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Juli Zeh

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Beschreibung

Die atemberaubende Geschichte einer obsessiven Abhängigkeit zwischen einer Schülerin und einem Schüler, Ada und Alev, aus der sich erst die Bereitschaft, dann der Zwang zu Taten ergibt, die alle Grenzen der Moral, des menschlichen Mitgefühls und des vorhersehbaren Verhaltens überschreiten. Die beiden jungen Menschen wählen sich ihren Lehrer Smutek als Ziel einer ausgeklügelten Erpressung. Sie beginnen ein perfides Spiel um Sex, Verführung, Macht.

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Inhalt

Titel

Summum Ius, Summa Iniuria

Exordium. Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren

Von Prinzessinnen und Marionetten und der Möglichkeit, sich mit wenigen Worten Respekt zu verschaffen

Denken heißt Beschreiten. Ernst-Bloch und das Prinzip Hoffnung

Smutek erinnert sich an ein paar Erinnerungen

Über den Konsum von Büchern

Kommen Sie bitte mit in mein Büro. Ada hasst Dummheit

Die Gegenwart ist nichts als zukünftige Vergangenheit. Ada und Smutek fliegen raus und tauschen erste Worte

Smutek wohnt der Vorbereitung eines Ereignisses bei

Eine Prinzessin schlägt zurück

Ein Prinz betritt die Szene

Ein bisschen Olaf

Im Rahmen einer musikalischen Rückblende offenbart sich der Grund für Adas Anwesenheit auf Ernst-Bloch

Smutek sieht eine Schülerin laufen

Alltägliches geschieht bei Smuteks

Auch bei Ada beginnt Alltägliches zu geschehen

Weihnachten Eins

Idee und Vorbereitung zu Olafs Entjungferung

Olafs Entjungferung

Alev

Etwas gerät aus der Ordnung, ohne sich fassen zu lassen; es folgen taube Wochen

Ada will mit Olaf reden und erzählt ihm stattdessen vom menschlichen Bewusstsein

Die tauben Wochen dauern an. Ada hat Probleme mit der Großen Liebe. Das Erbe der Postmoderne ist ein Haufen übereinander rutschenden Zitatenschutts

Ada macht sich an Alev ran

Über dem Luftraum Ernst-Blochs befindet sich eine andere Welt

Die Amerikadebatte

Alev ist impotent und stolz darauf

Smutek beendet die tauben Wochen oder nimmt ihr Ende wenigstens seismographisch zur Kenntnis. Vielleicht hat der Mann ohne Eigenschaften damit zu tun

Ada ist wirklich schnell

Alevs Innenleben. Erste Berührungen und eine Art Gespräch

Alev erzählt Wesentliches aus seiner Kindheit

Ada spricht mit ihrer Mutter und zupft sich die Augenbrauen

Ein, tapp, tapp, tapp, aus, tapp, tapp, tapp. Smaragdblau wird zu Saphirgrau

Erster Blick in die Spielregeln

Ada schwingt Macheten und weiß als einziger Mensch in der Republik, dass Erfurt ein Grund zur Freude war

Man gelangt ins nordrhein-westfälische Wien und geht spazieren. Nicht alle sind mit von der Partie

Ein schmaler Grat

Wenn man Gott und den Teufel ruft, antwortet niemand

Die Eisfee beim Nachtbad

Der Tag darauf bringt einen Pakt mit No-thing

Die Chemiekammer

Weihnachten Zwei

Der Prophezeiung zweiter Teil

Auf der Villa Kahn. Spieltrieb. Das Universum ist ein Tropfen Feuchtigkeit an der Spitze einer Hundeschnauze

Kaum hat das neue Jahr seine Reisegeschwindigkeit erreicht, bedient es sich defätistischer Symbole

Die Konferenz floppt

Nächtliche Telephonate Eins

Nächtliche Telephonate Zwei

Adas Entjungferung

Die Welt ist eine Lasagne

Wir sind die Urenkel der Nihilisten. Ein Adler löst sich vom Dach

Die Fremdheit der Menschen ist allumfassend. Ciebie nie zapomnę

Alles läuft nach Plan. Smutek findet eine Möglichkeit, sein bisheriges Leben weiterzuleben

Schläfrigkeit ist ein Geruch

Seit Internet und Counterstrike vollzieht sich das Böse vor allem in Netzwerken

Aber sie wollen ihn selbst

Smutek gehorcht

Der erste schöne Tag im Jahr. Ada freut sich auf einen Auftritt vor Gericht

Bei Gericht arbeiten Menschen mit Menschen

Wenn ich Schriftsteller werden wollen würde

Smutek bleibt bei klarem Verstand. Sein Schneewittchen erwacht und begrüßt ihn als genesenen Kranken. Nie hat der katholische Gott sich schwächer gezeigt

Ein schöner Abend

Ada erzählt etwas, weil sie es weiß. Ein Polizeiauto beendet den schönen Abend

Ada trifft den Brigadegeneral und lehnt sich ein Stück über den Rand des Abgrunds

Smutek erschlägt eine Fliege. Smutek gibt gern

Fliegende Bauten. Smutek kommt mit dem Zeitgenössischen nicht zurecht. In einem Flashback versucht Ada, ihn prophylaktisch zu impfen

Frau Smutek packt aus

Ein merkwürdiger Donnerstag. Spannung wird aufgebaut und wenig geschieht. Ein Geldkurier erreicht das Ziel

Es werden zwei Figuren aus der Geschichte entlassen, bevor vom geplatzten Freitag erzählt werden soll

Geplatzter Freitag

Splendid Isolation

Pankratius, der Vormittag

Pankratius, früher Abend

Pankratius, in der Nacht

Servatius, Vormittag

Servatius, Nachmittag

Bonifatius, der Wohltäter

Die kalte Sophie…

Vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand

Das Plädoyer einer Zeugin

Was Ada noch zu sagen weiß

Sieg und Frieden

Kolophon, Epilog oder: Zwischen den Instanzen

Zum Buch

Zur Autorin

Juli Zeh

Spieltrieb

Roman

btb

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien erstmals 2004.

Genehmigte Ebook-Ausgabe Juli 2018 im btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: buxdesign | München Coverfoto: David Finck

SK ∙ Herstellung: BB

ISBN 978-3-641-24274-9V004

www.btb-verlag.de

Für David

Summum Ius, Summa Iniuria

Exordium. Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren

Was, wenn die Urenkel der Nihilisten längst ausgezogen wären aus dem staubigen Devotionalienladen, den wir unsere Weltanschauung nennen? Wenn sie die halb leergeräumten Lagerhallen der Wertigkeiten und Wichtigkeiten, des Nützlichen und Notwendigen, Echten und Rechten verlassen hätten, um auf Wildwechseln in den Dschungel zurückzukehren, dorthin, wo wir sie nicht mehr sehen, geschweige denn erreichen können? Was, wenn ihnen Bibel, Grundgesetz und Strafrecht nie mehr gegolten hätten als Anleitung und Regelbuch zu einem Gesellschaftsspiel? Wenn sie Politik, Liebe und Ökonomie als Wettkampf begriffen? Wenn ›das Gute‹ für sie maximierte Effizienz bei minimiertem Verlustrisiko wäre, ›das Schlechte‹ hingegen nichts als ein suboptimales Resultat? Wenn wir ihre Gründe nicht mehr verstünden, weil es keine gibt?

Woher nähmen wir dann noch das Recht zu beurteilen, zu verurteilen, und vor allem – wen? Den Verlierer des Spiels – oder den Sieger? Der Richter müsste zum Schiedsrichter werden. Mit jedem Versuch, Erlerntes anzuwenden und Recht in Gerechtigkeit zu übersetzen, würde er sich der letztverbliebenen Todsünde schuldig machen: Der Heuchelei.

Alles das habe ich in die Entscheidungsgründe eines Urteils geschrieben. Es wurde der Geschäftsstelle übergeben, es wurde den Parteien förmlich zugestellt. Ich kann die Gerichtsferien nutzen, um meine Gedanken zu ordnen. Ich kann den Tatbestand aufschreiben, nicht in der verkürzten Form, die ein Urteil verlangt, sondern so, wie er sich wirklich zugetragen haben muss.

Wenn ich mich aber entscheide, von Geschehnissen zu sprechen, an denen ich selbst nicht beteiligt war, deren Protagonisten ich kaum kenne und über die ich nur aus beruflichen Gründen Bescheid wissen muss, komme ich um die Frage nicht herum, wer die Geschichte erzählen soll. Ein Ich, der Weltgeist, die Gerechtigkeit, das multiple ›Wir‹ aus phantasierendem Autor und seinen Figuren, das der Realität des Erzählens am nächsten kommt? Nichts davon gefällt mir. Es wäre unnatürlich wie die erzwungene Erwiderung auf eine Frage, die sich schlichtweg nicht beantworten lässt. Wer ist schon ›Ich‹? Wer ›Wir‹? Das Problem beschäftigt die Menschheit seit Tausenden von Jahren. Ein Computer, der es lösen wollte, sähe sich gezwungen, eine Gleichung zu bilden, die gegen unendlich geht. Wer bist du?, bedeutet für ihn: Wie viele Anwendungen laufen in dieser Sekunde in deinem Innern? – Wenn er darauf antwortete mit der Zahl X, so fügte der Vorgang des Antwortens der Summe einen weiteren Prozess hinzu, so dass sie lauten müsste: X plus eins, und seine Antwort wäre falsch. Würde er dies erkennen und versuchen, sich zu korrigieren, und sagte: X plus eins, so wäre die Summe bereits X plus zwei, und so ginge es weiter, und der Computer stürzte ab, zerschellend an der liegenden Acht, unfähig zu sagen, wer er sei. Der Mensch unterscheidet sich vom Rechner durch die Fähigkeit zur Schlamperei, durch seine Begabung, ein Problem zu übergehen, wenn er instinktiv erkennt, dass er es mit der Unendlichkeit aufzunehmen hätte. Während der Computer abstürzt, schüttelt der Mensch den Kopf, lacht oder weint und geht weiter seines Weges. Mal wieder ein Problem, das man am saubersten löst, indem man es vergisst. Ich lasse offen, wer ich bin. Ich bitte um Verständnis und entschuldige mich für entstandene Unannehmlichkeiten.

Wenigstens das Wetter erfüllt die Erwartungen. Es ist für die Jahreszeit weder zu warm noch zu kalt, was im Monat August in dieser Stadt nur eins bedeuten kann: Es ist heiß und feucht. Väterchen Rhein schwitzt seine flusshaften Sekrete aus, die Köln-Bonner-Bucht sammelt sie und kocht sie ein zu schwerem Mus, das auf Häusern, Autodächern, Rücken und Gedanken lastet. Was gäben wir für einen kleinen Wind, einen frischen Hauch, der den Rhein hinaufgeklettert kommt, von Norden her, Erleichterung bringend, eine Ahnung von Meer! Nichts wird kommen. Das Luftmus füllt den Menschen Lungen und Köpfe wie feuchter Sand. Abkühlung wird der einsetzende Nieselregen bringen, irgendwann im September, wenn ich zurück muss auf meine Dienststelle, um auszuprobieren, ob es nach dem letzten Urteil noch weitere geben kann.

Mein Arbeitszimmer im ersten Stock geht direkt auf die Straße. In einem Fußmarsch von dreißig Minuten könnte ich die asphaltierte Rheinpromenade erreichen, um mich selbst die Unterlegenheit eines einfachen Fußgängers gegenüber Radfahren, Joggern, Inline-Skatern und Hundebesitzern spüren zu lassen. Ich könnte zu den verlassenen Botschafterresidenzen hinaufsehen, die ihrerseits aus leeren Fenstern über den Fluss schauen. Ich könnte die Villa Kahn besuchen, die verspielt ein französisches Schloss kopiert, oder das Gelände einer der zahlreichen Bonner Internatsschulen umrunden, deren Grundstück, vollgestellt mit Gründerzeitbauten und ausgepolstert mit einem Park, bis fast ans Wasser reicht. Täglich könnte ich diese Orte ohne Mühe aufsuchen, und es gäbe doch nichts zu sehen. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster.

Haus und Straße werden durch einen geräumigen Vorgarten voneinander getrennt, dessen schmiedeeisernes Gitter ganz zugewachsen ist vom Rhododendron, der seine fleischigen Blätter wie Gefangenenfinger durch die Stäbe streckt, um den Passanten bettelnd auf die Schultern zu fassen. Über die Spitzen des Gitterzauns hinweg sehe ich auf die Fahrbahn und warte darauf, dass etwas aus der Reihe springen möge, seitwärts rutschen, die Fahrtrichtung verlassen, sich drehen. Ein schwerer, abrupt gebremster Lastwagen zum Beispiel, der dann mit schrägem Leib zum Stehen käme, ein Rad auf dem Bordstein, dicht vor einer Laterne, als wollte er das Hinterbein heben, während sich vor seiner Schnauze eine dunkle Wolke Fußgänger wie Fliegen versammelte. Etwas läge reglos und unförmig auf dem Asphalt. Ein Haufen alter Mäntel vielleicht, die nicht mehr in den Altkleidercontainer gepasst haben? Auch ohne genaues Hinsehen wüsste ich es besser. Das Herannahen der Rettungssirene machte den Vorfall zu einem technischen Problem. Mit schnellen Stichen vernähte kreisendes Blaulicht das Loch in der Ordnung, aufgerissen durch das außerplanmäßige Versterben eines Artgenossen; ein Loch, über das die aufgelaufene Menschenmenge sich beugte, um einen entsetzten Blick in das darunter liegende Chaos zu werfen. Die Menge würde zurückgedrängt. Die Heckklappe des Rettungswagens schlüge zu. Der Tag ruckte, stöhnte und setzte sich von neuem in Bewegung. Ein Mensch würde fehlen, für immer. Vielleicht einer meiner Angeklagten. Vielleicht meine Zeugin. Einer meiner drei fast Freigesprochenen. Aber ich bin sicher, sie alle halten sich nicht in der Stadt auf, nicht einmal im Land. Zwischen den Instanzen unternimmt man gern einen Ausflug.

Die Staatsanwaltschaft hat Rechtsmittel eingelegt. Mein Urteil wird aufsteigen zu den höheren Instanzen. Dieser Fall sollte es bis nach Karlsruhe schaffen. Er enthält die Aufforderung, das Versagen des Rechts offiziell zur Kenntnis zu nehmen, weil die Würde des Menschen es verlangt. Über dem Bundesverfassungsgericht, sagen wir Juristen, sei nur noch der blaue Himmel.

Der blaue Himmel ist zum farbigen Pappdeckel einer Spielesammlung geworden. Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht – erst recht.

Von Prinzessinnen und Marionetten und der Möglichkeit, sich mit wenigen Worten Respekt zu verschaffen

Ada war ein junges Mädchen und nicht schön. In jenem Augenblick, den der Scheinwerfer dieser Erzählung ins Licht taucht, war sie vierzehn Jahre alt, blond und kräftig gebaut. Ihr Mund war breit, die Handgelenke stark. Über der Nase lag ein löchriger Teppich aus Sommersprossen und wusste bei passender Beleuchtung ein paar Notlügen von gepflückten Wildblumen und Kinderspielen im hohen Gras an den Mann zu bringen. In Wahrheit sah Ada älter aus, als sie war. Ihre Brust war stark entwickelt.

Im Sommer 2002 wurde sie in die zehnte Klasse des Ernst-Bloch-Gymnasiums zu Bonn eingeschult, nachdem sie aus einem Grund, der sich in Kürze im Rahmen einer musikalischen Rückblende offenbaren wird, ihre alte Schule hatte verlassen müssen. Auf Ernst-Bloch erregte sie zu Anfang wenig Aufmerksamkeit.

In allen Klassen ab der siebenten gab es samt- und seidenweiche Mädchen, deren Geburt durch langsam anschwellende Musik begleitet worden war wie das hochfahrende Windowsbetriebssystem von seiner Begrüßungsouvertüre. Sie kamen als Miniaturprinzessinnen zur Welt, erreichten bereits in der Unterstufe das erste, fohlenhafte Stadium der Vollendung und wuchsen gleichmäßig in die Frau hinein, die sie einmal werden sollten. Ihre Entwicklung vollzog sich routiniert und fehlerlos, als hätten sie die Aufgabe des Älterwerdens schon etliche Male zuvor bewältigt. Jene Pubertätsprofis unterschieden sich auf den ersten Blick von den Dilettanten. Sie hatten das gepflegte, schulterlange Haar erwachsener Frauen, trugen ihre Hüfthosen, breiten Gürtel und knappen Hemdchen mit wohltemperierter Lässigkeit und ließen glatte Kinderhaut und aufgeworfene Kindermünder zu Mädchenhaut und Mädchenmündern werden, ohne dass Pickel, Schweißausbrüche oder Wachstumslaunen zu irgendeinem Zeitpunkt die Harmonie ihrer Erscheinungen gestört hätten. Die Aura hochnäsiger Sauberkeit, die sie umgab, ließ sich weder von Regengüssen noch von feuchter Sommerhitze beeindrucken. Alles zierte die Prinzessinnen, nasse Haare, rote Nasen und selbst die Staubschicht, die sich im Sportunterricht beim Sprung in die alte Sandgrube über alle Körper legte.

Weil sie daran gewöhnt waren, alles umsonst zu bekommen, besaßen diese menschlichen Rehkitze keinen Ehrgeiz. Männliche Mitschüler bemühten sich um sie, auch jene, zu denen eine Freundin mit Innenleben besser gepasst hätte. Manche betrieben leichten Sport oder lasen leichte Literatur. Ihre Schulnoten waren mittelmäßig; als Lieblingsfächer nannten sie Deutsch oder Kunst und Biologie, ohne erklären zu können, was ihnen daran gefalle. Während der Oberstufenjahre standen sie bereits im Zenit des Lebens. Sie besaßen die stärkste Ausstrahlung, empfingen ein Höchstmaß an Bestätigung und erlebten Tag für Tag eine Art farblosen Wohlbefindens, um nicht zu sagen: Glück. Nach dem Abitur würde es gemächlich abwärts gehen. Erfreulicherweise war ihnen der Spannungsbogen ihrer persönlichen Geschichte egal. Vielleicht ahnten sie etwas. Vielleicht rührte von jener Ahnung der melancholische Hauch, der ihren anmutigen Bewegungen etwas Träges, der Trägheit etwas Tragisches und der Tragik besondere Anmut verlieh.

Mit dieser Beschreibung sind alle Eigenschaften genannt, die Ada nicht anhafteten. Sie war das Gegenteil einer Prinzessin, sofern Prinzessinnen ein Gegenteil besitzen. Seit Ada im Alter von zwölf Jahren auf den Gedanken verfallen war, dass Sinnsuche nichts als ein Abfallprodukt der menschlichen Denkfähigkeit sei, galt sie als hochbegabt und schwer erziehbar. Als ihr neuer Klassenlehrer sie aufforderte, sich den anderen Schülern vorzustellen, nannte sie ihren Vornamen und wusste sonst nichts zu berichten. Er bat um ein paar persönliche Sätze, um irgendeine Aussage, die Gültigkeit für sie besitze, und verstand ihr Lachen nicht.

Der Schulwechsel bedeute einen Glücksfall für sie, sagte Ada schließlich, sie habe sich auf Ernst-Bloch gefreut. Damals hätten ihre Eltern eine Einschulung auf dem teuren Privatgymnasium nicht erlaubt.

Sie wusste ›damals‹ auf eine Art zu sagen, die nach lang zurückliegenden Epochen klang.

»Und was«, fragte eine Prinzessin mit spiraligen Locken, »ist an Ernst-Bloch das Besondere?«

»Mir war so, als sei dies ein Ort für wirklich kluge, wirklich kaputte, wirklich kategorische Menschen.«

Einige johlten Zustimmung, andere schnitten Gesichter. Die Prinzessinnen lehnten sich zurück und zogen mit beiden Händen das lange Haar hinter den Rücken hervor, um es über die Stuhllehne zu werfen. Ada hatte sich wirklich auf Ernst-Bloch gefreut. Die Schule stand in privater Trägerschaft und gewährte auch jenen verlorenen Geschöpfen, die sich hartnäckig gegen eine Teilnahme an der Kaffeefahrt namens ›glückliche Kindheit‹ zur Wehr setzten, eine letzte Chance auf Hochschulreife. Vorausgesetzt, ihre Eltern konnten es sich leisten.

›Mir war so, als sei.‹ Danach sprach Ada wenig im Jahr 2002. Im Unterricht meldete sie sich nie. Wurde sie aufgerufen, begann sie ihre Sätze nicht mit ›Meiner Meinung nach‹ oder ›Ich glaube‹. Sie sagte: ›Das ist Unsinn.‹ Oder: ›Es gibt nur eine Lesart für diese Stelle.‹ Oder: ›Es ist unerheblich, wer was und wie viel gewusst hat.‹

Diesen Stil behielt sie auch Höfi gegenüber bei. Höfi hatte sich einen Ruf als Bluthund erworben, der Dummheit auf hundert Meter gegen den Wind roch und gnadenlos verfolgte. Aus Misanthropie hatte er sich gegen eine akademische Karriere und für die Schullaufbahn entschieden. Seine Sympathie verhielt sich aufsteigend proportional zum Intelligenzquotienten eines Gegenübers. Wie alle frei kreisenden Felsbrocken im Universum besaß auch er einen warmen, flüssigen Kern, den er jedoch mit allen Mitteln der Ratio zu verteidigen wusste. Höfi vertrat die empirisch belegte Auffassung, dass selbst Sahne hart werde, wenn man sie lange genug schlage. Die Prinzessinnen hassten ihn. Er betrachtete sie niemals anders als mit ironisch verzogener Unterlippe.

Seit Anfang des neuen Schuljahres zeigte ihm sein träger Röntgenblick in jeder Geschichtsstunde bei der 10B ein neues Kuckuckskind, das starrköpfig in einem quirligen Nest bunter Jungvögel hockte. Eines Tages im September, draußen ging ein feiner Nieselregen nieder, baute er seine quasimodisch verwachsene Gestalt vor Ada auf, die am rechtshinteren Winkel der u-förmigen Tischformation saß, griff nach einem Kugelschreiber und richtete ihn wie ein Messer auf ihre Nasenspitze.

Er schätze Meinungsstärke, verkündete Höfi, aber es gebe auf alles im Leben mindestens zwei mögliche Perspektiven, von der keine absolute Geltung beanspruchen könne. Das solle sie sich mit diesem Stift hinter die Ohren schreiben und den Mund erst wieder aufmachen, wenn sie es begriffen habe. Ende der Durchsage.

Ada nahm ihm den Stift aus der Hand und passte ihn exakt in die Position ein, an der er zwischen Heft und Buch gelegen hatte. Dabei erwiderte sie geradeaus Höfis Blick, sah ihm aber nicht in die Augen, sondern fixierte jene kleine Stelle auf seiner Stirn, die nach glattem Durchmarsch einer Pistolenkugel sofortigen und sicheren Tod versprach.

»Sind Sie verheiratet?«

»Gewiss«, sagte Höfi, während die Stille im Raum ein totalitäres Ausmaß erreichte.

»Lieben Sie Ihre Gemahlin?«

»Gewiss. Sogar sehr.«

»Haben Sie jemals darüber nachgedacht, dass Sie diese Frau ebenso gut hassen könnten?«

»Nein.«

Ada senkte den Blick von Höfis Stirn auf ihre vernarbten Fingerspitzen. Im Unterricht vertrieb sie sich die Zeit, indem sie die Haut rund um die Fingernägel vom Fleisch kratzte und in schmalen Streifen bis zur Mitte der Finger abzog.

»Wenn das so ist«, sagte sie leise, »hören Sie auf mit dem Quatsch von zwei möglichen Sichtweisen auf alle Dinge.«

Höfi öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er nickte, als hätte er eine im Grunde nebensächliche, aber unverzichtbare und seit längerem erwartete Information erhalten, und setzte seinen Unterricht fort. Vierundzwanzig Stunden später wussten alle siebenhundertzweiundvierzig Schüler auf Ernst-Bloch, dass eine von ihnen gegenüber Höfi das letzte Wort behalten hatte. Es hieß, Höfi habe zum ersten Mal in seiner langjährigen Tätigkeit als tyrannischer Geschichtslehrer einen ebenbürtigen Gegner gewittert.

Ada konnte seit ihrem vierten Lebensjahr lesen und schreiben; sie hatte es sich mit Hilfe einer Buchstaben-Bild-Tabelle selber beigebracht. Mit fünf erreichten die Finger der rechten Hand mühelos das linke Ohr, wenn Ada den rechten Arm oben über den Kopf legte. Deshalb wurde sie vorzeitig eingeschult und erhielt das Amt der Jüngsten auf Lebenszeit. In der dritten Klasse war ein Junge der Auffassung gewesen, ein Kleinkind wie Ada könne keine Schulhofbande führen, und erlitt daraufhin eine leichte Nierenquetschung wegen eines Stiefeltritts. Ada hatte sich auf ihren quadratischen Ledertornister gestellt, um ihn im Rücken zu erwischen. Während der folgenden Wochen verbrachte sie die Vormittage in einem verglasten Nebenraum des Klassenzimmers, wo sie die Aufgaben der jeweiligen Schulstunde in Minutenschnelle löste und danach blassbunte Tiefseefische malte, im schwarzen Wasser, viele tausend Meter unter dem Meer.

Ernst-Bloch bewirtete so viele Sitzengebliebene mit Unterricht und einer letzten Chance, dass Ada für ein Gespräch mit Gleichaltrigen die Flure der unteren Mittelstufe hätte besuchen müssen. Da ihr schon die Schüler der höchsten Klassen infantil erschienen, verspürte sie nicht das geringste Bedürfnis danach. Keine Freunde finden konnte sie auch in der eigenen Jahrgangsstufe.

Die Pausen verbrachte sie auf dem Raucherhof, wo sie mit kunsthandwerklicher Präzision im Stehen Zigaretten drehte. Sie hielt sich am Rand einer immer gleichen Gruppe von Schülern verschiedener Klassen auf, stand einen halben Schritt außerhalb des Kreises, achtete darauf, dass sie von breit geplusterten Daunenjacken den Blicken des Aufsichtspersonals entzogen wurde, und hörte den Gesprächen zu. Jedes Mal, wenn sie an der Zigarette zog, schielte sie unter gesenkten Lidern auf die papierfressende Glut. Meist trug sie zu ihrer ausgewaschenen Jeans, deren fransig getretene Hosenbeine hinter den Fersen übers Pflaster schleiften, eine Jacke gleichen Materials, jedoch von dunklerem Farbton, was einem ästhetischen Verbrechen gleichkam. Kopf und Brüste, die ein Stück zu groß waren für Adas stabilen, aber kleingewachsenen Körper, hatten ihr, gemeinsam mit der Tatsache, dass sie selten sprach, den Spitznamen ›Marionette‹ eingetragen. Kaum jemand kannte ihren richtigen Namen, aber jeder wusste, dass sie Höfi mit wenigen Worten in die Schranken gewiesen hatte. Man ließ sie in Ruhe. Gelegentlich mischte sie sich grob ins Gespräch. Was für eine Rolle spielt es, ob Amelie das gewollt hat. Wenn wirklich jemand den Fahrradkeller für eine Party bräuchte, würde er ihn bekommen. Selbstverständlich wird Schröder wiedergewählt.

Die scheißt auf alles. Knapper ließ sich die Persönlichkeit der Neuen nicht in Worte fassen. Anerkennung schwang in dieser Wendung mit und wenig Sympathie. Man wusste nicht recht. Die Prinzessinnen aller Stufen hielten sich von ihr fern und sortierten sich auf dem Raucherhof so lange um, bis keine von ihnen Ada im Rücken hatte. Genau wie auf ihrer alten Schule stand Ada umgeben von einem Haufen Leute, die sie nicht das Geringste angingen, und spürte genau, dass alles beim Alten geblieben war. Es war albern gewesen, etwas anderes zu erwarten.

Denken heißt Beschreiten. Ernst-Bloch und das Prinzip Hoffnung

Bald nach Adas Neuanfang fand auf Ernst-Bloch die Hundertjahrfeier statt. In der hochgewölbten Aula trafen sich fast tausend Personen, Schüler, Lehrer, Internatspersonal, Schulträger, Ehemalige und Mitglieder des Fördervereins. Das Licht von der gewaltigen Glasrosette über dem Eingangsportal stand schräg zwischen den kathedralen Mauern, fleckte Rücken und Schultern mit bunten Reflexen und umgab die Versammlung mit einer Aura von Andacht und Abendmahl. Man saß hüstelnd beieinander wie die Gemeinde im Gottesdienst. Der Namensgeber der Schule hatte einmal geäußert: Die Fälschung unterscheidet sich vom Original dadurch, dass sie echter wirkt.

Ein bisschen Unterstufe strich im Quartett, der Schulchor jazzte ein beherztes Geburtstagslied, zwei Schüler der dreizehnten Klasse spielten Beckett in freier Interpretation. Danach wurde dem dienstjüngsten Lehrer die Ehre zuteil, die Festtagsrede halten zu müssen. Groß und schlank kam er nach vorn aufs Podest, in feines Anzugschwarz gehüllt wie ein Konfirmand. Er zog den Kopf ein, um hinter dem Rednerpult nicht ganz so hünenhaft zu wirken, lächelte den Schülern zu, die umzingelt von Lehrern auf den mittleren Stuhlreihen saßen wie Schafe zwischen Schäferhunden, und strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht.

Ada saß in den unbeliebten vorderen Reihen, die immer als letzte von Nachzüglern und Außenseitern besetzt wurden, tuschelte mit niemandem und sah steil von unten zum Redner hinauf. In ihm erkannte sie einen der ersten Menschen, die ihr auf den Fluren von Ernst-Bloch begegnet waren. Noch vor den Sommerferien, unmittelbar nach ihrem Vorstellungsgespräch im Direktorenzimmer, war dieser Mann ihr in Begleitung von Höfi auf der Plexiglasbrücke entgegengekommen, die Altbau und Neubau miteinander verband und von den Schülern ›Lufttunnel‹ genannt wurde. Ihre Mutter hatte mit ihm zu schäkern versucht, und Ada hatte sich dafür geschämt. Sie erinnerte sich daran, wie er sich vorgestellt hatte: Smutek, Deutsch und Sport. Er sprach mit einem leichten Akzent, den sie nicht zuordnen konnte.

Seine Rede war in Hexametern verfasst und raffte hundert Jahre Schulgeschichte in zwanzig Minuten zusammen. Die Sprösslinge der Gründer-Familie, Enkel und Urenkel des alten Wolfram Gründer, saßen in erster Reihe und trugen das Lächeln stolzer Eltern zur Schau. Sie entstammten einer Industriellenfamilie, die mit der Zuckerherstellung ein so großes Vermögen angehäuft hatte, dass sich der alte Wolfram im Jahr 1902 einen Kinderwunsch erfüllen und eine Schule gründen konnte, auf die er selbst gern gegangen wäre. Smutek dankte dem lang verstorbenen Übervater für diese Idee, nannte die Nachfahren ›Zuckerpüppchen‹, weil es ins Versmaß passte, und erntete anhaltendes Gelächter aus den hinteren Reihen.

Nachdem einige ehemalige Schüler zu Nazizeiten für zweifelhaften Ruhm gesorgt hatten, erfolgte einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Umbenennung des Gründer-Gymnasiums. Der neue Namensgeber, hieß es, sei beim Festakt unter dem Motto ›Denken heißt Überschreiten‹ persönlich zugegen gewesen, wofür es allerdings keine Belege gab. Ernst-Bloch erhielt die staatliche Anerkennung, verblieb aber in privater Trägerschaft. Die Erbfolge der Gründer-Dynastie war bislang ungebrochen. Der amtierende Urenkel war ein spätes Kind, erst sechsundvierzig Jahre alt und nach Meinung der meisten Beteiligten zu jung für jede Art von Entscheidung. Seit er im Amt war, wurde von der ›Gründerzeit‹ mit nostalgischer Wehmut wie von etwas lang Vergangenem gesprochen.

Die folgenden Strophen waren dem scheidenden Direktor Singsaal gewidmet. Wie viele junge Lehrer verdankte Smutek ihm seine Einstellung. Mit Liebe und Hochachtung sprach er von Singsaals enormen Segelohren, mit deren Hilfe dieser stets über den Dingen zu schweben schien. Einige ältere Schüler klatschten spontane Ovationen, Singsaal lächelte gerührt, am Westrand der Aula wurde im Lager des neuen Direktors hartnäckig geschwiegen. Der neue Direktor hieß Teuter, war ein Studienfreund des jungen Gründers, klein wie ein Jockey und mit der Stimme von Kermit dem Frosch gesegnet. Seit seiner Wahl zum Direktor zogen sich tiefe Schützengräben durchs Lehrerzimmer. Hinter Teuter stand eine Fraktion von Pädagogen, die Singsaal nett fand, seinen Führungsstil aber zu lasch. Man brauchte nur die Zeitungen aufzuschlagen, um zu wissen, dass auf deutschen Schulen geraubt, erpresst, vergewaltigt und gefoltert wurde. Teuters Freunde wollten den Abnutzungserscheinungen am Wall zwischen Alltagsverhalten und Kriminalität entgegenwirken. Einen Schüler ernst nehmen, bedeutete auch, nicht blindlings an die Unschuld im Kinde zu glauben. Zwischenmenschliche Beziehungen lebten nun einmal von ihrem normativen Charakter – das klang vielleicht nicht hübsch, entsprach aber der Wahrheit, und daran würde niemand, vor allem nicht Leute wie Smutek oder Singsaal, etwas ändern können. Ada hatte Teuter auf den ersten Blick nicht ausstehen können. Er sah aus wie einer, der die Welt hasste, um sich selbst lieben zu können, und Ada hielt großen Hass ebenso wie starke Liebe für ein Zeichen von Dummheit.

Auf dem Weg vom und zum Rednerpult begegneten sich die beiden Männer und gaben einander die Hand. Dabei befand sich Smuteks Krawattennadel auf Teuters Augenhöhe: Ein goldfarben lackiertes Stück Blech mit Motto und Emblem der Schule. Denken heißt Überschreiten.

Die Zeit des Überschreitens, so Teuter auf dem Podium, sei in gewisser Weise inzwischen vorbei. Selbstverständlich habe jeder intelligente Mensch die Grenzen seiner Verstandeskraft immer wieder neu auszuloten und wenn möglich zu übertreffen. Überhaupt sei ›Übertreffen‹ das begrüßenswerte Dogma einer leistungswilligen Gemeinschaft. Innerhalb eines freiheitlichen und menschenwürdigen Staatswesens komme dem Begriff des Überschreitens jedoch eine veränderte Bedeutung zu. Eigentlich eine negative Bedeutung. Glücklicherweise! Denn könne es etwas Schöneres geben als das Leben in einem Staat, den man lieben und achten darf, anstatt ihn bekämpfen zu müssen? Solange Regeln wünschenswert sind, ist ihre Überschreitung unerwünscht. Teuter bevorzugte deshalb die Wendung ›Beschreiten‹, die er als zeitgemäß angepasste Deutung von ›Überschreiten‹ verstanden wissen wollte. Denken heißt Beschreiten. Nicht zu verwechseln mit ›Bestreiten‹.

»Denken heißt zwar auch Bestreiten«, sagte er hinterm Rednerpult, »ja nee, aber nicht im Unterricht!«

Im Westflügel der Aula wurde gelacht.

Auch Adas Mutter hatte gelacht, als Teuter während des Vorstellungsgesprächs denselben Vortrag mit demselben schmächtigen Witz abschloss. Geistreich!, hatte sie gerufen, das ist sehr geistreich!, und Ada war es nicht einmal gelungen, ihr deshalb böse zu sein. Aufrecht wie am Marterpfahl hatte die Mutter auf dem Besucherstuhl neben Teuters Bürotisch gesessen und ihre schwarz gefärbte Kleopatrafrisur alle zwei Minuten mit den Fingern glatt gestrichen. Ihr rechter Fuß schwebte am übergeschlagenen Bein in der Luft und zuckte im schnellen Takt der Herzschläge. Ada wusste, dass sie lieber geweint hätte als gelacht – geweint vor Erleichterung darüber, dass Teuter die Verbrechen ihrer Tochter mit der klinischen Nüchternheit eines Mannes behandelte, der Schlimmeres gewohnt ist. Die Froschstimme zog sich Gummihandschuhe über und implantierte Adas Untat in einen abstrakt-soziologischen Kontext, in dem sie gut aufgehoben war, beinahe schon einen Sinn ergab und vor allem nicht wieder vorkommen würde. Mit dem professionellen Optimismus eines Arztes redete Teuter von der Herrlichkeit des demokratischen Systems, in dem sie alle lebten und an das es junge Menschen zu gewöhnen galt wie Tiere an die Bedingungen eines kleinen, bequemen Naturreservats. Warum es in letzter Zeit vermehrt zu Ausschreitungen der zahmen Reservatsgäste gegen ihre Wärter oder Artgenossen gekommen war, wusste Teuter nicht zu sagen und wollte auch nicht viel davon sprechen, solange Ernst-Bloch von solchen Schrecknissen verschont blieb. Singsaal, der vor den Sommerferien offiziell noch im Amt gewesen war, hatte dabeigesessen, gutmütig gelächelt und Ada nach ihren Lieblingsfächern gefragt. Die Mutter suchte unablässig Teuters Blick, da dieser, soviel sie verstanden hatte, der Mann der künftigen Stunde war. Als er begann, Adas Schulwissen zu testen und diese nicht aufhörte, ihm mit glasigem Blick zwischen die Augenbrauen zu starren und mit langsamer Stimme wie zu einem Geisteskranken zu sprechen, hätte die Mutter ihr mit dem Hackenschuh vors Schienbein getreten, wenn Singsaals Gründerzeitschreibtisch nicht längst einer neuen Stahl- und Glaskonstruktion gewichen wäre, die keinerlei Sichtschutz bot. Die Mutter senkte den Blick auf den Boden, wo Computerkabel sich unter dem Tisch in einem Schlangennest ringelten.

In gleichgültigem Tonfall beantwortete Ada eine Frage nach der anderen, ohne sich den geringsten Fehler zu erlauben. Mit jeder neuen Antwort wuchs Teuters Missmut. Er war stolz auf seine Allgemeinbildung und brachte die Mutter mit herrischer Handbewegung zum Schweigen, als sie entschuldigend einwarf, Ada habe schon immer in allen Fächern die besten Noten erhalten. Singsaal machte ein bekümmertes Gesicht. Erst als Teuter von Naturwissenschaften und Literatur zur Religionskunde überging und Ada angab, die Bibel nie gelesen zu haben und deshalb keine Aussage darüber treffen zu können, was David und Goliath mit den gegenwärtigen internationalen Konfliktstrukturen zu tun hatten, atmeten alle gemeinsam auf. Die Mutter wusste, dass Ada seit ihrer Kindheit damit beschäftigt war, sämtliche Bücher im gemeinsamen Haushalt zu lesen. Es gab drei große Regale, die drei verschiedenen Personen gehörten: das erste Adas verstorbenem Vater, das zweite dem Stiefvater, der die Familie vor zwei Jahren verlassen hatte, und das dritte der Mutter selbst. Die Bibel stand im ersten Regal unten rechts. Ada hatte sie genauso gelesen wie den Rest.

Teuter beendete das Gespräch mit einem milden Kurzvortrag über die Fortgeltung der Bibel als Fundus westeuropäischen Kulturmaterials, über ihre Bedeutsamkeit für jeden philosophischen, ja, selbst atheistisch begründeten Diskurs, der sich doch immer nur über eine Negierung der Gottesfunktion etablieren könne, wechselte daraufhin einen kurzen Blick mit Singsaal und hieß Ada herzlich auf Ernst-Bloch willkommen. Das Prinzip Hoffnung, schloss er, gelte auf dieser Schule mehr als an jedem anderen Ort.

Im Lufttunnel waren sie Smutek und Höfi begegnet. Der Erste trug kurze Hosen, Laufschuhe und einen Salzrand getrockneten Schweißes über der Oberlippe, der Zweite ging gebückt mit auf dem Rücken verschränkten Händen und verschwand fast in seinem olivgrünen Cordanzug. Neue Schülerin?, hatte Smutek gefragt, woraufhin die Mutter kokett zur Decke sah: Mein lieber Herr, so jung bin ich nun auch nicht mehr. Sie lachten gezwungen, schüttelten Hände, Smutek, Deutsch und Sport, und setzten ihre verschiedenen Wege fort.

»Ja nee, das Prinzip Hoffnung«, sprach Teuter ins Mikrophon, »gilt heute wie vor hundert Jahren auf dieser Schule mehr als an jedem anderen Ort.«

Der Applaus spülte ihn zurück auf seinen Platz, wie die Flut ein Schiff in den Hafen trägt. Weil er genau vor Ada saß, trafen sich ihre Blicke versehentlich. Am Abend des Tages machte Ada eine der seltenen Eintragungen in ihr Tagebuch, das ›An Selma‹ hieß:

»Kein Philosoph würde ein dickes Buch schreiben, wenn er im Vornherein wüsste, auf welche Weise er später zitiert werden wird. Als man dem Menschen verbot, in die Zukunft zu blicken, hatte man nur sein Bestes im Sinn. Da ich durch die Gegenwart nach vorne sehen kann wie durch ein feines Moskitonetz, werde ich mein Leben lang nichts von Bedeutung tun.«

Smutek erinnert sich an ein paar Erinnerungen

Für Smutek hatte das Schuljahr nicht schlecht begonnen. Zwar trug die Aussicht, ab sofort unter einem Mann zu arbeiten, den die Schüler abwechselnd ›Töter‹, ›Täter‹, ›Teutone‹ und ›Euter‹ nannten, nicht zur Verbesserung seiner Stimmung bei, die am Ende der Sommerferien gewohnheitsgemäß miserabel war. Aber Smutek fühlte sich glücklich und konnte die Gründe benennen. Seine elfengleiche, kapriziöse Ehefrau hatte ihre hartnäckige Weigerung aufgegeben, jemals wieder in polnischen Land-, See- oder Luftraum einzudringen, und ihn im Sommer für vier Wochen nach Masuren begleitet.

Bald nach seiner Anstellung auf Ernst-Bloch hatte Smutek irgendwo zwischen Olsztyn und Ostróda ein Häuschen gekauft, ganz aus Holz und dicht am Wasser, und war seitdem Jahr für Jahr allein hingefahren, um sich mit Schwimmen, Lesen, Renovierungsarbeiten und sehnsüchtigen Gedanken an seine Frau die Zeit zu vertreiben. Unermüdlich hatte er sich dem Ausbau seines kleinen Palastes gewidmet, ohne zu wissen, ob die Schwelle jemals vom Fuß seiner Königin überschritten würde. Er kannte Vögel, die ein Frühjahr lang mit aller Kraft und Kunst kugelförmige Nester errichteten, neben denen sie dann ängstlich hockten, während fette Angebetete darin wüteten, mit Flügeln schlugen und die Schnäbel in die empfindlichen Geflechte stießen, bis alles zerrupft und verkommen auseinander hing. War das Nest zerstört, wurde der Baumeister sogleich verlassen. Hielt es stand, bekam er eine Chance.

Smutek stieg Hitze ins Gesicht, wenn er an diese Vögel dachte. Ihm war es noch schlechter ergangen – seine Angebetete hatte sich bis zu diesem Sommer nicht einmal zu einer Begutachtung herabgelassen. Stattdessen hatte sie ihren beißenden Spott über ihm ausgegossen. Er sei sich also nicht zu schade, als Sommerfrischler in ein Land zu fahren, das ihren Vater getötet und den seinen mit Füßen getreten habe? In ein Land, das ihn, Smutek, im Alter von achtzehn Jahren inhaftiert und anschließend rausgeworfen hatte? Bist du so ein großer Holzkopf, Smutek, dass du das alles vergessen kannst? Oder stellst du deinen Liegestuhl am liebsten auf Familiengräber?

Er hatte es aufgegeben, ihr erklären zu wollen, das ein einziger Satz seine Freundschaft zu ihrem gemeinsamen Heimatland gerettet hatte; ein Satz, den sein Vater die Treppe hinunterrief, als Smutek im zarten Jünglingsalter eines Nachts von Uniformierten aus dem Bett geholt wurde.

»Mach dir nichts daraus, Sohn! Jeder gute Pole geht einmal im Leben ins Gefängnis, weil er im Kampf fürs Vaterland vom eigenen Vaterland verhaftet wird.«

Dabei hatte Smutek nicht einmal gekämpft, sondern gerade ein völlig unpolitisches Studium aufgenommen, Physik und Mathematik. Draußen hielt der Januar die Stadt Krakau im Griff, weggeworfene Weihnachtsbäume froren am Boden fest. Das Gefängnis war nicht beheizt.

Smutek hatte nichts vergessen, im Gegenteil besaß er das Gedächtnis eines Elephanten und erinnerte sich an alle Einzelheiten. Er wusste noch, wie er ein halbes Jahr später auf den endlos weiten Straßen Westberlins gestanden hatte und wie ihm diese Straßen nach einem Leben in Krakaus Gassengewirr, nach sechs Monaten Gefängniszelle und achtundvierzig Stunden im käfiggroßen Laderaum eines Transporters als trockene Flussbette in einer gigantischen, steinernen Landschaft erschienen waren. Lange hatte er still auf einer Stelle ausgeharrt und sich über die geringe Körpergröße der Passanten gewundert, die achtlos an ihm vorbeiflanierten und ihn nicht mehr beachteten als die Bäume in der Allee. Genau wie die Bäume konnte er ihnen von oben auf die Köpfe gucken. Er hatte sich die Deutschen größer vorgestellt. Zum letzten Mal hatte er als Kind welche gesehen, sie machten Urlaub auf einem Campingplatz in Masuren, gar nicht weit von dem Ort, an dem heute sein Häuschen stand, und sie waren riesengroß. Wie alle anderen Kinder hatte Smutek Angst vor den Deutschen, vor ihrer Kraft, ihrer Brutalität und ihrer ›Intelligenz‹, von der manchmal am Abendbrottisch die Rede war und die er für eine besonders moderne und gefährliche Waffe hielt. Als er auf dem Campingplatz unversehens diesen beiden Prachtexemplaren gegenüberstand, verfiel er in Schreckstarre und duckte sich klein im Gras zusammen, während die Deutschen über ihm turmhoch in den Himmel ragten. Sie sprachen ihn an mit ein paar Brocken Polnisch, die er in seiner Panik nicht verstand, und zwängten ihm Bonbons in die fest geschlossene Faust. Kaum waren sie verschwunden, rannte er schreiend zum elterlichen Zelt. Mama! Tata! Niemcy dali mi cukier! Die Deutschen haben mir Zucker gegeben!

Vielleicht hatte er in Vorausahnung seiner bevorstehenden Abschiebung in die Bundesrepublik zu wachsen begonnen. Kaum im Gefängnis, war Smutek in die Höhe geschossen, als wollte er durch die Zellendecke ins Freie brechen. Nach drei Monaten ragten Hand- und Fußgelenke aus der Häftlingskluft, und der Stoff spannte über Brust und Oberschenkeln. Smutek teilte sich den Knastalltag durch Trainingseinheiten aus Liegestützen, Klappmessern und Kniebeugen in verdauliche Happen und gehörte bald zu den Gefangenen, die niemals Ärger mit den Zellengenossen haben. Er überwand die eins neunzig und hörte erst wieder mit Wachsen auf, als sie ihn aus der Zelle holten. Smutek musste heute noch lachen, wenn er daran dachte, wie er auf dem Kurfürstendamm gestanden und sich gewundert hatte, dass die Deutschen nicht drei Meter hoch waren.

Berlin war heiß gewesen wie ein Backofen, und Smutek rannte tagelang durch die Stadt, als hoffte er, irgendwo auf einen Knopf zur Regulierung der Temperatur zu stoßen. Im Nordhafen Spandau stelle er Antrag auf politisches Asyl und hoffte auf Ablehnung, auch wenn er nicht wusste, was es bedeutet hätte, wie ein Bumerang in die Hände seiner Rausschmeißer zurückzukehren. In diesem Jahr aber verzeichnete Deutschland einen einzigartigen Tiefstand in der Zahl politischer Flüchtlinge aus den Ostblockgebieten, und so reichte es mühelos für ein kleines Asyl, das Smutek am einundzwanzigsten Juli erhielt, kurz nach dem spektakulären Papstbesuch in Polen und einen Tag vor Aufhebung des Kriegszustandes. Währenddessen wartete seine Familie in Krakau mit täglich steigender Unruhe darauf, dass er aus dem Militärgefängnis entlassen würde. Smutek, der sie nicht durch einen Kontaktversuch aus Westberlin in Gefahr bringen wollte, verstand viel zu spät, dass sein schlaues Schweigen die schlimmste Bedrohung darstellte. Schließlich erfuhr Smuteks Vater, der sich immer ein kämpferisches Kind gewünscht hatte, dass sein Sohn aufgrund einer tragischen Namensgleichheit mit irgendeinem Solidarność-Aktivisten inhaftiert worden war und sich inzwischen nicht mehr im Gefängnis befand. Der bloße Gedanke an eine solche Verwechslung offenbarte das ganze schreckliche Ausmaß göttlicher Possenreißerei, die ein Mensch im Leben zu erdulden hatte. Smuteks Vater war gläubiger Katholik. Er wurde krank.

Um mit dem Verlust seines gesamten bisherigen Lebens zurechtzukommen, hatte Smutek damals beschlossen, ein anderer Mensch zu werden. Er schwor den Naturwissenschaften ab und wollte jetzt Sport und Germanistik studieren. Für das eine brauchte er keine Sprache; für das andere fehlte sie ihm so vollkommen, dass er glaubte, es unbefangen versuchen zu können. Als Erstes musste er lernen, was das Wort ›Duldung‹ bedeutete. Er wurde Stammgast auf dem Ausländeramt der Universität. An irgendeinem beliebigen Werktag entdeckte er dort ein Mädchen, das er an der Kleidung sowie ihrer Art, sich ständig verstohlen umzusehen, sofort als Landsmännin erkannte. Als er sie auf Polnisch ansprach, schrak sie zusammen wie eine Ertappte, die seit Wochen auf den Moment der Entdeckung wartet.

Viel zu begeistert, um auf ihre abwehrenden Hände Rücksicht zu nehmen, verlangte Smutek, sie möge ihr fließendes Deutsch einsetzen und ihm bei der Verständigung helfen. So vernahm er aus ihrem schönen Mund, dass sein Status in diesem Land weder zum Arbeiten noch zum Studieren, noch zum Erwerb einer sonstigen Ausbildung berechtigte. Was ihm dann bliebe? Czekać, warten, sagte seine künftige Frau. Warten, meinte Smutek, sei ebenso wenig eine Tätigkeit wie Bleiben oder Wohnen, und im Übrigen wisse er nicht, worauf. Man gab ihm recht. Ob er als Gasthörer ein paar Seminare besuchen dürfe? Das sei mit dem jeweiligen Professor zu klären. Smutek fasste, überwältigt vom Glück, seine künftige Frau an den Händen: Słyszysz, hörst du, ich kann zur Uni gehen. Da war er achtzehn und sie zwanzig.

Sie stammten beide aus Krakau, und das war in Smuteks Lage Grund genug, an die Macht der Vorsehung zu glauben. Er war Asylant, sie Exilantin, was ihm zuerst fast dasselbe schien, während er Jahre später begriff, dass zwischen diesen beiden Spezies ein himmelweiter Unterschied bestand, der sie für immer voneinander trennen würde. Frau Smutek in spe hasste die Volksrepublik. Sie sah aus wie eine weißhäutige Carmen und führte heißes Blut in den Adern. Ihren alten Vater hatten die Teufel in Warschau einem polnischen Winter zum Fraß vorgeworfen, so dass er langsam in seiner Zelle zugrunde gegangen war. Er war Gewerkschaftsmitglied gewesen und hatte den erbarmungslosen Hass auf ›die russische Leiche Polens‹ an seine Tochter vererbt, die ihn der Vollendung entgegentrieb. Als sie von Smuteks Gefängnisaufenthalt erfuhr, leuchtete das Schwarz ihrer Augen wie unter plötzlichem Licht. Ihre Begeisterung über seine Inhaftierung erschreckte ihn anfangs wie ein jähes Aufblitzen von Wahnsinn an einem rundum gesunden Menschen. Im Lauf der Zeit gewöhnte er sich daran und erkannte Teile davon in den Mienen der unterschiedlichsten Personen wieder, wenn sie von seiner Inhaftierung erfuhren, bis schließlich die Große Wende die Fronten verwischte und die Idee verblassen ließ, dass jedes Opfer der Bolschewiken ein notwendiger Freund der frei und gerecht denkenden Westler sei.

Schon damals sprach die künftige Frau Smutek davon, nach Abschluss ihres Biologiestudiums noch viel weiter gen Westen ziehen zu wollen. In den Unterrichtsstunden am polnischen Institut, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestritt, formte sie die Wörter ihrer Muttersprache überdeutlich und langsam, als wollte sie sich an den Lauten Zähne und Lippen nicht schmutzig machen, und behandelte die Grammatik mit der gestelzten Vorsicht eines Naturschützers bei der Entsorgung von Sondermüll. Von ihr lernten die Schüler in atemberaubender Zeit. Smutek, der sich keinen Sprachkurs am Goethe-Institut leisten konnte, saß dabei und versuchte, ihre Polnischstunden in umgekehrter Richtung nachzuvollziehen. An den Nachmittagen drillte sie ihn weiter mit militärischer Strenge, und nach einem knappen Jahr sprachen sie deutsch miteinander.

Selbstverständlich war Frau Smutek nicht so dumm zu glauben, dass die Menschen im Westen besser seien als jene im Osten. Vielmehr ging sie davon aus, dass die Anordnung von gut und böse auf dem Globus allein dem Geschäftsverteilungsplan des Schicksals obliege, womit sie nicht sagen wollte, dass alles vom Zufall abhänge, sondern dass Gott komplizierter als eine Behörde sei. Den Mauerfall verbrachte sie stoisch im Zimmer über ihrer Diplomarbeit, während Smutek mit den anderen Karnevalisten durch die Straßen taumelte und das Ergebnis einer politischen Absprache hochleben ließ, die er nicht verstand. Wenn im Verlauf einer Diskussion der politische Dämon in ihr erwachte, nannte sie den Begriff ›friedliche Revolution‹ ein Oxymoron und begann davon zu sprechen, dass ohne Blutopfer der infizierte Teil einer Bevölkerung nicht ausgetauscht werden könne, weshalb es nichts als eine Lachnummer sei, die gleiche alte DDR plötzlich ›NEUE Bundesländer‹ zu nennen. Sie wollte nach Westdeutschland, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und den ›Ostblock-Ostbluff‹ zu bringen, und als sie sich bereit erklärte, bis zum Ende von Smuteks Ausbildung mit ihm in Berlin zu bleiben, wusste er, dass sie ihn liebte. Weil ihm nach der politischen Wende die Abschiebung drohte, heiratete sie ihn, und mit ihrer Arbeit finanzierte sie sein Lehramtsstudium.

Der Bundeshauptstadt begegneten sie on the road: Während sie von Bonn nach Berlin umzog, bewegten Smutek und Frau sich im Führerhaus eines Speditionslastwagens in entgegengesetzter Richtung. Der alte Singsaal hatte nicht einsehen wollen, einen polnischen Deutschlehrer nur deshalb nicht einzustellen, weil er Pole war, und hatte Smutek aus diesem Grund allen anderen Bewerbern vorgezogen. Die Seligkeit seiner Frau milderte Smuteks Abschiedsschmerz. Während für ihn Berlin zu einer zweiten Heimat geworden war, zu einer Stadt, die ihm alles beigebracht hatte, was er im Leben zu brauchen glaubte, erblickte Frau Smutek in Berlin einen Cerberus des Ostblocks, wohingegen Bonn das zarte Herz jenes leise verendenden Reichs war, in das es sie seit fünfzehn Jahren zog. Das Reich hieß ›Westen‹ und erlebte gerade seine Abschaffung zugunsten eines grenzenlosen geographischen Wolpertingers, in dessen Bauch die Nationen Europas zu Brei verdaut werden würden. Frau Smutek hoffte mit ganzer Kraft, ein Stück westlichen Geistes möge in den Aufbewahrungstempeln der früheren Kapitale überdauern, wenigstens noch ein paar Jahre, vergessen und geschützt hinter der Spielzeug-Skyline am Rhein, die man so gut aus den täglichen Nachrichten kannte.

Smutek bereute seine Entscheidung nicht. Zwar ließ er in Berlin einen großen Freundeskreis und eine semiprofessionelle Basketballkarriere zurück, aber gleichzeitig verehrte er seine Frau und wollte sie an einen Ort bringen, an dem sie glücklich werden konnte. Er würde ihr nie vergessen, was sie für ihn getan hatte und dass sie nie auf die Idee gekommen war, ihn auf dem Höhepunkt seiner Träume und Erwartungen zugunsten eines anderen zu verlassen. Wie Schneewittchen war sie aus Schwarz, Weiß und Rot erbaut, die Blicke der Männer schossen harpunengleich in ihre Richtung, sobald sie vor die Tür trat. Sie hatte niemals einen anderen angesehen.

Der Streit um das Häuschen in Masuren war der erste Konflikt in ihrem langen Zusammenleben, in dem Smutek nicht nachgeben wollte. Im Verlauf jeder Auseinandersetzung gelangten sie an die immer gleiche Stelle, an der Smutek auf Polnisch rief: »Das Kriegsrecht ist seit zwanzig Jahren nicht mehr in Kraft, General Jaruzelski wurde Vater des Runden Tischs, und deine Volksrepublik ist längst eine Demokratie!«

Daraufhin pflegte Frau Smutek zu lachen, wobei sie ihren großen Mund schamlos dehnte, und Smutek fuhr allein nach Polen. Er kam unglücklich in Masuren an, pflegte unglücklich sein kleines Haus, das immer schöner wurde, und kehrte jedes Mal früher als geplant nach Deutschland zurück.

In diesem Jahr war es anders gewesen. Frau Smutek hatte gelacht, ihren Mund gedehnt und sogar mit dem nackten Finger auf ihn gezeigt. Als er aber den Kofferraum seines Volvos mit einer Reisetasche und ein paar Eimern Parkettlasur auf Zitronenbasis belud, stand sie plötzlich neben ihm. Ohne ein Wort rückte Smutek die Lackeimer beiseite und schob ihren kleinen Koffer auf seine Tasche. Während der langen Fahrt sprachen sie nicht miteinander. Frau Smutek starrte die ganze Zeit aus dem Fenster, an dem brachliegende Felder, unverputzte Häuser und von Müll verunstaltete Straßenränder vorbeizogen, und Smutek schämte sich für alles, was sie sah, als wäre er persönlich am Zustand ihres Heimatlands schuld. Er konnte nicht aufhören, an das Vogelweibchen zu denken, das mit Schnabel und Flügeln ein kunstvolles Kugelnest zerstört. Als er das Auto im Leerlauf auf sein abschüssiges Grundstück rollen ließ und unter dicht belaubten Obstbäumen zum Stehen brachte, schwitzte er trotz der kühlen Abendstunde.

Frau Smutek umrundete das Haus, stiefelte durch die hochgeschossene Wiese, befühlte geschlossene Fensterläden, schlug leicht mit den Händen gegen das Holz der Wände und roch am bemoosten Regenrohr. Als sie wieder neben ihm stand, wies sie mit ausgestrecktem Arm auf das Gebäude, das mit zugekniffenen Türen und Fenstern niedergekauert im hohen Gras hockte.

»Otwórz oczy, mały domku«, sagte sie. »Jesteśmy.«

Mach die Augen auf, kleines Haus, wir sind da. Von ihr gesprochen, klang der Satz wie die erste Zeile eines Gedichts.

Die folgenden vier Wochen waren von einem blanken, blauen Himmel überspannt. Frau Smutek ging barfuß, trug abgeschnittene Jeans und badete mehrmals täglich im See. Ihr schneewittchenweißer Körper überzog sich mit einer cremefarbenen Tönung, und das glatte schwarze Haar wuchs noch schneller als sonst. Smutek fing Fische und briet sie auf dem Grill. Vierzehn Tage später verlangte sie nach Ausflügen in die Umgebung, und Smutek kutschierte sie bereitwillig überallhin. Ab und zu sprachen sie Polnisch miteinander, und es bot Raum für Späße, viel mehr Platz für Gelächter, als das Deutsche es jemals vermocht hatte. Am Ende der Ferien hatten sie sich für den Herbst verabredet. Zugedeckt mit den Spiegelbildern bunter Baumkronen, waren Masurens Seen fast am schönsten.

Smutek verließ die Wohnung, fand seinen Wagen treu wartend am Straßenrand und fuhr mit dem sicheren Gefühl zur Arbeit, ein glücklicher Mann zu sein. Solche Momente gibt es. Sie sind nicht weniger trügerisch als Phasen grundloser Schwermut.

Über den Konsum von Büchern

Seit sie lesen konnte, las Ada viele Bücher. Das Lesen war weder Arbeit noch Hobby, es folgte keinem bestimmten Interesse. Lesen war ein Zustand, in dem die Zeit verstrich, weil sie nicht anders konnte, während Adas Verstand in Nahrung eingelegt wurde, so dass seine hektische Gier in ein gleichmäßiges Einsaugen und Verwerten überging. In der Zwischenzeit durfte das Gemüt aufatmen und für ein paar Stunden die Füße hochlegen, wie ein erschöpfter Maschinist, der rund um die Uhr eine gefährliche Hochleistungsapparatur zu bedienen hat. Ada las, wie man Stämme in ein Sägewerk schiebt. Weil sich von den dicken, harten Klötzen am längsten zehren ließ, mochte sie vor allem die Literatur des vorletzten Jahrhunderts und alles, was vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden war. Neuere Werke hielt sie für Ablenkungsmanöver von den großen Gegenständen, sie waren leicht und süß, etwas wie Popcorn, das man konsumieren muss, während der Kopf mit anderen Dingen beschäftigt ist. Dies galt vor allem für die Bücher deutscher Autoren, jedoch nicht für Arno Schmidt, dem zu Ehren Ada von Zeit zu Zeit einen Mondvergleich ersann und in ihr selten genutztes Tagebuch eintrug. An Selma: Der Mond, matschig wie ein Klecks Kartoffelpüree, von Kinderhand in den Himmel geschmiert. Der Mond, ein unregelmäßig gebackenes Fladenbrot. Ein Mond von der Sorte, die niemand bemerkt, eine Herde Wolken an sich vorbeiwinkend.

Den Ersten Weltkrieg stellte Ada sich als einen schwarzen Mantel vor, der für vier Jahre über den Kontinent geworfen worden war und in dessen Schatten sich Unsägliches ereignet hatte. Als er sich wieder hob, ließ er die Welt in Chaos und Umsturz zurück. Der Zweite Weltkrieg aber war ein Abgrund, in den der Geschichtsstrom, aus historischen Höhen herabbrausend, unentwegt stürzte, anstatt sich in den Ebenen der jüngeren Vergangenheit zu drosseln und zu weiten, um schließlich sanft die Arche Gegenwart dem Meer der Zukunft entgegenzutragen. Auf der hiesigen Seite des Abgrunds verlief ein trockenes Flussbett im Sand, bis hier und dort das Wasser aus dem Boden drückte, erst ein Rinnsal, dann einen Bach ergab, der schließlich, gut befestigt und kanalisiert, genug Wasser führte, um achtzig Millionen Demokraten in Einer- und Zweierkanus flussabwärts paddeln zu lassen. Es war schön, stromaufwärts zu gehen, sich am trockenen Rand des Abgrunds niederzulassen und eine lange Angel auszuwerfen. Die Fische, die Ada aus den vis-à-vis fallenden Massen fing, waren mächtig und bizarr wie Urzeitviecher. Sie waren von Dostojewski, Balzac oder Mann.

In der Unterstufe hatte Ada eine Freundin, der sie alles weitererzählte, was sie las. Die Freundin hieß Selma, ging in die Parallelklasse und stammte aus Bosnien-Herzegowina, an das sie sich nur noch in den Kategorien von Pflaumenmus und Sonnenschein erinnerte. Sie lebte in Deutschland, seit der Krieg ihr sommerlich duftendes Heimatland in eine Bluthölle verwandelt hatte. Selma besaß einen Hund, mit dem sie und Ada an den Nachmittagen quer durch die Wälder des Kottenforstes zogen, meist auf der Fährte einer Gruppe Rehe oder einer Wildschweinrotte, bis der Hund sie gegen Abend, am ganzen Körper mit kleinen Zweigen und Blättern besteckt, nach Hause brachte. Während sie gingen, redete Ada, und Selma hörte zu. Sie interessierte sich für alles, für jede Art von Geschichten, die Ada zu berichten wusste. Eine unvollständige Nacherzählung der Buddenbrooks mit vielen logischen Löchern war ebenso viel wert wie eine ganze Serie Liebeständel aus der Menschlichen Komödie, ein Stakkato Zweig’scher Novellen oder ein paar Andeutungen über das Wesen von Zeit und Raum.

Wenn eine von Selmas zahlreichen familiären Verpflichtungen verhinderte, dass sie sich trafen, schrieb Ada Briefe, aus denen mit der Zeit ein Tagebuch wurde, das ›An Selma‹ hieß. Auf literarische Nacherzählungen folgten Berichterstattungen aus der Welt der Gedanken und Gefühle. Ada teilte mit, dass sie nichts Schönerem in der Welt begegnet sei als Selma, dass die Bäume des Mischwalds die Köpfe wandten, um ihnen nachzusehen, dass der ganze Kottenforst sich vor ihnen verbeuge, die Vögel ihren Gesang für sie änderten und Ada stolz und glücklich sei, Selmas geistige Landschaften mit ihren Geschichten für eine Weile besetzen zu können. In ein paar Jahren, verhieß Adas Tagebuch, würde es andere geben, die ihre Bewunderung geschickter auszudrücken vermochten als Wald, Vögel und sie selbst. Bis dahin aber wolle sie Selma für sich allein. Das sicherte die Freundin ihr schriftlich auf einer freien Seite des Tagebuchs zu und gestattete es fortan, dass Ada auf Wanderungen und im Schulklo den Arm um sie legte und sie auf den Mund küsste.

Aus Adas Unterlagen ergab sich, dass sie Selma im Ganzen über dreihundert Bücher, Novellen und Kurzgeschichten nacherzählt hatte, bevor es zum Bruch kam. Als Mutter und Stiefvater einen Sommerurlaub in den Bergen ankündigten, verlangte Ada, bei Selma bleiben zu dürfen, die sie ›ihre Frau‹ nannte. Wenig später fand sie sich auf der Terrasse einer Hütte wieder, blickte auf die Felsrücken der umstehenden Giganten, die sich viel zu dicht vor ihr aufbauten, las Bücher und hörte ein Lied auf einer Kassette, die sie dem Autoradio des Stiefvaters entnommen hatte. Wenn das Lied zu Ende war, spulte Ada das Band zurück und hörte es von neuem. Unmöglich zu beschreiben, was diese Musik in ihr auslöste. Sie lieferte den Soundtrack zu Adas Verzweiflung, zur Sehnsucht nach Selma und dem aufgestauten Druck zahlloser unerzählter Geschichten, die dem Vergessen erlagen und dabei um sich schlugen und pausenlos schrien.

Das Lied hatte einen Refrain, den Ada, des Englischen noch weitgehend unkundig, als ›Sir Don Camisi, to me‹ verstand. Einige Zeilen weiter tauchte die Wendung ›I love you‹ auf. Ihre Briefe an Selma, die der Stiefvater einmal in der Woche zum örtlichen Postamt brachte, baten darum, nicht vergessen zu werden, erflehten Fürsorge für das Tagebuch, das in Selmas Obhut zurückgeblieben war, fassten ein paar jüngst gelesene Geschichten in wenigen Sätzen zusammen und erzählten vor allem Dinge, die das Schweigen der umliegenden Bergriesen ihr eingeflüstert hatte. Sie waren mit ›Don Camisi‹ unterschrieben. Das war der Name der Einsamkeit.

Eine neue Selma war nicht aufgetaucht und auch sonst niemand, der zuhören wollte. Ada hatte gelernt, Geschichten zu lesen, ohne sie nacherzählen zu dürfen. Ihr Tagebuch führte sie weiter, schaffte aber nicht mehr als ein paar Zeilen in der Woche.

Für einen ungestörten Ablauf aller geistigen Prozesse schloss Ada sich meistens im Badezimmer ein. Auf dem Weg dorthin blieb sie vor den drei Regalen im Wohnzimmer stehen. Den Beständen ihres früh verstorbenen Erzeugers entnahm sie einen der dicken Schmöker, die im Wesentlichen seine Hinterlassenschaft ausmachten. Ihr Stiefvater, den Ada seit seiner letzten Beförderung nur noch den ›Brigadegeneral‹ nannte, hatte die Familienwohnung ohne seine Bücher verlassen; aus seinem Regal wählte Ada irgendein Werk über Zeitforschung, Astronomie, Philosophie oder Bismarck’sche Realpolitik. Schließlich griff sie aus der Sammlung von Neuzugängen nach ein oder zwei in Hochglanzpapier geschlagenen Werken mit bunten Titelbildern. Diesen Stapel trug sie schnell und leise über das Altbauparkett und die moderne Wendeltreppe in die obere Maisonetteetage, wo sich das Badezimmer befand.

Nach dem Auszug des Brigadegenerals hatte Adas Verwandlung in einen Trichter begonnen, in den man jedes Kümmernis hineinsprechen konnte, ohne dass ein einziger Tropfen danebengegangen oder je wieder zum Vorschein gekommen wäre. In diesen Trichter ergossen sich die Sprachausbrüche der Mutter, wann immer sie seiner habhaft werden konnte. In Adas Charakter waren nämlich ganze Reihen von aufdringlichen Ähnlichkeiten zum verflossenen General zutage getreten, und weil die beiden nicht miteinander verwandt waren, mussten diese Veränderungen auf ein Jahrzehnt seines Einflusses zurückgehen und sich auf psychischem Weg wie die Symptome einer Induktionskrankheit auf die Tochter übertragen haben. Einer solchen Entwicklung wortreich entgegenzuwirken kristallisierte sich als der Kern mütterlicher Restpflichten heraus, nachdem die übrige Erziehungsarbeit seit dem Verschwinden des zweiten Ehemanns sukzessive eingestellt worden war. Die Mutter wandte ihre ganze Kraft auf, um den General in der eigenen Tochter zu bekämpfen, und es war nicht einfach, dem zu entgehen. Adas Zimmertür stellte keine natürliche Grenze dar. Alle Türen in der Wohnung waren ohne Schlüssel, und so genügte ein Anklopfen, um nach den Regeln der Höflichkeit freien Eintritt zu erlangen. Jeder Versuch, sich gegen die seelische Verklappung zur Wehr zu setzen, wurde als neuerlicher Ausbruch der Infektion gewertet und ließ den Abladevorgang nahtlos in einen Angriffskrieg zu Adas eigenem Besten übergehen.

Eines glücklichen Tages hatte sie herausgefunden, dass die Badezimmertür eine Schranke darstellte, die von den Gesetzen der Privatsphäre zu einem Bollwerk verstärkt wurde. Ada begann, ihre Klogänge systematisch auszudehnen, bis sie endlich voll ausgerüstet für mehrstündige Aufenthalte hinter geschlossener Tür verschwand, die Heizung aufdrehte, sich in die trockene Badewanne legte oder auf den Toilettendeckel setzte und las. Gelegentlich kam die Mutter in die Maisonetteetage hinauf, klopfte an und fragte, wie lange es noch dauern werde. Eine Weile noch, antwortete Ada von drinnen, sie solle besser unten das Gästeklo benutzen. Weil die Mutter weibliche Schönheit nicht für ein Geschenk, sondern für eine Verpflichtung hielt, begrüßte sie es grundsätzlich, dass ein junges Mädchen den halben Tag vor dem Spiegel verbrachte und dass insbesondere die spröde Ada der Körperpflege plötzlich so viel Aufmerksamkeit schenkte. Eine Weile stand sie unschlüssig vor der Tür herum, dann klickten ihre hochhackigen Schritte die Wendeltreppe hinunter und verloren sich in den spiegelnden Weiten der Wohnetage.

Seitdem wurde Ada vor allem am Esstisch von verbalen Kreuzzügen heimgesucht, und ihr Lesepensum erhöhte sich auf drei bis vier Bücher pro Woche. Bevor jemand in Adas Leben auftauchte, der das Sägewerk in ihrem Kopf besser zu beschäftigen wusste, als ein Buch es jemals vermocht hatte, bevor diese Begegnung sie aus der Welt der Literatur in die so genannte echte Welt hinauszwang und bevor überhaupt alles sich änderte, musste noch ein Jahr vergehen, in dem eine Menge geschah, das Ada immer nur am Rand berührte.

Kommen Sie bitte mit in mein Büro. Ada hasst Dummheit

In diesem Schuljahr hatte Smutek keine eigene Klasse, dafür aber ein Jahr Zeit, um sich mental und praktisch auf den ersten Leistungskurs seiner Laufbahn einzustellen. Kurz vor seiner Pensionierung hatte Singsaal ihm für 2003 den Deutschleistungskurs der jetzigen zehnten Klassen zugeteilt und diesen Beschluss im ganzen Lehrerkollegium und vor allem bei Teuter bekannt gemacht. Am liebsten hätte Smutek ihm den Ring geküsst. Auf Ernst-Bloch war das erweiterte Leistungskursmodell der Mainzer Studienstufe schon zu einem Zeitpunkt verwirklicht worden, da es noch nicht einmal diesen Namen trug, so dass sich die Klassenverbände bereits in der elften Jahrgangsstufe auflösten und die Schüler in ihre Schwerpunktbereiche entließen. Für Smutek bedeutete das: ab nächstem Jahr sechs Stunden pro Woche mit einer Gruppe von sechzehnjährigen Schülern, Referate, Diskussionen, Kreatives Schreiben, Exkursionen, die traditionelle Orientierungsfahrt im ersten Halbjahr der Elf und schließlich die gemeinsame Vorbereitung aufs Abitur.

Drei Jahre waren eine lange Zeit. Sie würden sich kennen lernen, vielleicht irgendwie anfreunden. Manch einer würde ihn nicht leiden können, aber alle würden ihn endlich als das betrachten lernen, was er war: ein Mensch, ein Lehrermensch zwar, aber immerhin ein Mensch. Smutek litt darunter, immer nur eine Funktion sein zu müssen, die umschmeichelt oder betrogen, belagert, ausgenutzt oder bestochen wurde. Er wollte menschlichen Kontakt. Er hielt seine Schüler nicht für dumm und fühlte sich ihnen nicht wesentlich voraus, wenig an Alter, kaum an Klugheit, ein Stück an Erfahrung. Auch wenn er wusste, dass er mit seinen siebenunddreißig Jahren aus ihrer Sicht hoch wie ein uralter Baum aus einer Wiese ragte, deren Gräser und Blumen nach den Prinzipien des Entstehens und Vergehens ein bestimmtes Alter niemals überschritten; auch wenn eine zehnte Klasse immer eine zehnte Klasse war und weder alterte noch sich sonst wesentlich veränderte, während Smutek von der vergehenden Zeit Jahr für Jahr dem eigenen Tod ein weiteres Stück entgegengetragen wurde; auch wenn er auf der Uni gelernt hatte, dass es für einen Lehrer gefährlich war, sich mit den Schülern gemein zu machen, spürte Smutek doch mit Gewissheit, dass sie sich von gleich zu gleich am besten verstehen würden. Endlich würde er auf Konferenzen von ›seinem Kurs‹ sprechen können. Endlich würde er aufhören, wie ein Freischärler allen und keiner Klasse zu dienen. Endlich wäre er nicht mehr allein.

Smutek dachte schon jetzt darüber nach, welche Bücher er mit ihnen behandeln wollte, nahm sich vor, den Pflichtteil aus Effi Briest, Werther und Blechtrommel auf ein erträgliches Maß zu begrenzen und die Beschlüsse der Fachkonferenz dahingehend auszulegen, dass sich sprachliche, ethische und ästhetische Kompetenzen sowie wissenschaftspropädeutische Grundlagen am besten anhand des monströsesten Werks der deutschsprachigen Literaturgeschichte vermitteln ließen. Wenn sie das verstehen konnten, verstanden sie alles. Wenn sie das lasen, hatten sie alles gelesen. Wenn sie darüber sprachen, konnten sie über alles sprechen. Smutek war ein Jünger des Mannes ohneEigenschaften und fest entschlossen, ihn den Schülern zumindest in Auszügen vorzusetzen. Fragmente vom Wesen und Inhalt einer großen Idee.

Einstweilen ließ die Arbeit ihm Freiräume. Smutek hatte nicht vor, in jenen trägen Trott zu verfallen, der zweifellos den Urzustand der menschlichen Natur darstellte. Vielmehr plante er, das Nachschwingen der glücklichen Sommerferienwochen in den Aufbau einer freiwilligen Leichtathletikgruppe zu investieren. Er wollte den Sportsgeist der Schüler wecken, sie vorsichtig antrainieren, die Begabtesten fördern und spätestens in zwei Jahren mit einer kleinen Schar fröhlicher junger Menschen auf Wettkämpfe fahren. Es war an der Zeit, sich ein Stück eigener Lebenswelt auf Ernst-Bloch zu erobern.

Jeden Morgen schwenkte Smutek in der einen Hand die Aktenmappe, in der anderen die Sporttasche, indem er von der Haustür zum Auto ging. Er schwenkte sie auf dem Weg vom Lehrerparkplatz zum Schulgebäude und auch im Treppenhaus, wo er zwei bis drei Stufen auf einmal nahm, bis er Teuter in die Arme rannte. Der Direktor stand auf dem obersten Absatz gegen das Geländer gelehnt, als hätte er auf ihn gewartet.