Spiel der Hoffnung - Heidi Rehn - E-Book
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Spiel der Hoffnung E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

1927 scheint die ganze Welt von einem Taumel ergriffen. Zwischen Berlin und München, Monte Carlo und Paris herrscht ausgelassene Aufbruchstimmung. Niemand ahnt, wie nah am Abgrund man sich in Wahrheit befindet. In vollen Zügen genießt Ella ihr junges Eheglück mit dem gutsituierten Unternehmersohn Jobst. Ihre gemeinsamen Reisen führen sie nach Montreux und Paris sowie an die italienische und französische Riviera, in mondäne Casinos und Varietés. Einzig Jobsts rätselhafte Geschäftstermine, zu denen er immer mal wieder verschwindet, manchmal gleich für mehrere Tage, behagen Ella gar nicht. Doch verbirgt ihr Mann wirklich etwas vor ihr – oder entspringt ihr Misstrauen nur ihrem eigenen schlechten Gewissen, weil sie selbst mehr als ein Geheimnis hütet?

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Heidi Rehn

Spiel der Hoffnung

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

1927 scheint die ganze Welt von einem Taumel ergriffen. Zwischen Berlin und München, Monte Carlo und Paris herrscht ausgelassene Aufbruchstimmung. Niemand ahnt, wie nah am Abgrund man sich in Wahrheit befindet. In vollen Zügen genießt Ella ihr junges Eheglück mit dem gutsituierten Unternehmersohn Jobst. Ihre gemeinsamen Reisen führen sie nach Montreux und Paris sowie an die italienische und französische Riviera, in mondäne Casinos und Varietés. Einzig Jobsts rätselhafte Geschäftstermine, zu denen er immer mal wieder verschwindet, manchmal gleich für mehrere Tage, behagen Ella gar nicht. Doch verbirgt ihr Mann wirklich etwas vor ihr – oder entspringt ihr Misstrauen nur ihrem eigenen schlechten Gewissen, weil sie selbst mehr als ein Geheimnis hütet?

Inhaltsübersicht

WidmungMottoProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. KapitelEpilogGlossarNachbemerkungDankLeseprobe »Vor Frauen wird gewarnt«
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In Erinnerung an Gerda Zimmer (1905–1980)

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»Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.«

(Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein)

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Prolog

November 1926

Die Adresse stimmte noch. Ella betrachtete das als gutes Omen und war froh, die Reise nach München unternommen zu haben. Die Haushälterin des Professors empfing sie zwar alles andere als herzlich, das aber störte sie nicht. Ihn wollte sie kennenlernen, nicht sein Personal. Und natürlich herausfinden, wieso sich im spärlichen Nachlass ihrer über alles geliebten Mutter Hannah ein vergilbter Zettel mit seinem Namen sowie der Bitte befunden hatte, ihn unbedingt über ihr Ableben zu informieren. Freundlich lächelnd trat sie an der hageren, groß gewachsenen Haushälterin vorbei in den Salon und schaute sich um.

So also sah das Heim eines alten, vermutlich seit langem alleinstehenden Professors aus. Kurz nur wunderte sie sich, wieso sie gleich davon überzeugt war, er wäre alt und lebte allein. Musste ein Hochschulprofessor dank seines ehrwürdigen Titels nicht alt, zumindest grauhaarig und im fortgeschrittenen Alter sein? Das Verhalten der Haushälterin ließ obendrein erahnen, dass sie es nur widerstrebend ertrug, eine andere Frau in seine Nähe zu lassen. Also war er unverheiratet oder verwitwet. Ebenso zeugte der angestaubte Charme des Vorkriegsmobiliars aus dunkel gebeiztem Eichenholz eindeutig vom Fehlen einer Frau Professor Constantin Lutz, die sich bei der Einrichtung gewiss längst moderneren Zeiten verschrieben hätte.

Ella hatte zwar nur rudimentäre Erinnerungen an jene Epoche, als Röcke und Haare der Frauen noch lang und das Gehabe der Männer altväterlich-gesetzt gewesen waren, dennoch war sie sich sicher, im Salon des Professors reinste Kaiserzeit wie damals in ihrem lothringischen Elternhaus zu atmen.

Ella glaubte nicht an Zufälle. Constantin Lutz musste im Leben ihrer Eltern eine besondere Rolle gespielt haben, zumindest in dem ihrer Mutter. Warum sonst hatte sie seine Anschrift über all die Jahre wie einen kostbaren Schatz in der seit der Inflationszeit gähnend leeren Schmuckschatulle aufbewahrt? Schade, dass sie zeit ihres Lebens nie ein Wort über ihn verloren hatte. Ebenso konnte Ella sich nicht erinnern, den Namen je aus dem Mund ihres Vaters gehört zu haben. Überhaupt wusste sie wenig über die Vergangenheit ihrer Eltern vor ihrer Heirat im Frühjahr 1905, kannte auch keine Namen und Anschriften etwaiger Verwandter oder Freunde. Nie hatten ihre Eltern mit ihr über ihre Vergangenheit geredet, selten hatten sie Besuche abgestattet oder empfangen.

Seit dem Tod ihres Vaters im August 1918 hatte sie mit ihrer Mutter noch zurückgezogener gelebt, zuerst noch einige Wochen in ihrer Geburtsstadt Metz, nach Kriegsende dann in Berlin, von wo aus sie jetzt an die Isar gefahren war. Der unbekannte Name in der bescheidenen Hinterlassenschaft ihrer Mutter war ihr wie ein Wink des Schicksals erschienen, dass es jenseits der trauten Zweisamkeit doch noch jemand anders im Leben ihrer Eltern gegeben haben musste. Dass noch Hoffnung bestand, sie wäre nach dem viel zu frühen Tod ihrer Eltern nicht völlig allein und der einzige Mensch ohne Familiengeschichte.

Verstohlen wischte sich Ella die feuchten Augenwinkel. Ihre Hände zitterten, als sie den Mantel auszog und sich über den linken Arm hängte. Bedächtig zupfte sie die feinen schwarzen Lederhandschuhe von den Fingern und nahm den Hut vom dunkelblonden Bubikopf. Das anthrazitfarbene Reisekostüm und die unauffälligen schwarzen Schuhe fand sie angemessen, um einem gelehrten Hochschulprofessor gegenüberzutreten. Ebenso taugte es als Zeichen der Trauer um ihre vor kurzem verstorbene Mutter.

Durch die gerüschten Vorhänge vor den bodentiefen Fenstern fiel das Nachmittagssonnenlicht deutlich abgemildert in den großzügig geschnittenen Salon. Das Gemälde über der Kommode gleich links von der Tür wurde so zum einzigen Lichtblick. Ella legte Mantel, Hut und Handschuhe auf einem Sessel ab und stellte sich nah vor es hin, um es zu betrachten. Dabei wurde ihr klar, wie fahrlässig sie gehandelt hatte. Sie wusste gar nichts über den Professor! Bevor sie sich auf den Weg zu ihm gemacht hatte, hätte sie Erkundigungen einholen müssen. So schien er ihr ähnlich schemenhaft wie die drei Bauerngestalten auf dem Bild mit der Voralpenlandschaft aus grünbraunen Feldern, schneebedeckten Bergen und weißblauem Himmel. Ein Gemälde wie jedes andere, belanglos und ohne besondere Eigenheiten, dachte sie. Dann aber sah sie noch einmal hin. Vermutlich täuschte der erste Eindruck. Der schwere Goldrahmen ließ auf ein wertvolles Kunstwerk schließen, ebenso die ausgeklügelte Hängung vis-à-vis der Fensterfront. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne trafen exakt das Gesicht des vorderen der drei einfach gekleideten Männer auf dem Feldweg. Plötzlich wirkte er jünger und frischer, schien sogar aufrechter auszuschreiten als seine beiden Gefährten.

»Gefällt es Ihnen? Das ist ein echter Spitzner«, hörte Ella von der Tür her eine kräftige Stimme sagen. »Er gehört zum Umfeld des Leibl-Kreises. Mich begleitet das Gemälde schon fast mein ganzes Leben.«

Langsam drehte Ella sich um und war angenehm überrascht. Wie die kräftige Stimme bereits hatte vermuten lassen, war Professor Constantin Lutz seinem fortgeschrittenen Alter zum Trotz von eindrucksvoller Gestalt. Sein fast kahler Schädel mit den Altersflecken und dem von Furchen und Kanten geprägten Gesicht war in jedem Fall das, was man einen Charakterkopf nannte. Davon blieb weitaus mehr als die hohe Stirn und der wache Blick der stahlblauen Augen hinter der randlosen Brille im Gedächtnis. Ganz Gentleman der alten Schule, war er selbst in den eigenen vier Wänden mit perfekt sitzendem Anzug, weißem Hemd, dunkler Krawatte und blank polierten Schuhen ausstaffiert. Allerdings ging er, das rechte Bein nachziehend, auf einen Stock gestützt, was seiner energischen Art sichtlich widersprach.

Plötzlich stolperte er über eine Falte im Teppich. Gerade noch rechtzeitig konnte Ella ihm die Hand reichen, um ihn vor dem Hinfallen zu bewahren. Ob seines beachtlichen Gewichts gerieten sie beide ins Taumeln. Er klammerte sich so fest an sie, dass es weh tat. Trotzdem hielt sie es aus. Es tat gut, diesem Fremden, der ihr auf einmal so nahe war, beizustehen.

Sobald sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatten, lächelte er sie dankbar an. Von neuem zuckte er zusammen, krächzte verwundert »Hannah?«, bevor er sich besann und mit der von milchkaffeebraunen Malen übersäten Hand einladend auf die Sessel um den runden Tisch in der Mitte des Salons wies.

»Sie sind also Hannahs Tochter. Willkommen in München. Eigentlich hatte ich schon viel früher mit Ihnen gerechnet. Wie geht es Ihrer verehrten Frau Mama? Ach was, lassen wir die Förmlichkeiten. Marianne?«, rief er nach der Haushälterin.

Sie musste im dämmrigen Flur gewartet haben. Schon tauchte sie im Türrahmen auf. Ella blieb weder Zeit, den Professor über den Tod ihrer Mutter zu informieren, noch nachzufragen, warum er sie längst erwartet hatte. Wieder begannen ihre Hände zu zittern. Rasch verschränkte sie sie ineinander.

»Holen Sie bitte die schwarze Ledermappe aus der mittleren Schublade meines Schreibtischs«, beauftragte er die Haushälterin. Gerade wollte die salopp mit Marianne Angesprochene Luft holen, um etwas einzuwenden, da fügte er hinzu: »Hier ist der Schlüssel. Machen Sie schnell.«

Ella und der Professor hatten kaum in den wuchtigen Sesseln Platz genommen, als Marianne mit der besagten Mappe wieder auftauchte und sie ihm wortlos reichte. »Danke.« Ohne sie länger zu beachten, machte sich der Professor daran, die Mappe mit seinen alterskrummen Fingern zu öffnen.

Ein verräterischer Anflug von Enttäuschung huschte über Mariannes streng beherrschtes Antlitz, dann spitzte sie den schmalen Mund und strich das hochgeschlossene, dunkelblaue Kleid glatt. Ohne Ella noch eines Blickes zu würdigen, verließ sie den Salon.

Das Läuten an der Wohnungstür ließ den Professor die gerade erst geöffnete Mappe sofort wieder zuschlagen. Außer einem Konvolut eng mit Zahlen und Berechnungen gefüllter Seiten hatte Ella nichts erkennen können.

»Um diese Zeit kann das nur einer sein.« Nach einem knappen Blick auf seine goldene Armbanduhr rappelte sich Constantin Lutz umständlich aus dem Sessel hoch und tappte, auf den Stock gestützt, Richtung Flur. Ella folgte ihm mit den Augen, unschlüssig, ob sie ebenfalls aufstehen sollte.

»Jobst, mein Lieber! Nur herein mit dir«, rief der Professor munter, bevor ihn der Neuankömmling herzlich umarmte.

»Ich habe einen unerwarteten Gast«, erklärte er dann und zeigte auf Ella.

Jobst war nur wenige Jahre älter als sie, also Mitte, höchstens Ende zwanzig. Das dunkle Haar lässig nach hinten frisiert, strahlte er Ella mit ebenfalls dunklen Augen aus einem fein gezeichneten, glatt rasierten Gesicht offen an. Einen Moment verharrte er neben dem Professor. Gerade aufgerichtet waren sie in etwa gleich groß, bestachen beide mit einer hohen Stirn und einem neugierigen Blick und waren von ähnlich schlanker Figur. Wie der Professor trug auch Jobst einen eleganten, tadellos sitzenden Nachmittagsanzug in gedeckten Brauntönen, dazu ein helles Hemd, statt der Krawatte allerdings ein dezent gemustertes Seidentuch um den Hals.

So viel sie gemeinsam hatten, so viel unterschied sie auch voneinander. Schnell war Ella überzeugt, nicht Vater und Sohn vor sich zu haben. Jobst hatte etwas weniger Hartes in seinen Zügen. Zugleich entdeckte sie eine kaum kaschierte Verlorenheit in seinen Augen, die ihr von sich selbst allzu vertraut war. Sie fühlte sich davon angezogen wie von einem Magnet, am liebsten wäre sie ihm auf der Stelle um den Hals gefallen. Das aber verbat der Anstand. Ihm schien es ähnlich zu gehen, wie ein flüchtiges Aufflackern in seinen Augen verriet. Verzaubert starrten sie einander an.

Der Moment dehnte sich zur Ewigkeit. Langsam kam Jobst auf sie zu. Sie erhob sich. Als sie nah voreinander standen und ganz im Blick des anderen versanken, reichten sie einander die Hand.

»Wie schön, Sie kennenzulernen.« In seiner Stimme schwang wohltuende Wärme mit.

»Darf ich vorstellen?« Mit einem laut vernehmlichen Räuspern brachte der Professor sich in Erinnerung. Lächelnd schaute er zwischen ihnen beiden hin und her. »Das ist meine Nichte Ella Wittkamp, und das ist Jobst von Kirchenreuth, zweitältester Sohn meines langjährigen Freundes Werner von Kirchenreuth.«

Ella zuckte zusammen. Hatte sie da gerade richtig gehört? Wie kam der Professor dazu, sie als seine Nichte zu bezeichnen? Verwirrt sah sie ihn an. Seiner Miene war nichts zu entnehmen. Sagte er die Wahrheit? Anscheinend hatte er einen guten Grund, gegenüber dem Sohn seines besten Freundes so zu tun, als wären sie miteinander verwandt. Und das, obwohl oder gerade weil er gesehen hatte, wie sie beide aufeinander reagiert hatten.

»Du hast eine Nichte? Großartig! Warum hast du mir noch nie von ihr erzählt?« Erstaunt zog Jobst die Stirn in Falten, um sich im nächsten Moment wieder vergnügt Ella zuzuwenden. »Auf den bezaubernden Familienzuwachs des alten Schlawiners müssen wir anstoßen, Fräulein Wittkamp! Marianne?«

Schon wollte er hinauslaufen, doch der Professor hielt ihn zurück. »Lass gut sein, Jobst. Wir feiern das ein anderes Mal. Ella wird ab sofort bei mir wohnen. Zunächst aber habe ich dringende Familienangelegenheiten mit ihr zu besprechen. Du entschuldigst uns?«

Erst sah es so aus, als wollte sich Jobst widersetzen. Zu Ellas Enttäuschung nickte er dann jedoch zustimmend und reichte ihr noch einmal die Hand. »Jetzt, da ich weiß, dass es Sie gibt, werden Sie mir nicht mehr entkommen. Wahrscheinlich sind Sie zum ersten Mal in München. Ihr Onkel wird nichts dagegen haben, wenn ich Ihnen morgen die Stadt zeige. Um zehn hole ich Sie ab.«

Galant hauchte er ihr einen Kuss auf die Hand.

»Du musst noch einiges lernen, mein Kind«, ging der Professor gleich nach Jobsts Abschied ganz selbstverständlich zur familiären Anrede über. Während Ella noch überlegte, ob sie das als Zeichen verstehen sollte, die Onkel-Geschichte für bare Münze zu nehmen, bat er sie zum Tisch zurück. »Viel zu leicht lässt du dich von anderen überrumpeln. Dein Vater war gelegentlich ähnlich. Das ist nicht gut.«

Keuchend ließ er sich im Sessel nieder, stützte sich mit beiden Händen auf den Elfenbeinknauf seines Stocks und sah streng zu ihr auf.

»Wie meinen Sie das?« Die Erwähnung ihres Vaters, den er offenbar gut gekannt hatte, ließ sie aufhorchen.

»Viel scheinen dir deine Eltern nicht von mir erzählt zu haben«, überging er ihre Frage und wartete mit dem Weiterreden, bis sie ebenfalls wieder Platz genommen hatte. »Wie ich sie einschätze, haben sie dir wohl eher gar nichts gesagt. Aus ihrer Sicht ist das natürlich das einzig Richtige gewesen.«

Er griff nach der Mappe auf dem Tisch und klopfte mit dem rechten Zeigefinger mahnend darauf. »Darin sind wichtige Unterlagen, die in gewisser Weise mein Verhältnis zu deinen Eltern betreffen. Dir werden sie wenig sagen. Bewahre sie dennoch gut auf. Sie sichern dir deine Zukunft.«

Von neuem hielt er inne und starrte ziellos ins Leere, bevor er hinzufügte: »Übrigens ist es das Beste, wenn du ab sofort als meine Nichte auftrittst, vor allem gegenüber den Kirchenreuths. Das wird die Sache erheblich erleichtern.«

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1

Mai 1927

Das Schicksal schlug seltsame Kapriolen. Kaum mochte Ella glauben, wirklich noch in ihrem eigenen Leben zu stecken. Im letzten halben Jahr hatte es sich von Grund auf verändert.

Ihr bisheriges Dasein hatte bislang wahrlich unter keinem glücklichen Stern gestanden. Der Große Krieg und vor allem der tragische Tod ihres Vaters vor neun Jahren hatten für einen tiefen Einschnitt gesorgt. Danach hatten sie und ihre Mutter in Berlin nahezu bei null anfangen müssen. Als sie mit Hannah vor wenigen Monaten den für sie liebsten und wichtigsten Menschen auf Erden verlor, hätte sie das fast aus der Bahn geworfen. Zum Glück war sie im Nachlass ihrer Mutter auf den Namen des Professors gestoßen. Ein Wink des Schicksals, der alles ins Rollen gebracht hatte. Ausgerechnet bei ihm hatte die große Liebe in Gestalt von Jobst auf sie gewartet. Plötzlich hatte sie nicht nur den Mann ihres Lebens, sondern auch eine wundervolle Familie gefunden. Die neue Geborgenheit hatte ihr geholfen, die schmerzlichen Verluste der letzten Monate besser zu verkraften. Ebenso rückten darüber die seltsamen Andeutungen, die der Professor immer wieder über ihre Eltern und die Kirchenreuths gemacht hatte, in den Hintergrund. Was aber gäbe sie dafür, könnte Hannah ihr Glück noch erleben!

»Wenn du wüsstest, wie glücklich ich bin!« Zum mindestens hundertsten Mal an diesem Tag fiel sie Jobst um den Hals. Die Seide ihres Brautkleids knisterte unter der stürmischen Bewegung.

»Das solltest du auch sein.« Schmunzelnd wickelte er sich den Tüll ihres duftigen Schleiers um den Zeigefinger. »Heißt es nicht, der Hochzeitstag wäre der schönste Tag im Leben einer Frau?«

»Und was ist mit dem Mann?« Sie ging auf eine Armlänge Distanz und betrachtete ihn. Der festliche Cut stand ihm hervorragend. Wäre sie nicht längst bis über beide Ohren in ihn verliebt, würde sie ihm spätestens jetzt auf der Stelle verfallen. Spielerisch umfasste sie die silbergraue Seidenkrawatte und zog ihn damit wie an einer Leine zu sich herunter. Fast berührten sich ihre Nasenspitzen. »Hat der Herr etwa noch schönere Tage in Aussicht? Gestehe! Sofort muss ich wissen, was ich aufgrund meines Geschlechts verpasse.«

»Solange du bei mir bist, verpasst du bestimmt nichts, gerade weil du jetzt meine Frau bist. Das garantiere ich dir.« Er legte ihr die Hände um die Taille und wirbelte sie einmal schwungvoll herum. Kleid und Schleier bauschten sich im sanften Frühlingswind. Als er sie absetzte, küsste er sie neckend auf die leicht nach oben gebogene Nasenspitze. Sie liebte den Blick, den er ihr dabei schenkte, konnte sich nicht sattsehen am Glanz seiner dunklen Augen.

»Das will ich doch sehr hoffen«, hauchte sie ihm entgegen, bevor sie in einem langen Kuss versanken.

»Nicht so stürmisch, Kinder! Denkt an die Gäste.« Jobsts Mutter Isolde tippte ihrem Sohn auf die Schulter. Das Strahlen auf ihrem runden Apfelgesicht stand in heftigem Wettstreit mit dem der Sonne am wolkenlosen Maihimmel und bewies, wie wenig ernst es ihr mit dem Tadel war. Ganz selbstverständlich hakte sie sich bei Ella ein. Seit sie sich im letzten Herbst kennen- und schätzen gelernt hatten, tat sie alles, um Ella über den Verlust ihrer Mutter zu trösten. Auch wenn ihre Schwiegermutter und ihre Mutter nicht verschiedener hätten sein können, rechnete Ella ihr hoch an, wie selbstverständlich sie sie in der Familie der Kirchenreuths willkommen geheißen hatte.

»Nur noch ein wenig Geduld«, bat Isolde, »dann brecht ihr in eure Flitterwochen auf und seid für Wochen ganz ungestört.«

»Bis eben waren wir das hier im Pavillon auch schon, liebste Mama«, spottete Jobst und schenkte Isolde ein breites Grinsen. »Bis zu unserer Abreise dauert es noch mindestens zwei Stunden. So lange können wir mit dem Küssen einfach nicht mehr warten.«

»Beneidenswert, so jung und verliebt zu sein wie ihr beide! Sollen die Gäste nur sehen, wie glücklich ihr seid. Viel zu lange hast du auf diesen Moment gewartet, mein lieber Junge.«

Selig sah Isolde zu ihm auf. Jobst hauchte ihr einen Kuss aufs graue Haar, das sich in aufwendig ondulierten Wellen um ihren Kopf schmiegte. Einen Moment noch gab sie sich ganz dem mütterlichen Verzücken hin, dann ging ein kaum merklicher Ruck durch ihre leicht gedrungene Gestalt, die ein raffiniert geschnittenes lachsrosa Spitzenkleid vorteilhaft kaschierte. Sie tat, als müsse sie die weiße Chrysantheme in seinem Knopfloch richten, und spitzte den herzförmigen Mund. »Lasst uns zu den Gästen zurückkehren. Vater will eine Ansprache halten.«

»Natürlich.« Jobst führte Isolde zu seiner Linken, seine frisch angetraute Frau zu seiner Rechten von dem hinter englischen Rosenbüschen verborgenen Pavillon quer über den Rasen zur Veranda.

Zur Feier des Tages zeigte sich der weitläufige Garten an diesem frühlingshaften dritten Maisonntag von seiner besten Seite. In den vergangenen Tagen hatte eine halbe Armee Gärtner dafür gesorgt, jede noch so geringe Spur der Unwetter der letzten Wochen zu beseitigen. Wie von Zauberhand hatten sie die Rosenbüsche – Isoldes ganzer Stolz – aus dem Dornröschenschlaf erweckt und den von Hagel und Starkregen zerzausten Blüten zu neuer, verführerisch duftender Pracht verholfen. Ebenso waren die Hecken und Büsche entlang der kiesbestreuten Wege akkurat gestutzt, als stünden sie für das Brautpaar Spalier. Heerscharen von Hummeln, Bienen und Schmetterlingen schwirrten in den bunt leuchtenden Blumenrabatten umher.

Auf der von einer Markise beschatteten Veranda an der Westseite der imposanten Gründerzeitvilla hatten sich die Festgäste im Halbkreis um den Hausherrn Werner von Kirchenreuth versammelt. Die meisten Herren waren stilecht in Cutaway oder Frack erschienen, einige wenige zu Ellas Entsetzen allerdings auch in Uniform. Die Damen hatten sich in hauchzarten Chiffon und feinste Seide gehüllt und mit glänzendem Gold, funkelnden Diamanten und kostbaren Perlen geschmückt. Neugierig blickten sie dem frisch vermählten Paar und Isolde entgegen. Als die drei die letzten Stufen emporstiegen, brandete Beifall auf. Isolde reckte das Kinn und lächelte zufrieden in die Runde. Gleich eilte einer der Bediensteten mit einem Tablett Champagner herbei. Jobst reichte erst seiner Mutter, dann Ella eine der schweren Kristallschalen, bevor er sich selbst bediente und sich mit den beiden Damen zwischen seinem Vater und seinem älteren Bruder Falk einreihte.

Die große Familienähnlichkeit zwischen den drei Kirchenreuth-Männern war Legende. Nun, da sie alle drei silbergraue Cuts mit ebenso silbergrauen Seidenkrawatten und strahlend weißen Hemden trugen, wurde sie offensichtlich. Auch der Professor hätte gut in die Reihe gepasst, durchfuhr Ella ein flüchtiger Gedanke. Dann aber verdrängte sie die Erinnerung an die zuletzt von heftigen Schmerzen verzerrte Gestalt wieder, um die aufsteigenden Tränen gleich im Ansatz zu ersticken. Werners nur von einem weißen Haarkranz gezierter Schädel glänzte in der Sonne. Falks hohe Stirn war immerhin noch von ebenso dichtem, dunklem Haar bekrönt wie die Jobsts. Dank ihrer Größe sahen sie alle drei aus nahezu schwarzen Augen leicht amüsiert auf den Rest ihrer Mitmenschen hinab.

»Gestatten Sie mir einige Sätze, bevor wir unser Glas auf das Wohl des jungen Glücks erheben«, begann Werner seine Ansprache, zu der er sich mangels Brautvater oder eines sonstigen Verwandten Ellas verpflichtet fühlte. Das rührte sie, überging er so mit Nonchalance ein entscheidendes Manko ihrer Herkunft, das sehr leicht hätte peinlich werden können: Nach dem Tod des Professors vor drei Monaten hatte sie erneut ohne nähere Angehörige dagestanden. Nicht einmal ihre Berliner Busenfreundin Rike hatte sie als Trauzeugin aufbieten können. Sämtliche Briefe an sie waren mit dem Vermerk »Adressat unbekannt« zurückgekommen. Rike musste umgezogen sein, ohne ihr eine Nachricht zu schicken. Früher oder später, so hoffte sie, würde sie wieder auftauchen. Bislang war das noch immer so gewesen.

Während die illustre Gästeschar Werners sonorer Stimme lauschte, die es gewohnt war, vor großem Publikum zu reden und es mit geschickt eingestreuten Scherzen bei Laune zu halten, wanderten Ellas Augen über die Anwesenden. Außer Jobsts engstem Familienkreis, der neben den Eltern und seinem Bruder dessen Frau Viktoria sowie ihre fünfjährigen Zwillinge Klara und Charlotte umfasste, kannte sie bislang nur wenige der geladenen Gäste, darunter natürlich Jobsts Trauzeugen Hubert Wolf und Viktorias Bruder Johann von Scharnau. Während sie Jobsts besten Freund Hubert dank seines Humors sofort ins Herz geschlossen hatte, war ihr Johann nicht allein seiner deutlich sichtbaren Kriegsverletzung wegen – eine Granate hatte ihm einen Teil des rechten Unterkiefers zertrümmert – unheimlich. Sein durchdringender Blick wie auch seine zweideutigen Bemerkungen schüchterten sie ein. Rasch schaute sie an ihm vorbei weiter die Reihe entlang.

Aus Rücksicht auf den noch nicht lange zurückliegenden Trauerfall hatte Isolde empfohlen, nur im kleinstmöglichen Kreis zu feiern. Selbst das aber bedeutete bei den Kirchenreuths eine stattliche Anzahl Gäste. Werner war Direktor der seit mehreren Generationen in Familienbesitz befindlichen Maschinenbaufabrik KiMa, einem der größten Unternehmen der Stadt. Allein dieser Verpflichtung waren ein gutes Dutzend Einladungen geschuldet, von den vielen mehr oder wenigen nahen Verwandten ganz abgesehen. In ihrer mütterlichen Besorgnis zeigte sich Isolde zwar eifrig darauf bedacht, Ella mit den unzähligen neuen Namen und Gesichtern nicht zu überfordern. Trotzdem hatte Ella meist schon nach dem ersten flüchtigen Händeschütteln wieder vergessen, wer wer war und in welcher Beziehung derjenige zu Jobst und den Kirchenreuths stand. Das Einzige, was ihr im Gedächtnis blieb, war, wie zackig so mancher Herr selbst in Zivil aufzutreten pflegte. Dazu rechnete sie auch Johann von Scharnau, der sich gewiss nicht von ungefähr mit einigen Uniformierten etwas abseits vom Rest der Anwesenden hielt.

Andere dagegen wirkten ähnlich der Gelehrtenwelt verpflichtet wie ihr kürzlich verstorbener Onkel. In den wenigen ihm verbliebenen Wochen hatte der frühere Lehrstuhlinhaber für Maschinenbau an der Technischen Hochschule seine lang verschollene Nichte stolz der Münchener Gesellschaft präsentiert. Von daher war sie mit einigen der wichtigsten Geistesgrößen vertraut, allen voran Oskar von Miller, dem Gründungsdirektor des Deutschen Museums, mit dem Constantin Lutz eine ähnlich lange Freundschaft verband wie mit Werner von Kirchenreuth. Ihn aber hatten die Kirchenreuths nicht eingeladen, wie sie mit großem Bedauern feststellte. Dafür stieß ihr eine weitere Gruppe Gäste auf, bei denen es sich anscheinend entweder um Politiker oder um zumindest am politischen Geschehen eng Beteiligte handelte. Gelegentlich waren aus dieser Runde Bemerkungen wie »was in Berlin fehlt, ist eine starke Hand, für die wir sorgen müssen« oder »viel zu voreilig haben wir uns Versailles unterworfen« und »die Republik ist von Anfang an gescheitert« zu hören. Obwohl Ella wenig von Politik verstand, verstand sie doch genug, um sich rasch von diesen Herren abzuwenden. Ohnehin kam Werner gerade zu dem für sie wichtigsten Teil seiner Rede.

»So lassen Sie uns zum Schluss meines lieben Freundes, des nicht nur für seine vielfältigen Verdienste um die Wissenschaft und des Deutschen Museums geschätzten Professors Constantin Lutz gedenken«, verkündete er in weihevollem Ton und hob das Glas. Ella und die anderen taten es ihm nach.

Als wäre das ein verabredetes Zeichen, rissen sich die Zwillinge Klara und Charlotte von ihrer Mutter los und schmiegten sich an Ellas Hüften. Beglückt über diese offenherzige Zuneigung ihrer neuen Nichten strich Ella ihnen über die blond gelockten Köpfe. Die Mädchen ähnelten einander wie ein Ei dem anderen. In ihren weißen Spitzenkleidern mit den zartrosa Samtschleifen wirkten sie herzallerliebst, dabei hatte Ella in den vergangenen Wochen gelernt, wie sehr der Eindruck täuschte. Nichts waren sie weniger als Engel. Dennoch wünschte sie sich sehnlichst, möglichst bald zwei ebenso bezaubernde Kinder mit Jobst zu haben. Als wisse er um ihre Gedanken, zwinkerte er ihr im selben Moment verschwörerisch zu. Errötend senkte sie den Blick.

»Zeit meines Lebens war Constantin mir ein aufrichtiger Freund, guter Kamerad und stets willkommener Ratgeber.« Ergriffen hielt Werner inne. Es machte den Anschein, als müsse er um die nächsten Worte ringen. Die beiden Mädchen kuschelten sich noch enger an Ella. Nach einem vernehmlichen Räuspern schaute Werner wieder auf und lächelte trotz verräterisch feuchter Augen tapfer in die Runde.

»Was kann es jetzt also Schöneres für mich geben, als seine Familie mit der meinen zu verbinden? Es ist mir eine ganz besondere Ehre, seine einzige Nichte Ella als meine zweite Schwiegertochter in meinem Heim willkommen zu heißen. In ihrer Gegenwart lebt er mit uns weiter.«

Erneut legte er eine bedeutungsschwangere Pause ein, bevor er dieses Mal mit einem vergnügten Schmunzeln an Ella gewandt nachsetzte: »Lass dich an mein Herz drücken, mein liebes Kind. Deins hast du zu unserem Glück sehr schnell an meinen Zweitgeborenen verloren. Fortan gehörst du zu uns. Damit wird der letzte Wunsch meines lieben Freundes erfüllt, und ich weiß meinen lieben Jobst endlich in besten Händen.«

Unter dem Applaus der Gäste verneigte er sich vor ihr und schob die Zwillinge sanft, aber bestimmt beiseite. Protestierend trollten sie sich, schnitten hinter seinem Rücken freche Grimassen. Werner drückte Ella an seine Brust. Die Chrysantheme, die auch er am linken Revers seines Cuts trug, kitzelte ihr in der Nase.

Sanft erlöste Isolde sie von ihm und umarmte sie ebenfalls noch einmal mütterlich. »Wie ich mich für dich und meinen lieben Jobst freue! Ihr zwei habt alles Glück dieser Welt verdient. Fortan ist dein Zuhause hier bei uns. Das darfst du niemals vergessen, Liebes.«

Vor Rührung brach ihr die Stimme. Sie schneuzte sich in ein nach Veilchen duftendes Spitzentaschentuch, bevor sie Ella auf beide Wangen küsste. Wieder sprangen die Zwillinge herbei und versuchten dieses Mal, ihre Großmutter und die neue Tante mit ihren kurzen Armen gleichzeitig zu umschließen.

Viktoria zog die linke Augenbraue nach oben. Offenbar behagte ihr der Familienzuwachs nicht, allerdings weniger, weil sie in Ella ernsthafte Konkurrenz um die Gunst der Schwiegereltern sah. Sie schien Ella nicht als ihresgleichen zu betrachten. Sie dennoch ins Haus der Kirchenreuths einziehen zu sehen, empfand sie sichtlich als Zumutung. Den Mund gespitzt, warf sie den rötlich blonden Lockenschopf nach hinten und maß ihre neue Schwägerin mit einem geringschätzigen Blick.

Falk ließ es sich trotzdem nicht nehmen, die Braut als Nächster zu herzen. »Willkommen in unserer Familie, liebste Schwägerin. Auf dass du und mein kleiner Bruder in alle Ewigkeit so glücklich seid, wie ihr es verdient habt.«

Zum deutlichen Missfallen seiner Frau küsste er sie mitten auf den Mund. Klara und Charlotte jauchzten vergnügt, Ella erschrak. Täuschte sie sich, oder hatte er ihr gerade voller Absicht in die Lippen gebissen? Den Blutgeschmack noch im Mund, musste sie Viktorias plötzlich sehr überschwenglichen Anflug von Familiensinn ertragen. Die Schwägerin fiel ihr derart ungestüm um den Hals, als gelte es, damit allen Unmut von vorhin auf einen Schlag zu tilgen.

Im Schatten der fast einen Kopf Größeren schrumpfte Ella auf Kleinmädchenformat zusammen. Dennoch vermochte sie das betont weltläufige Auftreten der nach dem letzten Schick in einen mintgrünen Georgettetraum gehüllten und bis in die Fingerspitzen perfekt zurechtgemachten Schwägerin nicht einzuschüchtern. Dank ihrer Tätigkeit im exquisiten Berliner Modekaufhaus Gerson wusste Ella bei Viktorias mondänem Auftreten mitzuhalten. Das gönnerhafte Lächeln sowie der mitleidige Ton, mit dem sie ihr gratulierte, waren Ella aus dem Umgang mit den feinen Berliner Damen hinlänglich vertraut. Betont schwesterlich legte Viktoria ihr den Arm um die Schultern, führte sie ein Stück von den anderen weg. Ella tat zögerlich-verzagt, amüsierte sich jedoch insgeheim darüber. Natürlich ahnte sie, was kommen würde. Viktoria gab sich nicht die geringste Mühe, ihre Abneigung zu verschleiern.

»Wie schade, dass euer Fest nicht ganz so rauschend ist, wie du und Jobst es eigentlich verdient hättet«, säuselte sie Ella ins Ohr. »Ich weiß, wie lang mein armer Schwager darauf gewartet hat, endlich das große Glück zu finden. Doch so kurz nach der Trauerzeit um deinen lieben Onkel«, den Verwandtschaftsgrad hob sie besonders hervor, »und vor allem um deine Frau Mama wäre es schlichtweg unschicklich, zu üppig zu feiern. Wir wollen dich schließlich nicht überfordern.«

Am Ende der Veranda blieb sie stehen, wandte ihr sorgfältig geschminktes Gesicht mit der etwas zu groß geratenen Adlernase Ella zu und ließ die blauen Augen sehr lange auf ihr ruhen.

Ungerührt hielt Ella stand, auch wenn sie innerlich bangte, Viktoria könnte mehr über den Professor und all diese merkwürdigen Zusammenhänge, die er angedeutet hatte, wissen als sie.

Noch einmal warf Viktoria den Kopf nach hinten. Ihre dunkelroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, ihre Augen blitzten. Verschwörerisch beugte sie sich vor und legte Ella die Hand an die Wange.

»Mich führst du nicht an der Nase herum, Liebes. Ich weiß, dass du nicht die bist, für die dich alle hier halten, und ich verspreche dir, ich werde rasch herausfinden, wer du wirklich bist. Genieß die Zeit im goldenen Käfig. Sie wird nicht lange dauern. Dafür sorge ich, verlass dich drauf!«

Aus den Augenwinkeln sah sie Jobst kommen. Sie beeilte sich, Ella einen besonders vertraulichen Kuss zu geben, bevor sie ihm fröhlich zurief: »Eine wundervolle Frau hast du, lieber Schwager. Ich wünsche euch beiden aus tiefstem Herzen alles Glück dieser Welt.«

 

Unter dem fröhlichen Jubel der zurückbleibenden Gäste starteten Ella und Jobst nach dem Essen mit dem schwarzen Mercedes in die Flitterwochen.

»Geschafft!«, verkündete Jobst, nachdem er die Limousine auf der breiten Ausfallstraße Richtung Südwesten lenkte. Ohne die Augen von der Fahrbahn zu nehmen, legte er den Arm um Ella und fügte hinzu: »Endlich allein!«

Zärtlich schmiegte sie sich an seine Seite, bettete den Kopf auf seine Schulter und sah in die vorbeiziehende Landschaft. Durch die hochgeklappten Seitenfenster wehte frischer Fahrtwind an ihre Nasen. Es roch verheißungsvoll nach bald beginnendem Sommer mit langen, trägen Tagen und kurzen, heißen Nächten. Rechts und links der Chaussee öffneten sich weitläufige Wiesen und Felder, die sich mit Waldstücken abwechselten. Gelegentlich passierten sie ein einzelnes Gehöft. Ein Hund schlug an, die Kühe auf den Weiden hoben träge die schweren Köpfe, um dem vorbeisausenden Auto hinterherzusehen. Im Süden kratzten bald die schneebedeckten Gipfel der Allgäuer Alpen am azurblauen Firmament. Das Fahren erforderte nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit. Leer lag die Straße vor ihnen. Mildes Nachmittagslicht schenkte der Gegend ein friedvolles Aussehen ähnlich wie auf jenem Gemälde aus Constantin Lutz’ Salon, das Ella seit ihrem ersten Tag in München begleitete.

Jeder Kilometer, den sie zurücklegten, brachte Ella der heiß ersehnten Zweisamkeit mit Jobst näher. Zugleich rückten Viktorias hässliche Andeutungen in immer weitere Ferne. Wenn sie doch nur selbst wüsste, wer sie eigentlich war! Bislang hatte diese Frage in ihrem Leben keine große Rolle gespielt. Erst die Begegnung mit dem Professor hatte sie aufgeworfen, dabei hatte der sich erstaunlich wenig für ihre Vergangenheit als vielmehr dafür interessiert, wie ihre Zukunft auszusehen hatte. Zur selben Zeit war auch Jobst in ihr Leben getreten.

Er lebte ganz im Hier und Jetzt und kümmerte sich nicht darum, was vorher gewesen war. Sobald sie ihm etwas von ihrem früheren Leben erzählen wollte, küsste er sie auf den Mund und sagte: »Lass die Vergangenheit ruhen. Wir leben jetzt und nicht früher, süße Fee, und sind jetzt zusammen!«

Für ihn zählte allein ihre Liebe in der Gegenwart. Das sollte sie sich zu eigen machen und ebenfalls aufhören, sich über das, was war, zu sorgen. Auch über das, was kommen würde, brauchte sie sich jetzt noch nicht das Hirn zu zermartern. Jobst und sie liebten sich. Das genügte. Darüber verloren auch Viktorias Drohungen an Gewicht. Natürlich ahnte sie längst, wo Viktorias wunder Punkt lag. Instinktiv fuhr sie mit der Zunge über ihre Lippen und meinte, von neuem Blut darauf zu schmecken wie nach Falks Kuss. Angewidert wischte sie die Erinnerung weg.

»Familie zu haben ist schön, noch schöner aber ist es, sie in weiter Ferne zu haben und mit dir ganz allein zu sein.« Jobst klang geradezu übermütig. Sobald er ihren Blick spürte, wandte er sich ihr schmunzelnd zu und setzte sein Verführerlächeln auf. »Je länger du bei uns lebst, desto mehr wirst du verstehen, was ich meine.«

»Eigentlich will ich das gar nicht verstehen. Wenn man so völlig ohne Familie aufgewachsen ist wie ich, hat es schon seinen Reiz, ein solches Zuhause zu finden, wie du es hast.«

»Sollte ich eifersüchtig sein? Wer hat dich becirct: mein strenger Vater? Oder doch eher mein großer Bruder?« Er drosselte das Tempo. Ein merkwürdiger Ernst lag plötzlich auf seinem Antlitz. »Vor Falk kann ich dich nur warnen.«

»Mein Herz gehört dir allein. Das weißt du doch«, erwiderte sie und schmiegte sich enger an ihn.

»Das beruhigt mich.« Jobst bettete seine Wange auf ihren Kopf, und so fuhren sie weiter in den sich langsam verabschiedenden Tag hinein. Im Westen explodierte der Himmel rot, gelb, orange und golden. Wolkenschlieren hüllten den glühenden Sonnenball ein. Die nächsten vier Wochen gehörten ihnen ganz allein. Müde schloss sie die Augen, um sich fortzuträumen in die wundervolle Zeit, die vor ihnen lag.

Ein heftiger Schlag schreckte sie auf. Für eine Sekunde schlingerte der Wagen, holperte über eine Unebenheit, geriet gefährlich nah an den Straßenrand. Entsetzt krallte sie sich an Jobsts Arm. Er lachte, riss das Steuer herum, fuhr zwei, drei scharfe Kurven, ohne zu verlangsamen. Im Gegenteil: Eher noch schien er sogar zu beschleunigen.

Sie schrie auf. Jobst reagierte nicht. Sein Antlitz wirkte seltsam entrückt. War ihm zu trauen? Auf einmal wurde ihr klar, wie erschreckend wenig sie von ihm wusste.

Im letzten Moment erst brachte er den Wagen unter seine Kontrolle und lenkte ihn zurück auf die Fahrbahn.

»Keine Sorge. Ich habe alles im Griff.«

Allmählich wurden seine Gesichtszüge wieder vertrauter. Beruhigend tätschelte er ihr den Arm. Dennoch blieb sie verstört. Was hatte sie da nur getan? Sie hatte einen völlig Fremden geheiratet!

Sie senkte das Antlitz, spielte nervös mit dem goldenen Ehering an ihrem Finger. Würden vier Wochen Hochzeitsreise genügen, einander nahe genug zu kommen, um nicht nur die Gegenwart miteinander zu leben, sondern auch die Vergangenheit des anderen auszuhalten?

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2

Ebenso plötzlich, wie sie aufgekeimt waren, verschwanden Ellas Zweifel wieder. Das Leben an Jobsts Seite war wie ein Rausch. Jeden Wunsch las er ihr von den Augen ab, mit allem nur erdenklichen Luxus verwöhnte er sie und beschenkte sie vor allem jeden Tag aufs Neue mit seiner ungestümen Liebe.

So sehr geliebt gefühlt hatte sie sich niemals zuvor. Darüber rückte die Erinnerung an Zeiten der Not und der Trauer in beruhigend weite Ferne, bis sie bald ganz verblasste. Selbst an ihre verstorbene Mutter konnte sie inzwischen denken, ohne feuchte Augen zu bekommen. Ihre Mutter hätte sich über ihr Glück gefreut.

Wie gern würde sie allerdings ihrer Freundin Rike von ihrem neuen Leben erzählen! Sie war die Einzige, die ihr aus der Vergangenheit geblieben war. Nach der Rückkehr aus den Flitterwochen würde sie versuchen, Rikes neue Adresse ausfindig zu machen. Unbedingt sollte sie erfahren, auf welchen Wolken Ella inzwischen schwebte.

Die erste Etappe führte Ella und Jobst nach einer Nacht am Bodensee quer durch die Schweizer Alpen zum Lago Maggiore. Ella, die Deutschland noch nie verlassen hatte, ängstigte sich wegen des Grenzübertritts, auch wenn er nur nach Österreich führte. Zu tief steckte die Erfahrung an das fluchtartige Verlassen ihrer Geburtsstadt Metz nach Kriegsende in ihr. Ihre Finger zitterten, als sie den Grenzbeamten den jungfräulichen Pass mit dem neuen Familiennamen vorwies. Jobst war den Wechsel in andere Länder gewohnt. Souverän erledigte er die Formalitäten und steckte die beiden Pässe im Weiterfahren wie selbstverständlich in seine Brieftasche zurück. Erleichtert versank sie im Polster und widmete sich von neuem der vorbeirauschenden Landschaft. Als sie später die Grenze von Österreich in die Schweiz passierten, fühlte sie sich ähnlich gelassen wie Jobst.

Beidseits der Strecke ragten die Bergketten majestätisch ins Himmelblau. In der Sonne grell glitzernder Schnee betupfte die Spitzen, züngelte in schattigen Klüften bis in die Täler hinunter. Die verschiedensten Braun-, Rot- und Grautöne verliehen dem kargen Felsgrund mystische Tiefe. Die Gegend schien gänzlich unberührt von menschlichen Spuren.

»Fast könnte man glauben, es hätte nie einen Krieg gegeben.« Jobsts Worte rissen Ella aus ihrer Tagträumerei. Verwundert sah sie ihn an. »Die Schweizer haben irrsinniges Glück gehabt«, fuhr er fort, den Blick starr nach vorn gerichtet, in Wahrheit sicherlich ganz andere Dinge als die Asphaltstraße vor sich sehend. »Die Österreicher und Italiener haben ihre Gebirgsschlachten gefährlich nah an der Grenze zu ihnen ausgefochten, trotzdem ist nichts davon zu ihnen herübergeschwappt. Zumindest möchte man das glauben, wenn man hier langkommt.«

Jäh schüttelte er den Kopf, als gelte es, die düsteren Gedanken loszuwerden. »Verzeih, liebste Fee. Das alles ist seit Jahren vorbei. Zum Glück bist du jung genug, um nichts mehr davon zu wissen.«

»Leider bin ich nicht jung genug, um nichts davon mitbekommen zu haben. Oder hast du vergessen, wo ich geboren und aufgewachsen bin?«

Erstaunen blitzte in seinen Augen auf. Dann hob er ihre Hand an den Mund, hauchte einen Kuss darauf und drückte sie fest, bis die nächste Kurve wieder beide Hände am Lenkrad erforderte. Für einige Sekunden fühlte Ella sich ihm näher denn je. Seine gleich schon wieder verschlossene Miene verriet jedoch, wie flüchtig der Moment gewesen war.

Mühsam arbeitete sich der Wagen auf engen Serpentinen einen Bergpass empor. Jobst ging ganz im Schalten und Lenken auf. Ehe Ella so recht begriff, dass sie die Spitze erreicht hatten, ging es bereits wieder bergab.

»Keine Sorge, ich fahre diese Strecke nicht zum ersten Mal«, kommentierte er schmunzelnd ihre verkrampfte Haltung. Nichts wollte Ella lieber, als einfach nur die Fahrt genießen, wenig später aber verließ sie von neuem der Mut. In halsbrecherischem Tempo nahm Jobst die Kurven auf eng an die Felsen geklebten Fahrbahnen und bremste den schweren Mercedes selbst vor den abenteuerlichsten Brücken nicht ab, die über tief eingegrabene Schluchten führten. Bald wechselte der sonnig begonnene Tag ins Regnerisch-Graue, was Ella angesichts der rutschigen Straßenverhältnisse noch mehr Angst einjagte. Zum Glück kam ihnen kein Fahrzeug entgegen. Ella war es ein Rätsel, wie sie einander auf der schmalen Strecke hätten ausweichen sollen. Als sie sich einmal instinktiv bekreuzigte, bevor Jobst das Lenkrad an einer unübersichtlichen Biegung erst im letzten Moment herumriss, begann er amüsiert, Schauermärchen von entsetzlichen Unglücken an den Steilhängen und verheerenden Hochwassern in den Schluchten zu erzählen.

»Du elender Teufel!«, rief sie, sobald sich die Straße auf der nächsten Hochebene wieder weit vor ihnen ausbreitete. Sogar ein Stück blauer Himmel blitzte zwischen den dicken Wolken hervor.

»Heißa! Du hast deine Stimme wieder.« Voller Übermut streckte er beide Hände in die Luft, hob die Oberschenkel an, um das Lenkrad mit den Beinen zu steuern. Ella zwang sich, nicht zu schreien. Anscheinend konnte ihn nur Ruhe zur Besinnung bringen. Gelassen legte er die Hände zurück aufs Lenkrad. »Dein Teufel bin ich übrigens gern, solange du nur wieder sprechen und ordentlich mit mir schimpfen kannst.«

 

Die nächsten Tage verschlug es ihr noch einige Male die Sprache. Jobst verstand sich bestens darauf, sie immer wieder aufs Neue zu verblüffen. In erstaunlich gemächlichem Tempo zockelten sie durchs Tessin bis zu den Ufern des Lago Maggiore. Dort gönnten sie sich mehrere Unterbrechungen, damit Ella unter Palmen über die Promenade von Locarno schlendern und wenig später im strahlenden Sonnenschein den legendären Monte Verità besteigen konnte. Die Ruhe der einstigen Pilgerstätte wurde jedoch empfindlich von Baulärm gestört. Da, wo einst gedankenversunken Maler, Tänzer, Schriftsteller, Lebenskünstler und Reformwillige einem neuen Sein auf der Spur gewesen waren, schlugen jetzt Zimmerleute Nägel in die Balken. Der betörende Blick auf die Bergwelt und den sich schier endlos nach Süden dehnenden Lago Maggiore hatte Architekten auf den Plan gerufen, an diesem besonderen Flecken Erde Visionen neuen Bauens zu verwirklichen. Bald sollte ein kühner Hotelbau zahlenden Gästen den Zauber des Paradieses erschließen.

»Lass uns tanzen«, schlug Jobst vor. Der Trubel schien ihn nicht zu stören. Aufgekratzt zog er sie auf eine Blumenwiese, die sich zwischen weiß getünchten Häusern und Hütten unter blühenden Obstbäumen ausbreitete. Noch während sie die Schuhe von den Füßen streiften, begann er eine schwungvolle Melodie zu summen. Wie Kinder fassten sie sich an den Händen, lehnten die Köpfe nach hinten und drehten Kreise um Kreise, immer schneller, immer wilder. Oben und unten vermischten sich, Himmel und Erde küssten sich, alles war wie toll. Vor Freude jauchzten sie laut auf.

»Mir ist ganz schwindlig.« Nach mehreren Runden fiel Ella lachend zu Boden.

»Kein Wunder – in meiner Gegenwart.« Jobst streckte sich neben ihr auf dem Rücken im Gras aus. Den Blick starr zu den Wolken gerichtet, rührte er sich nicht mehr.

Ella wähnte ihn eingeschlafen, setzte sich leise auf, zog die Knie an die Brust und verlor sich im atemberaubenden Panorama. Das war das Paradies auf Erden! Sie wollte sich selbst in den Arm zwicken. Trunken vor Glück sank sie an Jobsts Brust.

»Wir beide, du und ich, auf dem Monte Verità, dem Berg der Wahrheit«, sagte er und strich ihr zärtlich über die Wange. »Ist das nicht ein wundervoller Zufall?«

»Wie meinst du das?« Ella fuhr hoch.

»Warum erschreckt dich das, meine süße, kleine, allerliebste Fee?« Amüsiert zog er sie ganz nah zu sich heran, küsste sie auf die Wangen, suchte ihren Blick. »Hast du etwas vor mir zu verbergen? Ach, was kümmert mich das? Hauptsache, du verbirgst niemals deine Liebe zu mir!«

Er bedeckte ihre Wangen mit Küssen, bevor er nach einer Weile gedankenschwer fortfuhr: »Das Schlimmste ist das, was wir vor uns selbst verbergen. Aber damit müssen wir ganz allein fertigwerden. Niemand kann uns helfen, unseren Frieden mit uns selbst zu finden.«

Es brannte ihr auf der Zunge, ihn zu fragen, wie er das meinte. Wie so oft aber verschloss er ihr den Mund mit einem weiteren innigen Kuss, als wollte er niemals erfahren, was sie an Geheimnissen zu erzählen hatte.

 

»Bella Italia, wir kommen!«, rief Ella zu Jobsts Belustigung übermütig, als sie die Schweiz am nächsten Tag hinter sich ließen, um nur einige Kilometer weiter enttäuscht festzustellen, wie wenig anders es bei den Italienern zuging als bei den Eidgenossen.

»Was hast du erwartet? In jeder Ecke Aufmärsche der Schwarzhemden und Lobeshymnen auf den Duce? So weit ist es zum Glück noch nicht.«

Darauf wusste Ella keine Antwort. »Schwarzhemden« und »Duce« – darunter konnte sie sich wenig vorstellen. Politik interessierte sie nicht. Sie las noch nicht einmal Zeitung. Ihr Vater hatte das getan. Nach seinem Tod hatte ihre Mutter die Zeitungen aus ihrem Haushalt verbannt, als ließe sich damit sein sinnloses Sterben in den letzten Kriegswochen besser verdrängen.

»Tutto sorride sotto il medesimo sole«, fuhr Jobst vergnügt fort und lieferte die Übersetzung gleich hinterher: »Über allen lacht dieselbe Sonne.«

»Weise gesprochen.« Der Satz gefiel ihr. Eifrig versuchte sie sich darin, ihn korrekt nachzusprechen. Dank ihres angeborenen Talents für Sprachen gelang es ihr schnell, wie Jobsts ermutigendes Nicken bestätigte.

»Warten wir ab, was du erst in ein paar Tagen sagst, wenn du ein wenig mehr vom Land gesehen hast.«

»So redet einer, der die Welt schon kennt, weil er das Reisen von Kindesbeinen an gewohnt ist«, seufzte sie mit einem Anflug von Neid.

»Du wirst dich schnell daran gewöhnen. Dafür sorge ich schon.«

»Grazie, amore mio!«

»Con piacere, bella mia.«

In den nächsten Tagen tat er alles, sein Versprechen wahr zu machen. Ganz selbstverständlich logierten sie in Stresa im noblen Grand Hotel des Iles Borromées in einer weitläufigen Suite mit Blick auf den See und speisten nur in den besten Restaurants. Nie achtete Jobst auf ein Preisschild, wenn Ella etwas haben wollte, nie ging ihm das Kleingeld aus, um ihnen die dienstbaren Geister für einen besonderen Service gewogen zu machen. Selten kam Ella überhaupt dazu, einen Wunsch zu äußern. Meist ahnte Jobst schon im Vorhinein, womit er ihr eine Freude machen konnte.

»Lass uns hierbleiben«, sagte sie eines Abends, als sie in dem barock anmutenden, mit goldenen Spiegeln und viel zu viel weißem Stuck verzierten Restaurant beim Menü saßen.

»Selbstverständlich, süße Fee«, erwiderte Jobst und hob das Weinglas. »Habe ich dir schon erzählt, dass ich eben erst den Kaufvertrag für den Palazzo Borromeo auf der Isola Madre unterzeichnet habe? Du warst doch ganz hingerissen von seinem verblichenen Charme. Für die Gärten brauchen wir wohl ein halbes Dutzend Gärtner, aber ansonsten sind wir beide ganz ungestört auf der Insel.«

»Solange wir sie komplett abriegeln und nur noch die weißen Pfauen gelegentlich aufmarschieren lassen«, stieg sie auf seinen scherzenden Ton ein.

»Oh, verzeih, ich vergaß.« Er tat zerknirscht. »Aber die werden dir hoffentlich nichts ausmachen. Ansonsten schlachte ich sie und serviere sie dir als Sonntagsbraten.«

»Pfui Teufel!« Angewidert schüttelte sie sich. »Ich glaube, ich plädiere doch eher für ein Leben als Fischer auf der Isola dei Pescatori. Dann weiß ich wenigstens, was du mir abends in den Kochtopf wirfst.«

»Ich weiß auch schon, welches Haus dir vorschwebt.« Er stellte das Glas ab. »Das direkt an der Nordspitze, oder?«

»Stimmt.« Sie nickte beglückt. Am Nachmittag erst hatten sie eng umschlungen davorgestanden und sich das einfache, aber glückliche Leben in dem winzigen Fischerdorf ausgemalt.

»Ich fürchte, die Ruhe dort wäre auf die Dauer mein Tod.«

»Ich hatte eigentlich nicht vor, so schnell zur Witwe zu werden«, erwiderte sie, doch Jobst schien sie gar nicht zu hören.

»Scusi, signore.« Auf leisen Sohlen war der Oberkellner an ihren Tisch gekommen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Verwundert verfolgte Ella, wie sich Jobsts Miene veränderte.

»Telefon«, sagte er leise und warf die Serviette verärgert auf den Tisch.

Ella musste lachen. »Wie passend! Kaum sprichst du es aus, wird auch schon dafür gesorgt, dass du keinesfalls zu früh mit Ruhe rechnen musst.«

»Ich bin gleich zurück«, überging Jobst ihre Bemerkung und folgte dem Ober aus dem Speisesaal.

Das »gleich« dehnte sich und geriet gefährlich nah an die Dimension einer halben Ewigkeit. Zunächst hatte Ella sich noch unbesorgt dem bereits begonnenen Fleischgang gewidmet und dazu den exzellenten Rotwein genossen. Mit dem Dessert bat sie den Ober zu warten, bis Jobst zurückgekehrt war. Wie hätte sie ahnen können, wie lange das Telefonat dauern würde? Längst wurde an den Nachbartischen der Kaffee aufgetragen. Schließlich verließen die anderen Gäste das Restaurant, und Ella fand sich mit den schwarzbefrackten Obern und den leeren Tischen allein im Saal.

Die weißen Kerzen in den Leuchtern waren fast ganz heruntergebrannt. Nervös zuckten die Flammen am kläglichen Rest der verbliebenen Dochte. Durch die offen stehenden Terrassentüren wehten munteres Geplauder und leise Tanzmusik herein. Leise summte Ella die Melodie mit. Dank der Melodie stand ihr bald der Nachmittag auf dem Monte Verità vor Augen, als sie mit Jobst über die Bergwiese getanzt war. Womit hatte sie verdient, so unverhofft zur Hauptfigur eines derart romantischen Märchens zu werden? In den letzten Wochen seines Lebens hatte der Professor seine ihm noch verbliebene Kraft ganz darauf verwendet, die Weichen für ihr Glück in die richtige Richtung zu stellen. Kaum dachte sie daran, wie entschlossen er darauf hingearbeitet hatte, Jobst und sie zusammenzubringen, stahl sich eine Träne in ihr Auge. Im stillen Gedenken an den Arrangeur ihrer traumhaften Zukunft hob sie das Glas. Das würde sie ihm nie vergessen.

Auf einmal fiel ihr die ihr von ihm anvertraute Mappe ein. Bislang hatte sie noch keine Zeit gefunden, sich mit den darin enthaltenen Unterlagen zu beschäftigen. Auf den ersten Blick hatte sie ohnehin nichts von den mathematischen Formeln und Skizzen verstanden. Eine dumpfe Ahnung beschlich sie, auch künftig besser die Finger von den Papieren zu lassen. Sie strahlten den Staub vergangener, komplizierter Zeiten aus.

»Tut mir leid.« Endlich tauchte Jobst wieder auf.

»Schon gut«, erwiderte sie und gab dem Ober ein Zeichen, das Dessert zu servieren.

Ungeduldig winkte Jobst ab. »Es ist spät. Lass uns nach oben gehen.«

»Aber warum …«, setzte sie an, brach jedoch gleich wieder ab, sobald sie sein Gesicht sah. Das Telefonat musste schlechte Nachrichten gebracht haben. Vor ihr stand ein anderer Jobst als der, der sie mitten im Fleischgang verlassen hatte. Seine Augen waren schmal, sein unsteter Blick wich ihr aus. Selbst seine Stimme klang fremd. Beklommen folgte sie ihm ins Foyer.

»Ist etwas passiert?«, erkundigte sie sich bang.

Es waren keine anderen Hotelgäste im Fahrstuhl, der Liftboy blickte starr geradeaus.

»Alles in bester Ordnung.« Erst auf ihre Nachfrage hin rang Jobst sich ein nichtssagendes Lächeln ab und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Beste Grüße von allen.«

In ihrer Suite drängte er darauf, gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen aufzubrechen. »Höchste Zeit, nach Genua zu kommen.«

»Was ist mit Mailand und Pavia?«

»Ich dachte, du willst so schnell wie möglich ans Meer?« Auf einmal wirkte er fahrig, war mit den Gedanken woanders.

»Natürlich.«

Schweigend legten sie sich zu Bett. Zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit rührte er sie in dieser Nacht nicht an, dabei hörte sie an seinem unregelmäßigen Atem, dass er ebenso wenig schlief wie sie.

»Hast du Angst, ich würde Ernst machen und das Fischerhaus sofort für uns mieten?«, versuchte sie ihn zu necken, sobald er am nächsten Vormittag den Wagen in gewohnt rasantem Tempo vom Lago Maggiore Richtung Süden steuerte. »Und das ausgerechnet jetzt, da du mich seit Tagen die Vorzüge des guten Lebens kosten lässt? Auf ein eigenes Bad will ich keinesfalls mehr verzichten, geschweige denn auf all die anderen Annehmlichkeiten, die die diversen Grandhotels zu bieten haben.«

»Dann weiß ich ja, was ich zu tun habe.«

Wie aus dem Nichts fand Jobst zu seiner guten Laune zurück. Übermütig trat er das Gaspedal durch und warf ihr sein charmantes Lächeln zu. Vor Erleichterung wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen und in einen langen Kuss mit ihm versunken. Er aber machte keine Anstalten, das Tempo zu drosseln. Gierig fraß der Wagen die Kilometer, die sie noch von der ersehnten Riviera trennten.

Sobald Ella zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer vor sich sah, brach sie in Entzückenslaute aus. Sie konnte es kaum erwarten, endlich die Füße ins Wasser zu strecken und dem Rauschen der Wellen zu lauschen. Zu ihrer Enttäuschung machte Jobst jedoch keinerlei Anstalten, eine Pause in einem der kleinen Badeorte westlich von Genua einzulegen. Stattdessen drängte es ihn aus unerfindlichen Gründen, das Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Kaum hatten sie ihr feudales Quartier im Grand Hotel Miramare et de la Ville nahe dem Genueser Bahnhof bezogen und die Koffer ausgepackt, schlug er vor, auf der Terrasse eine eisgekühlte Limonade zu trinken.

Das Hotel lag an einem Berghang inmitten des ehemaligen Doria-Gartens, der um diese frühe Nachmittagsstunde in der aufgeheizten Stadt eine wahre Oase mit angenehm kühlem Schatten war. Behaglich richtete sich Ella in einem der weiß gestrichenen Korbsessel ein, bettete die Füße auf einen zierlichen Schemel.

»Leider muss ich dich jetzt allein lassen.« Jobst reichte ihr das Glas mit der ersehnten Erfrischung.

»Geh nur. Hier im Garten lässt es sich gut eine Weile aushalten«, erwiderte sie und trank einen Schluck von der Limonade.

»Sieh dir in den nächsten Tagen in Ruhe die Stadt an. Ich bin sicher, du wirst einige tolle Entdeckungen machen.«

»Wieso nur ich? Kommst du nicht mit?« Verblüfft setzte sie sich auf. Wieder hatte er diesen unergründlichen Gesichtsausdruck.

Als er ihren Blick bemerkte, wandte er sich ab. Die Hände in den Hosentaschen, die Augen auf den Garten gerichtet, erklärte er: »Der Anruf gestern im Hotel, du erinnerst dich? Es ging um wichtige Angelegenheiten für die Firma. Ich muss einige Geschäftspartner treffen.«

»Ausgerechnet in unseren Flitterwochen?« Sie versuchte, den aufsteigenden Ärger zu bezwingen. Jobst musste es ähnlich gehen, sonst würde er nicht seit gestern Abend schon damit ringen.

»Es geht leider nicht anders. Das ist das Los der Unternehmer. Wenn einer von uns schon einmal in Italien ist, muss er eben …«

»Dann erkunde ich die Stadt tagsüber eben allein«, sandte sie ein Friedenssignal. »Solange wir die Nächte für uns haben, werde ich es verkraften.«

»Du verstehst nicht.« Er kam zu ihr zurück, kniete neben ihrem Sessel nieder und suchte ihren Blick. »Du wirst für einige Tage ganz ohne mich hier sein. Ich verlasse die Stadt.«

»Wo fährst du hin? Wieso nimmst du mich nicht mit? Keine Sorge, ich kann mich gut allein beschäftigen, während du mit deinen Geschäftspartnern konferierst.«

»Es ist besser, wenn du hierbleibst, süße Fee.« Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und küsste sie auf den Mund.

Sie konnte den Kuss jedoch kaum genießen. Viel zu heftig arbeitete es in ihr. Was sollte sie davon halten, mitten in der schönsten Zeit ihres Lebens von ihm allein gelassen zu werden? Noch dazu in einer wildfremden Stadt in einem Land, dessen Sprache sie kaum beherrschte und dessen Menschen ihr fremd waren. War das das unsanfte Erwachen aus einem viel zu süßen Traum? Das abrupte Ende ihres Paradieses auf Erden, noch ehe sie sich so richtig darin eingerichtet hatte? Vielleicht blieb sie eben doch die ewige Pechmarie, als die sie bis vor einem halben Jahr mehr schlecht als recht durchs Leben gestolpert war.

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3

Ein entschlossener Griff genügte, und die Schale des Frühstückseis zerbröselte zwischen den Fingern. Viktoria hatte genug. Isoldes ewige Schwärmerei war einfach zu viel. Wie jeden Morgen hatte sich ihre Schwiegermutter in der letzten halben Stunde beim gemeinsamen Frühstück auf der sonnenüberfluteten Veranda ausführlich ihren Überlegungen hingegeben, was sich Jobst und seine frisch angetraute Ella an den Oberitalienischen Seen angesehen haben und was sie in Mailand, Pavia, Genua oder am Meer erleben mochten. Seit mehr als einer Woche ging das schon so. Viktoria grauste vor dem Gedanken, sich das auch die restlichen drei der insgesamt vier Wochen von Ellas und Jobsts Hochzeitsreise anhören zu müssen.

»Bestimmt werden die beiden dir nach ihrer Rückkehr genauestens Bericht erstatten«, nutzte sie die Gelegenheit, sobald Isolde nach dem Hinweis auf den großartigen Mailänder Dom, dessen Dach »die Kinder unbedingt besteigen müssen«, eine kurze Verschnaufpause eingelegt hatte und den Blick verträumt zu den Rosenbeeten hinüberschweifen ließ. Es blühte und grünte in allen Winkeln. Der Frühling versprühte eine nachsichtige Milde, für die Viktoria jedoch absolut unempfänglich war. »Sicherlich führen dein geliebter Jobst und seine entzückende Ella Tagebuch und brennen schon darauf, dir daraus vorzulesen.«

Ob des deutlichen Sarkasmus schwieg Isolde beleidigt. Nicht allein die Morgensonne brachte ihre Wangen zum Erröten. Betont aufmerksam widmete sie sich dem Bestreichen ihrer Semmel erst mit Butter, dann mit Erdbeermarmelade.

Am zweiten Kopfende des auch auf der Veranda stets mit weißer Damastdecke, feinem Nymphenburger Porzellan und schwerem Silber gedeckten Tisches ließ Werner das Zeitungsblatt sinken und schaute missbilligend von seiner Frau zu seiner Schwiegertochter, bevor er enerviert seine goldene Taschenuhr zückte, sie aufklappen ließ und mit gerunzelter Stirn daraufsah. Solche Debatten waren ihm zuwider, störten sie ihn doch bei seiner morgendlichen Lektüre der Münchner Neuesten Nachrichten. Weder der begeisterte Bericht über Lindberghs geglückten Atlantikflug noch die erfreulich positive Nachricht, dass die deutsche Industrieproduktion erstmals wieder Vorkriegsniveau erreicht hatte, konnten seine Laune bessern. Wahrscheinlich hatte ihm zuvor schon der Artikel über die in seinen Augen »völlig überflüssige Weltwirtschaftskonferenz in Genf«, die »natürlich ohne Ergebnis zu Ende« gegangen war, die Stimmung vermiest. »Hoffentlich erreicht der Junge endlich etwas in Italien«, ließ er noch verlauten, bevor er wieder ganz hinter dem Zeitungsblatt verschwand.

Einzig Falk erlaubte sich ein freches Grinsen, als er sich an seine ihm gegenübersitzende Frau wandte. »So innig, wie du zu unserer lieben Schwägerin stehst, wirst du die Erste sein, der Ella sich nach der Reise anvertraut, mein Schatz.«

Viktoria spitzte den Mund. Sie hasste es, von ihm mit »Schatz« angeredet zu werden, insbesondere vor seinen Eltern. Natürlich bereitete es ihm gerade deswegen umso größeres Vergnügen. Tief Luft holend, griff sie nach ihrer Teetasse und trank einen langen Schluck daraus.

»Ist es nicht wundervoll, dass Jobst endlich auch sein Glück gefunden hat?«, versuchte es Isolde nach einer Weile noch einmal, legte die angebissene Semmel beiseite und lächelte einen nach dem anderen am Tisch gewinnend an. »Ihr müsst zugeben: Ella ist ein wahrer Sonnenschein. Eine solche Frau hat unser lieber Junge nach allem, was er durchgemacht hat, wirklich gebraucht.«

»Wollen wir hoffen, dass sie auch wirklich lange an seiner Seite ausharrt«, brummte Werner. Energisch strich er die Zeitung glatt, bevor er sie sorgfältig zusammenlegte. Eindeutiges Zeichen, dass für ihn sowohl das Gesprächsthema als auch das Frühstück beendet war. »Zeit hat er sich reichlich gelassen, um die Richtige aufzutreiben.«

»Befürchtest du etwa, die beiden …?« Beunruhigt schaute Isolde zu ihm ans andere Tischende.

»Vorerst befürchte ich gar nichts, sondern hoffe erst einmal nur das Beste für Jobst und uns«, fiel er ihr brüsk ins Wort und erhob sich aus seinem weißen Korbsessel.

»Was soll schiefgehen?«, tat Falk munter und stand ebenfalls auf, knöpfte sich das Jackett zu und zupfte die Manschetten zurecht. »Immerhin ist Ella die Nichte deines geschätzten Freundes Constantin. Gerade rechtzeitig ist sie aufgetaucht, damit er sie noch höchstpersönlich in die Hände unseres lieben Jobst übergeben konnte. Einen besseren Bürgen als deinen Busenfreund kann es für sie wohl nicht geben.«

»Lass Constantin aus dem Spiel«, wies Werner ihn zurecht. »Tote können sich nicht mehr rechtfertigen.«

»Warum sollte er das nötig haben?«, fragte Falk mit einem triumphierenden Funkeln in den Augen, bevor er sich von den beiden Frauen verabschiedete und seinem Vater über den noch taufeuchten Rasen zum Wagen folgte. Wie jeden Morgen fuhren sie gemeinsam im Adler in die Firma in Moosach.

 

»Du traust Ella also auch nicht?«, griff Viktoria das Gespräch vom Frühstück abends vor dem Zubettgehen noch einmal auf. Nur mit einem leichten Seidennegligé bekleidet, saß sie in ihrem mit erdrückend dunklen Möbeln bestückten Schlafzimmer vor dem wuchtigen Toilettentisch und bürstete sich in festen Strichen die rötlich blonden Locken.

Als er nicht antwortete, hielt sie mit dem Bürsten inne und drehte sich zu ihm um. Gedankenverloren lehnte er am offenen Fenster, die dunklen Kirchenreuth-Augen starr in die Nacht gerichtet, die Arme vor der gut trainierten Brust verschränkt. Das Hemd hing ihm halb aufgeknöpft aus der Hose. Mitten im Ausziehen musste er innegehalten haben. Der Schmiss, der sich quer über die rechte Wange zog, leuchtete im schalen Licht der elektrischen Lampe. Mücken schwirrten durchs offene Fenster herein und umkreisten die Lampe neben dem Spiegel so aufgeregt, als wollten sie einen beschwörenden Tanz aufführen. Es war ein lauer Frühlingsabend, viel zu lau für den überraschend milden Mai, der auf einen nassen, kühlen April gefolgt war.

Viktoria konnte den Blick nicht von Falk lösen. Ein angenehmer Schauer durchfuhr sie. Sie legte die Bürste auf die verglaste Tischplatte und stand auf, um sich dicht hinter ihn zu stellen. Die Arme um seinen Leib geschlungen, vergrub sie das Gesicht zwischen seinen Schulterblättern. Gierig sog sie seinen herben Geruch ein.

»Ich traue niemandem außer mir selbst, wie du weißt«, erklärte er. Eine Spur zu unsanft befreite er sich aus ihrer Umarmung, knöpfte sich das Hemd wieder zu und schnappte sich das vorhin achtlos beiseitegeworfene Jackett vom Bett. In großen Schritten eilte er zur Tür.

Sie ahnte, was er vorhatte. In dieser Nacht aber wollte sie ihn nicht gehen lassen. Es gelang ihr, vor ihm die Tür zu erreichen. Sie breitete die Arme aus, um ihm den Weg zu versperren. Verdutzt blieb er stehen. Jetzt war sie es, die triumphierte.

»Dann sind wir uns also einig: Mit unserer lieben Schwägerin stimmt etwas nicht. Die Zeiten von Aschenputtel sind vorbei. An solche Aufsteigermärchen glaubt kein Mensch mehr. Wir sollten herausfinden, wer sie wirklich ist, bevor etwas passiert.«

»Was soll passieren?«, erwiderte er, sichtlich verärgert, weil sie ihm das Weggehen vereitelte. »Höchstens, dass sie meinem kleinen Bruder das Herz bricht. Er wird es überleben. Sollte es schlimmer werden, steht Mama bereit, um ihr süßes Herzstück zu trösten.«

Damit wollte er sie beiseiteschieben und das Zimmer verlassen. Er legte allerdings nicht ausreichend Kraft in die Bewegung. Mit einer geschickten Drehung packte sie ihn unerwartet harsch am Handgelenk und hielt ihn fest. Keuchend rangen sie miteinander, bis sie ihn schwungvoll nach hinten von sich wegstieß.

»Wenn es nur das wäre!« Viktoria lachte auf. »Mit zwei, drei Linien Koks am Tag würde dein kleiner Bruder das schon verschmerzen. Das allein aber ist es bei Ella nicht.«