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Ulrike Draesner

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Beschreibung

Wie hängt die private Geschichte mit dem Lauf der Welt zusammen?

1972 wurde mit der Geiselnahme der israelischen Sportler die demonstrative Weltoffenheit der olympischen Sommerspiele aufs Brutalste torpediert. 1972 war aber auch das Jahr, in dem Katja erwachsen wurde und ihre erste Liebe sie verriet und von ihr verraten wurde. 20 Jahre später beginnt für Katja eine immer dringlicher werdende Suche nach dem, was damals wirklich geschah. Und es zeigt sich, wie sehr die private Geschichte mit der großen, politischen zusammenhängt.

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ULRIKE DRAESNER

SPIELE

Roman

Autorin

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane und Gedichte vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds, dem Deutschen Preis für Nature Writing und dem Preis der LiteraTour Nord. Für Schwitters erhielt sie 2020 den Bayerischen Buchpreis. Von 2015 bis 2017 lebte Draesner in Oxford, seit April 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Dort und in Berlin wohnt und schreibt sie – neben Romanen und Gedichten auch Erzählungen und Essays. Im Penguin Verlag erschien zuletzt das Langgedicht doggerland, für das Draesner den Gertrud-Kolmar- Preis für Lyrik erhielt. Spiele in der Presse: »Draesner hat einen Entwicklungsroman im besten Sinne vorgelegt: intelligent, vielschichtig, spannend, humorvoll.« Falter »Ulrike Draesner ist eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen der Gegenwart.« Times Literary Supplement Außerdem von Ulrike Draesner lieferbar: doggerland Schwitters Kanalschwimmer Eine Frau wird älter Mein Hiddensee subsong Heimliche Helden Sieben Sprünge vom Rand der Welt berührte orte gedächtnisschleifen Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinSPIRALEOlympia 1
1 - U-Bahn2 - 26. August 1972, 15.00 Uhr MEZ3 - Stadion, Stadion4 - Kommst du mir beuschen?5 - Geschenke6 - Das Sammeln, der Zucker, die Heimat7 - Platos Kaffeebad8 - Stummes Intermezzo, 5. September 1972, Nachmittag9 - Heimôdili10 - 6. September, morgens11 - Wie mächtig ein Drache ist12 - Erzählen
Reisen 1Olympia 2
1 - »München«2 - Ritter und Krabben3 - Herr Soysal ist kein Scheusal4 - Fürstenfeldbruck5 - Nichts als Zufall6 - Paarweise7 - Weiße Blitze8 - Schwebendes Verfahren9 - Katjas Kiste10 - Das Altenexperiment11 - Zuhause12 - 45. Stock13 - Betten und Flugzeuge14 - Streiten
Reisen 2SpiraleCopyright

In einigen Monaten, in ein paar Jahren, ja vielleicht erst in Jahrzehnten wird man sagen, dass München ein zeitgeschichtliches Ereignis war, das mit seiner ganzen Tragik, seiner Wirrnis und der Unreife die Probleme deutlich gemacht hat, mit denen wir in dieser Welt von heute leben müssen.

Willi Daume, Präsident des NOC Deutschland, am Tag der Abschlussfeier der Spiele der XX. Olympiade München 1972

In our assessment, and in light of the result, we have made one of the best achievements of Palestinian commando action. A bomb in the White House, a mine in the Vatican, the death of Mao Tsetung, an earthquake in Paris could not have echoed through the consciousness of every man in the world like the operation at Munich. The Olympiad arouses the people’s interest and attention more than anything else in the world. The choice of the Olympics, from the purely propagandistic view-point, was 100 per cent successful. It was like painting the name of Palestine on a mountain that can be seen from the four corners of the earth.

Teil eines Kommuniqués, vermutlich verfasst von Führungskräften des Schwarzen September.Veröffentlicht in der Beiruter Zeitung Al-Sayad, eine Woche nach dem Anschlag

Leben ist nicht der Kampf zwischen Drache und Ritter, es ist die Jungfrau.

Gunnar Ekelöf, aus Fährgesang

SPIRALE

Knüllte die Atemmaske in die Tasche, sprang leichtfüßig die Stufen hinab – Katja, wie von einer Schleuder geschnellt.

Jetzt hielt keiner sie mehr auf.

Betonstufen, immer blank gewischt, darauf achtete man, die Rolltreppen oft außer Betrieb, dafür hatte man kein Geld, am Abgang zur U-Bahn Nussbäume, frisch gepflanzt, das sollte tröstlich sein. Darüber thronte riesig, glitzernd wie ein hochkant gestellter Schokoriegel in Stanniol, das Krankenhaus. Es spiegelte so sehr, dass es jeden zwang, vor ihm die Augen zu senken. War man darin, senkte man die Augen von selbst. Auf dem Dach landeten Hubschrauber. In den Kellern wurde entsorgt, was nicht zu entsorgen war. Die Keller lagen auf Höhe der Bahn.

Eine U6 fuhr ein.

Katja, ins Fenster des kleinen Kiosks im Zwischengeschoss gebeugt, strich das Wechselgeld für die Handykarte zusammen, beeilte sich. Unten lief, aufmerksam in jeden Waggon blickend, ein Angestellter in der blauen Uniform des MVV den Bahnsteig ab. Der menschenleere Zug verschwand im Tunnel, erst Minuten später fuhr er wieder vor, um die Strecke zurückzukehren, auf der anderen Seite der Tunnelwand, als gleite er zwei Gehirnhälften ab. Katja setzte die Karte ein. Ihre Gehirnhälften kamen ihr auch ganz gespalten vor, vor fünf Minuten noch mit Atemmaske, nun ohne, vor fünf Minuten noch hochgiftig, nun normal, vor fünf Minuten noch todkrank, nun »pumperlgesund« (Edgar am Telefon).

Ihre Finger tasteten nervös. Kalt und schweißig zugleich. Das Display blinkte rosa, die Schrift hellblau. Auskunft, zehn Sekunden, sein Name, seine Nummer – so einfach konnte es sein –, eine helle Stimme fragte, wollen Sie gleich verbunden werden?, erschrocken legte Katja auf.

Sie stand an der Tür der Bahn, starrte hinaus, sie fuhren schon, der Netzbalken im Handy blieb. Anrufen, ein paar Sekunden, verbunden mit Max, nach 30 Jahren, so einfach konnte es sein. Säulen, grau wie der Elefant im Hongkonger Zoo beim Schlammbad, Einfahrt in die nächste Station. Der Elefant hatte gelacht, aber vielleicht war es bereits das Fieber gewesen, das ihr vorgaukelte, man könne mit Stoßzähnen lachen, schmal und entschieden stand Max’ Nummer im Display. Katja seufzte leise, der Mann, ihr gegenüber an die Trennwand zu den ersten Sitzen gelehnt, reagierte nicht. Auf der Titelseite seiner Zeitung erkannte sie die Fotos aus Asien, Masken-Menschen auf Straßen, gehüllt in weiße Schutzanzüge, die an Raumfahrer erinnerten. Wie sie mit Max davon geträumt hatte, zum Mond zu fliegen, wenn sie erwachsen wären, miteinander verheiratet, ihre drei Kinder winkten vom Boden. Max. Nicht nur der Anzüge wegen fiel er ihr ein. Nicht nur im Krankenhaus hatte sie sich erinnert. All die Monate zuvor hatte sie an ihn gedacht, immer wieder seit jenem verflucht schmerzvollen Morgen auf der Nelkenfarm, zwischen Bananenstauden und indischen Kuckucks, als die Erinnerung an Max sich hochstieß in ihr – warm und voller Bedauern, von den Hüften, den Lenden, der Taille (Max’ Hände darauf beim Tanzen) nach oben und aus den Fingern (Katjas Hände auf Max) über Arme und Schultern nach innen – bis alles sich zusammenballte in ihrem Herzen, das heftig pulste, wie jetzt. Bestimmt hatten die Ärzte noch im EKG wilde Extraspitzen gesehen, Spitzen wie die Dolomiten oben auf den Himalaja gestellt. Ein Herz, hörte sie einen von ihnen sagen, wie bei einem Krokodil, das gerade nach Beute schnappt; schade darum, meinte ein anderer, doch der erste lachte, Herzen, eins wie’s andere, was macht das schon?

Eine Kette von Pfeilen leuchtete auf, bewegte sich.

Was willst du, sagte er, seine Stimme klang neutral, dann lachte er laut, meine Güte, Katja, ich bin verheiratet und habe eine kleine Tochter, was soll denn das jetzt? Er hatte sie sofort erkannt. Katjas Blut sauste, ihr Bauch wurde warm, verheiratet, Tochter, das wusste sie schon. Ich weiß, sagte sie, um Zeit zu gewinnen, du klingst aber nicht so, antwortete er überlegen, bitterer als sie wollte, hörte Katja sich fragen: wie denn?

Max. Nicht begeistert über ihren Anruf, er hatte gute Gründe, nicht begeistert zu sein, Katja starrte zur Tür hinaus, die Tunnelwand rauschte vorbei. Sie tauschten ein paar Floskeln, woher?, wohin?, was ist das für ein Lärm bei dir?, rief er, doch die Verbindung blieb stabil, allmählich erkannte Katja sogar seinen Tonfall wieder, da sagte er schon, was rufst du mich an, willst mich wieder aufscheuchen, ja?

Welch blödsinnige Situation, so ein überstürzter Anruf – bei Max. Den ganzen Winter in München hatte sie darüber nachgedacht, von wo aus, was sagen, sich in Ruhe auf die Couch setzen, etwas zu trinken bereitstellen, einen Zettel mit Notizen, dann die Nummer wählen – und hatte es nicht fertig gebracht. Die einzige Chance, es zu tun, war, sich selbst stolpernd zu überholen.

Ja. Nein. Ja! Ihr Herz wurde langsamer. Erinnerst du dich, wie gern mein Großvater von Heemte sprach, stotterte sie. Natürlich, antwortete Max sofort, das weiß ich wahrscheinlich noch, wenn ich auf dem Totenbett liege, er zögerte, und Jozef, er … Max’ Stimme war milder geworden, das freute Katja – und tat ihr weh.

Katjas Großvater hatte Max geliebt. Wenn es so weitergeht, adoptiert er ihn noch, ärgerte sich Katjas Vater, kaum sah er die beiden. Die U-Bahn bremste, Katja drückte das Handy ans Ohr. Jozef erzählte uns doch immer, Heemte sei blau, flüsterte sie, und trug nur blaue Hemden. Max schwieg, Katja wurde sicherer, Rosa hasste er, sieht aus wie Schweineangst, wie Zickzack an einer Grenze, wie Kaninchenherz, rief er gern. Ich weiß, antwortete Max, und exakt das, Zickzack, versuchst du jetzt mit mir, er lachte auf: schon wieder! Bin gespannt, wie du diesmal die Kurve kratzst – Katja Kaninchenherz.

Fünf Minuten, Punkt für Max.

Katja spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Es stimmte. Sie zögerte, sprach Zickzack. 31 Jahre war ihr gemeinsamer Sommer her. Eine Ewigkeit: sie 12, er 17. Er der Schachschüler ihres Großvaters, sie jahrelang über beide Ohren verliebt in ihn, dann auch er in sie, endlich, die große Liebe, was sonst, Ewigkeit garantiert. Ist wohl üblich so, beim ersten Mal.

Nicht üblich war ihr Vertrauen ineinander, und Katjas Gefühl von Zugehörigkeit. Daheim sein, bei Max. Eine Erinnerung also an ein Nest – ausgelegt mit pubertären Träumen, gewiss, doch weiß, unschuldig geradezu. Allein, die Federkiele waren spitz und scharf, mit einem Mal standen sie überall heraus, alles flog auseinander, an einem Abend nur. Katja lockte Max an. Max tanzte, und wie. Alles in Katja tanzte mit. Zwei Stunden später, nach bösem Indianergeheul und einem Lauf durchs Dorf ohne Jeans, ohne Schuhe, ohne Unterhose, schmiss Max die Schule und beschloss, zur Münchner Polizei zu gehen.

Rosa ist hier nichts, rief Katja, wir täuschten uns, sagte sie zu Max, kühl jetzt, wie sie fand, Heemte heißt nicht Hemd, Heemte heißt Heimat.

Die U-Bahn stand, die Wandkacheln der Station spiegelten, sie wusste nicht, wo sie waren, egal. Und die suchst du jetzt, Heimat?, fragte Max beschwichtigt, Katja drückte sich gegen die Trennwand vor den Sitzen und sagte, vielleicht, obwohl sie es besser wusste, und dann sagte sie, ja, holte Luft, ja doch, ja.

Und du gehörst dazu. Doch das dachte sie nur.

Wieder schnurrte der Motor, als ziehe allein das Geräusch den Zug über die Gleise. Ich bin in der U-Bahn, sagte Katja, um Zeit zu gewinnen, wer hat dir verraten, dass ich dich suche? Das müsstest du selbst am besten wissen, lachte er, ihr Anruf schien ihn plötzlich zu amüsieren, oder hast du so viele nach mir gefragt?

Die Geschichte mit dir gehört dazu. Du. Doch das hörte nur sie. Endlich war es ihr klar.

Im Glas der Tür stand eine Frau, Arme, Rumpf, den Kopf fragend zur Seite geneigt, sie selbst.

Wir haben uns zufällig am Bus getroffen, dein Vater und ich, sagte Max, er hat gleich gefragt, ob du dich schon bei mir gemeldet hast, du habest dich angelegentlich erkundigt.

»Angelegentlich«, eindeutig Edgar, Katja wunderte sich, dass er Max sofort erkannt hatte, typisch, sagte sie, so redet er immer noch, aber Zufall – nein, Max, Zufall ist doch nur der Ort, an dem die eigene Angst sich versteckt.

Bilder huschten durch Katjas Kopf, Flugzeuge, Flughäfen, glasige Ein- und Ausgänge, das ewige Einpacken, Auspacken ihrer Koffer, ihrer Kameras.

Verstehe ich nicht, sagte Max, wie kommst du jetzt auf Zufall?, ich habe nicht von Zufall gesprochen. Doch, antwortete Katja, nein, sagte er, mit Zufall hatte das damals nichts zu tun, wenn es darum geht, hänge ich sofort ein. Ich meine nicht damals, du hast eben Zufall gesagt, ach, egal …, und er stöhnte, es wäre besser, wir hätten uns gar nicht erst kennen gelernt!

Nicht, dass sie das nicht selbst schon gedacht hatte. Nicht nur einmal.

Nicht, dass es sie jetzt nicht traf.

Ihr Spiegelbild sah blass aus, sie war schmaler geworden (es stand ihr), sie drehte sich weg.

Katja …,

Max …,

gleichzeitig hatten sie eingesetzt, gleichzeitig brachen sie ab. Katja hörte Max atmen, im Hintergrund schrie ein Kind. Immerhin hatte er nicht sofort aufgelegt, immerhin war seine Stimme nicht mehr ganz so reserviert. Sie strich sich über die Stirn. Die Bahn hatte sich gefüllt, doch jeder saß für sich allein. Es war erstaunlich still.

Tja, Heemte, sagte Max nachdenklich, wir täuschten uns ständig. Sie hörte Schritte, eine Tür schlug, das Kindergeschrei verschwand. Er schien nun allein, seine Stimme kam näher. Genug Geplänkel!, sagte er entschieden, als habe er sich im Gehen eine Strategie überlegt, als habe das Gehen ihn an etwas erinnert, was willst du von mir?

Katja erinnerte sein Gehen an etwas. Sie lauschte dem Geräusch der Schritte nach, eine leichte Asymmetrie, ein Schlurfen, die Langsamkeit, doch sie hörte nichts, hoffte für eine Sekunde gegen alle Vernunft, es habe sich gebessert, obwohl sie von Edgar wusste, dass dem nicht so war. Max’ zweiter Tanz, der nie hätte stattfinden sollen, bei Nacht und Feuerschein, Max, eben 18 Jahre alt, gesund – sprang, rannte, fiel. Drei Schüsse ins Bein, einen in die Lunge, das war, als Nachrichtenmeldung, eine halbe Zeile lang: junger Polizist, verwundet in Fürstenfeldbruck. Das Ende der Geiselnahme von München. Katja, hinter einen Mauervorsprung gedrückt, hatte Max ein halbes Jahr später in die Berufsoberschule hinken sehen, in der er fürs Abi nachlernte. Sich unendlich geschämt. Nicht gewagt, ihn anzusprechen. Sie schämte sich noch. Ich gebe dir fünf Sekunden, sagte Max, exakt fünf, und du rückst damit heraus oder lässt mich ein für allemal in Ruhe.

Los, befahl sie sich, kniff die Augen zusammen, als werde so alles schärfer, du hast keine Wahl! Max, ihre schlimmsten Erinnerungen und ihre schönste. Max und Fragen, Ärger und Schuld – Max. Jetzt oder nie. Die Türen der U-Bahn klackten auf, zwei dicke Frauen schoben sich herein, Katja riss die Lider hoch, schön, stieß sie hervor, wenn es dir Spaß macht, hat dieser Anruf ja wenigstens sein Gutes, als Ausgleich für damals, damals …, exakt!, sagte er. All das …, presste sie hervor, mitten ins Quietschen der schon wieder anfahrenden Bahn, es tut mir Leid.

Wie aus der Pistole geschossen antwortete er, das reicht nicht, Tinka, das reicht nicht, und da war es, eine Brücke, etwas von früher schwang in seiner Stimme mit, ihr alter Name, es machte es einfacher und schwerer, ich wollte mich … ich muss mich …, erneut saugte der Tunnel die Bahn ein, … entschuldige bitte, flüsterte Katja, und Max schwieg, sie dachte an den süßen und dann bitteren Geschmack von Jozefs alten Zuckerstücken, ich entschuldige mich, sagte sie lauter, Max, für alles, was nach dem Nachmittag in deinem Garten passiert ist, und vor allem für das … die … – und Max schwieg, er kam ihr nicht zu Hilfe, sie hörte sein Schweigen, sein Warten, sie an seiner Stelle hätte sich auch nicht geholfen, glücklicher Max, dachte sie, doch jetzt hatte sie damit angefangen –, für den Verrat, verzeih mir, sagte sie und holte Luft – er schwieg, er ließ sie kriechen – nichts war Zufall, gab Katja zu, damals auf der Party und auch die Razz…

Die Max-Razzia, sagte er erstaunlich gelassen, Jagd auf Max, da haben wir es. Ich dachte mir, dass du es wusstest.

Das Wort war von mir, Katja leckte sich einen Schweißtropfen von den Lippen, und …, und … die Idee auch.

Und die Küsse?, das warst doch auch du, ich erinnere mich an deine Küsse, antwortete er bitter, du brauchst es nicht weiter auszuführen, ich erinnere mich bestens, sagte er, wie du dir vorstellen kannst, und du meinst, wenn du heute Entschuldigung sagst, ist es aus der Welt? Nein, ja, du hast Recht, gab sie bereitwillig nach, so billig bekomme ich es nicht, dachte sie und verzog das Gesicht, als erwische sie sich selbst beim Bonbonstehlen, und schon sagte auch er, so billig nicht, Katja, was bildest du dir ein, und wieder lachte er wie einer, der stärker ist, weil er weiß, wie etwas schmerzt.

Es fühlte sich schlimm an, weil es die Wahrheit war, der Boden der Flasche, bitterer Saft, endlich ausgetrunken, hatte sie gedacht, und er sagte, du maßt dir etwas an, wenn du glaubst, für mein Leben verantwortlich zu sein, ganz die Alte, unverändert arrogant. Sie hätte »nein nein« rufen wollen, und es wäre das Beste gewesen, aber wie jedesmal mit Max wurde alles kompliziert. Das Glas der Abtrennwand drückte kühl in Katjas Rücken, ein dünner junger Mann mit modischem Kinnbart musterte sie, Katja rückte zur Seite, reckte sich. Ja, sagte sie, ich störe dich wieder auf, ja, ich will wieder etwas zerstören, du hast es erfasst. Den alten Max, die alte Geschichte, rief sie, sollte der Nachbar hören, was er wollte, zerstören, damit du aus der Flasche herauskommst, in die ich dich gesteckt habe, um alles aufhören zu lassen, um ihn zu zerstören, flüsternd, doch mit sicherer Stimme, den hündischen Blick zerstören, den ich nie mehr sehen will, bei keinem Menschen, Max. Ah, sagte er leise, so also hast du mich in Erinnerung, mit hündischem Blick?

Eine fast noch junge Frau, die Wangen gerötet, auf einer der grauen Drahtbänke der Station Implerstraße. Über ihr Gesicht zieht ein halbes Lächeln, schmerzlich, ein Lächeln, das hinter den glänzenden, angedeuteten Zähnen Schrammen, Fehler und Einsamkeit versteckt. Ungeschickt hält sie ein erstaunlich poppiges Handy zwischen den Fingern, starrt darauf. Sie trägt einen weit geschnittenen Mantel, dessen beiges Braun die Helligkeit ihres Teints unterstreicht. Hohe Wangenknochen, eine feine Nase, die Atemlöcher exakt wie dunkle Kommas hineingesetzt. Die Haut klar. Das gibt ihr etwas Kindliches, unterstrichen noch durch die aus dem hellen Gesicht mit überraschender Offenheit leuchtenden Augen. Grün. Sattgrün. Lindgrün. Drachengrün – so konnten sie aufglimmen, wenn Katja zu einer neuen Reise aufbrach, etwas entschied oder sich ärgerte, wie jetzt, für einen Augenblick, doch die Ränder der Iris blieben dunkel, moosig und weich. Ruhig saß sie da, die runden Schultern nach vorn gezogen. Ein Passant fragte sie nach der Uhrzeit, sie streckte ihm die Hand entgegen, ihre Uhr ging sechs Stunden vor, ach so, sagte sie, fuhr sich abwesend in das kurze braune Haar.

Max: ich will dein Mitleid nicht!

Max: es war meine Entscheidung, nach eurer Razzia zur Polizei zu gehen.

Max: was weißt du schon davon, wie es in Fürstenfeldbruck wirklich war.

Sie hatte recherchiert. Sie wusste, was es zu wissen gab. Die sogenannte Befreiung der neun israelischen Geiseln in Fürstenfeldbruck, die zu einer Geiselermordung geworden war. Ein dilettantisches Schlachthaus, so die internationale Presse im September ’72. Von der Bundesrepublik danach nicht ungern »vergessen«. Doch auf dem Brucker Flugfeld Max, so schwer verwundet, dass man wochenlang nicht wusste, ob er überleben würde, und wenn ja, wie – dieses grausame, mechanistische »wenn ja, wie«. Jahrelang hatte es Katja verfolgt. Und doch hatte er Recht. Was wusste sie schon?

Nur eines: dass er in der Nacht des 5. September als auszubildender Polizist mitten im Kugelhagel zwischen Scharfschützen und Geiselnehmern über das Flugfeld rannte, hin und her wie ein aufgescheuchter Hase, eine vom Licht der brennenden Hubschrauber hell beleuchtete Gestalt, der drei vier Schatten folgten wie einem Sportler im Stadion, war weder einfach nur Zufall noch Pech. Max, dunkel auf einer Seite, grell beleuchtet auf der anderen, Max, von Licht zweigeteilt, sichtbar gemacht. Gezwungen in einen wilden, vom Rhythmus der Schüsse und des hochlodernden Feuers diktierten Tanz. Max zuckend auch in seinen Schatten, groß und vom Feuer verzerrt auf den Boden geworfen, ein Flackern, noch eines, noch eines, über Patronenhülsen, Löschschaum und Blut hinweg. Dass er lebend herauskam, war pures Glück.

Katjas Lippen spannten sich, sie fröstelte, kroch tiefer in den Mantel hinein.

Max: aber euer Familienmantra, das ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Jozefs Allheilmittel! Bereitwillig hatte Katja souffliert, »die große und kleine Geschichte kümmern sich nicht umeinander, sie durchdringen sich bloß«.

Das werde sie noch auf dem Sterbebett wissen, hatte sie unnötigerweise hinzugefügt.

Max: umso besser, dann schließt sich ja der Kreis.

Sehr gut, hatte sie geantwortet. Dumm. Nichtsahnend.

Max: wie bei uns. Unsere Leben haben sich berührt und jetzt endgültig getrennt.

Sie strich sich mit der Hand über die Augen. Was sich berührt, durchdringt sich nicht unbedingt, doch was sich durchdringt, berührt sich – jetzt und jetzt, und später noch immer. Vielleicht war das der Preis. Dass sie nicht voneinander lassen konnten, ohne verändert zu sein.

Und die Liebe war ein Krokodil.

Wer hatte das gesagt? Für Liebe zahlt man immer den höchsten Preis. Das mit dem Krokodil hatte Max gesagt, früher. Sie lächelte, kurz. Ein weiches Lächeln jetzt, die schön geschwungenen Lippen blass. Im Drei-Minuten-Takt fuhren die Bahnen ein, U3 und U6 kreuzten sich, ihre Türen schnappten auf, klackten zu, schnappten wieder auf, als wären sie Krokodile, als wollten sie mitmachen, als liebten auch sie.

Olympia 1

2

26. August 1972, 15.00 Uhr MEZ

Sie starb bei einem Autounfall, mit einem ganz frischen Führerschein, wie Edgar immer wieder betonte, als verstehe er gerade dies nicht. Katja war fünf. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, aber wusste dabei oft nicht, ob diese Erinnerungen – das großblumige Muster eines Kleides, eine Aussicht von ihrem (?) Arm – nicht Fälschungen waren, gebildet in Katjas Kopf nach den schwarzweißen Fotos aus Marlenes Leben, vor allem jener Aufnahme auf dem Wohnzimmerschrank neben dem Fernseher. Das Bild zeigte auch Edgar, rund und glücklich, so wie er immer glücklich war mit Marlene, sagte er, die glücklichsten Jahre, ungetrübt. Zwölf Monate später, auf dem Foto von Katjas Einschulung, stand ein Mann mit grauen Schläfen, die Wangen von Bartstoppeln dunkelgefleckt. Groß und schlank, die Augen von hellem Blau, hell auch Edgars Haut, was die Höhlen der Augen betonte, nicht unheimlich, nur scharf. Wenn er von seinem Glück mit Marlene sprach, beneidete Katja ihn, er hatte wenigstens das, sie hatte nichts, abgesehen von ein paar Aufnahmen, auf den meisten fehlte sie, deswegen schaute sie sie stundenlang an. Auf dem Bild von der Einschulung schwebte Katjas Gesicht weiß und aufgeregt über einem dunkel geblümten Kleid; Edgar lächelte nicht.

Der Tod seiner Frau hatte ihn als Juristen kämpferischer gemacht, so sagte man, so lobte man ihn, so focht er für die Heimat anderer, Geld war ihm wichtig, für andere klagte er es ein, Geld ist Heimat, sagte er, und seine Klienten glaubten ihm, weil er es oft genug wiederholte, und gaben ihm Geld dafür, dass er sagte, Geld ist Heimat, er sagte es gern, und wenn man sie als Erbe nicht haben kann, als den von Rechts wegen zustehenden Besitz, dann wenigstens als neues Eigentum, das man erwirbt und erhält und verteidigt, denn Heimat ist Geld, sagte er, weil ihm die zweite Heimat mit der Frau weggestorben war, sagte er leiser hinterher, und seine Klienten glaubten ihm, da er es stets wiederholte, und irgendwann glaubte er sich selbst. Geld, Heimat, Gerechtigkeit. Das Blau in Edgars Augen wurde glatt, wie Eis, seine Gegner sagten, ja, der Habicht, der ist mit Habgier verwandt, tatsächlich ähnelte Rechtsanwalt Berewski mit der dünngratigen Nase und dem scharfen Blick manchmal einem Raubvogel, der auf einem Felsen die Flügel spreizt. Doch nicht Habgier trieb ihn an, eher der Versuch, ein Nest zu bauen für andere und sich. Gerechtigkeit sowie Heimat bildeten das Neststroh, Geld den Klebstoff, der das reichlich fragile Gebilde zusammenhielt. Die Rolladressei auf seinem Schreibtisch wuchs, der Klang beim Umklappen ähnelte dem Kippgeräusch der Buchstaben in den U-Bahnanzeigen. Bald standen da zwei Adressrollen, bei jedem Besuch versuchte Katja, sie simultan zu bewegen, mit der linken und der rechten Hand, sie bewegte sie schnell, das klang wie das Revolverfeuer in Bonanza, sie half nach, mit dem Mund, tschak-tschak, tschak-tschak, tschak!

An diesem Samstag stürmte sie daran vorbei, gelber Rock, fliegender Pferdeschwanz, Olympia. Frau Krüger rief noch, aber Kindchen!, zu spät. Die Dauerwellen wobbelten, mitunter sprang dazu die Goldrahmenbrille an der goldenen Kette über dem ausgeprägten Krüger-Busen auf und ab. Elsbeth Krüger war eine Bekannte der Großeltern und von Onkel Franz; seit Marlenes Tod arbeitete sie bei Edgar, für Katja war es immer schon so. Auch Edgars Sekretärin kam aus dem Osten, wie alle aus Katjas Familie – bis auf Katja. Während die Berewskis eher kurz waren, bis auf Edgar, war an Frau Krüger alles lang: die Füße, die Beine, die Arme, die Nase, ja selbst die Ohrläppchen (mit großen Ohrringen) und die stets sorgfältig rosa lackierten Fingernägel, die sich krümmten wie oft bei älteren Frauen. Mit diesen Händen bewachte Elsbeth das größte, bestgefüllte Bonbonglas, das Katja kannte, bewachte es besser als Alberich den Schatz der Nibelungen. Ich bin ja auch größer als Alberich und weiblich, also schlauer, sagte Elsbeth lachend. Von den Nibelungen hatte man Katja erzählt, auch ihnen war es um Heimat in der Fremde zu tun, Katja zog die Nase kraus und schielte die Bonbons an.

Loewe-Opta, 66 cm Farb-Großbildröhre, Kompaktbedienungsfeld, 17,92 Mark die Woche im TELERENT-Mietsystem, kleiner Bildschirm, Plastikleiste mit Firmenname und Knöpfen links, unten vier gespreizte Füßchen, lief und glänzte, glänzte sehr. Edgar hatte gewusst, dass er das Wochenende würde arbeiten müssen. Doch den gesamten Olympiabeginn versäumen? Der Kompromiss: die Krügerin, Jozef und Katja kamen in die Kanzlei, ein Fernseher wurde ausgeliehen. Großmutter Linda, eine kleine, wuselige Frau, sagte, danke, ohne mich, Sport hasse ich sowieso, olympischen erst recht. Also standen vier Klientensessel vor dem Apparat, es gab Salzstangen, das Fernglas lag ausgepackt auf dem Schreibtisch, Edgar lachte, zog sich die Krawatte auf, in letzter Minute hatte auch das Wetter sich »gemausert«, ein klarer, erstaunlich warmer Nachmittag, Wetter?, sagte Jozef verächtlich, Föhn!

15.00 Uhr, weltzeittechnisch günstig, Tokio 23.00 Uhr, 8.00 Uhr New York, überall saß der Mensch wach am Fernseher, mit glänzenden Augen und einem Gehirn, jahrelang angefüttert mit Sport und noch mehr Sport. Joachim Fuchsberger, Elsbeth Krüger erkannte die Stimme sofort, rief durchs Stadion »noch eine Minute«, der Fernsehsprecher räusperte sich, sein Kollege flüsterte, »wir sind drauf«, Fuchsberger verhallte, der Räusperer fragte den Kollegen, wie die Feier wohl aussehen werde, »Grüß Gott, meine Damen und Herren«. Es beginne die einzige Stunde des Spiels, der Rest sei Sport, meinte der ältere, die einzige Gelegenheit zur Selbstdarstellung, ergänzte der erste, was wird München tun, wie zeigt es sich?

Schon marschierten die Griechen durchs Marathontor, gefolgt von Afghanistan, Albanien, Algerien, Katja gurgelte an einem Glas Hohes C, stattliche Kampfverbände in dichtgeschlossenen Kolonnen, behauptete der erste, jüngere Reporter, doch Katja sah Pluderhosen, Turbane, Feze und Togen. Ausgerechnet die Mädchen der DDR nicht uniformiert, sondern in eleganten Hosenanzügen, orange, lindgrün, türkis, flieder und gelb, rief der ältere Kommentator, als sähen die Zuschauer es nicht selbst. So ein Kommentar wird denen in Ostberlin gefallen!, antwortete Edgar, die Krügerin nickte und schaute Katja tadelnd an, die dem Fernseher die Zunge herausstreckte. Elsbeth Krüger konnte das, nicken und tadeln zugleich.

Ausgerechnet die DDR-Mannschaft, als eigenständiges Team zum ersten Mal dabei, überholte nun möglicherweise bereits modisch das eigene Deutschland. Frau Krüger sagte mehrfach »zum ersten Mal« und »Bundesrepublik«, Jozef, der sie nicht mochte, unterstützte sie ausnahmsweise. Beide benutzten häufig das Wort »Zone«, es stand auch auf den U-Bahnfahrkarten, dort bedeutete es mehr Geld oder weniger Geld, das bedeutet es stets, lachte Jozef böse, das konnte er. Schon kamen die Polen, die SOV genannten Russen, es kamen Vietnam, Obervolta, Jugoslawien, Zaire, und es kam, als Gastgeber zuletzt, die bundesdeutsche Mannschaft, genannt »Wir«. Die Frauen in butterblumengelben Röcken, Jacken mit großen Revers, gelben Hüten, sonnig sollte es sein. Die Männer klassisch schwarz-weiß, doch darüber chemieblaue Sakkos, doppelreihig golden geknöpft. Jeder trug einen schwarzen scharfgesichtigen Adler überm Herzen. Auch hier, stellte Edgar schmunzelnd fest, schießt die DDR schon jetzt den Vogel ab. Tatsächlich waren die Ost-Männer in derselben Grundausstattung erschienen, doch wirkten ihre Sackos, Hemden und Krawatten eleganter. Elsbeth Krüger war aufgeregt. Seit Jahren überlege sie, ob sie nach Berlin reisen sollte. Bis ’39 hatte sie im Osten der Stadt gelebt. Liefen die dort jetzt so bunt herum? Gedankenverloren fischte sie ein Bonbon aus ihrer Rocktasche. Manchmal fragte das Kind eines Klienten nach einem »Gutti«, sie gab ihm dann zwei, das arme Ding!, nicht einmal richtig sprechen lernte es. Doch, wenn sie ehrlich war, »Gutti« klang schön, nach Süßigkeit im Mund und dem Zuzeln daran. Elsbeth zuzelte. Eine Frau über 50 muss entscheiden, ob sie Ziege wird oder Schwein, belehrte sie jeden, ob er es wissen wollte oder nicht. Ziege, damit war sie zufrieden, Bonbons konnte sie essen, so viele sie wollte. Dumm nur, dass ihr Rücken ständig wehtat, überhaupt: ihr ganzes, schiefes Gestell!

Katja nippte das zweite Glas Saft. Alte Stars, etwa Jesse Owens, der amerikanische Sieger-Läufer von 1936, sitzen dabei, neue werden geboren, rief der jüngere Reporter, Könige wollen und werden sie werden. Die Kamera fand keinen König, schwenkte ersatzweise auf Waldheim, Brandt, Goppel, Scheel und, immerhin, den Kronprinzen Carl Gustav von Schweden. 80 000, fuhr der ältere Kommentator mit leichtem Räuspern fort, seit Wochen, nein Monaten ausverkauft, 80 000 mucksmäuschenstill, 80 000 genießen das Privileg, live dabei zu sein.

Haha, rief Jozef, und wir sind die Deppen auf der Fernsehcouch oder wie?

Auch der jüngere Journalist, er hieß nicht Hagen, aber so ähnlich, hatte den Fauxpas des Kollegen bemerkt, großartige Technik, lenkte er ab, alle Daten über den Fernsehturm, 4/10 Sekunden, schon ist das Bild am Bestimmungsort – seine Stimme wurde zuversichtlich – täglich 24 Stunden Programm, rund um die Uhr, rund um die Welt!

Im Stadion tanzten hellblau und gelb gekleidete Kinder zu Carl Orff, Jozef summte lateinisch mit, aus den Augenwinkeln beobachtete er seinen Sohn. Auch der saß entspannt vor dem Fernseher, nicht so getrieben wie sonst. Woher er seinen Ehrgeiz nur hatte? Linda sagte, auf der Flucht habe sie zum ersten Mal diese wilde empörte Entschlossenheit an Eddi bemerkt, ob sie damals nur zum Vorschein gekommen war oder sich überhaupt erst gebildet hatte, wisse auch sie, die Mutter, nicht.

Da!, ein riesiger …, unterbrach aufgeregt der ältere Berichterstatter, wohl um seinen Fehler gutzumachen, … ein riesiger Kopf! Suchend schwenkte die Kamera zur Osthälfte des Stadions, die glitzernd und bloß in der Sonne lag. Hier wehten die Länderfahnen, hier stand der Fernsehturm – hier erschien Jozefs Schutt im Bild. Doch da war kein Grün mehr, kein Berg, da wuchsen Menschen zu einem Kopf, aus vielen kleinen zusammengesetzt. Der Trümmerberg, unheimlich belebt, schaute die Kanzleirunde an. Kommentator Hager (oder so ähnlich) lachte laut, doch auch verlegen: die ganz Gewieften! Die bayerischen Schlaumeier! Schauen sich die Eröffnungsfeier von da oben an, ohne zu bezahlen.

Katja fixierte Krügers goldgelbe Bonbondose. Die gelben und hellblauen Kinder tanzten, als wären sie aufgezogen. Jozef summte ununterbrochen. Edgar schaute auf. Sein Vater überraschte ihn immer wieder. Listig, schelmisch, erstaunlich heiter, dabei ein Sprücheklopfer von Gottes Gnaden, am liebsten über menschliche Köpfe – rund, damit man immer dasselbe denken kann! – und Geschichte. Nie gab er zu, woher die Sprüche kamen, alles selbstgebacken, rief er, lächelte, lenkte ab (was haben die Geschichte und ich gemeinsam? Die Zähne. Alle falsch), rief sogleich, ich habe keine Ahnung, mit welchen Waffen im 3. Weltkrieg gekämpft werden wird, aber im 4. werden sie mit Stöcken und Steinen aufeinander einschlagen, war stolz auf sein Mantra, belehrte die Studenten auf der Straße: Geschichte ist alles, was man nicht versteht, fragen Sie ruhig! Edgar rechnete, sieben Jahre, dann hatte auch Katja Abitur, er war erleichtert, sieben Jahre, noch lange hin. Doch: sie veränderte sich so schnell. Nach den Ferien würde sie Latein lernen, das freute ihn, Antikes mochte er; andererseits: all diese Berichte von Kriegen und Intrigen – na ja.

Das erste Mal, dass bei einer Olympiade alles elektronisch gemessen wird, sagte die Krügerin. Sie saß neben Jozef, sah zufrieden aus. ARD und ZDF blendeten das Olympiaemblem ein, eine Spirale aus schwarz-weißen Streifen, die sich von innen nach außen dicker umeinander wanden, um außen wieder ganz klein zu werden – ein perfekter Kreis. Leise schwebte der Deckel vom Bonbonglas. Kommt Franz, fragte Edgar, oder warum riechen Sie heute so gut, Elsbeth? Sie lachte, das wüsste ich auch gern!, Katja fixierte ihren hellbeigen Twinset, leise, sehr leise griff ihre Hand nach dem knisternden Gold.

Franz. Der Name erschreckte Katja, freudig. Er war der einzige Verwandte ihrer Mutter, den sie kannten. Der einzige, den Marlene jemals eingeführt hatte. Manchmal besuchte er sie. Sie besuchten ihn nicht, das wollte er nicht, Franz arbeitete in Pullach beim BND, eine Bürokraft, sagte er, ich bin ein kleiner Fisch. An anderen Tagen lachte er laut, rief, ich fahre um Afrika, und tänzelte durch die Kanzlei. Franz, klein und fest, wuschelige Haare, älter als Edgar, doch ganz Bewegung, rollte jeden Schritt aus der Schulter links, mit etwas Verzögerung dann rechts, den Rücken hinunter in seine schmalen Hüften, elegant federnd, so dass man hinschaute, ob man wollte oder nicht. Selbst wenn er stand, machte er sich noch wichtig, hob zum Sprechen die Arme, drehte die Hände, kaum jemals hielt Franz sich ruhig, und wenn alles ruhig war, bewegte sich die Zunge eben allein. Afrika verstand Katja inzwischen. Früher hatte sie geglaubt, Franz umkreise den Kontinent ständig mit einem Schiff. Das glaubte sie nicht mehr. Er fuhr um eine Karte. Er fuhr im Kopf. In seinem Büro hing eine Karte von Nordostafrika. Sagte Edgar. Keiner hatte Franz’ Büro je betreten. Außer der Krügerin.

Elsbeth stand auf, ihre Füße waren wirklich schrecklich groß, meist trug sie Männerschuhe, zwei steckerldünne Waden darüber, und obenauf dieser für eine Ziege wirklich erstaunlich große runde Busen. Gerade!, beste Elsbeth, mahnte auch schon Edgar, sie antwortete, schreiben oder was?, das gab Katja Zeit, leise, äußerst leise, glitt der Deckel auf das Glas zurück.

Früher hatte Katja sich gewundert, wie die Krügerin von ihrem großen Busen nicht vornüber kippte, dass Männer das schön fanden, war ihr seit der Max-Razzia klar. Jozef krauste die Stirn. Dass man nun messen konnte, was kein menschliches Auge sah, fand er unschön. Linda, Großmutter, fand den gesamten Sport abscheulich: Fernsehen schade den Augen. Und was den Augen schade, schade dem Hirn. Also dem Hirn und den Augen, und am Ende dem Herzen und der Hand. Daher saß sie lieber mit einer Freundin zu Hause, gebeugt über ihr immer rotes Stickzeug – sie stickte mit Vorliebe auf großen rosa Stoffen mit dünnen roten Garnen. Wenn sie stickte, war es verboten, das Wort »Auge« auch nur zu erwähnen. Als Katja, zwei Bonbons fest in der Hand, von hinten zu Alberich Krüger sagte, das heißt nicht Olympiade, sondern Olympische Spiele, runzelte Jozef die große Stirn so heftig, dass sie nurmehr aus Falten bestand. Er achtete auf Umgangsformen, Grenzen. Selbst ein Grenzverletzter, mit bitterem Lachen, dachte Edgar, einem Lachen nur in den Mundwinkeln, als wehrte es sich. Auch Katja sah das, doch wusste nicht, wogegen ihr Großvater sich schützen wollte. Sie stand neben Krügers Glas, Olympiade ist die Zeit zwischen den Spielen, vier Jahre, flötete sie, Olympiade 1972 ist Quatsch. Edgar rief, Katja!, Elsbeth Krüger drehte sich um, überrascht, angepikst, aber die Bonbons in Katjas Hand, das Bonbon in Katjas Mund, konnte sie nicht sehen.

Alle setzten sich wieder. Das Mädchen, das den Eid der Sportler schwören sollte, griff so zittrig nach der Fahne der Bundesrepublik, dass das gesamte Fernsehbild mitzitterte. Zum ersten Mal spricht eine Dame das Gelöbnis, betonte der ältere Reporter, Edgar nickte, auch Jozef schien einverstanden, denn die Frau trug einen Rock. Da die DDR-Frauen in Hosen einmarschiert waren, hatten sie auch heute bei ihm verloren, aber darauf kam es nicht mehr an, denn die DDR war schon so klein bei ihm, kleiner konnte sie gar nicht mehr werden, eine Laus, ein Floh, ein Bakterium, ein Virus, ein böses Nichts. Nachts aber schien sie in seinen Träumen heimlich zu wachsen, morgens jedenfalls war sie wieder da, dann sagte er »Zone« und ärgerte sich. Millionen von Menschen haben jetzt diese Bilder gesehen, stellte der jüngere Kommentator befriedigt fest. Ein Viertel aller auf der Erde lebenden Menschen hatte also die DDR gesehen. Kann man da hinfahren, fragte Katja – vorsichtig, damit man nicht hörte, dass sie ein Bonbon lutschte. Für Sekunden ballten sich weiße Wolken über dem Stadion wie riesige Blumen. Edgar lachte, jetzt dieser Mummenschanz, doch das war nicht die Antwort auf die Frage nach der DDR, vom Olympiaberg donnerten Böllerschüsse. Schuttberg!, rief Jozef wütend, 1300 Meter lang, über 70 Luftangriffe auf München, das sollten Sie sich vorstellen, Herr Hager: Schutt pur, Schutt absolut, auf Trümmern stehen die Bürger! Jozef rief, als könnten die Kommentatoren ihn hören, er verstand nicht, wie Fernsehen ging, Katja war das peinlich, sie schaute weg.

Die zu den Schüssen aus ihren Kästen gejagten Tauben flatterten müde, ein friedliches Zeichen, verkündete der ältere Kommentator stolz, Avery Brundage, der weise Präsident des IOC, habe geraten, erst die Schüsse abzufeuern, dann die Tauben freizugeben, sonst ließen sie erschreckt noch etwas auf die Zuschauer fallen. Edgar grinste, Olympia der kurzen Wege!, nun lachte auch Elsbeth Krüger, zog ein Bonbon aus der Rocktasche, hielt es hoch ins Licht, ließ es funkeln, nur Jozef schüttelte den Kopf, schaut mal, flüsterte er, das haben sie auch behalten von ’36, das auch.

Unheimlich lang scheint die Treppe zu sein, er läuft auf sie zu, Juniorenmeister über 1500 Meter, nur hier darf er starten, zusammen mit vier anderen, sie sollen Kontinente sein, laufen wie Kontinente, jetzt fängt die Treppe an, er keucht, die anderen fallen zurück, nun ist er allein, x-mal geprobt, doch das volle Stadion verändert jeden Schritt. Der gelbe Teppich auf den Stufen blendet selbst im Bildschirm, vielleicht hätte der Läufer eine Sonnenbrille gebraucht, das Licht seiner Fackel ist nicht mehr zu sehen, er aber spürt das Feuer, die Gier des Publikums, seine Neugier, seine Gnadenlosigkeit, es trägt ihn und will ihn fallen sehen, abstürzen in das brodelnde Meer aus Armen und Mündern und der Lust daran, dass einer stolpert, alles vermasselt, stirbt vor Scham. Ordner in hellblauen Anzügen säumen den Treppenrand, keiner mehr zählt die Schritte, der blonde, schmale, ganz in weiß gekleidete Junge biegt nach rechts auf die dünne Brettbühne, weit über dem Stadion unter freiem Himmel, läuft in Stille, streckt den Arm mit der Fackel an die Schale. Man sieht ihn Atem holen, er versucht, gleichwohl möglichst ruhig zu stehen, alles schweigt, wartet – doch das Feuer springt nicht über. Die Kamera starrt auf die drehbaren Gelenke am Rand, das Gas kommt nicht, alle warten, zittern, da, endlich, geht das Feuer doch noch auf, zischend, und greift sofort nach der ganzen Schale, nach der heißen Luft.

Jozef entfuhr ein kleines »ah«, er war froh, dass München die Eröffnungsfeier gelungen war, auch Elsbeth neben ihm seufzte erleichtert, kurz schauten sie sich an, man identifizierte sich eben mit der Stadt, in der man lebte, Föhn hin oder her. Edgar stand auf, so fängt es also an, sagte er, mit der Heiterkeit, den kurzen Wegen.

Ein paar Böllerschüsse hallten nach, einige Tauben hatten doch etwas auf Zuschauer fallen lassen, selbst der Olympiaberg, grummelte der ältere Reporter hörbar zufrieden, leert sich. Bayerische Schlaumeier, hakte der jüngere noch einmal, fast ungläubig, nach. Im Bild funkelten die Terrassen des olympischen Dorfes, Fahnen wehten davor. Alberich rief, was sind das für Fettfinger auf meinem Bonbonglas?, Edgar richtete das Fernglas auf Katja und antwortete, sagen Sie nicht noch mal, dass ich Fettfinger hätte, sonst müssen Sie zum Fernsehen und über junge, unerreichbare Fackelträger berichten – so fing es an, mit den kurzen Wegen, der Heiterkeit.

Katja dachte noch immer an Franz. Bei seinem letzten Besuch, vor zwei Wochen, war sie auf dem Klo, als er sich verabschiedete. Das WC lag dem Kanzleieingang fast gegenüber; eben dort hielten Franz und Edgar inne.

… hartnäckige Erinnerung, hörte das Mädchen Franz sagen, als es sich das T-Shirt in die Hose stopfen wollte, und erstarrte in der Bewegung. Sie rief mich an, murmelte Franz, um sich zu verabschieden, ich muss es dir endlich erzählen. Ihre Stimme war so gelöst, er stockte, lachte leise, aber traurig, ich dachte fast, sie hat sich betrunken.

Aber das war es nicht, flüsterte Edgar.

Nein. Sie sagte leichthin, wir haben einen Nachbarn mit nur einem Bein. Der hüpft munter durch den Garten. Dem habe ich gestern zugerufen »meine Eltern haben nicht so viel Glück gehabt, der Vater in Russland geblieben, die Mutter mit 45 an einer Blutkrankheit verstorben. Vererblich!« Und?, sagte Franz, und?, habe ich gesagt. Marlene lachte, der Nachbar habe gerufen, »die haben Sie aber nicht«. Sie habe daraufhin »gute Nacht« gesagt, und »keine Sorge, daran sterbe ich nicht«.

Franz, hörte Katja ihren Vater seufzen. Sie strich sich das T-Shirt glatt, leise, sehr leise.

Vielleich hätte …, sagte Franz und seine Stimme klang ernst, ohne Spielerei, hätte, wenn ich sie weiter in ein Gespräch verwickelt hätte, sie wollte vielleicht reden … dann … wäre sie vielleicht nicht losgefahren.

Edgar schaltete den Fernseher aus. Wäre Franz jetzt dagewesen, Katja hätte ihn nach Marlene gefragt. Wo steckte er nur wieder? Sie lief zum Rezeptionstisch, wenigstens Linda wollte sie anrufen, damit sie aufhörte, diese roten Blumen zu sticken, groß und hellrot, orange, seidig, manchmal rau, manchmal dunkel wie Rubin. Zu Wolken geballt, trieben sie über die polnischen Felder, von denen Linda träumte, über Mohn und Korn. Die Felder, zwischen denen Katja aufwuchs, waren bayerisch braun, grün und weiß, gesprenkelt, gefurcht, auch sie hätten ein hübsches Tischtuch ergeben, gänseblümchenhell, nicht so rot, nicht so warm, so hitzig, so beängstigend. Doch jedes Tischtuch war sinnlos, Linda konnte es niemandem schenken, seit Marlene nicht mehr da war. Katja hatte eine ganze Menge bestickter Tischtücher zu Hause ganz hinten im Schrank entdeckt, doch Edgar bekam nie eines, also waren sie alle Geschenke an Marlene gewesen, Edgar bekam nur umhäkelte Taschentücher mit Monogramm, Jozef, Linda und Katja ebenso, zusammen ergab das »KEIL«. Marlenes Buchstabe hatte da gar keinen Platz, es war, als sollte sie vergessen sein. Katja wählte Lindas Nummer, es läutete, eine der gestickten Wolken blies durch Katjas Kopf, wild, niemand hob ab, für Sekunden sah Katja etwas Lockeres, Blasiges, das immer dichter wurde, sie streckte die Hand aus, das Läuten, das Läuten, griff etwas Rundes, hielt sich fest.

Der Krach riss sie zurück. Da waren das Zimmer, die Sonne, der Nachmittag, Jozefs und der Krügerin und Edgars Kopf, zu ihr gedreht, und da war, am Boden, das Bonbonglas, in tausend Teile zersprungen. Die Scherben glitzerten, die goldgelb umwickelten Bonbons, Katja stand in einem Meer aus Splittern und Folien, erschreckend schön. Jetzt erst stöhnte die Krügerin auf, Edgar stand schon vor Katja, die Augenbrauen zusammengezogen, was war los?, und dann sagte er, mach dir keine Sorgen, sie ist bestimmt nur kurz rausgegangen, er überlegte, mit dem Müll, sagte er, in zehn Minuten ist sie wieder da, wir rufen in zehn Minuten wieder an, o.k.?, sagte er und tätschelte Katjas Wange, sie geht nicht einfach weg, sagte er leise, sie ist nicht tot.