Spiel wird Leben - Barbra Ring - E-Book

Spiel wird Leben E-Book

Barbra Ring

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Beschreibung

Der Schatten des Krieges liegt über Dänemark-Norwegen, als der junge Küstersohn Lars Linde im Jahre 1801 nach dem Tod der Mutter das Elternhaus und seine geliebte Schwester Eline verlässt, um bei dem reichen Kaufmann Marcus Gjög auf dessen Geheiß in Lehre zu gehen. Kaum auf dem Gut des Alten angekommen, wird er auch schon damit beauftragt, eine junge Dame nach Kopenhagen zu begleiten. Anfangs wundert sich der unerfahrene Junge noch über das unerwartet bedingungslose Vertrauen, das ihm Gjög entgegenbringt, dann gibt es jedoch andere, sowohl schöne als auch grausame Dinge, die seine Aufmerksamkeit fordern: auf seiner Reise wird aus dem Kind ein junger Mann - und als Eline ihren Bruder wenige Monate wieder sieht, erkennt sie ihn kaum wieder. Nachdem auch der Vater verstorben ist, kommt auch sie nun zu Gjög, und sie ist fest entschlossen, Antworten zu bekommen. Antworten auf die Fragen ihrer Kindheit, die ihr die Mutter nie geben konnte - oder wollte? Denn eins wird schnell klar: Marcus Gjög weiß mehr über Lars' und Elines Mutter, als er preisgeben will, und er scheint ganz eigene Pläne für die Zukunft der beiden Waisen zu haben.Ring schildert mitreißend und voller Einfülungsvermögen und stillem Humor die Reise der beiden Kinder, die inmitten der Wirren ihrer Zeit das Erwachsenwerden üben: was bedeutet es, ein guter Mensch zu sein, und wie geht das, wenn die Welt um einen herum ständig zusammenzubrechen scheint?-

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Barbra Ring

Spiel wird Leben

Saga

Spiel wird Leben Übersetzt Ellen de Boor OriginalLeken blir livCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1949, 2019 Barbra Ring und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711937846

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der Wind strich von der See her. Er drückte auf Inseln und Holmen das vorjährige Gras nieder, das sich nach der Schneeschmelze in seiner Armseligkeit wieder aufgerichtet hatte, und beugte Büsche und Bäume, so daß die schwächsten unter ihnen tief gebückt standen. Er fegte von draußen über den Fjord hin, trübte und kräuselte die Oberfläche mit immer neuen Stößen. Allmählich verlor er an Kraft, doch brachte er es, als er die innerste Bucht erreichte, noch fertig, die Pfanne vom Dach der Kirche herab zu schleudern, die sein Vorgänger vom First losgerissen, jedoch nur bis aufs Vordach zu bringen vermocht hatte. Dort war sie liegen geblieben und wippte bei jedem Windstoß hin und her, eine Gefahr für die auf dem Kirchplatz spielenden Kinder, wie für die Kirchgänger, die nachdenklich zwischen den Gräbern einherwandelten und nach dem Gottesdienst nach ihren Lieben sahen.

Der Ziegel stürzte auf eine schwarze Eisenplatte an der Kirchenmauer und zersplitterte.

„Eline Linde“ stand in erhabener Schrift auf der Grabplatte, ohne Jahreszahl und Datum. Nicht einmal ihr Mädchenname. Und kein Bibelspruch. So hatte sie es selber gewollt. Es war eine zweiteilige Platte, daher stand der Name seitlich — es war noch Platz für einen zweiten. Ein stolzes Mal, ein vornehmes Grab. Die Küsterfrau lag hier begraben — schon seit mehr als zehn Jahren.

Die Küsterfrau? Weiter nichts? So würde ein Ortsfremder wohl denken, wenn er hörte, daß so eine darunter lag.

Wer aber Eline Linde gesehen hatte, damals, als sie mit dem Küster hierhergekommen war, und aufrechter und freier mit ihrem ersten Kinde ging, als andere ohne eine solche Bürde — und wer sich an die stolze Haltung erinnerte und an die korngelbe Flechtenkrone über den ernsten, meerblauen Augen in dem feinen, rosigen Gesicht mit seiner geraden Nase und der ein wenig vorgeschobenen Unterlippe, so wie sie still unter ihnen gewandelt war bis zu ihrem letzten Tage — der dachte nie an die Küsterfrau, sondern an Eline aus Stormö, die mit einem Makel auf ihrem Namen kam und ihn wie eine Ehre trug.

Gerade saß ein rankes, schlankes Mädchen mit einem ebenso schmalen, rosigen Gesicht und ebenso meerblauen Augen und zwei langen, ährengelben Hängezöpfen auf dem Grabe, als der Ziegel herabstürzte. Ein Splitter prallte ab und traf den bloßen, braunen Arm, der aus dem verschossenen, blauen Kleid hervorguckte. Er war scheckig von der Kälte des Windes, denn die Sonne war eben erst über den Horizont gestiegen und wärmte daher noch nicht so recht. Sie preßte den Mund auf die Stelle und saugte — denn es blutete — einen ungewöhnlich hübschen, dunkelroten Mund mit einer etwas vorgeschobenen Unterlippe. Dann blickte sie zum Dach hinauf.

„Gut, daß der runtergekommen ist, ohne Schaden anzurichten“, murmelte sie. Das war ja auch kaum anders möglich, wenn er Mutters Grab traf, dachte das Mädchen. Sie hielt ihre Hand schon schützend über die ihren, die Mutter, daß ihnen kein Unglück zustieß.

Sie scharrte die Scherben mit den Händen zusammen und trug sie zu dem Abfallhaufen von Zweigen und altem Laub, den der Totengräber am Samstag nachmittag fortschaffte, wenn er mit der anderen Arbeit fertig war.

Die Sonne stahl sich durch die Zweige und gab tatsächlich schon eine Spur von Wärme — der Frühling kam dies Jahr wirklich ganz unglaublich zeitig, mindestens sechs Wochen früher als sonst; denn die Leberblümchen waren bereits verblüht, und Anemonen und Goldsterne guckten schon hervor, und dabei war es erst Ende März.

Der Wind war indessen weiter landeinwärts gefahren und machte sich um das kleine, weiße Küsterhaus unter den Hängebirken zu schaffen, über deren Zweigen schon ein braunvioletter Schimmer lag, und die gerade die ersten grünen Spitzchen zeigten. Er nahm ein paar Worte mit „— — und in diesem kleinen Lederbeutel sind zwanzig Taler, dein Teil von den fünfzig, die im Kasten deiner seligen Mutter lagen, und die sie also —“ hier begann die Stimme ein wenig zu zittern, gewann dann aber wieder ihre Festigkeit: „die sie mitgebracht hat. Häng das Beutelchen um den Hals unters Hemd und greife das Geld nur im Notfall an. Und laß nur solches Geld dazu kommen, das du ehrlich verdient hast, damit du unserem Herrgott wie deiner seligen Mutter und mir in die Augen sehen kannst. Halt dich immer an die reine Wahrheit, mein Junge, du weißt, daß du den Mund gern ein bißchen voll nimmst. Habe allewege die Augen offen, aber rede nicht über alles, was du siehst und hörst. Du kannst aus allem lernen, was dir begegnet. Und wenn du dir bewußt bist, recht zu handeln, dann laß dich niemals abschrecken, weil die Menschen dich auslachen oder dir zürnen könnten. Es gibt ein Wort, das heißt: helfen. Das vergiß nicht.“ Hier stockte die müde Stimme abermals, aber nach einer Weile klang sie weiter: „Auf Röe grüß herzlich von mir, dann nehmen sie nichts für das Nachtquartier. Blakke tüderst du draußen an, dann findet er schon selber etwas. Und denk dran, das Pferd ist dein einziges Erbe von mir. Syver als Ältester soll das Haus haben und hier bleiben und tischlern, wie bisher. Er eignet sich nicht — ich meine, du hast es leichter, dich unter fremden Leuten zurecht zu finden, Lars. Eline ist ja nur ein Mädchen, da ist die Kuh und zehn Taler für sie als Schwesterteil genug.

Dann mußt du dort schön grüßen, wo du hinkommst, und dich bedanken, daß ein Mann wie Marcus Gjög sich deiner annehmen, dich ausbilden will. Und nun geh mit Gott und bleib gesund. Verkauf Blakke sobald wie möglich, dann brauchst du nicht für ihn zu bezahlen. Und wenn du Gelegenheit findest, Nachricht zu schicken, wie es dir geht, dann benutze sie; aber vier Schillinge für einen Brief auszugeben, lohnt sich nicht, außer in Notfällen, bei schwerer Krankheit oder dergleichen. Gesegnete Reise, mein Junge!“

Diese Abschiedsrede hielt Küster Linde von der Treppe aus, während sein Vierzehnjähriger rittlings auf Blakkes rundem Rücken saß und die Beine weit von sich spreizte. Er versuchte sich in dem neuen, schwarzen Konfirmationsanzug aufzurecken, aber der Anzug war auf Zuwachs für ein, zwei Jahre berechnet und der Fries so steif, daß er von selber rings um den Jungen abstand. Es war kein stolzer Reitersmann und Reisender, der da saß. Nein, Lars Linde war ein kleiner, zaghafter Junge, der zum ersten Mal von daheim fort sollte, in die Welt hinaus, um bei fremden Leuten sein Brot zu verdienen. Die blauen Augen blinkten feucht — und blinzelten ununterbrochen unter dem blonden Haarschopf, mit dem der Wind spielte. Gewiß, er besaß einen Hut, einen schwarzen Hut, er hatte schließlich vor dem Altar gestanden, aber auch der Hut war vorsorglich auf Zuwachs berechnet, und lag daher eingepackt bei den übrigen Kleidern in der neuen, festen Truhe, die Blakke hinten aufgebunden war. Eine feine, grüne Truhe; L. L. stand mit weißer Schrift darauf in einem Rahmen von Blumen und Blättern — eine Truhe, die allgemeine Bewunderung erregen mußte, meinte Lars, und die für ihn also im doppelten Sinne eine Stütze war.

Als die Rede zu Ende war, stieg der Küster die Treppe hinunter. Er schritt gleichsam die Altarstufen hinab und legte damit seine Würde ab. Die grünlichgrauen Haarsträhnen, die vorhin noch mit seinen grünkarierten Rockschößen um die Wette geflattert hatten, fielen jetzt schlaff zu beiden Seiten seines bleigrauen, eingesunkenen Gesichtes mit den matten, farblosen, freundlichen Augen nieder. Der Mund in dem grauen, schütteren Kinnbart begann zu zittern. Hier unten stand jetzt, kein Mann der Kirche mehr, der einem jungen Menschen gute Ratschläge mit auf den Lebensweg gibt, hier stand nur ein armer Vater, der seinen Jüngsten, sein Herzenskind, wegschickte, um ihn auf guten Wegen zu wissen, ehe er selber die Augen schloß. Er wußte, es würde so bald geschehen, daß er den Jungen auf dieser Welt nicht mehr wiedersehen würde. Er legte ihm die Hand auf den Stiefel, als wolle er ihn zurückhalten, trotz allen seinen Ratschlägen.

Hinter ihm stand Syver, der ältere Bruder, ein trokkener, zäher Bursche, schmal wie ein Sägeblatt, gelbgrau an Haut und Haar. Seine kleinen, fahlen Augen blickten scharf und mißgünstig, weil Lars jetzt das Pferd als sein Eigentum vom Hof entführte. Er hatte kein Abschiedswort für ihn.

„Aber Eline?“, fragte der Küster, und sah sich um. Sie würde doch wohl von ihrem Bruder Abschied nehmen wollen. Sie war doch schon vor Tau und Tage aufgewesen, hatte den Proviant zurechtgemacht und das zeitige Frühstück zubereitet. Der Junge mußte rechtzeitig fort, um Röe gerade noch vor dem Abend zu erreichen.

Lars fragte nicht nach Eline. Die beiden kannten sich; er wußte, sie würde ihm nicht Lebewohl sagen, während Syver und der Vater zusahen und zuhörten. Er würde sie schon noch treffen, wenn er das Küsterhaus erst hinter sich hatte. Sein Weg führte landeinwärts über die Höhenzüge und überquerte die Landzunge, die den inneren Fjord von dem Kirchspiel Röe trennte. Von Röe war es dann nochmals ein Tagesritt zur Stadt und zu Marcus Gjögs Haus, wo sein Leben beginnen sollte.

„In Gottes Namen denn”, sagte der Küster, und der Junge begriff, daß der Augenblick gekommen war, aufzubrechen. Einen stärkeren Reisesegen gab es nicht — dies war der Abschied von der Heimat.

Er zog Blakke am Zügel und setzte sich auf seinem Schaffell zurecht, das als Sattel zusammengerollt war. Wer konnte wissen, ob sich Marcus Gjögs’ jüngster Stift sein Bettzeug nicht selber halten mußte. Wenn auch Gjög einer der Größten war, konnte Lars darum doch einer der Geringsten werden.

Küster Linde stand lange und sah dem kleinen, vierschrötigen, schwarzen Rücken auf dem rundlichen Pferd nach, als erwarte er, der Junge werde sich umdrehen und eines seiner lachenden Worte rufen, mit denen er es so oft verstanden hatte, Schwierigkeiten leicht zu machen. Selbst Syver schien darauf zu warten, daß Lars’ Worte beim Frühstück nicht seine letzten sein würden: „Jetzt wirst du froh sein, Syver, jetzt hast du die Bettbank für dich allein und den Platz am Ofen auch.“

Jetzt erst ging es Syver auf, daß er sehr allein blieb. Er rief hinter ihm drein: „Machs gut, Lars!“

Aber es kam keine Antwort, denn der Wind trieb die Worte nach einer anderen Richtung. Lars hörte nur das wütende Bellen von Bastar, dem Hund, der an der Treppe angebunden war, damit er nicht mitlief. Aber er drehte sich nicht um, denn er wollte nicht zeigen, daß er vergeblich versuchte, die Tränen herunterzuschlucken. Erst bei der Biegung an der Kirchhofsmauer, die so hoch war, daß sie den Vorübergehenden den Einblick verwehrte, wähnte er sich soweit geborgen, daß er sich auf dem Pferd umwenden und zurückblicken durfte. Es übermannte ihn, daß er das weiße Häuschen mit den kleinen Fensterscheiben zu beiden Seiten der Treppe nie mehr wiedersehen sollte. Er mußte sich jetzt satt daran sehen.

Vater und Syver standen noch dort; sie hatten wohl darauf gewartet, daß Lars sich umwenden würde; denn jetzt winkten sie mit den Händen. Der Vater hatte eine Hand auf Bastars Kopf gelegt, der an dem Treppenpfosten emporstrebte und jaulte und winselte und an der Leine zerrte, und nicht begriff, weshalb er zum ersten Mal in seinem Leben nicht mit Lars und Blakke mitdurfte. Lars schluchzte. Nichts hätte ihm deutlicher sagen können, wie tief es den Vater schmerzte, ihn in die Fremde zu schicken, als daß er seinen Hund streichelte. Der Küster war sonst kein Hundefreund und rührte Bastar niemals an. Er war eher etwas scheu und bange vor Tieren, sie verstanden sich nicht, auch wenn sie nicht unfreundlich gegeneinander gestimmt waren. Aber Lars fühlte sich mit Bastar beinahe brüderlicher verbunden als mit Syver. Sie waren Freunde, seit die Hündin des Doktors letztesmal Junge geworfen hatte, drei, die so getaten waren, wie sie sein sollten, seidenweiche, richtige, schwarzweiße Hühnerhunde, und zuletzt Bastar, der nichts war als ein schwarzes, haariges Knäuel mit aufrechten Ohren und einem ganz verrückten Schwanz, wie der Doktor sagte. Er sei ein Bastard, und für seine Hündin ein Schandfleck für ewige Zeiten. Und da Lars gerade Beeren ins Doktorhaus gebracht hatte, sollte er diesen Vagabunden mitnehmen und ertränken. Aber wie es nun kam — als der Doktor sah, wie Lars das kleine Wollknäuel behutsam streichelte und wie eine Kostbarkeit betrachtete, fragte er, ob er den jungen Hund haben wolle, dann könne er ihn behalten.

An diese erste Begegnung mit Bastar — der den Namen, den ihm der Doktor gegeben hatte, fortan behielt — dachte Lars jetzt, als er fortritt, und das Herz war ihm schwer, weil er nun jeden Morgen aufwachen würde, ohne die kalte, feuchte Schnauze in seinem Gesicht zu spüren. Wegen des Hundes konnte er sich auf Eline verlassen; sie liebte ihn fast ebenso wie er selber. Damit blieben seine Gedanken bei Eline hängen, und er wendete den Kopf nach dem Kirchhof hin. Hier würde sie ihn bestimmt erwarten, bis hierher konnte kein Blick aus dem Küsterhause dringen.

Dort sah er Mutters schwarze Eisenplatte zwischen den Grabsteinen der Pfarrherren. Sie lag gut. Diese Worte hatte Vater gestern gebraucht, als er mit Lars hinübergegangen war, um Abschied zu nehmen. Das Grab war Lars wohl vertraut. Er begleitete Eline jeden Samstag dorthin, wenn sie frische Blumen hinlegte und die alten fortnahm oder nur den Schnee wegfegte, damit man den Namen lesen konnte. An Mutter selber dagegen erinnerte sich Lars nur wie an etwas Lichtes, an einen warmen Schoß und an Arme, die ihn fest umschlossen. Aber aus Elines Erzählungen wußte er viel. Die beiden sprachen immer von der Mutter.

Blakke fuhr plötzlich zurück.

Eline erhob sich auf der Kirchhofmauer, stand einen Augenblick still und sprang dann gerade vor der Nase des Pferdes herunter. So sah Lars sie hinfort jedesmal, wenn er an sie dachte, immer, bis er sie als ein erwachsenes Mädchen wiedersah mit aufgesteckten Zöpfen und langem Kleid. Hochgewachsen und schmal stand sie da, ein Mädchen in einem kurzen blauen Kleid, gegen einen noch blaueren Himmel, die braunen, nackten Arme beim Sprung weit vorgestreckt, die langen, gelben, seidenglatten Zöpfe über den Schultern. Wie ein schönes Bild ist sie, dachte Lars. Aber er fand nicht viel Zeit zum Denken, denn Eline griff in den Zügel und hielt sich daran fest; sie reichte Lars ein kleines Päckchen und ein paar Goldsterne hinauf, die er noch gestern an der Kante von Mutters eiserner Grabplatte hatte aufbrechen sehen.

„Ich dachte, du hättest die gern mit“, sagte Eline ohne weitere Erklärung mit ihrer guten Stimme, die so weich und dunkel war, daß man dabei immer an die Abendstunden beim flackernden Ofen denken mußte. Wohl, weil die beiden gerade zu jener Stunde so oft zusammen auf der Holzkiste saßen, sich wärmten und miteinander schwatzten. Dann klang die Stimme anders, als wenn Eline in der Kirche sang, stark und groß, so daß selbst der Pfarrer aufhorchte. Die Stimme habe Eline vom Vater, sagten die Kirchgänger alle. Denn weshalb wäre er sonst Küster geworden, wenn nicht wegen seiner schönen Singstimme! Jetzt war freilich nicht mehr viel davon übrig.

„Und die Fausthandschuhe sind gut für den Winter“, sagte Eline und schob die Unterlippe vor. Denn jetzt kostete es alle Willenskraft, um nicht daran zu denken, wie lange es dauern konnte, bis sie den Bruder wiedersah. Lars hatte denselben Mund. Den hätten sie von der Mutter, sagte die Schwester des Doktors. Dort säße ihr Wille. Die Mutter hätte eine große, reiche Heirat ausgeschlagen, um gegen den Willen ihrer Familie dem armen Küster zu folgen, erzählte sie Eline. Hierher kam sie, und hier gebar sie ihre drei Kinder. Und ob auch ihre Verwandten nichts von ihr wissen wollten, den Kopf mit der dichten Flechtenkrone, die golden war wie Korn und Birkenlaub im Herbst, den trug sie darum genau so hoch. Ihre meerblauen Augen heftete sie fest auf jeden, der ihr zu nahe kam, so daß man sich das Fragen bald abgewöhnte. Aber so unversöhnlich war die Familie auf Mo im Kirchspiel Röe, daß sich keiner bei der Beerdigung gezeigt hatte. Oder hatte sie vielleicht darum bestimmt, daß sie möglichst rasch unter die Erde kommen wollte, meinte die Schwester des Doktors, weil sie alle nach dem Tode zur Schau getragene Reue verabscheute? Es wäre ihr schon zuzutrauen gewesen, der Eline Linde, mit ihrem stillen, feinen Stolz. Stiller, feiner Stolz! Diese Worte fielen den beiden Kindern immer wieder ein. Sie gaben ein Bild. Sie paßten auch auf Eline, fand Lars.

Die beiden unterhielten sich oft hierüber und auch, daß Vater niemals etwas von der Mutter und deren Sippe erzählt hatte. Das gehörte ihnen beiden allein. Syver stand außerhalb. Zudem war er ja auch den ganzen Tag beim Tischler. Und wenn Vater nicht einmal Eline etwas erzählt hatte, als sie in den Konfirmandenunterricht ging, wo sie doch die Tochter war, und die Älteste, dann wollte er eben kein Gerede und Gefrage haben. Die Mutter und was mit ihr zusammenhing, das war ihr Geheimnis, etwas außerhalb der Wirklichkeit des Tages, eine Art heiliges Ritual wie in der Kirche. Aber über eines waren sie sich einig: sie wollten beide im Leben etwas werden, etwas ebenso Großartiges wie die Leute auf Mo, und dann wollten sie mit denen nichts zu tun haben. Das geschah denen dann ganz recht! Wenn sie Vater verachteten und Mutter verleugneten! Jetzt aber waren sie sehr gespannt, weil Lars durch das Kirchspeil von Röe reiten und vielleicht den mütterlichen Hof sehen würde. Der größte Hof im ganzen Umkreis, das wußte Eline von der Schwester des Doktors; ein großes, gelbes Haus dicht neben der Kirche. Daran konnte Lars ihn erkennen. Es war fast ein bißchen unheimlich. Aber auf Röe saßen Vaters Verwandte, und dort sollte er ja übernachten.

Eline hielt Blakke am Zaum. Sie glich ihrer Mutter aufs Haar, das wußte Lars. Das sagte jeder, der sie gekannt hatte. Und es schmerzte ihn, daß er sie nun nicht mehr alle Tage sehen sollte. Dann zog er das Lederbeutelchen heraus und erzählte ihr von den Talern.

Eline stand da, höchst verwundert und nachdenklich. Niemals hatte Vater davon gesprochen, daß Mutter Geld mitgebracht hatte. Ein halbes Hundert. Das war ja eine Masse. Aber dann mußte sie es doch von jemand bekommen haben! Dann mußte also doch jemand von ihren Verwandten gut mit ihr gestanden haben!

Wer nur? Taler waren im Küsterhause etwas seltenes.

Sie waren innerlich hiermit so beschäftigt, daß ihnen der Abschied leichter wurde. Außer festem Willen, scharfem Blick, einer Singstimme und schönem Haar besaß Eline viel Verstand und wußte ihn zu brauchen. Als Lars ihr Vaters Ausspruch von der Kuh und den zehn Talern berichtete, rief sie sofort: „Das gibt Reisegeld, und mehr als das! Ich bleibe hier, solange Vater — mich braucht“, sagte sie statt des Wortes, das sie eigentlich meinte. „Dahn komme ich dorthin, wo du bist, und suche mir eine Stelle in deiner Nähe. Syver wird schon allein fertig werden.“

Ja, mit dieser Aussicht konnte Lars in der Fremde schon durchkommen. Und vielleicht war das Elines Absicht, dachte er. Denn auch Lars verstand nachzudenken. Er wußte selber, daß der Vater diese Fähigkeit meinte, wenn er sagte, Lars werde sich unter fremden Menschen leichter zurechtfinden als Syver. Der tat, was er konnte, aber es war nicht weiter der Rede wert. Eline betrachtete die ganze Zeit das breite, gute, helle Jungensgesicht, treuherzig, entschlossen und aufgeweckt, mit zu kurzer Nase und kreisrunden Nasenlöchern und blanken, blauen Augen. Sie sagte nichts davon, wie schwer es ihr fallen würde, seine Lustigkeit entbehren zu müssen. Sie sagte nur:

„Wenn dich etwas bedrückt — ich meine, wenn du Sehnsucht hast oder dich nicht wohlfühlst oder so, dann schreib es nicht an Vater. Lege auch nichts an mich bei; denn du weißt, er bekommt die Post, wenn welche da ist. Aber mach ein Kreuz in die Ecke, dann schreibe ich dir sofort, und wenn ich auch dafür bezahlen muß. Und deine gute Laune darfst du nicht verlieren, nimm alles so, wie immer. Ich komme bestimmt nach.“

Sie drückten sich die Hand, so fest sie konnten. Blakke war an die Wegkante getrottet, stand quer über den Weg und knabberte an dem jungen Gras.

„Willst du mich über den Haufen rennen, du Biest?“ fragte Eline und gab dem Pferd einen festen Puff mit dem Knie. Damit setzte sich Blakke in Gang und verfiel in Trab.

Ihr Lachen und zwei muntere blaue — aber feuchte — Augen waren das Letzte, was Lars von Eline mit sich nahm. Sie blieb auf dem Wege stehen. Als er sich kurz darauf umdrehte, war sie hinter einem Haselgebüsch verschwunden.

Lars Ezechiel Linde hatte die Heimat hinter sich gelassen.

Der Weg führte bergauf und landeinwärts. Die Höfe wurden spärlicher und kleiner. Er konnte den blauen Streifen Meer nicht mehr sehen, und weit drinnen zog sich ein schwarzblauer Bergrücken hin. Selbst das Gestein war anders, rötlicher. Er war in ein fremdes Land gekommen.

Die Sonne stieg, wärmte wenig und leuchtete mehr. Lars bekam Lust, etwas zu essen, es mußte wohl bald Mittagszeit sein. Aber erst, als Blakke eine Kuppe mit spärlichem, neuem Gras in den Felsritzen erklettert hatte, stieg Lars, ziemlich mürbe geritten, ab und ließ das Pferd grasen. Er setzte sich und nagte an einem fetten Schinkenknochen, einem wahren Sonntagsessen, und blickte über die Landschaft dorthin, wo Röe und die Nacht verborgen lagen und seiner warteten. Alles, was er rings um sich sah, war das erwachsene, neue Leben, das seiner harrte. Er mußte sich damit vertraut machen, je weiter er hineinkam. Nur solange etwas fremd und unbekannt war, wirkte es erschrekkend. Doch Lars wollte sich nicht erschrecken lassen. Man verlor nur Zeit und Kraft, wenn man sich vor etwas graute. Er hatte es nicht nötig, sich zu fürchten, wenn er recht tat. Das war ein wahres Wort und daran wollte er sich halten, wenn er sich schwach fühlte.

Er war von dem Schafschinken durstig geworden und suchte nach einem Bach. Er trank sich satt an dem blinkenden, rieselnden Wasser, und Blakke trödelte und planschte, um die Zeit hinzuziehen, bis sie wieder weiter mußten. Er schnaufte und warf den Kopf, als habe er eine richtige Mähne zu schütteln, und nicht nur seinen struppigen, schwarz-weißen Kamm im Nacken und den kleinen Schopf an der Stirn. Aber schließlich einigten sie sich weiterzureiten.

Und jetzt mußten sie wohl schon im Kirchspiel von Röe sein, soweit Lars wußte. Was war das aber auch für ein Jahr! Da gingen sie wahrhaftig schon und legten Kartoffeln gleich neben der Straße, voran ein dickes Weib, das das Tempo angab, und viele Kinder hinterher. Die größeren trugen und die kleineren zogen die Kübel hinter sich und legten die Kartoffeln schön in die Furchen. Gute Arbeit, Kartoffeln zu legen. Lars wurde ganz traurig zumute, wenn er daran dachte, daß es mit solcher Arbeit für ihn jetzt wohl vorbei sei. Er vermutete, er würde bei Marcus Gjög im Hause arbeiten müssen; denn der betrieb vielerlei Geschäfte und besaß vielerwärts Kontore. Aber Gjög sollte ja auch in mehreren Kirchspielen mit Grundbesitz und Wald zu tun haben, da gab es vielleicht doch eine Möglichkeit, manchmal ein wenig ins Freie zu kommen.

Die Kartoffelsetzer hörten Blakkes Hufschlag auf den Steinen des Weges. Sie richteten sich auf und gafften, denn sie waren auf dem Acker sich selbst überlassen; niemand beaufsichtigte sie als die Frau, und die guckte selber, wer da kam.

Was für einer er sei? Und woher des Wegs? Und wohin die Reise gehe? fragte die Alte. Er wolle wohl weit, meinte sie, da er mit einer Truhe ritte, und mit der Felldecke. Lars gab Bescheid und fragte, ob er hier schon im Kirchspiel Röe sei.

Ja, gewiß wäre dies Röe. Gerade dort überm Wald könne er die Kirchturmspitze sehen. So, so, er sei also der Sohn vom Küster drüben am Fjord? Dann sei er gewiß ein Mordskerl im Segeln, fragte das Weib. Ihr stand der Mund nicht still, sie begehrte vieles zu wissen in kurzer Zeit.

Aber das war nun eine heikle Frage für Lars, denn er war sein Lebtag nicht dazu gekommen, ein Segel zu bedienen. Der Küster stammte aus dem Binnenland und hatte Angst vor der See und den plötzlichen Windstößen des Fjords. Ärgerlich, daß es hier garnichts gab, womit er sich großtun konnte. Aber dann fiel es ihm ein: „Ich fische zum Mittagessen alles, was man verlangt. Und ich schwimme unter Wasser so gut wie drüber“, sagte er. Der Doktor hatte mehreren Kindern in der Nachbarschaft das Schwimmen beigebracht, ein seltsamer Kauz, meinten die Leute. Schon, daß er sich in einer solchen Gegend als Arzt niederließ.

Da sahen die Kinder einander an, und die Frau verzog den Mund und sprach nur das eine tödliche Wort: „So.“

Keiner von ihnen glaubte ihm. Das kränkte Lars, und hier hieß es, sich behaupten.

„Ist es noch weit bis nach Mo?“ fragte er über die Hinterteile der Ungläubigen hinweg: sie hatten sich wieder über ihre Arbeit gebeugt und streckten ihre Hinterviertel in die Luft — in großer Verachtung, schien es Lars.

Das half. Sie blickten wieder auf, und die Frau bekam etwas Geducktes in Blick und Stimme:

„Willst du auf Mo in Stellung? Es liegt gleich neben der Kirche. Der letzte Hof, ehe du zum Kirchhof kommst. So, also auf Mo willst du in Stellung?“ wiederholte sie und zeigte mehr Interesse für den Jungen.

„Nein. Ich habe dort nur Verwandte. Ich will zu Marcus Gjög“, sagte Lars und trieb Blakke an. Und damit ritt er hin, während sie aufgerichtet hinter ihm drein starrten. Der ist wohl nicht ganz richtig, der da: will auf dem Meeresgrund schwimmen! Und mit den Leuten auf Mo verwandt sein! Der war nicht faul, einem tüchtig was aufzubinden. Marcus Gjög imponierte ihnen weiter nicht; denn der lag über und außer ihrem Horizont.

Aber Lars ritt mit schlechtem Gewissen weiter. Da hatte er sich groß getan, wovor Vater ihn gerade gewarnt hatte. Und mit dem Schlimmsten, worauf er verfallen konnte: mit der Verwandtschaft seiner Mutter, mit der Sippe auf Stormö. Er, der hinaus mußte, um als Jüngster und Kleinster unter allen Leuten von Marcus Gjög seinen Dienst anzutreten. Es wurde ihm plötzlich ganz unheimlich, hier auf den Wegen von Mo einherzureiten. Er trieb Blakke an, so sehr er konnte. Aber Blakke besaß keine Verwandten, vor denen er sich graulen mußte. War es nicht schon schlimm genug, sich auf Wegen herumzutreiben, auf die er seine Hufe noch nie gesetzt hatte, den ganzen Tag lang? Mußte der Bengel auch noch anfangen, zu schnalzen, ihn am Maul zu zerren und ihm in die Seite zu treten? Er ging nicht schneller, als er selber wollte, und als sie an eine Wegbiegung kamen und wieder auf einen Bach trafen, blieb er einfach stehen.

Da sah Lars Linde das Elternhaus seiner Mutter vor sich liegen. Er war nicht im Zweifel: ein großes, gelbes Haus mit einer Kastanienallee davor. Er sah die großen, klebrigen Blattknospen wie Knoten an den Zweigen. Und ein Stückchen weiter die Kirche.

Er blieb wie benommen sitzen und guckte. Er konnte plötzlich nicht schlucken. Hier hatte die Mutter gewohnt. Hier war sie umhergegangen und -gesprungen, als Kind und als Mädchen, genau wie Eline. Hier hatte sie die Kühe und Pferde mit Namen gekannt und hatte sie in ihren Ställen besucht. Und war durch alle Zimmer und Räume dieses großen Hauses gelaufen. Mit einem Mal überfiel ihn kalte Angst: wenn jemand vom Hofe vorbeikäme und fragte, wer er wäre. Vielleicht kam es ihnen zu Ohren, daß er mit der Verwandtschaft geprahlt hatte. Eigentlich hatte er nichts als die lautere Wahrheit gesagt. Er konnte es beweisen. Denn daheim in Vaters Bibel stand die Mutter genau eingeschrieben: Eline Malfrida. Eltern: Thor Olafsen Mo und Dortea Sölfest, geboren auf Mo, getauft in der Kirche zu Röe von Pfarrer Johs. Dahle — mit Schnörkeln rings um den Namen.

Am Ende wurde er dafür bestraft, weil er die Kartoffelsetzer hatte zwingen wollen, die Augen aufzureißen, als sie nicht glauben wollten, daß er unter Wasser schwimmen könne. Hatte Vater nicht gesagt, er solle den Mund nicht zu voll nehmen? Und jetzt war dies das erste, was er tat. Führe uns nicht in Versuchung ...

Ob Sölfest nicht auch ein Hof in der Gegend war? Daran hatte er bisher nie gedacht. Eline hatte es nie erwähnt. Weiter als bis zu Mutters eigenem Elternhaus waren sie nie gekommen.

Er hatte eine Großmutter gehabt — oder hatte sie noch — die Dortea Sölfest hieß. Sicher von einem Hof, der Sölfest hieß? Vielleicht aus einer anderen Gegend?

„Nein”, sagte er plötzlich laut. Er fand keine Aufschneiderei und keine Torheit darin, wenn er wissen wollte, wo Mutter zu Hause war. Falls er mit der Sippe seiner Mutter zusammentraf, würde er sich ganz gewiß fernhalten und sich ihnen nicht an die Rockschösse hängen. Das war nun einmal totsicher. Aber er wollte an Eline schreiben, daß er Mo gesehen hatte, wollte versuchen, den Hof so genau zu zeichnen, wie nur möglich.

Jetzt hatte er ihn schon hinter sich, war an der langen Einfahrt mit den Kastanien vorbeigeritten. Nun war er gerade vor der Kirche und den schwarzen Eisenstäben des Tores zum Kirchhof, mit seiner weißen Mauer und den drei Reihen schwarzer, blanker Ziegel obendrauf.

Hier drin hätte Mutter liegen sollen, wenn sie nicht mit Vater von den Ihren fortgegangen wäre. Aber hier lag gewiß ihre Familie begraben, ihre Eltern vielleicht?

Es kostete nicht viel Zeit, wenn er —

Er lenkte Blakke vor das Tor und band ihn zur Sicherheit dort an. Das Tor war verschlossen; da kletterte er über die Mauer. Jaja. Hier gabs viele kostbare Gräber zu hüten. Zu Hause stand das Tor offen. An einem gewöhnlichen Wochentag habe hier niemand etwas zu suchen, mochte der Totengräber denken.

Lars wußte, daß die ältesten, größten Höfe ihre Gräber meistens gleich am Eingang und dicht an der Kirchenwand hatten. Er begann, umherzuwandern und die Inschriften zu lesen. Richtig, hier war’s wie daheim: die Pfarrer- und Küstergräber der Kirche am nächsten. Und dann Hofnamen auf schönen Steinen und Platten und Kreuze aus Eisen und Stein. Lingust. Atterkom. Haugen. Röe. — Da war es: Mo!

Sieben liegende, eiserne Platten in einer großen Einhegung mit niedrigem, eisernem Stakett. Grüne Sitzbänke für die Trauernden. Und noch Platz für weitere.

Lars ging von Grab zu Grab und las die Namen. Die Männer hießen Mo. Die Kinder ebenfalls. Die Frauen hatten ihren eigenen Namen neben dem Namen Mo. Eine Sigerstad. Eine Röe. Ach, ach, dorthin wollte er ja. Eine Sölfest. Das war Mutters Mutter. Großmutter. Dortea Eline, geborne Sölfest. Drei Elinen also. Voriges Jahr gestorben. So lange hatte sie gelebt und von ihrer Tochter weder etwas gehört noch gesehen. Eine Rabenmutter.

Aber Lars verspürte gleichwohl eine seltsame Sehnsucht, seine Großmutter gekannt zu haben. Aber diese hatte nach Mutter nichts gefragt. Übrigens, war das so sicher? Man konnte es nicht wissen. Der Großvater lag nicht hier. Dann lebte er also noch. Dann war er vielleicht streng und hart gewesen, und die Mutter hatte sich ihm nicht zu widersetzen gewagt. Er hatte keine Großmutter. Sein Vater sprach nie von seinen Eltern. Beide schon seit langem tot, das wußte er, irgendwo oben in einem Gebirgstal.

Diese waren Unmenschen, weil sie die Mutter verleugnet hatten. Denkt bloß, Vater sollte versuchen, Eline zu verleugnen! Ha, ha!

Dann war Mutter wohl wie Eline gewesen, nicht bloß äußerlich. Hatte den Kopf zurückgeworfen und war geradeswegs vom Hof gegangen, die schöne Kastanienallee hinunter und fort aus dem Kirchspiel von Röe.

Genau so würde Eline es gemacht haben. Genau so hatte sie es oft gemacht, wenn jemand ihr im Wege war und wenn es Vater wäre.

Er hätte gern eine Blume gehabt, um sie dieser alten Großmutter Eline hinzulegen. Die Goldsterne hatte er zu den Talern in das Beutelchen gesteckt. Sie hätten wie ein Gruß von der Mutter sein können. Aber sie waren wohl jetzt verwelkt. Und die Mutter hätte es vielleicht garnicht gewollt — und er würde die Blumen gern behalten. Aber er konnte von sich aus etwas tun, etwas, womit er anderen nichts nahm, außer dem einen, der sich darüber freute, wie er selber gesagt hatte, und der es reichlich hatte und zuweilen sogar im Überfluß. So faltete Lars seine breiten, kräftigen Hände mit den kleinen Warzen auf dem Handrücken, mit den Nägeln, die breiter als lang waren, und betete ein Vaterunser. In das konnten sie alle sich teilen — die anderen gehörten ja auch zu seiner Familie. Aber dann fiel nur sehr wenig für die Nächste ab, für die Großmutter. Da betete er eben gleich noch eines dazu. Daran brauchte man nicht zu sparen. Das konnte dann von ihm und Eline sein, die ihren Namen trug. Dies war nur für Großmutter.

Jetzt war er fertig, kletterte wieder über die Mauer und band das Pferd los. Aber Blakke kannte keine Ehrfurcht, er hatte einen großen Haufen Äpfel mitten vor das Tor des Herrn gelegt. Es dünkte Lars fast eine Lästerung; er suchte einen passenden Stein, fegte sie beiseite und streute sie auf den Rasen, damit sie dem Gras zugute kamen. Das pflegte Vater so zu machen. Dieser Blakke scherte sich nicht um Gott und die Welt.

Lars ritt wieder die Straße entlang, wandte sich aber noch einmal um und blickte nach Mo zurück, um ein deutliches, unauslöschliches Bild des Hofes mitzunehmen. Es war ihm beinahe, als habe er ein wenig Recht darauf erworben, nachdem er mit all den Alten der Sippe Bekanntschaft geschlossen hatte. Wenn aber Großvaters Mutter von Röe stammte, konnte es dann heute Abend dort nicht recht peinlich werden? Nicht genug also, daß man für sich selber verantwortlich war und für das, was man selber tat, man hing auch mit dem zusammen, was früher getan worden war, von anderen, von der Sippe. Die drängten sich einem ja geradezu auf und hefteten sich einem an die Fersen, kaum, daß man von ihnen erfuhr. Es war nicht so leicht, durch die Welt zu kommen, wenn man Leute mitschleppen mußte, mit denen man sich nicht beraten und verständigen konnte, und die doch etwas mitzureden haben wollten, bloß weil sie vom gleichen Blut und Namen waren.

Man brauchte nur Vater anzusehen. Er sprach niemals von seiner Familie. Es war, als habe es nie jemand vor ihm gegeben. Hatte er sie vielleicht abgetan und war quitt mit ihnen? Er hatte so lange gelebt. Und wenn man die Zeit zu Hilfe nahm, dann erreichte man viel.

Dennoch war es ihm eine große Befriedigung, daß er das schöne Elternhaus seiner Mutter und die alten Gräber gesehen hatte.

Aber da vorn, das mußte Röe sein. Und das war gut, denn die Sonne stand schon tief über dem Wald. In einer halben Stunde vielleicht verschwand sie schon dahinter. Ja, dies konnte nur Röe sein, nach allem, was Vater gesagt hatte. Nicht zu verfehlen. Lauter rote, lange Gebäude auf einem weiten Platz.

Röe. Das war so gut wie ein Namensschild, wie das beim Doktor zu Hause: Valhal. Dr. Bentzen. 11—2. Als ob die Leute das nicht ohnehin wüßten!

Er fühlte sein Herz klopfen, als er Blakke auf den ebenen, kahlen Weg zum Hof einbiegen ließ. Er wußte jetzt einiges über Röe, und er dachte darüber nach, ob einen nicht gerade dieses halbe Wissen beunruhigte. Zu wenig zu wissen, nicht alles, nicht genug.

Befangen ritt er auf den großen Hofplatz ein, der von roten Gebäuden umrahmt war. Ein Stück hinter ihnen ragte schwarz dunkelnder Fichtenwald.

Aber brauchte er sich hier zu fürchten? Keineswegs, hatte Vater gesagt. Er sprach nicht die Unwahrheit, er tat nichts anderes, als was recht war, wenn er vom Vater grüßte und um ein Nachtlager bat. Nur ärgerlich, daß die Kartoffelsetzer ihm nicht hatten glauben wollen, daß er unter Wasser schwimmen könne. Und weshalb hatten sie ihm nicht geglaubt? Er wußte es. Weil sie das Wasser nicht kannten und selber nicht schwimmen konnten. Jawohl. Da hatte er eine Lehre: man soll den Leuten nichts von Dingen erzählen, die sie selber nicht kennen. Richtig. Vater war ein kluger Mann, als er sagte, er solle auf alles achtgeben, was ihm begegne. Da hatte er schon etwas gelernt. Hü, Blakke, spute dich ein bißchen! Damit sie auf Röe sehen, daß hier jemand kommt!

Und Lars ritt tapfer drauflos und tat forsch, obwohl ärgerlicherweise das Eisen am rechten Hinterhuf lokker geworden war. Er mußte zusehen, daß ihm jemand half, es besser festzuschlagen, ehe er weiterritt. Das fehlte noch, bei Marcus Gjög mit einem Gaul anzukommen, der nicht ordentlich beschlagen war. Da sah man, wie man sich auf Syver verlassen konnte. Kein anderer als er war mit dem Gaul beim Schmied gewesen und hatte beim Beschlagen geholfen. Nein, wenn er Blakke nicht gerade selber reiten wollte, dann war es ihm Jacke wie Hose, wie die Sache gemacht wurde.

Vor dem Vorratshaus hielt er mit einem Ruck an.

Aus der Tür kam eine große, blonde Frau; sie trug einen Korb mit Flachbroten. Sie raffte ihren Rock und machte einen langen Schritt von der Türschwelle, blieb stehen und betrachtete den Aufzug, der da kam.

Die Frau lächelte, als sie die Truhe und das Schaffell sah. Sie ahnte seine Wünsche zu dieser Tageszeit, sie hatte selber einen kleinen Bruder geradeso fortziehen sehen. Und konnte sich denken, daß es mit seinem Mut nicht weit her war.

„Willkommen auf dem Hof!“ rief sie lachend. „Du willst gewiß eine Bleibe haben für die Nacht. Da werd ich schon Rat wissen.“ Lustig, wie sie beim Reden sang.

Lars war von Herzen dankbar und froh, daß es ihm erspart blieb, selber darum bitten zu müssen. Er lachte übers ganze Gesicht und nickte. Dann wollte er zeigen, daß er ein ganzer Kerl war und vom Pferd springen konnte, ohne es zu einem Stein oder einer Scheunenbrücke lenken zu müssen. Aber da verlor er das Gleichgewicht, er taumelte vornüber, griff um sich und hielt sich am Rock der Röebäuerin fest. Beschämt stand er in seinen zu weiten und zu langen Hosen da, die gerutscht waren; ein Streifen Hemd guckte zwischen Bund und Jacke heraus. Feuerrot beeilte er sich, die Hosen wieder hochzuziehen und versuchte, den Leibriemen fester zu schnallen. Aber hatte er es nicht gleich gesagt, als Eline diesen neuen für die Reise beim Sattler bestellt hatte: er hatte ein Loch zu wenig. Er machte immer zu wenig Löcher in Gurte für Jungens. Dieser Schafskopf von einem Sattler, der nie daran dachte, daß ein Junge dünner ist als ein Mann!

Aber die Röebäuerin wartete geduldig und lächelte. „Du kannst das Gepäck abladen und es hineinbringen. Laß den Gaul hier nur frei grasen. Er wird ja nicht durchbrennen“, sagte sie in ihrer eigentümlichen Mundart. „Und dann mußt du hereinkommen und etwas zu dir nehmen.“

„O danke. O vielen Dank“, antwortete Lars, und suchte nach ein paar guten Worten zum Entgelt.

„Schön hier auf Röe. Und dann sollte ich sehr grüßen von Vater. Von Küster Linde“, fügte er hinzu und fühlte sich jetzt vollkommen sicher und geborgen.

„So“, sagte die Bäuerin. Und mit einem Mal fiel Lars der ungläubige Ton ein, mit dem die Kartoffelsetzerin: so? gesagt hatte. Hier lag große Güte in dem Wort. „Das müssen wohl die Alten sein, für die der Gruß bestimmt ist. Ich bin so ziemlich neu hier. Ich komme ein gutes Stück weiter aus dem Westland. Aber den Namen meine ich wohl hier schon gehört zu haben.“

Lars hatte inzwischen Blakke frei gelassen. Der schien zu befürchten, es könne noch irgendwelches Teufelszeug an ihm hängen geblieben sein, von dem man sich befreien müsse — er warf sich sofort auf den Rücken und wälzte sich, während der Junge seine Sachen in den Hausflur trug.

„Es könnte Regen geben gegen die Nacht“, sagte er wie zur Entschuldigung, daß er die Frau sogleich beim Wort nahm und seine gute Erziehung nicht zeigte, indem er sich nötigen ließ.

„Gewiß“, antwortete die Bäuerin, und ging mit ihm hinein. „Vielleicht möchtest du den Gruß von deinem Vater bei den Alten drüben bestellen, während ich das Abendessen richte?“ fragte sie und zeigte quer über den Hof auf ein langes, rotes Haus mit weißen Windbrettern und Fenstern, ein Gegenstück zu dem, in das sie jetzt hineinging. „Sie gehen zeitig schlafen. Wenn Veli ihnen ihre Grütze bringt, komm’ mit ihr wieder herüber. Der Bauer und alle die Söhne kommen bald. Wir warten solange mit dem Essen.“ Sie nickte ihm wohlwollend zu, diesem treuherzigen Blondschopf, der da ins Leben hineinritt, breitrückig und freundlich, mit raschen, aufmerksamen Augen.

„Ja, danke!“

Aber lieber wäre Lars mit ihr ins Haus gegangen und hätte sich an den großen Herd gesetzt, den er drinnen sah, mit einem mächtigen, dampfenden Kessel am Haken über dem Feuer. Man fühlte sich so wohl bei dieser offenen, blonden Frau. Die Alten wußten vielleicht etwas, was die Sache unbehaglich und schwierig machte.

Aber es war gesagt, und gehen mußte er.

Merkwürdig mit dieser Frau, dachte Lars; sie schien die Gedanken eines Jungen reinweg zu erraten, denn sie rief ihm nach: „Sie freuen sich bestimmt über den Gruß vom Küster Linde, wenn sie auch nicht viel sagen werden. Sie sind schon schrecklich alt.“

Lars sah sich dankbar nach ihr um.

Er blieb einen Augenblick vor der weißen Tür mit dem schwarzen, eisernen Schloß stehen, ehe er anklopfte. Er lauschte, ob vielleicht jemand herauskäme, wenn sie seine Absatzeisen auf den Steinfließen hörten. Aber nein. Er blickte wie hilfesuchend zur Küche hinüber, aber da war keinerlei Hilfe in Sicht.

Er klopfte nochmals.

Nichts geschah.

Da mußte er es wagen und die Klinke selber hinunterdrücken. Wenn sie so schrecklich alt waren, dann waren sie vielleicht auch schwerhörig, dachte er, und nahm sich vor, recht laut zu sprechen.

Drinnen führte eine steile Treppe nach oben, und hier gab es drei Türen, eine zu jeder Seite und eine geradeaus. Langsam und umständlich schloß er die Haustür hinter sich. Da wurde es dunkel um ihn. Er lauschte auf irgendwelche Stimmen. Totenstille.

Endlich tastete er nach der Tür zur Linken, die nächstliegende mußte wohl in die Küche führen. Man hatte die Küche immer auf den Hofplatz hinaus.

Er hatte richtig geraten. Mit schwacher Stimme sagte jemand „herein“. Vorsichtig, mit dem Rücken zum Zimmer, machte er die Tür hinter sich zu. Als er sich umdrehte, sah er zwei Gestalten.

Ein weißbärtiger Mann mit kleinen, blassen Augen saß in einem Lehnstuhl am Herd. Von den Knien an hingen die Hosenbeine leer herunter, und zwei Krükken lehnten am Stuhl. Er hatte ein Schnitzmesser und ein Stück Holz in den dünnen, gelbweißen Händen, die wie Seide glänzten. Ihm gegenüber wuchtete eine dicke Frau auf einem hölzernen Schemel, rotbraun an Haut und Haaren, eine blaue, blanke Arbeitsschürze vorgebunden. Sie hielt ein Strickzeug zwischen den kurzen, roten Fingern, einen grauen Strumpf mit weißem Fuß. Als Lars eintrat, suchte sie zwischen den Falten ihres Rockes nach der Tasche, grub eine silberne Brille hervor und setzte sie auf ihre kleine, flache Nase, wo sie nur ungern zu sitzen schien. Ihre braunen Augen wirkten dahinter merkwürdig groß und unheimlich. Lars beeilte sich, seinen Auftrag vorzubringen: „Guten Tag. Ich soll herzlich grüßen von Küster Linde“, und sah von einem Gesicht zum anderen, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten.

„Komm näher“, sagte sie und blickte den Jungen neugierig an. „Von Küster Linde? Bist du sein Sohn?“

„Sohn“, meckerte der Mann.

Lars’ Haarschopf nickte.

„Ich will zu Marcus Gjög in Stellung“, erklärte er und gab acht, ob der Name hier anders bewertet wurde als bei den Kartoffelleuten.

Das wurde er.

„Zu Marcus Gjög?“ fragte die Frau hastig, und es kam eine Schärfe in ihren Blick. Und jetzt sagte auch sie „So“. Zum dritten Male bekam Lars diese zwei Buchstaben in einem anderen Tonfall zu hören. Es klang wie Staunen, fast wie Zweifel, aber voller Hochachtung.

„Gjög“, wiederholte der Mann stumpf.

„Er ist ein Sohn von Eline“, sagte die Frau laut und bestimmt zu dem Mann, so, als müsse ihn dies wenigstens wecken.

Das tat es beinahe.

„Eline?“ fragte er, als gebe er sich Mühe, sich zu erinnern. Er legte Messer und Holz fort, um besser nachdenken zu können. Es nützte nicht sehr viel. „Eline“, wiederholte er, als sei er sich fast bewußt, wovon er redete, und daß er dabei an etwas Gutes zu denken habe. Er sprach so sanft, als gelte es, den Namen einer schönen, lieben Verstorbenen zu nennen, und das war ja auch der Fall. Er streckte Lars die Hand hin. „Nimm sie“, sagte die Frau. „Dann dämmert er vielleicht nicht gleich wieder ein.“

Lars ergriff die glatte, knochige Hand, die keinen Druck von sich gab. Sie dünkte ihn die Hand eines Toten, und er schauderte. Ihm war ganz schwach in den Knien geworden, als sie die Mutter erwähnten. Nicht wie eine Ungehorsame, die von Hause durchgegangen war, sondern wie jemand, von dem man gerne sprach.

Wenn er und Eline in der Dämmerung in ihrer Ofenecke gesessen und von der Mutter gesprochen hatten, dann hatte es ihn mitunter im Halse gewürgt, weil er sich nicht besser an sie erinnern konnte. Jetzt hatte er dasselbe Gefühl, nur noch stärker. Denn es war recht und billig, daß Eline sich besser an die Mutter erinnerte als er. Sie stand ihm näher als diese hier. Hier aber hätte er die genaueste Erinnerung haben sollen. Jedenfalls war es gut, daß hier keine Frage gestellt worden war, die eine Antwort erheischte. Er schluckte und schwieg und wartete.

„Lebt deine Mutter noch?“ fragte die Frau. Lars schüttelte nur den Kopf.

„Deine Mutter“, plapperte der Alte nach, ohne aufzublicken, und schnitzte dünne Späne kraftlos und ins Blaue hinein.

„Ihre Großmutter war seine älteste Schwester“, sagte sie und deutete während des Strickens mit dem Ellenbogen auf den Mann.

„Seine Schwester“, murmelte er.

Lars starrte auf den weißen Bart, der sich bewegte, wenn der Mund seine paar Worte stammelte. Er war der älteste Mensch, den Lars je gesehen hatte. Kein Wunder, wo er doch der Bruder seiner Urgroßmutter war. Aber Lars fand, er sei ein schöner, freundlicher Mann. Und sie auch eine freundliche Frau. Sie hielten zur Familie, und waren nicht böse auf Mutter. Ob die Taler von hier kamen? Aber er erwähnte sie lieber nicht. Sie könnten verloren gehen. Und sie konnten Fragen und Antworten nach sich ziehen.

Er kam auf Eline zu sprechen, die der Mutter sosehr glich. Eline wollte auch in die Welt hinaus. Später.

„Ist sie die Älteste?“ fragte die Frau mit einer Betonung, als sei es von Bedeutung.

Und Lars nickte.

Dann blieb es lange still, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Gerade hier, vor diesen beiden, freundlichen Alten, nahm Lars sich vor, einmal wieder herzukommen. Wenn er etwas geworden war. Wenn er etwas vorstellte, sodaß ihn auch der Mohof aufnehmen mußte, wie es diese beiden Alten getan hatten. Aber dann mußte er wohl so groß und mächtig werden wie — ja, aber gerade das wollte er auch: ein Mann werden wie Marcus Gjög, der mehr als einen Mohof besaß und noch Manches dazu, und der junge Burschen zu sich reiten lassen konnte, um etwas Großes aus ihnen zu machen.

Plötzlich schrak er zusammen. Da spielte er sich ja wieder auf. Führe uns nicht —. Nein, so gefährlich war die Sache wohl auch wieder nicht, daß man Gottes Wort dafür bemühen mußte. Das war kein Großtun, wenn man sich innerlich vornahm, es in der Welt zu etwas zu bringen. Das wollte er, und damit gut! Und dann sollte Eline bei ihm wohnen und Kleider bekommen wie eine Prinzessin!

Das Murmeln der Alten rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Es klang, als wäre sie erbost über etwas, worüber sie innerlich brütete; sie schleuderte den Faden hin und her und klirrte mit den Nadeln. Der Mann sabberte und schnitzte, und seine Augen blickten weit, weit ins Nichts, und hatten alles vergessen.

Lars drückte sich vorsichtig rückwärts zur Tür. Er wagte nicht, ihnen die Hand zu geben, da sie selber etwas in Händen hatten.

„Lebt wohl, und schönen Dank auch“, sagte er laut, als er glücklich an der Tür war, die Hand schon auf der Klinke.

„Dank auch“, murmelte der Mann.

Die Frau wachte auf.

„Es war nett von dir, bei uns hereinzusehen. Und grüß schön, wenn du wieder heim zum Vater kommst“, sagte sie und guckte mit ihren allzugroßen Augen durch ihre Brille.

Das waren schlimme Worte für Lars. Es ging ihm mit einem Mal in all seiner Grausamkeit auf, daß er diesen Gruß niemals mehr würde überbringen können. Wie sollte er den ganzen langen Heimweg machen, wenn Blakke verkauft werden mußte, und er selber jeden Tag, jede Stunde in Marcus Gjögs Diensten blieb? Der Gedanke, sich so bald von Blakke trennen zu müssen, schmerzte ihn tief. Und würde das Tier es bei anderen auch gut haben? Er wollte ihn nur an jemand verkaufen, der freundlich aussah. Und wenn ihn das Futter auch eine Stange Geld kosten sollte! Blakke hatte seinen eigenen Kopf und mußte von jemand behandelt werden, der ihn zu nehmen verstand und alle seine kleinen Tücken kannte. Aber wenn man erst mit ihm bekannt war, dann war der Gaul so fromm wie ein Engel. Nein, Engel, das paßte sich wohl doch nicht recht für ein Pferd. Und mehr Geduld hatten Engel wohl doch! Die furzten einem doch wohl nicht gerade ins Gesicht, wenn man ihnen in Erinnerung brachte, daß es mit der Faulheit nun nachgerade genug wäre.

Bei dieser vermessenen Vorstellung kam Lars das Lachen an, sodaß er die Tür öffnete, um schnell hinauszuwischen. Aber da stand gerade ein kleines, braunes Ding und klinkte von draußen auf. Es trug ein Brett mit zwei dampfenden Schüsseln Grütze und zwei Milchtassen. Das Gesichtchen der Kleinen schaute nur gerade über das Brett weg, das sie mit ihren braunen Armen hielt. Die Augen waren hellbraun — wie eben reif gewordene Nüsse, dachte Lars. Ein Haargelock stand rings um ihr Gesicht, fast wie vergoldet.

„Bitte“, sagte das Kind. Es setzte das Brett auf einen Schemel und zog ihn den Alten heran. Dann kletterte es auf einen Stuhl und öffnete den Eckschrank. Er war innen blau gestrichen, und Löffel waren an seiner Tür in einer Reihe aufgehängt — genau wie zu Hause, und Lars verspürte wiederum einen schmerzhaften Stich. Die Kleine nahm zwei Löffel und reichte sie den Alten, dann faßte sie Lars bei der Hand und führte ihn mit sich hinaus.

„Du sollst essen kommen“, sagte sie mit demselben singenden Tonfall wie die Bäuerin.

Ein warmes, hartes Händchen zog ihn entschlossen mit sich, ein guter, verläßlicher Halt für Lars. Ach, jetzt würde er dem Mann und allen den Söhnen entgegentreten müssen — Wie die Bäuerin gesagt hatte. Eine gefährliche Menge für einen einzigen, fremden Jungen! Draußen auf dem Hofplatz zögerte er. Doch da tat sich Blakke an einem Arm voll schönen Heus gütlich, das man ihm gegeben hatte. Er hatte keinen Blick für Lars übrig. Nette Menschen waren das hier! Wenn Blakke hier bleiben könnte! Aber er hatte ja bisher nur die Frauensleute gesehen. Wer weiß, wie die waren, die hier was zu sagen hatten!

Er stand wieder still und fragte:

„Sind es viele?“

„Die Brüder, meinst du? Sieben. Und dann ich. Ich heiße Veli“, antwortete das kleine Mädchen und zeigte zwei kreisrunde Lachgrübchen in den braunen Wangen. Ihr Gesicht war beim Lachen breiter als lang. Und die weißen Zähne waren auch breiter, als man es sonst sah.

Mit einem Mal kam es Lars zum Bewußtsein, daß er noch nie so etwas Hübsches gesehen hatte. Hübscher als — nein, das war eine Schande, zu meinen, es könne jemand hübscher sein als Eline. Aber ebenso hübsch. Mindestens ebenso.

„Ich bin neun geworden am Mittsommertag. Wie alt bist du?“

„Vierzehn und ein Viertel“, antwortete er und kam sich groß und erwachsen vor.

„Und du heißt?“

„Lars Ezechiel Linde.“

„Das ist fein. Ich heiße bloß Veli. Und dann Jonsdatter und Röe. Ich bin Evelinda getauft. Aber darum kümmert sich keiner.“

Dann standen sie in der Küche.

Die ganze Familie saß am Langtisch vorm Herd. Der Mann zuoberst, und die sieben nach der Größe zu beiden Seiten. Alle lang, dunkel, mager, bis auf den stämmigen Kleinsten, dem man deutlich ansah, daß er Velis Bruder war. Alle drehten die Köpfe, und der Grützelöffel ruhte. Lars trat an den Tisch und begrüßte den Vater, und danach einen nach dem andern.

„Willkommen“, sagte der Vater und war ebenso freundlich wie die Bäuerin. Die Söhne guckten nur. Die beiden Ältesten waren schon voll erwachsene Burschen.

„Bitte schön.“

Die Frau setzte die Grützeteller für Lars und Veli bei sich auf den Tisch. „Der Gast gehört wohl hierher?“ fragte der Bauer und schob zwischen sich und dem ältesten Sohn einen Platz zurecht.

„Ich dachte, weil er so klein ist“, sagte die Bäuerin, und stellte Lars’ Teller oben hin. Und alle lachten ein bißchen.

Ihm war etwas beklommen zumute; unten hätte er sich geborgener gefühlt, bei den beiden, die er schon kannte. Aber eine Ehre war eine Ehre und nichts zum Lachen, dachte Lars ein wenig gekränkt.

Als er dann eine Weile unter ihnen gesessen hatte, merkte er, wie anders es hier war als zu Hause. Dort brachte jemand — und fast immer Lars — irgendetwas Lustiges vor, um die Stille zu unterbrechen. Hier war die Lustigkeit etwas Selbstverständliches; auch hier war sie wohl als Freundlichkeit des einen für die anderen gemeint, aber so natürlich, wie die Luft, obwohl sie auf den ersten Blick lang und ernst wirkten.

Keiner sagte noch etwas, bevor alle Teller leer waren. Es wurde nicht zum zweiten Male angeboten, die Portionen waren aber auch groß gewesen.

Dann standen sie auf, während die Mutter und Veli den Tisch abräumten und abwuschen. Sie gingen hinaus und setzten sich auf die Schwelle. Der Bauer gönnte sich eine Pfeife.

Und jetzt begann er, Lars zu verhören, bedächtig und umständlich, er vergaß nichts. Fragte nach seinem Alter, nach dem Küster und den Geschwistern, nach Haus und Land und Tieren und nach des Vaters Amt. Erwähnte die Mutter nicht, blickte nur schnell auf, als Lars erzählte, Eline sei genau so wie sie. Aber als alles durchgefragt war, sagte er langsam und gewichtig:

„Sie hat kein Muttererbe bekommen, deine Mutter, soviel ich weiß. Nein, er sitzt noch auf ungeteiltem Erbe, der Alte auf Mo; er sträubt sich, den Hof abzugeben; denn der Sohn ist schlapp, mehr Spielmann als Bauer. Merkwürdige Menschen. Starr wie Borsten, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, ob es nun zum Himmel führt oder anderswohin. Aber wenn der Alte auf Mo stirbt, dann hast du, denke ich, mit deinen Geschwistern dort einen Tochteranteil zu fordern.“

Lars durchfuhr es.

Aber nein, das mußte doch ein Irrtum sein? Vater hätte das doch wissen und davon sprechen müssen, wenn er von so etwas hätte wissen wollen. Hier wagte er solche Vermutungen zu äußern. Da lächelte der Bauer auf Röe.

„Andreas Linde würde freilich das Geld von Mo nicht anrühren“, antwortete er. „Anders mit ihren Kindern. Es fließt in dir ebensoviel Blut von Mo wie von Linde. Das kann niemand ändern. Wenn Eline nicht enterbt worden ist — und davon habe ich nichts gehört — solltet ihr doch Anspruch auf ihren Schwesternanteil erheben können. Ich habe deine Mutter gekannt“, sagte er und schwieg dann. Doch klang es Lars so, als hätte er nichts Schlimmes zu verschweigen.

Die Taler, dachte Lars. Kamen die von hier? Aber hier sah es nicht nach Überfluß aus.

Blakke hatte sich jetzt satt gefressen und trottete nach heimischer Gewohnheit auf das Haus zu, um einen Schwatz zu halten. Das Hufeisen schepperte.

Lars fragte, ob ihm jemand dabei helfen könne, es in Ordnung zu bringen, und die beiden Ältesten zogen sofort mit Blakke zur Schmiede ab. Der Mann schien fast die Gelegenheit abgewartet zu haben — die Jüngeren waren schon in den Stall gegangen, um alles für die Nacht zu versorgen — denn als Lars mit ihm allein war, fragte er mit einem Mal:

„Hat Marcus Gjög geschrieben, wofür er dich haben will? Ich meine nur, weil gerade du kommen solltest, und nicht das Älteste von den Kindern?“ Lars stutzte. Hatte er nicht erzählt, daß der Vater Syver nicht zutraute, sich unter fremden Leuten zurechtzufinden? Das hatte er wohl.

Aber wie war das doch mit dem Brief von Gjög gewesen? Da mußte doch Vater angefangen und zuerst geschrieben und angefragt haben, sonst konnte doch ein so großer Mann nichts von Küster Lindes Kindern wissen, und eines von ihnen zu sich kommen lassen, wo doch das ganze Land voll von jungen Burschen war, die sich die Finger danach lecken würden, bei Marcus Gjög in die Lehre zu kommen. Das müsse wohl so gekommen sein, antwortete er, daß Gjög den Ältesten hätte haben wollen, soweit er den Vater verstanden hatte. Und es wäre ja begreiflich, daß der überall vorginge. Doch da überkam ihn mit einem Mal die Angst, Marcus Gjög könnte unwillig sein, weil er der Jüngste war. Er hatte großes Zutrauen zu dem Manne neben sich gefaßt und fragte ihn nun gerade heraus, was er dazu meine.

Der Bauer wandte sich Lars zu und betrachtete ihn lange.

„Auch du bist ihr Kind“, sagte er, und Lars faßte es als Trost auf. Dann sollte er also als Mutters Sohn hinkommen, nicht als Vaters.

Es durchfuhr den Jungen heiß: er war als Sprößling der Mo-Sippe anerkannt. Nicht, daß er den Vater darum geringschätzte, aber bei ihm war alles bedächtiges Handeln, Gottes Wille und Alltag, obwohl er ein Sonntagsamt versah. Nicht der kleinste Schimmer von Abenteuer umgab Küster Linde, so brav und angesehen der Mann auch war.

Als habe der Röebauer die Gedanken des Jungen gelesen, sagte er: „Dein Vater ist ein Ehrenmann. Tu, wie er es dich gelehrt hat. Gesprochenes Wort haftet fester im Gedächtnis als gelesenes. Ein Wort, das Stich hält, kann in mancher Stunde eine gute Hilfe sein.“

Lars nickte ernsthaft. Das war wie Kanzelworte. Er hörte immer wieder die müde Stimme von heute früh auf der Treppe: „Halte dich an die lautere Wahrheit. Habe allewege die Augen offen, aber rede nicht über alles, was du siehst und hörst. Du kannst aus allem lernen, was dir begegnet. Und wenn du selber weißt, daß du recht tust ...“

Der Bauer stand auf und strich mit fester Hand über Blakkes Bein. Öffnete ihm das Maul und musterte die Zähne. Dann sagte er, Lars könne das Pferd doch wohl kaum in seine neue Stellung mitnehmen? Und als Lars sich dazu geäußert hatte, antwortete er, er könne das Pferd wohl kaufen, aber Bargeld habe er vor Ausgang des Sommers nicht zur Verfügung. Die zwei Ältesten hätten sich auf einer Schute angeheuert, dann habe er ihre Löhnung zur Verfügung. Aber gut umgehen werde er mit dem Tier.

„Hast du ein Pferd nötig?“ fragte die behutsame Stimme der Bäuerin. Sie und Veli kamen heraus und setzten sich zu ihnen. Sie fragte nicht wir, sondern du. Denn sie hatte keinen Teil am Hofe, der von der ersten Frau stammte. Sie war selber aus dem Westland zugezogen und erst seit sieben, acht Jahren hier, ohne dem Hofe Kinder geschenkt zu haben, Zeugen ihres Wirkens. Der Bauer lächelte scherzend:

„Machst du dir Sorge um deine Schafe, Aminda? Wir haben Futter genug. Aber du mußt dich für dein Wollvieh jetzt an das Laub halten, so lange es welches gibt“, sagte er freundlich. Die Jungen waren jetzt wieder da, und alle lachten. Auch die Bäuerin.

„Sie versteht es so gut mit den Schafen“, erklärte Veli. „Überhaupt mit allem“, fügte sie hinzu.

Beide, Mann und Frau, blickten liebevoll auf das Kind.

Lars wurde es warm ums Herz unter solcher Freundlichkeit. Er war froh, daß Blakke hierbleiben sollte. Jetzt stand er schon hinter der geschlossenen Stalltür, als gehöre er hierher.

Aber er hatte ja noch einen Tagesritt zur Stadt und zu Marcus Gjög vor sich? Dann müsse jemand vom Hof Lars begleiten und Blakke wieder zurückreiten, bestimmte der Bauer.

„Ich“ rief Veli. „Ich bin so klein, ich kann hinter ihm sitzen auf dem Hinweg!“

„Aber nachts?“, fragte die Stiefmutter.

„Ich bringe Blakke auf den Hof von Tantes Haus und mach das Tor zu, und ich selber schlafe bei ihr auf der Sofabank“, entschied Veli schnell.

Lars lachte. Das konnte er sich ruhig leisten; denn er war sicher, daß niemand dem kleinen Ding erlauben würde, ein fremdes Pferd einen ganzen Tag lang allein heimzureiten. Er hatte durchaus keine Lust, mit einem Mädchen hinter sich in die Stadt einzureiten und in seinen Dienst zu kommen. Aber siehe da, das kleine Wesen setzte sich durch.

„Meinetwegen“, sagte der Vater. Blakke würde sie schon mit tragen können, er war ein stämmiger Brokken. Und er würde eine Extradecke unter die Truhe legen, damit das Pferd nicht gedrückt würde, wenn Veli noch darauf kam. Und für den Heimweg brauchte sie ohnehin etwas, um darauf zu sitzen. Aber sie sollten bei Sonnenaufgang abreiten, dann konnten sie es gemütlich nehmen, und deshalb wärs das Beste, sie gingen jetzt schlafen.