefühl, dass ihre Lungen jeden Augenblick platzen würden. Als sie sich wieder erholt hatte, drückte der Mann ihre Hand, schüttelte den Kopf und grinste schief.

»Das gefällt mir so an dir, Aurora. Du hast dieses wunderbare Feuer in dir. Sogar am Ende deiner Tage sprüht es aus dir heraus. Wow! Ich freue mich, dir folgenden Deal anbieten zu können.« Er nahm den Zigarillo aus dem Mund, schnalzte wieder grässlich mit der Zunge und zerquetschte den Tabak in der Hand.

»Wie bitte? Sie bieten mir einen Deal an?«

»Jetzt sei mal still und hör mir einfach zu. Oder hast du etwas Besseres zu tun, außer schlafen, in die Aluschale pissen, scheissen, dich selbst bemitleiden, weinen, jammern und Morphium konsumieren?«

»Hören Sie sofort auf damit und tun Sie, was Sie nicht lassen können! Es ist mir scheißegal, Sie verdammter Engel – oder Sie Monster! Je eher wir den Quatsch hier hinter uns bringen, desto besser.« Nach der Fluchtirade knirschte sie vor Wut mit den Zähnen und schloss die Augen. Ihr fehlte die Kraft, noch länger mit diesem fremden Mann zu diskutieren.

»Du hast recht. Dann los!« Er deutete auf den Beistelltisch. »Unter jedem dieser Hütchen befindet sich die Seele eines deiner früheren Leben in einer anderen Zeitepoche.«

Aurora hob die Augenbrauen. Der Zweifel stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Ja, du hast mich richtig verstanden. Zeitepoche. Nur in einem dieser Leben lebst du länger als ein Jahr, aber bei allen besitzt du eine oder mehrere Gaben. Ich gebe dir die Chance, ein Hütchen auszuwählen und dein Leben zu verlängern. Vielleicht wirst du ja einen wundervollen Mann an deiner Seite haben – und Kinder und Freunde, die dich über alles lieben. Möchtest du dieses Leben nicht mal ausprobieren? Emotionen fühlen. Abenteuer erleben. Alles, was ein erfülltes Leben ausmacht – und das für ein ganzes Jahr oder, wenn du die richtige Wahl triffst, sogar für eine sehr, sehr lange Zeit? Was hast du zu verlieren? Denk kurz darüber nach und entscheide dich.«

Aurora schluckte leer und runzelte die Stirn.

»Sie verarschen mich. Das alles ist nicht wahr, Sie sind nicht real, oder?«

»Du täuschst dich. Realer als ich ist niemand«, antwortete der Hütchenmann und streichelte mit der unverletzten Hand über ihren kahlen Schädel und ihre eingefallene Wange. »Wähle, Aurora. Du hast noch genau eine Minute Zeit, dann verschwinde ich, und du wirst in den nächsten sechs Stunden einen qualvollen Tod erleiden, wirst bereuen, dich nicht entschieden zu haben, glaube mir. Als Gesetzeshüterin bist du dir bewusst, dass im gottesfürchtigen Land niemand deine Maschinen abstellen darf, sonst kommt er ins Gefängnis, und die Ärzte können dir nicht mehr Morphium verabreichen, als du schon kriegst.« Er stockte und starrte auf seine Rolex. »Noch fünfzig Sekunden …« Mit einer theatralischen Handbewegung richtete er den Blick an die Decke.

Ein kalter Schauer durchfuhr Aurora, und gleichzeitig hatte die Berührung des Hütchenmannes etwas Beruhigendes, Tröstendes, die einzige liebevolle Geste, die sie seit Monaten von einem Menschen erhalten hatte – und er hatte recht. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Wieso sollte sie den Deal ablehnen? Schon aus Neugier würde sie wissen wollen, wie eines ihrer früheren Leben ausgesehen hatte. War sie da glücklich gewesen? Und wenn alles doch nur ein Traum sein sollte … dann wollte sie diesen Traum möglichst schnell hinter sich bringen.

»Bevor ich wähle … verrätst du mir, für wen du arbeitest? Gott, den Teufel oder gibt es da noch mehr Wesen ohne Namen?«

»Das ist kompliziert und für dich nicht wichtig, meine Liebe. Ein anderes Mal werde ich es dir erklären, aber jetzt ist deine Zeit abgelaufen. Für welches Hütchen entscheidest du dich?«, fragte er mit einem breiten Grinsen, als würde er die Antwort schon kennen.

»Für das mittlere.« Kaum hatte sie die letzte Silbe ausgesprochen, verlor sie das Bewusstsein. Die Schmerzen verschwanden. Stille und Dunkelheit umhüllten sie, und ein wohlig warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. War das alles nur ein Traum gewesen, oder existierte dieser Hütchenmann wirklich, so wie dieser unglaubliche Deal?

Kapitel 1: »Das Leben ist nichts für Feiglinge!«

Ihr ganzer Körper fühlte sich schwerelos an. Die Kehle war trocken, und sie hatte einen süßlichen Geschmack im Mund. Die bleischweren Augenlider zu öffnen erwies sich als ein wahres Kunststück. Und was war das für ein Geräusch, das aus der Ferne in ihre Ohren drang?

Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Auf und Ab von Wellen. Ein Lufthauch, der nach Salz schmeckte, streichelte ihre Wangen. Sie nahm den harten, festen Sand unter den nackten Füßen wahr, das Reiben der Körnchen zwischen ihren Zehen und ihren Händen. Sie fröstelte. Verwirrt und benommen gelang es ihr endlich, ihre Augen zu öffnen. Am leuchtenden Sternenhimmel begrüßte sie ein riesiger, orangefarbener Vollmond. Der Hütchenmann hatte sie nicht angelogen. In welchem Leben war sie wohl gelandet? Sie atmete tief durch und spürte einen Druck auf ihrem Brustkorb. Langsam klärte sich ihr Sichtfeld. Akribisch begutachtete sie ihren neuen, schmerzfreien und schlanken Körper. Neben ihren pechschwarzen, hüftlangen und wild zerzausten Haaren entdeckte sie noch etwas anderes. Oh mein Gott! Sie trug einen rosafarbenen, zerrissenen HELLO-KITTY-Schlafanzug und lag an einem verlassenen Strand im Nirwana. Quer über ihre Brust drückte ein muskulöser Arm auf ihr Zwerchfell und erschwerte ihre Atmung. Sie schob den Arm des Fremden von sich, schoss senkrecht hoch und krümmte sich zusammen. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Die kühle Meeresluft rauschte in ihre Lunge. Wurde wieder von einem trockenen Husten herausgetrieben, der laut an den ausgedörrten Wänden ihrer Kehle scheuerte. Die surrealen Bilder um sie herum verfestigten sich allmählich in ihrem Geist. Ihr Herz raste immer noch wie das eines Raubtieres auf der Jagd. Erinnerungen an das Krankenhaus flitzten durch ihren Kopf, der sich so anfühlte, als sei er unter einen Presslufthammer geraten.

Fassungslos starrte sie auf den groß gewachsenen, dunkelblonden Mann, der bewusstlos neben ihr lag. Er besaß einen muskulösen Oberkörper und einen gut geformten Bizeps. Sein Brustkorb bewegte sich durch die flache Atmung nur schwach auf und ab. Auroras erster Schock verflog und machte ihrem Instinkt Platz. Sie holte tief Luft, kniete sich neben den Unbekannten und scannte ihn mit ihrem geübten Erste-Hilfe-Blick von oben bis unten. Der Mann hatte sehr viel Blut verloren. Sein Nacken war kahl geschoren und mit diversen tätowierten Runen versehen. Das Stirnhaar war zusammengebunden, und seine hohen Wangenknochen mit Blutkrusten übersät. Angesichts seiner zerrissenen, braunen Hose und der dunklen Kriegsbemalung auf seinem Gesicht musste dieser Fremde ein Barbar oder Krieger aus dem Norden sein. Trotz seines schlechten körperlichen Zustandes strahlte er eine raue Schönheit wie der Ozean selbst aus. Wenn Aurora in der Schule in Geschichte nicht meistens geschlafen hätte, hätte sie die Zeitepoche besser einordnen können. Sie fühlte den Puls am Hals des Mannes. Zu schwach.

Verdammt! Was sollte sie tun? Nervös kaute sie an der Innenseite ihrer Wangen und untersuchte den muskulösen Körper, der reglos vor ihr lag. Aurora zählte vier Stichwunden, einige Brandwunden sowie tiefe Schnitte an Bauch, Rücken, Armen und Beinen. Dass dieser Mann überhaupt noch atmete, grenzte an ein Wunder!

Als sie sich die infizierte Bauchwunde genauer ansah, glühten auf einmal ihre Handflächen. Es war, als würde eine starke Energie durch ihren ganzen Körper hindurchfließen und aus ihren Händen herausstrahlen. Verfluchte Scheiße! Was war das? Erschrocken wich sie zurück und blickte auf die Wunde, die sie gerade berührt hatte. Vor ihren Augen beobachtete sie, wie sich die Wunde automatisch schloss und veheilte. In diesem Augenblick schossen ihr die Worte des Hütchenmannes durch den Kopf:

›Nur in einem dieser Leben lebst du länger als ein Jahr, aber in allen besitzt du eine oder mehrere Gaben.‹

Sie legte die Hände an die Schläfen, konzentrierte sich – und nach ein paar Sekunden waren ihre pochenden Kopfschmerzen verschwunden. Unverzüglich machte sie sich daran, den Fremden mit ihren Handflächen überall dort, wo er verletzt war, zu heilen. Nach einer Weile bewegte sich sein Brustkorb rasend schnell auf und ab. Der Mann japste panisch nach Luft und richtete sich jäh auf. Aurora fiel durch seine wuchtige Bewegung rücklings auf den Sand.

Oh mein Gott! Der Kerl musste bei ihrem Anblick in diesem HELLO-KITTY-Schlafanzug einen Herzinfarkt kriegen und glauben, sie sei eine Außerirdische! Blitzschnell zog er ein Messer aus seinem Lederstiefel, stürzte sich auf sie und hielt ihr die scharfe Klinge an die Kehle. Er war so nah, dass Aurora nicht mehr zu atmen wagte und ihn wie gelähmt anstarrte. Der Krieger, der mit nacktem Oberkörper über ihr lag, war mindestens ein Meter neunzig groß, hatte breite Schultern und einen gemeißelten Sixpack, von dem er nicht mal wusste, dass man diesen in einem späteren Jahrhundert so nennen würde. Seine Augen waren von solch klarem Blau, als wären sie von einem Künstler mit Kobalt handgefertigt worden. Seine zusammengebundenen Stirnhaare hatten sich gelöst. Die Haarsträhnen fielen ihm lose in den kahl geschorenen Nacken, umrahmten sein scharfkantiges, attraktives Gesicht.

»Vem är du?«, brüllte er sie an. Aurora verstand kein Wort. Wahrscheinlich wollte er wissen, wer sie war, woher sie kam und was sie beide hier auf dieser Insel zu suchen hatten. Nun, darauf hatte sie leider keine Antwort, denn auch sie würde gerne wissen, wo sie gelandet war und vor allem, in welcher Zeitepoche. So wie der Kerl hier aussah, musste er ein Wikinger sein. Ja, sie hatte in ihrem ganzen Leben drei Wikingerfilme gesehen, aber nur an Walhalla Rising konnte sie sich gut erinnern, weil ihr Lieblingsschauspieler Mads Mikkelsen da mitgespielt hatte. Aber dieser kräftige Wikingerkrieger über ihr war nicht nur wunderschön, nein, er war auch furchteinflößend. Nicht mal in seiner Rolle als Hannibal Lecter sah Mads Mikkelsen so gefährlich aus wie Mister Kobalt, der schon wieder den gleichen Satz wiederholte, aber dieses Mal war sein Gesicht nur wenige Zentimeter vor ihrem. Sein warmer Atem tanzte über ihre Wangen, ihre Lippen. Ein salziger, herber Duft, vermischt mit Schweiß drang in ihre Nase. Jede einzelne Narbe in seinem wilden Gesicht wirkte wie ein Schmuckstück, so als wären diese wohlüberlegt platziert worden. Auroras Muskeln spannten sich an.

»Ich bin ein Bulle, Terminator, und wenn du mir nur einen winzigen Kratzer am Hals zufügst, dann trete ich dir in die Eier, capisci?« Ihr Ton schien ihm nicht zu gefallen. Er drückte die Klinge fester an ihren Kehlkopf und erwiderte etwas, das sie wiederum nicht verstand, nichtsdestotrotz kreiste in ihrem Kopf ein weitaus anderer Gedanke. In seinem Blick lag Neugier und Respekt, was in ihr eine Vermutung aufkeimen ließ. Okay, in Geschichte war sie eine Niete, aber wie der Titel des Wikingerfilms, den sie gesehen hatte, schon besagte, glaubten diese Krieger an Götter und Walhalla, den Ruheort aller gefallenen Kämpfer. Bevor er einen weiteren Satz aussprach, sagte sie: »Odin. Thor. Walhalla.« Sie nickte schwach, rollte mit den Augen und zeigte zum Sternenhimmel.

»Odin«, wiederholte sie, und mehr brauchte sie auch nicht zu sagen. Der Mann zog sich zurück, stand auf, reichte ihr die Hand und half ihr hoch. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Steckte das Messer wieder in die Stiefel. Die Anspannung in seinem Gesicht war gewichen. Er tastete seinen Körper ab und schaute in den Himmel. Schrie irgendetwas, wobei Aurora wiederum nur Odin verstand. Sie nickte, obwohl sie nichts kapierte, was auch nicht wichtig war. Hauptsache, Mister Kobalt hatte sich beruhigt. Als er ihr ein schelmisches Lächeln schenkte, blinzelte sie irritiert und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Er ging auf sie zu, schmunzelte und zeigte mit dem Finger zuerst auf sie, dann auf den Himmel und sagte etwas, wobei Aurora nur Odin verstand.

Da Aurora wiederum nur »Odin« verstand, nickte sie. Er deutete ihr mit dem Kopf ins Landesinnere zu einem Hügel mit einer runden Öffnung, die einem Höhleneingang ähnelte, was aber aus dieser Distanz nicht klar ersichtlich war. Aurora bejahte und schlang die Arme um ihren Körper. Sie war durstig, und ihr Magen knurrte wie Hund. Sie scannte die karge Umgebung. Eine Wasserquelle war nirgends zu sehen, was ihr ein paar Sorgenfalten auf die Stirn zauberte. Im Schein des Vollmonds erkannte sie eine Schar von funkelnden Sternen. Es herrschte eine trügerische, idyllische Stille, eine, die Aurora unruhig stimmte. Durch die dunklen Felsen und Landfelder ähnelte die Insel einer Mondlandschaft. Dazwischen sprießten ein paar Gräser, Büsche oder Palmen. Gab es hier Tiere und Menschen? Wenn ja, wo zum Teufel waren sie? Eine kühle Meeresbrise wirbelte ihr langes schwarzes Haar durcheinander. Sie registrierte, wie der Wikinger ihr ein Zeichen gab, sie solle hier warten. Dann marschierte er los und sammelte am Strand ein paar Sachen ein, die ihm zu gehören schienen. Er packte zwei zerrissene Stücke eines Segeltuchs, schnitt es mit dem Messer zurecht und steckte zum Schluss den Kopf durch das Loch in der Mitte. Um seine Hüfte schlang er die Ecken mit einem Stoffstreifen. Das andere Teil brachte er Aurora, die dieses dankend entgegennahm und wie einen Poncho überstreifte, während er die Stiefel auszog und den Sand aus ihnen herausklopfte. Aus den zerrissenen Leinenhosen lugten Beine hervor, die jeden Hundert-Meter-Sprinter neidisch gestimmt hätten. Und diese Muckis waren mit Sicherheit ohne Hanteltraining, Eiweißshakes oder Anabolika entstanden! Der Kerl strahlte Selbstsicherheit, Stärke und Coolness aus. Er erinnerte sie an jemand, der zwar ganz anders aussah, aber dieselbe magische Ausstrahlung und Anziehungskraft auf sie besessen hatte wie Blauauge, mit dem Unterschied, dass jener Rambo anhimmelte und dieser hier Odin. Eines war klar, Aurora kannte sich weder mit Jagen von Tieren noch mit der rauen Natur aus und würde hier alleine nicht mal eine Woche überleben, er hingegen schon. Deshalb würde sie freundlich zu ihm sein und sich ihm von ihrer Schokoladenseite zeigen. Mit verschränkten Armen stand er einen Meter vor ihr und betrachtete sie von oben bis unten. Tja, Terminator – I will be back – aber auch das würdest du nicht verstehen, dachte sie. Ja, sie war zurück, ohne Krebs und mit all ihrer Haarpracht und einem sexy Outfit, das ihr Odin höchstpersönlich geschneidert hatte: HELLO KITTY FROM WALHALLA, eine neue Göttin war geboren.

Mit der Faust schlug der Wikingerkrieger auf seine Brust und sagte: »Rodmar.«

Aurora klopfte mit der Handfläche ebenfalls auf ihre Brust und antwortete: »Aurora«. Als er ihren Vornamen mit seinem seltsamen Akzent wiederholte, musste sie unwillkürlich lächeln. Es war schon sehr lange her, dass ihre Mundwinkel sich zu einem Lachen geformt hatten. Rodmar antwortete mit einem breiten Grinsen und blickte in den Himmel. Er murmelte irgendetwas, wobei Aurora wiederum nur die Wörter Odin und Thor verstand. Sie freute sich, dass er ihr wohlgesinnt zu sein schien. Wahrscheinlich dachte er, sie sei die Tochter von Odin oder stamme vom gleichen Stern wie dieser Gott. Warum auch nicht? Sein Glaube war für sie von Vorteil, denn diesen Terminator wünschte sich gewiss niemand zum Feind zu machen, auch sie nicht. Hinsichtlich der Kommunikation gab es noch einige Hürden zu überwinden, aber da sie ja jetzt ein Sternenkind von einem anderen Planeten war, würde ihr schon irgendetwas einfallen. Neben ein paar nicht jugendfreien Gedanken schossen ihr auch andere, wichtigere durch den Kopf: Wasser und Nahrung. Ihr Mund war ausgetrocknet und ihr Magen gab knurrende Töne von sich.

Nach ein paar Schritten in Richtung Höhle blieb Rodmar auf einmal stehen, bückte sich und hob ein schweres Schwert auf. Er schaute durch seine dichten Wimpern zu Aurora, den Kopf leicht schräg gelegt, und grinste. Mit der Hand streichelte er sanft jeden Zentimeter Metall, um diesen vom Sand zu befreien. Die Bewegung hatte etwas Anmutiges und Respektvolles an sich, so als hätte er einen zerbrechlichen Schatz gefunden, etwas, das ihm sehr viel bedeutete. Wenn er sie so von dem Dreck ihres lächerlichen Pyjamas befreien würde, würde ihr Gehirn einen Kurzschluss erleiden. Aurora starrte auf seine hohen Wangenknochen, auf seine Lippen … oh Gott, diese Lippen waren perfekt, auch wenn sie spröde und trocken waren. In dem Moment trafen sich ihre Blicke, so als hätte er sich soeben in einen Gedankenleser verwandelt. Dabei spürte sie ein seltsam ziehendes Gefühl im Bauch. Jetzt, genau in diesem Augenblick, brannte ihr Gesicht wie Feuer, und sie leuchtete sicher rot wie eine Peperoni. Sie senkte ihren Blick, verscheuchte ihre aussichtslosen Lippen-Träume und tat so, als wäre sie höchst interessiert an der Beschaffenheit des Schwertes. Zeit, Pluspunkte zu sammeln! Sie lächelte verlegen, nickte und begutachtete den Griff. Dieser war mit Mustern aus Silber und Messing verziert, die Klinge aus Stahl. Rodmar näherte sich ihr, sprach ein paar unverständliche Sätze und zeigte ihr seinen wertvollen Fund. Sie hob die Augenbrauen, setzte ihr bestes WOW-Gesicht auf und tat so begeistert, als würde sie ihn verstehen.

»Gehört es dir?«, fragte sie und deutete mit dem Zeigefinger zuerst auf das Schwert, dann auf Rodmar. Er nickte. Klopfte sich auf die Brust und trat noch näher, was er besser nicht getan hätte. Seine hypnotischen Augen mit den dichten, dunklen Wimpern trafen die ihren. Sein Blick drang tief in ihre Seele – und auch noch woanders hin … weckte etwas, das seit viel zu langer Zeit im Schneewittchen-Koma gelegen hatte. Ihr gesamter Körper vibrierte auf eine Art, die sie an ihre Teenagerzeit erinnerte, als der unvermeidliche Tanz der Teufelshormone seinen Lauf genommen hatte. Ihre Wangen glühten, dann breitete sich Hitze über ihren restlichen Körper aus, weiter und weiter – sehr weit hinunter. Diese Nähe war ihr eindeutig zu viel. Sie machte einen seitlichen Schritt. Legte ihm die Hand auf die Schulter. Nickte. Setzte ihr Pokerface-Lächeln auf und bedeutete ihm mit dem Kopf, weiterzumarschieren, ansonsten würde sie gleich umkehren und den Kopf ins kalte Meerwasser tauchen, bis ihr Körper abgekühlt war. Beim nächsten Schritt trat sie auf etwas Hartes, Kantiges.

»Autsch! Verfluchte Scheiße. Was war das denn?« Sie beugte sich vor. Hob eine Halskette mit einem silbernen Hammer-Amulett auf sowie einen Ledergürtel mit drei Scheiden.

»Rodmar?«, rief sie und drehte sich um. Als er die Gegenstände in ihre Hände sah, funkelten seine Augen. Dieser harte Krieger strahlte bis über beide Ohren, wie ein Kind, das gerade ein Weihnachtsgeschenk auspackt.

»Hålltider kort«, sagte er und übergab ihr das Schwert.

»Danke. Mamma Mia! Das wiegt ja eine Tonne.« Verwundert nahm sie die Waffe entgegen. Was sollte sie nun damit? Von Schwertkunst hatte sie keine Ahnung. »Hier nimm es, das gehört sicherlich auch dir.« Er legte die Kette um seinen Hals, schnürte den Ledergurt mit den Scheiden um die Hüfte, nahm Aurora das Schwert wieder ab und schob es langsam in den Rückenhalfter. Dann tastete er nach dem Messer in der linken Lederscheide, zog es kurz heraus, begutachtete die Klinge und steckte es wieder ein. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn, wo ein Dreitagebart spross. Dann umfasste er das Amulett mit Thors Hammer an seinem Hals. Bevor Aurora antworten konnte, flog ein Schwarm von Dutzenden von Raben über ihre Köpfe. Das war ungewöhnlich. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

»Hugin och Munin!«, sagte Rodmar. An diese Namen erinnerte sich Aurora. So nannten die Wikinger Odins Raben, besser gesagt, seine zwei Spione. Die flogen tagsüber umher und berichteten dem Gott alle Neuigkeiten. Zumindest laut der Filme, die Aurora gesehen hatte. Bevor sie ihm antworten konnte, stupste Rodmar sie unsanft am Arm und rannte los in Richtung Höhle. Er hatte den Rabenschwarm offenbar als Alarmzeichen von oben gedeutet, denn Raben waren Boten von Unheil oder so was in der Art. Aurora blieb nichts anderes übrig, als ihm hinterherzurennen. Im nächsten Moment pfiff ein starker, eigenartiger Wind über den Strand. Sofort breitete sich ein ungutes Gefühl in Auroras leerem Magen aus. Verdammt! Etwas stimmte mit dieser Insel nicht. Als hätten sie die Götter erzürnt, zuckten Blitze am bedeckten Himmel und ein Donner nach dem anderen grollte. Regen und Hagel peitschten herunter. »Det är Thor!«, schrie Rodmar. In diesem Moment schlug nur ein paar Meter neben Aurora ein heftiger Blitz ein. Er packte sie am Arm, und beide rannten mit aller Kraft zum Hügel, um sich in Sicherheit zu bringen. Der Wind fegte wie ein Tornado über die Landschaft, und das Meer wehte Sand, Geröll, Treibholz und Steine vom Untergrund auf. Es war, als wäre von einer Sekunde auf die andere die Apokalypse über die Insel hereingebrochen. Die Elemente tobten sich wie Raubtiere an ihrer Beute aus. Auroras Schreie wurden vom Tosen des Windes verschluckt. Der Gegenwind war für sie zu stark. Obwohl Rodmar fest ihre Hand hielt, fehlte ihr die Kraft, einen weiteren Schritt zu tun. Als würde sie von hinten von einem Magnet angezogen, ließ sie ihn los und fiel rückwärts um. Bevor sie vom Wind weggerissen wurde, rettete er sie in letzter Minute, indem er sie am Arm packte und hochhob. Doch es dauerte nicht lange, bis beide wie zwei Zahnstocher umfielen und auf dem nassen Schlammboden in Richtung Meer geschleift wurden. Ein kurzer Blick zum Wasser ließ Aurora noch mehr schaudern. Eine riesige Welle, hoch wie ein Tsunami, rollte schnurstracks aufs Festland zu. Ein gewaltiges Monster, das keine Gnade kannte und beide innerhalb von Sekunden wie ein Hai verspeisen würde. Regen peitschte auf ihre Körper und Gesichter. Aurora hatte keine Ahnung, woher Rodmar die Kraft nahm, aber es gelang ihm, seinen Arm um ihre Hüften zu legen. Er umklammerte sie fest, sodass sich seine Fingernägel in ihre Haut bohrten. Die andere Hand versuchte er wie einen Anker tief in den Boden zu vergraben. Ohne ihn wäre sie jetzt direkt vom Meer verschluckt worden. Der Wind spielte verrückt. Er drehte sich ständig. Es schien, als würde jemand mit ihnen spielen, mal von dieser Seite, mal von der anderen. Als Krönung begann die Erde zu beben. Sie hatten keine Chance. Rodmar umarmte Aurora mit aller Kraft, während sie ihr Gesicht in seiner Brust vergrub und zuhörte, wie er eine Art Gebet an Odin sprach. In dieser engen, kraftvollen Umarmung fühlte sich Aurora sicher. In ihrem vorherigen Leben existierte nur einer, dem es gelungen war, ihr dieses Gefühl zu vermitteln. Egal, was geschehen würde, so mit Rodmar zu sterben war allemal besser als im Krankenhaus.

Aurora glaubte an keinen Gott, aber an den Hütchenmann schon. Ihm hatte sie die Katastrophe auf dieser verfluchten Insel schließlich zu verdanken. Hatte sie in einem früheren Leben wirklich auf dieser kargen Insel gelebt, oder hatte der Hütchenmann sie angelogen? Wenn ja, dann ergab das alles gar keinen Sinn. Aurora kniff die Augen zusammen wie Rodmar, dachte an den knollnasigen Zauberer, und als sie ihn vor ihrem geistigen Auge sah, rupfte sie in Gedanken ein Hühnchen mit ihm: ›Liebes Arschloch da oben namens Hütchenmann, du hast mir versprochen, dass ich mindestens ein Jahr lang leben würde, und zwar in einem meiner früheren Leben. Also beweg gefälligst deinen verfluchten Arsch hierher und tu endlich etwas!‹ Und tatsächlich hörte sie seine Stimme in ihrem Ohr. Sie klang nasal, so als wäre er erkältet:

„Oh Bella! Bitte entschuldige. Bei der Teleportation ist etwas mächtig schiefgelaufen. Nichts, was ich nicht in Ordnung bringen könnte, aber es dauert ein wenig. Euer beider Aufenthalt auf der Insel gehörte nicht zu meinem Plan. Den Landfleck gibt es in fünfzig Jahren nicht mehr. Die Insel wird vom Meer verschluckt werden und deshalb auch nie auf einer Landkarte erscheinen. Hab etwas Geduld, meine Liebe! Zuerst muss ich das Problem mit der Insel lösen und dann kümmere ich mich umgehend um deine Teleportation in dein neues, altes Leben. Ciao!“

Auf einmal wurde es mucksmäuschenstill um sie herum. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Aurora hob ihren Kopf und erkannte, wie Rodmar wie eine eingefrorene Wachsfigur in der Umarmungsposition vor ihr stand. Er atmete nicht. Er lebte nicht. Das Chaos um sie herum bewegte sich in Slowmotion und blieb immer wieder stehen, so als würde jemand in einer Zeitmaschine wiederholt die Pausentaste drücken. Das hatte sie schon mal im Krankenhaus mit der herunterfallenden Tasse erlebt. Nein, nein, was zum Teufel machte der Idiot da oben? Panik überfiel Aurora, denn das Letzte, was sie wollte, war, in irgendeiner Zeitschlaufe für immer stecken zu bleiben.

»Hey Arschloch, spinnst du? Was soll das? Egal, was du da treibst, Rodmar kommt mit mir. Du kannst mir nicht einen Mann vor die Nase stellen, der mein Blut in Wallungen bringt, nur um ihn mir einfach wieder wegzunehmen! Von mir aus kannst du uns zwei in die Flower-Power-Zeit beamen, damit hätte ich absolut kein Problem, okay? Tust du mir bitte diesen Gefallen, damit ich mir zur Beruhigung einen richtig fetten Joint reinziehen kann?«

Tatsächlich ertönte wieder die Stimme in ihrem Ohr: »Nein! Und halt bitte die Klappe, ich bin beschäftigt und muss mich konzentrieren. Die Schicksalsfäden zu spinnen ist kein Kinderspiel. Du wirst mich ab jetzt weder hören noch sehen können, aber ich hinterlasse dir meine Botschaften in anderer Form, keine Bange! Das wird ein Spaß werden. Ciao Bella.«

»Nein, nein, nein, hey, bleib da! Bitte, ich verspreche dir, folgsam zu sein, dich Gottvater zu nennen und jeden Abend zu dir zu beten, okay?« Auroras Atmung wurde flacher. Es war, als würde die Luft zu wenig Sauerstoff enthalten. Ihr wurde schwindelig, alles um sich herum begann sich zu drehen. Das Letzte, was sie sah, war ein Grabstein mit ihrem eingravierten Namen, Aurora Santini, inklusive Todestag. Vor dem Grab stand ein Mann in Tränen und mit einem großen Rosenstrauß, ihren Lieblingsblumen. Er ging in die Hocke, legte den Strauß auf das Grab, berührte den Marmorstein und weinte unaufhörlich.

»Es tut mir so leid, Aurora. Ich liebe dich. Bitte verzeih mir. Du fehlst mir so, und ich kann nicht ohne dich sein. Ich kann nicht mehr …«

»Oh mein Gott, ich bin tot. Nico, steh auf! Du musst weitermachen, du darfst nicht aufgeben, niemals! Hörst du mich?« Dann schloss sie die Augenlider, und bevor sie im Nirgendwo versank, strömten Bilder in ihren Geist, Bilder und Gefühle, Erinnerungen aus ihrem vorherigen Leben …

I. Florenz – Damals in der Zukunft: »Aurora und Nico«

»Hörst du es, Aurora?«, fragte Nico. Er nestelte an seinem Schlafsack, rutschte ganz nah an Aurora, die sich langsam in eine anschleichende Angst hineinsteigerte. Gefüttert wurde sie von den Gruselgeschichten, die ihr Nico absichtlich ständig erzählte, um die Saat der Furcht in ihr kleines Herz zu säen. Obwohl der zehnjährige Nachbarsbub genau dreizehn Monate älter war als Aurora, führte er sich bei ihr auf, als wäre er ihr zehn Jahre älterer Bruder. Kein Wunder, beide waren Einzelkinder und kannten sich schon ein Leben lang. Sie waren immer zusammen, wie unzertrennliche Geschwister. Nico liebte es, Auroras starken und weisen Beschützer zu spielen.

»Nein. Was hörst du denn?«, fragte Aurora und starrte in Nicos bernsteinfarbene Augen. Sie runzelte die Stirn. Klammerte sich an ihren braunen, abgewetzten Teddybären. Sein pechschwarzer Wuschelkopf war total zerzaust, so als hätte er gerade den Finger in eine Steckdose gesteckt.

»Pst … es ist ein Löwe oder ein Bär. Du musst ganz still sein und keine Angst haben. Ich beschütz dich.«

»Okay, aber ich hör nichts.« Aurora starrte auf die Decke des Zeltes und spürte ein leichtes Ziehen in ihrer Bauchgegend. Es war nicht dieselbe Angst, die sie vor ihrer Mutter verspürte. Was wäre, wenn Nico recht hatte und da doch irgendein Monster auf sie lauerte? Auf einmal fand sie die Idee des Zeltens nicht mehr so toll. Sie hatten Sommerurlaub, und Nico hatte seine Eltern und Auroras Mutter dazu überredet, beide im Garten von Nicos Familie zelten zu lassen. Sie hatten sich in ihren blau gemusterten Pyjamas im Badezimmer die Zähne geputzt, hatten Nicos Eltern, die im Wohnzimmer gesessen hatten und fernsahen, gute Nacht gesagt, und gingen dann hinaus in den Garten, wo sie am Nachmittag gemeinsam das Zelt aufgebaut hatten. Bei Tag war noch alles ganz harmlos gewesen, aber jetzt, in der Nacht, zauberte der Lichtkegel von Nicos Taschenlampe, mit der sie noch eine Weile Comics gelesen hatten, auf einmal seltsame Schatten an die Zeltwand. Je mehr Geräusche verschwanden, die das Wohnviertel tagsüber von sich gab, umso mehr komische Laute drangen jetzt in der Nacht in Auroras ängstliche Kinderohren. Sie drückte ihren Teddybären Bruno noch fester an ihre kleine Brust. Knabberte an ihrer Unterlippe, während sie lauschte.

»Pst … hör genau zu. Es ist eindeutig ein Löwe, der sich an unser Zelt anschleicht. Bruno kann dir da auch nicht helfen, aber ich schon, denn ich habe vor nichts Angst. Ich werde mal Polizist, wie mein Vater, und beschütze alle Menschen, egal wie viele Monster auch kommen.« Nico entriss ihr den Teddybären und warf ihn weg.

»Hey, was machst du da? Spinnst du? Das ist Bruno, mein Bruno! Den hat mir deine liebe Mama Rosa geschenkt.«

»Ich weiß, aber der kann dir nicht helfen, ich schon. Komm näher zu mir, ich beschütze dich. Sobald der Löwe mich sieht, weiß er, dass ich ein gefährlicher Krieger bin. Er macht sich sofort in die Hosen und rennt davon, bevor ich ihn plattmache.«

»Und woher will der Löwe das wissen? Du hast doch gar keine Waffen, Nico!« Aurora machte den Reißverschluss ihres Schlafsackes auf und schlüpfte sofort in den ihres Freundes. Dieser umarmte sie fest.

»Ich hab unter dem Kissen mein Rambo-Messer versteckt.«

»Aber das ist aus Plastik, Nico!«

»Ja, aber das weiß der Löwe nicht, nur wir beide, verstehst du?«

»Aha, aber …«

»Hör auf, Fragen zu stellen, Aurora. Hab ich dich je im Stich gelassen, enttäuscht oder angelogen?«

Aurora schüttelte den Kopf.

»Vertraust du mir dein Leben an?«

»Ja.«

»Und warum?«

»Weil du stärker als Rambo bist und Polizist werden wirst wie dein Papa?«

»Na also. Geht doch. Du hast es endlich kapiert. Bist ein cleveres Mädchen, Aurora, fast so clever wie ich.«

»Danke, Nico. Der Löwe hat also wegen des Rambo-Messers Angst vor dir, auch wenn er es nicht sehen kann, wenn er zu uns ins Zelt kommt?«