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An ihrem fünfzehnten Geburtstag hört Merlina mitten in der Nacht verzweifelte Hilferufe ihrer Mutter und gelangt durch einen Spiegel in eine fremde Welt. Dort hofft sie, endlich ihre verschwundenen Eltern zu finden. Doch zu ihrem Schrecken muss Merlina erfahren, dass ihr Vater dieses Reich ins Unglück gestürzt hat. Er erschuf die dunklen Spiegel, die den Menschen dort alle Lebensenergie nehmen und sie zu willenlosen Untertanen machen. Gemeinsam mit Ido, einem gleichaltrigen Jungen, begibt Merlina sich auf eine gefahrvolle Reise. Denn nur sie kann die Macht der dunklen Spiegel brechen ...
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Seitenzahl: 244
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Als Merlina wieder zu sich kam, lag sie auf dem Rücken.
Prüfend bewegte sie ihre Glieder. Nicht der leiseste Schmerz war zu spüren. Zaghaft öffnete sie die Augen.
Um sie herum herrschte dämmriges Licht. Vorsichtig bewegte sie ihren Kopf in die Richtung, wo sie das Fenster vermutete.
Plötzlich stutzte sie. Denn dort, wo eigentlich die Zimmerdecke sein musste, befand sich der Mond. Rund und voll und an den Rändern leicht ausgefranst. So, als ob er durch einen dünnen Wolkenschleier hindurchscheinen würde.
Wie von einem Stromschlag getroffen, fuhr sie hoch und blickte im nächsten Moment in eine öde, in kaltes Mondlicht getauchte Ebene voller großer Felsbrocken und einzelner abgestorbener Bäume. In der Ferne ragten die Zacken einer Bergkette in den Nachthimmel.
Wo war sie?
Sie versuchte sich zu erinnern ... Eine Stimme hatte sie geweckt, mitten in der Nacht. Ein Hilferuf aus dem Zimmer ihrer Mutter. Dem Raum im Haus von Merlinas Großeltern, aus dem ihre Mutter Elena vor fünfzehn Jahren auf unerklärliche Weise verschwunden war. Wenige Tage nach Merlinas Geburt.
Merlina war in das Zimmer hinübergeschlichen, um der Stimme zu folgen. Der große, ovale Spiegel, der dort stand, hatte sie unwiderstehlich angezogen. Sein Glas war von so vollkommener Dunkelheit gewesen, dass selbst ein draußen aufzuckender Gewitterblitz es nicht erhellt hatte.
„Merlina!“, hatte eine flehende Frauenstimme aus der pechschwarzen Spiegelfläche geflüstert. Sie war ihr vertraut vorgekommen, obwohl sie nicht glaubte, sie je zuvor gehört zu haben.
„Mutter!“, hatte sie erwidert, ohne nachzudenken.
Sehnsüchtig hatten ihre Fingerspitzen den Spiegel berührt, und schließlich hatte sie ihren ganzen Körper gegen das Oval gepresst. Im nächsten Moment war sie durch das Glas gefallen wie in einen endlos tiefen, lichtlosen Abgrund.
Ihre Hand fuhr über die Erde. Unter ihren Fingerkuppen spürte sie feinen Staub und kleine Steinchen.
Ungläubig schaute sie an sich hinunter. Sie trug noch immer ihr Nachthemd.
Was sollte sie jetzt machen? Wie konnte sie zum Haus ihrer Großeltern zurückgelangen?
Hektisch sah sie sich nach allen Seiten um. Aber nichts, was sie erblickte, kam ihr irgendwie vertraut vor.
Verworren herumflatternde Gedanken durchfuhren sie: Konnte es sein, dass sie sich hinter dem Spiegel befand? War das dunkle Glasoval eine Art Tor, durch das sie in eine andere Welt gelangt war? Hatte Elena, ihre Mutter, vor fünfzehn Jahren womöglich den gleichen Weg genommen? Stammte MerlinasVater, den Elena angeblich auf einer Reise kennengelernt hatte, vielleicht von diesem Ort? Das würde erklären, warum ihre Großeltern nie etwas über ihn in Erfahrung hatten bringen können.
Sie selbst hatte keinen ihrer beiden Eltern je gesehen. Nur einige alte Fotografien ihrer Mutter Elena kannte sie. Darauf war eine mittelgroße, zierliche Frau zu sehen, mit langen braunen Haaren, einem schmalen Gesicht, grünen Augen, hohen Wangenknochen und einem sanften, freundlichen Blick. Elena glich ihr sehr. Nur dass Merlinas Augen blau waren und ihr Körper kräftiger als der ihrer Mutter.
„Mutter?! ... Vater?!“ Wie Schreie brachen diese Worte aus ihrem Mund.
Keine Antwort. Nur das Rauschen eines leichten Nachtwindes war zu hören.
Hatte ihre Mutter sie damals von hier zu ihren Großeltern gebracht und war danach selbst wieder hierher verschwunden? Aber warum hätte sie das tun sollen?
Merlina erhob sich und wandte den Blick hinter sich.
Jetzt sah sie die Silhouette einer Stadt, die sich bisher in ihrem Rücken befunden hatte. Sie war nicht allzu weit entfernt und lag in völliger Dunkelheit, ohne ein einziges Licht. In der Mitte ragte ein riesiges, burgartiges Gebäude empor. Schornsteine von Fabriken waren zu erkennen.
Über dem Stadtgebiet wölbte sich eine auch im Mondlicht zu erkennende Dunstglocke.
Vielleicht war das hier alles nur ein Traum ...
Heftig stampfte sie auf den Boden. Die staubige Erde unter ihren Fußsohlen fühlte sich beim Aufprall an wie harter Stein.
Verzweifelt versetzte sie sich einen heftigen Schlag ins Gesicht, um zu erwachen. Aber statt die Augen aufzuschlagen und sich wieder im Haus ihrer Großeltern zu befinden, spürte sie nur einen brennenden Schmerz auf ihrer Wange, der sich sehr real anfühlte.
Wenn sie sich wirklich in einer anderen Welt befand, gab es hier dann Überhaupt jemanden außer ihr? Ein dunkler Gedanke ging ihr durch den Kopf:Vielleicht hatte sich hier eine Katastrophe ereignet, die verhindert hatte, dass ihre Mutter zu ihr zurückgekehrt war. Und die Stadt, die sie sah, bestand womöglich nur noch aus menschenleeren Ruinen.
Mit einem Mal fühlte sie sich unendlich einsam. Sie musste in die Welt zurückkehren, aus der sie kam, und zwar sofort! Später könnte sie vielleicht erneut hierhin aufbrechen, um ihre Eltern zu suchen. Besser ausgerüstet und nicht nur mit einem Nachthemd bekleidet.
Angespannt schaute sie sich nach einem Rückweg um, doch nirgendwo konnte sie einen Hinweis auf das Spiegeloval entdecken, durch das sie an diesen Ort gelangt war.
Behutsam machte sie einige Schritte in verschiedene Richtungen und hielt dabei ihre Hände tastend vor sich. Vielleicht war die Pforte ja auf dieser Seite unsichtbar. Aber ihre Handflächen berührten nichts außer der lauen Nachtluft. Gleich darauf sprang sie mit emporgerissenen Armen so hoch sie konnte. Ebenfalls vergeblich.
Was, wenn der Durchgang sich noch ein wenig höher befand? Vielleicht nur wenige Zentimeter. Sie nahm einen Stock, der auf dem Boden lag, und stocherte damit in der Luft herum. Schließlich warf sie vorsichtig ein paar kleine Steine empor. Alles ohne jedes Ergebnis. Sie wühlte mit ihren Füßen im Erdboden. Auch dort könnte der Spiegel verborgen sein.
Schließlich gab sie auf. Nirgendwo die geringste Spur eines Durchgangs. Vielleicht konnte sie ihn bei Tageslicht entdecken.
Aber sollte sie wirklich hier auf den Morgen warten? Unschlüssig schaute sie zur Stadtsilhouette hinüber. Sie hatte keine Ahnung, was sie dort erwarten würde. Sicher wäre es klug, diesen Ort im Schutz der Dunkelheit auszukundschaften. Und sie konnte eine solche Erkundungstour nicht auf die nächste Nacht verschieben. Sie besaß weder Wasser noch Nahrung und befand sich mitten in einer trockenen Einöde. In der Stadt gab es sicher Wasser, und wenn es hell würde, könnte sie zu dieser Stelle hier zurückkehren, um weiter nach dem Durchgang zu forschen.
Doch wie sollte sie genau diesen Platz wiederfinden?
Angestrengt bemühte sie sich, Orientierungspunkte auszumachen. Vor ihr, in etwa 100 Metern Entfernung, stand ein abgestorbener Baum, der aussah wie ein Riese mit zwei emporgestreckten Armen. Dazwischen erhob sich in der Ferne der höchste Gipfel der Bergkette.
Merlina machte eine halbe Drehung um sich selbst und blickte in die entgegengesetzte Richtung. Jetzt befand sich das burgartige Riesengebäude vor ihr. An diesen beiden Marken konnte sie sich orientieren.
Den genauen Punkt ihrer Ankunft markierte sie mit einem Haufen aufgeschichteter Steine. Dann marschierte sie los.
Der Weg war weiter, als es aus der Ferne gewirkt hatte. Während sie Kilometer um Kilometer zurücklegte, wurden mehr und mehr Einzelheiten der Stadt sichtbar. Sie war ziemlich groß, mit flachen Gebäuden am Rand und immer höher werdenden zur Mitte hin. An etlichen der Fabrikschornsteine konnte sie jetzt Rauchfahnen erkennen und in der Nähe von einigen auch ein schwaches rötliches Glühen. Erste Anzeichen für Leben.
Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas gefesselt, das sich etwa dreißig Meter vor ihr befand und das sie bisher für einen kleinen Felsbrocken gehalten hatte. Tatsächlich aber war es eine auf dem Boden hockende Person, die ihr den Rücken zugewandt hatte. Der Statur nach zu urteilen kein Erwachsener, sondern eher ein Jugendlicher.
Merlina verharrte regungslos. Sollte sie den Unbekannten ansprechen, oder war es besser, unbemerkt zu bleiben? Auf den ersten Blick sah dieser Mensch nicht besonders gefährlich aus.
Sie machte einige zögernde Schritte auf ihn zu. Jetzt konnte sie erkennen, dass die Person eine Hose und einen Pullover trug. Es schien ein Junge zu sein. Sie schlich weiter und war schließlich nur noch wenige Meter von ihm entfernt, ohne dass er sie bisher bemerkt hatte.
Der Jugendliche schien etwa so alt zu sein wie sie, hatte kurzes schwarzes Haar, etwa ihre Größe und ein breites Kreuz. Sein Blick haftete an etwas, das sich vor ihm auf dem Boden befand und im Mondlicht schimmerte.
Plötzlich machte Merlinas Herz einen Sprung. Das, worauf der Unbekannte schaute, schien ein Spiegel zu sein. Vielleicht der Weg zurück in ihre Welt!
Sie schritt weiter auf den Schwarzhaarigen zu. Schließlich realisierte sie, dass die spiegelnde Fläche vor ihm nicht aus Glas bestand, sondern dass es sich um eine Wasserlache handelte.
Noch immer hatte er keine Notiz von ihr genommen.
„Hallo?“, sprach sie ihn mit leiser Stimme an.
Augenblicklich fuhr der Junge herum und schaute sie mit schreckgeweiteten Augen an.
„Keine Angst. Ich ...“, stammelte sie.
„Speculum!“, brüllte in diesem Moment jemand oder etwas direkt neben dem auf dem Boden Hockenden. Hinter einem Felsbrocken trat eine Gestalt hervor. Sie war mindestens zwei Meter groß, breit wie ein Schrank und von Kopf bis Fuß mit einer aus dunkelgrauen Schuppen bestehenden Rüstung bedeckt.
Offensichtlich erschreckte deren Auftauchen auch den Jungen zu Tode. Reflexartig machte er einen Sprung rückwärts, weg von der unheimlichen Gestalt. Dabei fiel er hin, wagte es jedoch scheinbar nicht, aufzustehen.
„Speculum!“, rief der Riese erneut.
Aus dem Mund des auf dem Boden Liegenden kamen Töne wie von einem Tier in Todesangst. Er machte keinen Versuch, zu entkommen, schien diesem Albtraumwesen vollkommen hilflos ausgeliefert zu sein.
Noch hätte Merlina die Möglichkeit gehabt, zu fliehen. Dennoch bewegte sie sich zielstrebig auf das Ungeheuer zu. Sie konnte den unbekannten Jungen doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen!
Behäbig wandte sich der Schuppenmann zu ihr um.
Sie erstarrte.
Das riesige Wesen besaß kein Gesicht. Vorne, an seinem Kopf, befand sich nur eine glatte, dunkle Spiegelfläche.
Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, blieb ihr Blick an dem Spiegelgesicht haften, und gleichzeitig durchströmte ihren Körper etwas, das so kalt war wie der Tod. Ihre Kampfbereitschaft war augenblicklich erloschen. Sie fühlte sich schwach und wehrlos.
Nur wenige Augenblicke lang schaute die Riesengestalt zu ihr hinüber. Dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu.
„Speculum!"
Der Blick des auf dem Boden Liegenden wanderte wie der eines Schlafwandlers erneut zu der Spiegelfratze. Er zitterte am ganzen Körper und sank mehr und mehr in sich zusammen. So, als ob alle Lebensenergie aus ihm herausgesaugt würde.
Das Monstrum würde ihn töten! Merlina schüttelte die Lähmung von sich ab. Mit drei schnellen Schritten war sie bei der grauen Gestalt, sprang ihr in den Rücken, schlang ihre Arme um den schuppigen Hals und drückte so fest zu, wie sie es vermochte. Aber die Schuppenrüstung gab keinen Millimeter nach.
Durch die Last, die plötzlich an ihm hing, verlor der Riese jedoch sein Gleichgewicht. Taumelnd machte er zwei Schritte rückwärts, um nicht zu stürzen. Dadurch löste sich sein Blick von dem des Jungen.
Mit einem wütenden Knurren versuchte er Merlina abzuschütteln, doch die klammerte sich mit aller Kraft an ihren Gegner. Die graue Hand des Spiegelmanns griff nach ihr, aber sie erreichte sie nicht. Die Schuppenrüstung machte den Riesen zu unbeweglich.
Erleichtert sah Merlina, wie sich der Junge taumelnd entfernte. Dann wurde sie plötzlich nach unten gezogen. Der Spiegelmann hatte einen ihrer Füße erwischt.
Sie verlor den Halt und stürzte. Sofort wollte sie wieder aufspringen und davonlaufen. Doch bevor sie eine einzige Bewegung machen konnte, erfasste sie der Spiegelblick.
„Speculum!"
Erneut spürte Merlina diese alles durchdringende Kälte. Am liebsten hätte sie sich in sich selbst verkrochen, um diesem Blick zu entkommen. Aber es ging nicht. Wie erstarrt schaute sie immer weiter in das Spiegelgesicht.
Etwas unsäglich Schreckliches blickte sie daraus an. Etwas so Widerwärtiges, dass ihr davor abgrundtief graute. Zunächst wusste sie nicht, was sie da sah. Doch dann wurde es ihr klar: Das war sie selbst! Ein hässliches Zerrbild von ihr, das ihr alle Kraft nahm.
Erschöpft sank sie in sich zusammen. Ihr Kopf fiel in den Staub. Dabei trafen ihre Augen die des Jungen, der in einiger Entfernung stehen geblieben war.
„Speculum!", brüllte der Riese erneut.
Doch mit einem Mal schien der dunkle Spiegel alle Macht über sie verloren zu haben. So, als ob der Blick des Jungen sie dagegen immun machen würde. Langsam erhob sie sich, während sie weiter zu dem Unbekannten hinüberschaute.
„Speculum!"
Das Bedürfnis, ihren Blick erneut der Spiegelfläche zuzuwenden, war verschwunden. Schwankend setzte sie sich in Bewegung. Ohne Unterbrechung schaute sie dabei zu dem Schwarzhaarigen hinüber, klammerte sich mit ihrem Blick an seine Augen wie an eine Rettungsleine.
Hinter ihr brüllte der Schuppenmann wieder und wieder das eine Wort, woraus sein ganzer Wortschatz zu bestehen schien, machte aber sonst keine Anstalten, sie aufzuhalten. Er ging offensichtlich davon aus, dass seine Rufe ausreichten, um sie zu stoppen.
So schnell sie konnte, stolperte sie davon. Auch der Junge setzte sich in Bewegung. Sie rannte. Die Rufe des Spiegelmanns wurden schwächer und schwächer.
Plötzlich prallte ihr linker Fuß gegen einen aus dem Boden ragenden Stein. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie. Sie stürzte, rappelte sich wieder auf und lief humpelnd weiter. Doch der Unbekannte vor ihr war jetzt viel schneller als sie. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich mehr und mehr.
Mit aller Kraft versuchte sie, wieder näher an ihn heranzukommen, doch ihr verletzter Fuß behinderte sie zu sehr. Bitte, lass mich nicht alleine, flehte sie in Gedanken. Aber er entfernte sich immer weiter. Schließlich war er nur noch ein winziger Schatten in der Ferne.
Ihre Lunge brannte, ein metallischer Geschmack wie von Blut machte sich in ihrem Mund breit. Schweißüberströmt blieb sie stehen und rang zusammengekrümmt nach Luft.
Als sie sich wieder aufrichtete, war der Junge verschwunden. Auch das Gebrüll des Riesen war verstummt. Sie schaute sich um. Von dem Schuppenmann war keine Spur mehr zu sehen.
Merlina setzte sich wieder in Bewegung. Die ersten Häuser waren jetzt nicht mehr weit entfernt. Ärmliche, flache Hütten. In wenigen Minuten würde sie sie erreicht haben.
Sollte sie sich wirklich dorthin begeben? An diesem Ort gab es vielleicht jede Menge solcher Spiegelmonster. Aber wie sollte sie sonst überleben – ohne Wasser, in dieser Einöde? Nein, die Stadt war ihre einzige Chance.
Geduckt lief sie weiter. Die ersten Gebäude, die sie erreichte, waren provisorisch zusammengezimmerte Verschläge aus Holz oder kleine Lehmhäuser. Zwischen zwei von ihnen schlüpfte sie in eine schmale Straße.
Sie hielt sich dicht an den Hauswänden. In deren Schatten fiel sie weniger auf. Zwischen zwei niedrigen, halb zerfallenen Lehmgebäuden bog sie nach rechts in eine enge Gasse ein.
Nach etwa fünfzig Metern blieb sie stehen und ging in die Knie. Sie zitterte vor Schwäche, während Schweiß ihren Körper hinunterlief. Ihre Füße schmerzten und bluteten aus mehreren kleinen Wunden, die sie sich beim Laufen ohne Schuhe zugezogen hatte.
Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr. Da! Ein großer, grauer Schatten am Gassenende. Ohne Zweifel ein Schuppenmann! Vielleicht sogar der, dem sie vor der Stadt begegnet war.
Merlina blieb zusammengekauert auf dem Boden hocken und rührte sich nicht. Mühsam kämpfte sie darum, ihren keuchenden Atem zu drosseln.Vielleicht hatte das Ungeheuer sie in der Dunkelheit noch nicht gesehen. Die Gestalt machte einen Schritt in ihre Richtung.
„Speculum!“
Merlina sprang auf. Die plötzliche Bewegung verursachte in ihren Füßen einen Schmerz, als ob glühende Klingen hineingestoßen würden. Doch schon im nächsten Augenblick nahm sie dieses Gefühl nicht mehr wahr. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um ihren Blick von dem Spiegelgesicht fernzuhalten, das sie unwiderstehlich anzog.
„Speculum!“
Sie taumelte davon. Unendlich langsam und mühsam, so, als ob sie von einem dicken Gummiband zurückgehalten würde, gegen das sie ankämpfte.
„Speculum!“
Verbissen spannte sie ihre Muskeln an, um zu verhindern, dass sie ihren Kopf nach hinten wendete. Ihr Nacken antwortete darauf mit einem fast unerträglichen Schmerz.
Als sie endlich das Ende der Straße erreichte, war sie vollkommen erschöpft.
Ein Kanal mit reißendem Wasser versperrte ihr den Weg. Viel zu breit, um darüber hinwegzuspringen. Sie wandte sich nach rechts, wo ein schmaler Pfad am Wasserlauf entlangführte. Doch kaum hatte sie einige Schritte in diese Richtung gemacht, tauchte vor ihr eine weitere Riesengestalt auf.
„Speculum!“
Rechts neben sich bemerkte sie eine lichtlose Nische. Vielleicht gab es dort einen Fluchtweg. Aber sie war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Der Spiegelblick hatte sie bereits vollkommen in seinen Bann gezogen.
Kraftlos sank sie auf ihre Knie. Ihr Körper fühlte sich kalt und leblos an, ihr Bewusstsein begann langsam hinwegzudämmern. Nicht mehr lange und es würde vollkommen erlöschen.
Plötzlich traf sie aus dem dunklen Winkel heraus ein harter Stoß. Ihr Blick wurde von der Spiegelfläche losgerissen. Reflexartig versuchte sie, den Blickkontakt wiederherzustellen, doch schon im nächsten Moment tauchte sie in das eiskalte Gewässer ein und wurde von der starken Strömung davongerissen. Sie schluckte Wasser, hustete, verspürte aber endlich nicht mehr das quälende Verlangen nach dem lähmenden Spiegelblick.
Etwas ergriff ihren rechten Arm.
Erschrocken wandte sie ihren Blick in diese Richtung und schaute direkt in das Gesicht des Jungen, den sie vor der Stadt getroffen hatte. Ein Gefühl tiefer Erleichterung durchströmte sie.
Im gleichen Augenblick traf etwas Hartes von vorne ihren Schädel, und ihr Kopf schien zu explodieren. Alles um sie herum wurde von einer tiefen Schwärze ausgelöscht.
Was war los? Wo war sie? Merlina spürte, dass sie auf etwas Weichem lag. Die Umgebung fühlte sich angenehm warm an.
Sie versuchte die Augen zu öffnen. Ihre Lider zitterten. Blendende Lichtblitze trafen ihre Netzhaut. Stöhnend schloss sie sie wieder.
„Du musst ein wenig trinken“, hörte sie eine sanfte, weibliche Stimme, deren Klang ihr nicht vertraut vorkam.
Etwas Kühles berührte ihre Lippen, der Rand eines Trinkgefäßes. Eine wundervoll erfrischende Flüssigkeit floss behutsam in ihren Mund. Sie schmeckte nach Aprikose. Es kam Merlina so vor, als ob sie noch nie etwas Köstlicheres getrunken hätte.
„Gut“, lobte die Stimme.
„Danke.“ Sie sank zurück, unendlich erschöpft, und schlief gleich darauf wieder ein.
Das Nächste, was sie spürte, war eine angenehme Wärme auf ihrem Gesicht.
Sie hob die Augenlider. Das Licht war jetzt gedämpft. Direkt vor ihren Augen befand sich eine Hand mit einem feuchten Lappen. Dessen Berührung hatte sie auf ihrer Haut gespürt.
Sie bewegte sich leicht. Ihr Kopf schmerzte und erschien ihr wie ein aufgedunsener Fremdkörper. Trotzdem fühlte sie sich jetzt besser und stärker als bei ihrem ersten Erwachen.
„Gut geschlafen? Ich bin Hanna.“ Es war die ihr inzwischen schon bekannte Stimme.
Merlina schaute auf und blickte in das lächelnde Gesicht einer älteren Frau. Sie hatte lange weiße Haare und große, freundliche Augen, eingerahmt von einem Kranz kleiner Fältchen. Die Frau trug ein Kleid aus dunkelgrünem Leinen, und um ihren Hals baumelte ein silbernes Amulett, das die Form einer Sonne hatte.
„Merlina“, stellte sie sich mit schwacher Stimme vor.
„Bleib ganz ruhig liegen. Du hast eine ziemlich große Beule abbekommen.“
Vorsichtig führte Merlina eine Hand zu ihrem Schädel. Ihre Finger ertasteten etwas Weiches. Einen Verband.
„Im Kanal bist du gegen den Rand einer Röhre geprallt, in die das Wasser fließt. Ich habe die Wunde genäht und mit Heilkräutern versorgt“, erklärte ihr die Unbekannte.
„Wo ist der Junge?“, fragte Merlina zaghaft.
„Keine Angst. Ido geht es gut. Er ist unterwegs, um etwas für mich zu besorgen. Das ist nachts am sichersten.“
„Wo bin ich?“
„In unserem Haus.“
„Hat Ido mich hierhergebracht?“
„Er hat dich aus dem Wasser gezogen und mich dann geholt, weil er nicht wusste, ob er dich mit deiner Verletzung bewegen durfte. Gemeinsam haben wir dich hierhingeschalft.“ Behutsam hob Hanna Merlinas Kopf an. „Du musst versuchen, etwas zu essen.“ Sie führte einen Löffel zu Merlinas Lippen. Eine warme, wohlschmeckende Suppe floss in ihren Mund. Sie schaffte drei Löffel. Dann fielen ihr die Augen wieder zu.
Als sie das nächste Mal erwachte, war der Raum von hellem Tageslicht erfüllt. Vorsichtig wandte sie ihren Kopf nach rechts und schaute im nächsten Augenblick in das lächelnde Gesicht Idos. Er schien sie beim Schlafen beobachtet zu haben.
„Wie geht es dir?“, fragte er.
„Besser.“ Ihr Schädel schmerzte nur noch leicht. „Wie lange habe ich geschlafen?“
„Zwei Tage.“
Erschrocken dachte sie an ihre Großeltern. Die hatten ja keine Ahnung, wo sie sich befand, und mussten sich fürchterliche Sorgen machen.
„Du warst sehr entkräftet“, fuhr Ido fort. „Vom Angriff des Wächters und der Kopfverletzung. Ohne Hanna hätte ich nicht gewusst, was ich machen sollte.“
„Ist Hanna Ärztin?“
„Heilerin.“ Ido senkte die Stimme. „Sie kennt starke Mittel gegen die Macht der dunklen Spiegel.“
„In welcher Stadt bin ich?“
„Santigra.“
„Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Gibt es hier noch andere Städte?“
Er schüttelte den Kopf. „Fast alle Menschen leben in Santigra. Außer den Bauern in den Dörfern. Im Ödland und den Bergen wohnt niemand.“
„Von alldem habe ich noch nie etwas gehört.“
Sein Blick wurde konzentrierter. „Wie bist du hierhergelangt?“
„Durch eine Spiegelfläche.“
Idos Augen verengten sich. „Dann kommst du also aus der Welt hinter den Spiegeln.“
„Ist früher schon einmal jemand von dort zu euch gelangt?“
Er nickte, und sein Blick wurde finster.
Zögernd sprach Merlina ihren geheimenVerdacht aus: „Ich glaube, meine Mutter ist vor fünfzehn Jahren auch durch diesen Spiegel gegangen.“
„Wie heißt sie?“
„Elena.“
„Die großeVerderberin.“ Ido spuckte diese Worte wie etwas Ekelerregendes aus.
„Warum nennst du sie so?“, fragte sie erschrocken.
„Sie hat unsere Welt zerstört.“ Sein Gesicht bebte vor Wut.
Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihn geschüttelt, damit er wieder zu Verstand kam.
„Du musst dich irren. Meine Mutter ist ein guter Mensch!“
Ido betrachtete sie feindselig. „Jetzt sehe ich es. Du gleichst ihnen. Der großen Verderberin und ihrem teuflischen Mann.“
Seine Wut verunsicherte sie. „Was haben sie getan?“
„Sie haben die dunklen Spiegel geschaffen.“
„Du meinst die, die sich in den Gesichtern der Schuppenmänner befinden?“, fragte sie erschrocken.
„Ja. Die und noch viele mehr.“
„Das kann nicht sein.“
„Doch. Sie sind Monster! Sie haben meine Eltern getötet!“ Mit Tränen in den Augen stürzte er aus dem Zimmer.
Unfähig, auch nur noch ein einziges Wort hervorzubringen, blieb sie zurück. Sie schloss die Augen.Was war hier los? Das konnte doch alles nur ein Albtraum sein!
Vollkommen erschöpft und verwirrt schlief sie ein.
Eine Berührung an ihrer Schulter weckte sie ein weiteres Mal. Neben ihrem Bett stand Hanna. In ihren Händen hielt sie ein Tablett. Erleichtert registrierte Merlina, dass die Heilerin ebenso freundlich zu ihr hinabschaute wie bei ihren ersten Besuchen.
„Ich habe dir etwas zu essen gemacht“, erklärte sie.
In der Luft lag der Geruch von Gebratenem. Zum ersten Mal, seitdem Merlina sich in dieser Welt befand, verspürte sie Hunger.
„Habe ich lange geschlafen?“
„Eine Weile. Seitdem Ido bei dir war, sind einige Stunden vergangen.“
Angespannt beobachtete Merlina Hanna. Hielt sie sie jetzt auch für eine Gefahr?
„Du darfst dir das, was Ido gesagt hat, nicht zu sehr zu Herzen nehmen“, fuhr die alte Frau fort. „DerVerlust seiner Eltern schmerzt ihn sehr.“
„Sind meine Mutter und mein Vater wirklich daran schuld?“
„Ja, es scheint so. Aber niemand weiß genau, was damals, als die dunklen Spiegel geschaffen wurden, geschehen ist. Und du trägst ganz sicher nicht die Verantwortung dafür.“
Hanna stellte das Tablett, das über vier kurze Beine verfugte, auf Merlinas Bett. „Du musst jetzt nur gesund werden.“
Vor ihr befand sich ein Teller mit einem goldgelben Omelett, Kartoffelpüree und Erbsen. Außerdem gab es einen Pudding, der in rotem Sirup schwamm, und ein großes Glas Orangensaft.
Merlina griff nach dem Saft und trank ihn aus, ohne ein einziges Mal abzusetzen.
„Es scheint dir wirklich besser zu gehen“, stellte Hanna erfreut fest. Merlina nickte und kostete von dem Kartoffelpüree. Es schmeckte herrlich nach Butter.
„Warum hat Ido meine Mutter ,die große Verderbern' genannt?“
„Viele hier machen Elena für schlimme Dinge verantwortlich. Aber davon ist nichts bewiesen.“
Ein Gefühl wie ein Stromstoß durchfuhr Merlina, als sie hörte, wie Hanna den Namen ihrer Mutter aussprach.
„Kennst du sie?“
Die Heilerin nickte. „Wir waren Freundinnen, bevor die Dunkelheit über uns hereinbrach.“
„Welche Dunkelheit?“
Hanna ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bett nieder. „So haben wir das damals genannt. Als sich plötzlich alles veränderte und die Zeit der dunklen Spiegel begann.“
„Wann war das?“
„Vor etwa fünfzehn Jahren.“
„Zu der Zeit, als ich geboren wurde.“ Im gleichen Moment ging Merlina eine Frage durch den Kopf, die sie, ohne zu zögern, aussprach: „Weißt du, wie meine Mutter in eure Welt gelangt ist?“
„Ja. Durch einen Spiegel, den sie auf dem Dachboden ihres Elternhauses entdeckt hatte.“
„Du meinst den, der in ihrem Zimmer stand?“, erkundigte sich Merlina.
Hanna nickte.
„Durch den bin ich auch zu euch gekommen. Gibt es viele solcher Durchgänge zwischen unseren Welten?“
„Das kann ich dir leider nicht sagen“, erklärte die Heilerin. „In einer Chronik habe ich gelesen, dass es einem Spiegelmeister vor langer Zeit gelungen ist, solche Spiegel herzustellen. Und dass sie von einigen damals dazu genutzt wurden, vor einer großen Gefahr zu flüchten. Aber, ob noch mehr davon existieren, ist mir unbekannt.“
„Und was geschah vor fünfzehn Jahren?“, fragte Merlina.
Hannas Blick ging in die Ferne, und ihre Gedanken schienen in diese Zeit zurückzukehren. „Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie schön unser Leben gewesen ist, bevor der Spiegelmeister die hellen Spiegel zerschlagen ließ.“
„Helle Spiegel? Waren die anders als die dunklen Spiegel der Schuppenmänner?“
Die Heilerin nickte und lächelte. „Sie offenbarten uns, wer wir sind und wonach wir streben können. Wenn wir in sie hineinschauten, spürten wir unsere Stärke.“
„Gab es damals nur diese hellen Spiegel?“
„Ja. Und bevor die Bewohner unserer Welt diese Spiegel herstellen konnten, haben unsere Ahnen die spiegelnden Wasseroberflächen dafür benutzt.“
„So wie Ido bei unserem ersten Treffen“, erinnerte sich Merlina.
Hanna nickte. „Bei Mondlicht auf einem freien Feld funktioniert es am besten. Du siehst das Gute in dir, und es gibt dir Kraft, gegen die Macht der dunklen Spiegel anzukämpfen. Deswegen haben die Spiegelherren strengstens verboten, dass wir diese Spiegelungen nutzen.“
„Sind die Schuppenmänner die Spiegelherren?“ Merlina zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Nein, das sind nur ihre Handlanger. Wir nennen sie ,die Wächter'. Es gibt Hunderte von ihnen. Die Spiegelherren leben im Spiegelpalast in der Mitte der Stadt. Dort stellen sie die dunklen Spiegel her."
Merlina musste die Augen schließen. Ihr schwirrte der Kopf.
„Es ist besser, wenn ich jetzt aufhöre, zu erzählen", sagte Hanna. „Du scheinst erschöpft zu sein und brauchst Ruhe."
„Nein, bitte nicht. Ich will mehr darüber erfahren. Wie entstanden die dunklen Spiegel?"
Die Heilerin deutete auf das Tablett. „Dann musst du aber auch noch etwas essen."
Merlina nickte und probierte ein Stück von dem Omelett. Es schmeckte wundervoll.
„Ich glaube, es begann alles mit der schweren Krankheit des Spiegelmeisters vor fünfzehn Jahren. Elenas Mann Enro.“
So also hieß ihrVater. Sie prägte sich diesen Namen wie etwas ein, das ihrem Gedächtnis nie wieder entfallen durfte.
„Damals wurde ich zu Enro gerufen. Er hatte das Bewusstsein verloren. Sein Körper glühte vor Fieber, und seine Haut war dunkelgrau. Und egal, was ich versuchte, sein Zustand besserte sich nicht. Ich dachte, er würde sterben."
„War meine Mutter auch dort?"
Hanna schüttelte den Kopf. „Sie kam erst, nachdem ich schon lange mit der Behandlung begonnen hatte und nicht mehr weiterwusste. Sie war einige Tage zuvor zusammen mit dir zu ihren Eltern aufgebrochen.“
„Dort hat sie mich zurückgelassen.“
„Ja, aber nicht, weil du ihr gleichgültig warst. Ganz im Gegenteil, sie wollte dich schützen. In der Nacht, in der sie dich bei deinen Großeltern ließ, hat sie Enros verzweifelte Stimme gehört. Sie wusste, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, und wollte dich nicht in Gefahr bringen. Nur deshalb hat sie dich dort gelassen. Das hat sie mir nach ihrer Rückkehr erzählt.“
„Und was geschah dann?“
„Dein Vater erholte sich plötzlich überraschend schnell.Wie durch ein Wunder. Schon nach wenigen Tagen verließ er sein Krankenbett und begann, wieder in der Spiegelwerkstatt zu arbeiten. Er war unser oberster Spiegelmacher. Ein sehr guter.“
„Und warum hat meine Mutter mich danach nicht wieder zu sich geholt?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe sie nach der Genesung deinesVaters kaum noch gesehen.“
„Schuf er ab diesem Zeitpunkt die dunklen Spiegel?“
Hanna nickte. „Die Krankheit hatte sein Wesen vollkommen verändert. Davor war er freundlich und offen gewesen, danach verschlossen und finster. Er verbarrikadierte sich in seinerWerkstatt und arbeitete Tag und Nacht an einem Spiegel, der alle seine bisherigen Werke übertreffen sollte. Dafür ließ er riesige Öfen herbeischaffen. Übelriechende Rauchschwaden erfüllten den ganzen Spiegelpalast. Deine Mutter war außer sich vor Sorge. Sie befürchtete, dass er durch die Anstrengungen seiner Arbeit erneut erkranken könnte. Aber auch ihr verbot er, zu ihm zu kommen.
Endlich, nach vielen Tagen, verließ er die Spiegelwerkstatt. Seine Augen waren blutunterlaufen und seine Haut wieder ebenso grau wie während seiner Erkrankung. In den Händen hielt er das Ergebnis seiner Arbeit: einen dunklen Spiegel."
Merlina erschauderte bei dem Gedanken, dass ihr Vater etwas so Fürchterliches erschaffen hatte.
„Schon am nächsten Tag wurde niemand mehr in den Spiegelpalast eingelassen, der nicht ausdrücklich dazu aufgefordert worden war. Dichter Rauch stieg aus neu erbauten Schornsteinen auf. Händler lieferten Unmengen von Brennstoffen, Erzen und Chemikalien. Junge, kräftige Männer wurden in den Palast gerufen und verließen ihn nicht wieder.
Zwei Monate später verkündeten Boten überall in der Stadt, dass alle hellen Spiegel zum Platz vor dem Spiegelpalast gebracht werden sollten.
Die Bewohner Santigras und der Dörfer strömten zusammen und trugen die Spiegel herbei. Eine große Bühne war am Palast aufgebaut worden. Davor mussten sie sie ablegen.