Spielwelten zwischen Wunschbild und Warnung - Karsten Kruschel - E-Book

Spielwelten zwischen Wunschbild und Warnung E-Book

Karsten Kruschel

4,7

Beschreibung

Die Buchfassung der Dissertationsschrift von Karsten Kruschel erschien zuerst 1995 beim EDFC und war lange Zeit vergriffen. Die Arbeit analysiert Texte von Peter Lorenz, Rainer Fuhrmann, Reinhard Kriese, Gert Prokop, Michael Szameit, Alfred Leman, Karl-Heinz Tuschel, Gottfried Meinhold sowie Angela und Karlheinz Steinmüller. Das interessante Buch ist für den Liebhaber von Science-Fiction-Literatur, aber ganz besonders für den Leser phantastischer Literatur aus der DDR eine große Fundgrube. U. a. werden sämtliche Science-Fiction-Bücher der DDR aufgelistet. Stimmen zum Buch: - "... ebenfalls auf ausführlichen Fallstudien beruht Kruschels Arbeit. Mit dem Spannungsfeld von Eutopien (positiven Utopien) und Dystopien (negativen) thematisiert er einen Zentralbereich der DDR-SF." (Karlheinz Steinmüller in "Das Science Fiction Jahr 1996", S. 713) - "Karsten Kruschel refers to the ambivalence in ambiguous utopie in terms of 'the presence of a variety of possible interpretations'. He uses the category of ambiguous utopia to characterize those novels of this period that were neither utopia or dystopia." (Sonja Fritzsche in "Science Fiction Literature in East Germany", S. 124) INHALT: Dank 1. Einleitung 2. Verwandtschaften, Strukturen, Motive 3. Gesellschaftsentwürfe im Eutopie-Dystopie-Schema 3.1 Euopien - Simplifikationen der Gesellschaft, Relativierungsversuche 3.1.1 Die optimierte Welt 3.1.2 Die bürokratisierte Welt 3.2 Dystopien - Undenkbares denken 3.2.1 Die simplifizierte Welt 3.2.2 Die plausibilisierte Welt 4. Ambivalente Gesellschaftsentwürfe 4.1 Dialektik in literarischen Entwürfen 4.1.1 Michael Szameit: Sonnenstein-Trilogie und »Drachenkreuzer Ikaros« 4.1.2 Alfred Leman: »Schwarze Blumen auf Barnard Drei« 4.1.3 Karl-Heinz Tuschel: »Kurs Minosmond« 4.2 Dialektische Spielwelten Reflex gesellschaftlicher Realität 4.2.1 Gottfried Meinhold: »Weltbesteigung« 4.2.2 Angela und Karlheinz Steinmüller: »Andymon« 5. Exkurs 5.1 Die Brauns - Befragung utopischer Ideen 5.2 Anstelle von Nach-Worten 6. Anhang 6.1 Literaturverzeichnis 6.1.1 Science Fiction aus der DDR 6.1.2 Andere Science Fiction 6.1.3 Sekundärliteratur 6.2 Stichwortverzeichnis 6.2.1 Personen 6.2.2 Werke 6.2.3 Verlage, Buchreihen und Zeitschriften

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Impressum

Karsten Kruschel

Spielwelten zwischen Wunschbild und Warnung

Eutopisches und Dystopisches in der SF-Literatur der DDR in den achtziger Jahren

ISBN 978-3-86394-386-8 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1995 beim Ersten Deutschen Fantasy Club e. V., Passau.

Gestaltung des Titelbildes: Fabian Fröhlich, www.blindbild.de Foto: Thomas Schreiter

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Dank

Dieses Buch beruht auf dem Text einer 1992 vor der Philosophischen Fakultät der Pädagogischen Hochschule Leipzig verteidigten Dissertation mit dem Titel Dialektik von Eutopischem und Dystopischem in der Science-Fiction-Literatur der DDR in den achtziger Jahren, die für die Drucklegung überarbeitet, ergänzt und verändert wurde ─ dabei musste nicht nur in allen Sätzen, in denen das Kürzel »DDR« vorkam, die Zeitform geändert werden. Die Überarbeitung gestaltete sich schwieriger als erwartet und führte zu teilweise erheblichen Änderungen. Deswegen wurde für diese Veröffentlichung ein anderer Titel gewählt. An dieser Stelle sei allen gedankt, ohne die die Fertigstellung dieser Arbeit nicht denkbar gewesen wäre.

An erster Stelle danke ich Prof. Dr. Gustav Schröder, der die Betreuung der Arbeit in schwieriger Situation übernahm und in den bewegten Jahren 1989/1990 zu Ende führte. Prof. Dr. Rainer Eisfeld, Prof. Dr. Manfred Karrer und Dr. Ilse Nagelschmidt danke ich für ihre Hilfsbereitschaft und die zahlreichen Hinweise für die Überarbeitung. Weiterhin gilt mein Dank allen, die mit Beschaffung von Literatur und mit kritischen Hinweisen am Zustandekommen des Textes beteiligt waren: Wolfgang Jeschke, Dr. Hartmut Kröber, Thomas Recktenwald, Dr. Franz Rottensteiner, Erik Simon und Heinrich Wimmer. Gustav Gaisbauer schließlich ist für Geduld und Hartnäckigkeit zu danken, mit der er die Fertigstellung der versprochenen Arbeit eingefordert hat.

1. Einleitung

Die Literaturwissenschaft, eine sich selbst reproduzierende Disziplin, hat blinde Flecken in reichlicher Zahl ─ dennoch ist sie ihrem traditionellen Selbstverständnis nach eine wissenschaftliche Disziplin, die Literatur in ihrer Gesamtheit untersucht: Gattungen, Genres, Werke, ihre Struktur-, Funktions- und Wirkungseigentümlichkeiten (Träger 1986, S. 319). Bei diesen Untersuchungen werden aber immer wieder ganze Literatur-Bereiche aus dem Kreis der näherer Untersuchung würdigen Texte ausgeklammert, als gebe es sie nicht. Diese Ausgrenzungen haben eine Vielzahl von Gründen, Bedingungen und tradierten Weiterführungen. Zu den Literaturen, die solchen Ausgrenzungen unterlagen und unterliegen, gehört neben anderen auch jene Literatur, die in Ermangelung eines besseren bzw. genaueren Begriffs hier als Science Fiction bezeichnet wird.

In der Literaturwissenschaft findet oft eine Aburteilung der Science Fiction als Abart trivialer Literatur statt, wenn sie überhaupt wahrgenommen wird. Das Verdikt des Trivialen schränkt nicht nur die Rezeption ein, sondern auch die Produktion dieser Literatur, wenn nicht im Quantitativen, so doch im Qualitativen. Möglicherweise zu Bedeutendem imstande gewesene Autoren wurden durch den überaus miesen Leumund der SF davon abgehalten, sich mit den Möglichkeiten einer als dubios angesehenen Art Literatur zu befassen. Wenn die Annäherung bedeutender Autoren an SF doch geschieht, so werden flugs andere Bezeichnungen er- und gefunden, um den Text abzugrenzen.

Das trifft auf Autoren der Vergangenheit genauso zu wie auf solche der unmittelbaren Gegenwart. Die Tatsache, dass in der DDR-Literatur der achtziger Jahre zunehmend Mittel der Science Fiction von Autoren verwendet wurden, die nicht zum Kreis der SF-Autoren zu zählen sind (Peter Abraham, Jürgen Brinkmann/ Arne Sjöberg, Fritz Rudolf Fries, Franz Fühmann, Uwe Grüning, Hannes Hüttner, Uwe Kant, Erich Köhler, Joochen Laabs, Margarete Neumann, Claus Nowak, Eberhard Panitz, Irmtraud Morgner, Arno Reinfrank, Wolfgang Schreyer), sollte zu der Frage führen, welche Aussage- und Wirkungsmöglichkeiten Science Fiction hat. Einen Aspekt dieser Frage berührt das Thema dieser Arbeit.

Neben diesem Argument für die überfällige Untersuchung des Phänomens Science Fiction durch die Literaturwissenschaft gibt es weitere. So wurde diese Literatur in der Vergangenheit intensiv zur ideologischen Beeinflussung breiter Leserkreise benutzt (vgl. Ritter, 1978. 1982, 1985). Vielfach muss deutschen Science-Fiction-Texten um die Jahrhundertwende ─ und auch danach ─ militaristisches und chauvinistisches Gedankengut bescheinigt werden. Einen Höhe- und/oder Tiefpunkt fand diese Entwicklung in den Büchern von Hans Dominik, die in Millionenauflagen Herrenmenschentum, Technikgläubigkeit und Führerideologie verbreiteten. Dem Einfluss entsprechend, den diese und ähnliche Bücher hatten, war in der jungen DDR das Ansehen der Science Fiction verständlicherweise gering.

Als dann in der DDR Mitte der fünfziger Jahre wieder der Science Fiction zugehörige Texte erschienen, folgten diese Bücher sowohl in der Form als auch in der sprachlichen Gestaltung paradoxerweise dem Dominikschen Vorbild. Erzählmuster und Handlungsschablonen des ungeliebten, ja verschwiegenen Vorbildes wurden unkritisch übernommen. Es entstanden Romane, deren literarische Qualitäten nicht dazu angetan waren, der Science Fiction in der Literaturlandschaft der DDR einen geachteten Platz zu verschaffen (Simon/Spittel 1988, S. 22f.), lediglich Wertungen wurden ausgetauscht und Feindbilder umgetüncht: Aus dem Feindbild Untermensch wurde das Feindbild USA/BRD, aus dem Heroen »deutscher Wissenschaftler« wurde das Heroenbild »ostdeutscher/sowjetischer Wissenschaftler«.

Erst in den siebziger Jahren erschienen die ersten Science-Fiction-Titel der DDR, die sich von den Fesseln des Trivialen zu befreien suchten. Unter den Bezeichnungen »utopische Literatur«, »wissenschaftlich-phantastische Literatur« oder gar »Zukunftsroman« firmierend, war Science Fiction zu dieser Zeit bereits als trivial abgestempelt und abgetan (vgl. v. Wangenheim, 1981, S. 38f.).

Während die Zurückhaltung der Literaturwissenschaft und Literaturkritik in der DDR in Bezug auf Abenteuerliteratur und Kriminalroman bereits seit längerer Zeit im Verschwinden begriffen war, hatte diese Entwicklung in Bezug auf Science Fiction erst in den achtziger Jahren begonnen ─ und wurde nie vollendet. Zwar gab es in den siebziger Jahren Bemühungen, das Phänomen Science Fiction theoretisch zu fassen, aber diese Bemühungen blieben vereinzelt und sporadisch. Seit 1980 existierte mit der Almanachreihe Lichtjahr (Verlag Das Neue Berlin) ein Forum für Auseinandersetzung mit Science Fiction, das neben Primärliteratur auch Platz für Essayistik, Interview, Artikel und kleinere Untersuchungen bot sowie sich für die bibliographische Aufarbeitung der Science Fiction engagierte. An mehreren Hochschuleinrichtungen der DDR wurden Dissertationen zur Science Fiction geschrieben.

Waren die zuvor entstandenen Arbeiten in der Regel Überblicksdarstellungen (Sckerl, 1977; Förster, 1980; Heidtmann, 1982), so war in den achtziger Jahren die Untersuchung von verschiedenen Aspekten der Science Fiction in den Vordergrund getreten ─ obwohl die Frage, was Science Fiction ist, wie sie zu definieren sei und welchen Platz in der Literaturlandschaft sie ihren Potenzen und Qualitäten nach einzunehmen habe, auch in der DDR-internen Diskussion nicht geklärt wurde, ebenso wie diese Frage heute immer noch nicht geklärt ist und auch kaum schnell zu klären sein wird.

Die fehlende Beachtung der Science Fiction durch Literaturwissenschaft und Literaturkritik der DDR hatte Folgen, die nur oberflächlich denen im westlichen Teil Deutschlands ähnlich waren. Verlage und literarische Öffentlichkeit der DDR behandelten Science Fiction als eine von vornherein minderer Qualität zuzurechnende Literatur, der Beachtung zu schenken nicht nötig war. So sind Ende der achtziger Jahre Klagen über die mangelnde theoretische Aufarbeitung des Phänomens Science Fiction in der DDR nach wie vor berechtigt (Wuckel, 1987, S. 358f.). Eine andere Nachwirkung der fehlenden theoretischen Aufarbeitung war die Unkenntnis und Unsicherheit von Verlagen in Bezug auf Science Fiction. So konnte voller Berechtigung von einer »neuen Trivialität in der DDR-SF« die Rede sein und vom »nunmehr gewichtiger gewordenen Schwanz literarischer Fehlleistungen«, den »die SF in der DDR ... mit sich herumschleppen (muss)« (Spittel, 1988, S. 563). Damit wurde die Tatsache reflektiert, dass in den achtziger Jahren in stärkerem Maße als zuvor den geringsten literarischen Ansprüchen nicht genügende Bücher zum Druck gelangt sind.

Meinungsbildung und Diskussion über Science Fiction fand kaum öffentlich statt, sondern in den Kreisen der Anhänger dieser Literatur, die sich etwa seit 1987/88 innerhalb des Kulturbundes der DDR organisierten. Diese sich in Anlehnung an das gut organisierte bundesdeutsche Fandom selbst als »Fans« bezeichnenden Leser konsumierten oft keine andere Literatur außer Science Fiction und gingen bei der Beurteilung von Werken der Science Fiction oft von anderen als literarischen, nicht ästhetischen Kriterien aus: Eben von SF-internen Grundlagen.

Zwar gab es beim Schriftstellerverband der DDR einen seit 1973 arbeitenden »Arbeitskreis Utopische Literatur«, der 1990 (am Tage des Herrhausen-Attentats) seine Tätigkeit einstellte, aber die Veranstaltungen und Diskussionen dort waren nur den teilnehmenden Science-Fiction-Autoren zugänglich, erreichten also keinerlei Breitenwirkung (Simon/Spittel, 1982, S. 25f.).

Zusätzliche Schwierigkeiten bei der Beschäftigung mit Science Fiction ergeben sich aus der Tatsache, dass Texte innerhalb der Science Fiction oft direkt oder indirekt auf andere SF-Texte Bezug nehmen und mitunter ohne Kenntnis dieser anderen SF-Texte nicht verständlich sind ─ etwa wenn Thesen oder Ideen anderer Autoren ad absurdum geführt werden sollen oder wenn Themen und Gestaltungsweisen der Science Fiction ironisch-persiflierend verwendet werden. Dieser Sachverhalt hat dazu geführt, dass man von einem »Getto« sprechen kann, innerhalb dessen die Science Fiction für sich und fast vollkommen losgelöst vom Strom der übrigen Literatur existiert (Lem, 1981, S. 189).

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit Beginn der siebziger Jahre eine intensive Auseinandersetzung von Literaturwissenschaftlern der unterschiedlichsten Provenienz mit der Science Fiction. Eine Zeitschrift, die sich ausschließlich mit Science Fiction vom essayistischen und literaturkritischen Standpunkt aus beschäftigt, erscheint seit über dreißig Jahren (Science Fiction Times, gegründet 1958), ehe sie aus wirtschaftlichen Gründen 1992 als Monatsschrift eingestellt wurde; zur Zeit erscheint sie quartalsweise. Eine zweite Spezialzeitschrift, die nur oberflächlich gesehen ähnliche Ziele verfolgt, erscheint in Österreich (Quarber Merkur, gegründet 1962). Es gibt neben den zahlreichen Fandom-Veröffentlichungen (science fiction media usw.) eine Vielzahl von der Science Fiction gewidmeten Editionsprogrammen, darunter solchen, die sich ausschließlich der theoretischen Aufarbeitung des Phänomens Science Fiction verschrieben haben (Studien zur phantastischen Literatur,  zzStudien zur phantastischen Literatur, Das Science Fiction Jahr, Edition Futurum, Der Golem). Dazu kommt eine große Zahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten, Dissertationen, Artikel, Essays, Kritiken usw.

Kennzeichnenderweise ist die bisher gründlichste und fundierteste Arbeit zur Science Fiction in der DDR die Dissertation eines bundesdeutschen Literaturwissenschaftlers (Heidtmann, 1982), die niemals in der DDR publiziert wurde. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Hier wurde ein ganzer Bereich der DDR-Literatur aus dem Feld der von DDR-Literaturwissenschaft betrachteten Texte nahezu ausgegrenzt und deren Bearbeitung dem »Ausland« überlassen, von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Ein weiterer Grund, sich in der DDR mit der Science Fiction zu befassen, war das enorme Leserinteresse, das den Werken dieser Literatur entgegengebracht wurde. So betrug die Gesamtauflage einer Dilogie von Eberhard del' Antonio (Titanus und Heimkehr der Vorfahren, 1959/1966) mehr als eine halbe Million Exemplare. Heiner Ranks Roman Die Ohnmacht der Allmächtigen (1973) erreichte eine Auflage von 196.000 Exemplaren, Nabou (1968) von Günter Krupkat 178.00 Exemplare, Unheimliche Erscheinungsformen auf Omega (1974) von Johanna und Günter Braun 135.000 Exemplare und die von Ekkehard Redlin herausgegebene Anthologie Der Mann vom Anti (1975) mit Science-Fiction-Texten verschiedener DDR-Autoren erreichte die für Anthologien unerhörte Auflage von 105.000 Exemplaren (Stand von 1988; die Zahlenangaben stellte Erik Simon, damals Lektoratsbereichsleiter im Verlag Das Neue Berlin zur Verfügung). Ähnlich hohe Auflagenziffern lassen sich für die meisten Titel der Science-Fiction-Literatur feststellen.

Innerhalb der Science Fiction sind bei aller Differenziertheit in Qualität, Gestaltung und Intention literaturhistorische Wurzeln dieser Literatur erkennbar geblieben.

Zu den Traditionen, zu denen Science Fiction sich explizit, mehr aber noch implizit bekennt, gehört die Tradition der literarischen Utopie. Gerade in der DDR-SF war dies evident, wie sich schon an den Untertiteln zahlreicher einschlägiger Veröffentlichungen ablesen lässt (»utopischer Roman«, »utopische Erzählung« u.ä.). Ziel dieser Arbeit war es auch, zu untersuchen, in welcher Art und Weise sich die Berufung auf die Utopie in der SF der DDR in den achtziger Jahren manifestierte, welche Elemente aus Eutopie und Dystopie in welcher Verwendungsweise SF in der DDR geprägt haben ─ und inwiefern sich hieraus Verbindungen zur Realität ergeben, die SF letztendlich als Gegenwartsliteratur »entlarven« (wobei dieser letztere Beweggrund natürlich in keiner Konzeption im Vorfeld der Arbeit auftauchte).

Die Darstellung idealer Gesellschaftszustände war immer stark von der weltanschaulichen Position des Autors geprägt und damit von den Interessen der sozialen Gruppe, zu der dieser gehörte. Die sogenannte klassische Utopie, ein mehr diskursiver als narrativer Text, zeigte bestimmte typische Figurenkonstellationen und Handlungsabläufe. Diese wurden später, als in Form der Dystopie eine literarische Reaktion auf die Herausbildung des Imperialismus erfolgte, aufgenommen und abgewandelt, so dass das Vorbild »Utopie« noch sichtbar, aber verändert war. Das Diskursive trat zugunsten des Narrativen in den Hintergrund.

Heute sind beide Formen im Grunde genommen zu thematischen Untergruppen der Science Fiction geworden, auch wenn es (meines Wissens) niemals den Untertitel »dystopischer Roman« gegeben hat. Zur besseren Unterscheidung bietet es sich deshalb an, den Terminus »Utopie« als einen Oberbegriff zu verstehen, welcher die Darstellung imaginärer Gesellschaftszustände ungeachtet ihrer Wertung meint, während »Eutopie« die positiv intendierten Gesellschaftszustände (die Wunschwelten) meint und mit »Dystopie« die negativ intendierten Gesellschaftszustände (die Warnwelten) bezeichnet werden sollen.

Der Begriff »Utopie« hat seit seiner Schaffung durch Thomas Morus eine Vielzahl von Inhalten aufgenommen; der Begriff selbst ist viel diskutiert worden und tritt heute in drei hauptsächlichen Ausprägungsformen auf: Zunächst in der Literatur als Bezeichnung für eine Sorte literarischer Texte, dann als geistes- und sozialwissenschaftliches Phänomen und schließlich als ein durch utopische Intention geprägten Denken.

Die literarische Utopie ist, wenn man sie in übergreifende Zusammenhänge einordnet, immer Ausdruck einer Denkweise, die sich am besten mit den Worten »utopisches Bewusstsein« umschreiben lässt ─ das, was Kuon (1983) als »Grundkonstante menschlichen Denkens« bezeichnet. Dieses Bewusstmachen der Unvollkommenheit des Bestehenden, das Bestehen auf der möglichen Verbesserung des gesellschaftlichen Systems ist wohl eines der wichtigsten Momente von Literatur überhaupt. So betrachtet, ist ein großer Teil der Literatur von utopischem Bewusstsein geprägt. Nur dann, wenn die literarische Form, die dieses Bewusstsein annimmt, die Beschreibung einer zur Wirklichkeit alternativen Gesellschaft ist, kann von einer literarischen Utopie gesprochen werden.

Diese Auffassung deckt sich weitgehend mit der Fehlners (1989), der literarische Utopie als abhängig von Bestimmungsstücken definiert, die er folgendermaßen benennt: Literarische Werke, 2. die eine fiktive menschliche Gesellschaft darstellen, 3. in der individuelle und gesellschaftliche Beziehungen alternativ eingerichtet sind. Diese basieren 4. auf der Hypothese eines besonderen Geschichtsverlaufs, lassen für den Leser 5. mit Hilfe eines Verfremdungseffekts eine 6. detailliert beschriebene Gesellschaft entstehen.

Die Verfasser der klassischen Utopien haben ihrer Gegenwart ein utopisches Gegenbild in Form eines Positiv-Entwurfs gegeben, jene Art von Text also, die in der vorliegenden Arbeit Eutopie genannt wird. Die später entstehende Dystopie knüpft unmittelbar daran an und stellt Negativ-Entwürfe dar. Beide Formen wurden in neuerer Zeit innerhalb der Science Fiction im dialektischen Sinne aufgehoben und gelegentlich miteinander auf interessante Weise vermischt, oft aber auch nur als Schema reiner Unterhaltung mißbraucht. Die Art und Weise der Vermischung dieser Utopie-Formen in der SF der DDR näher zu beschreiben, war ein weiteres Anliegen der vorliegenden Arbeit.

Dabei wurde darauf verzichtet, auf die weitergehenden Implikationen des Gegensatzes von Eutopie und Dystopie einzugehen. Dass Dystopie sich gegen ein »Veränderungsdenken« (Hienger) wendet, das Wissenschaft und Technik verabsolutiert und von ihrer Perfektionierung einen stetigen Aufschwung an sozialer Vernunft und Gerechtigkeit erwartet, halte ich füe einen legitimen Ausdruck des grundsätzlich gewandelten Fortschrittsverständnisses der Dystopie gegenüber der Eutopie.

Während eutopische Texte von ihrer grundlegenden gedanklichen Anlage her strikt fortschrittsgläubig und zwanghaft fortschrittsoptimistisch sind, kippt diese Haltung bei der Herausbildung der Dystopie in ihr Gegenteil um, was mit den Beweggründen der Dystopie in einem engen Zusammenhang steht. Erste Anfänge dieses Umkippens gehen einher mit der Desillusionierung bürgerlicher Ideale am Ende des vorigen Jahrhunderts.

Als Herbert George Wells 1895 die Zeitmaschine veröffentlicht, kann er die Zukunft bereits nur noch als Ort vielfacher und für seine Zeitgenossen (noch) unvorstellbarer Schrecken schildern, Schrecken, die er aus Erscheinungen seiner Gegenwart heraus extrapoliert. Nicht zufällig kann sein, dass die Zahl von zweifelsfrei eutopischen Texten, die seitdem entstanden sind, sehr klein ist, vor allem, wenn man sie mit der Unzahl dystopischer Texte, die ihnen gegenüberstehen, vergleicht. Auf eine entsprechende Aufzählung darf an dieser Stelle verzichtet werden.

In neuerer Zeit gibt es allerdings in vermehrtem Maße Texte, die Eutopisches aufweisen, wenn auch in, wie bereits erwähnt, mit dem Dystopischen vermischten Weise. Da auch diese Texte vom utopischen Denken geprägt sind ─ sie sind Beschreibungen alternativer Gesellschaften ─ dürfen sie in der oben dargelegten Weise als Utopien gelten und als Gegenstand der Untersuchung von Interesse sein.

Literaturwissenschaftliche, marktorientierte, voluntaristische, inhaltsorientierte und andere Definitionsversuche des umstrittenen Begriffes »Science Fiction« sind in überreichlicher Anzahl vorhanden (siehe unten), ohne dass es eine allgemein anerkannte Formulierung gäbe. Ein Ergebnis dieser seit Jahren geführten Diskussion ist wegen der teilweise diametral entgegengesetzten Intentionen der Beteiligten wohl nicht zu erwarten.

In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff »Science Fiction« synonym, wenn auch bewusst vereinfachend, für die verschiedenen Bezeichnungen verwendet, die die Verlage in der DDR ─ teilweise noch bis übers Ende der DDR hinaus ─ benutzten: »wissenschaftlich-phantastischer Roman/Erzählung« »Phantastik« »phantastischer Roman/Erzählung« »utopischer Roman/Erzählung« »Zukunftsroman« und nur selten und auch nur in den letzten Jahren der DDR-Existenz gelegentlich einmal »Science-fiction« (und dann auch immer in dieser vom Duden vorgeschriebenen merkwürdigen Schreibweise).

Zum Terminus »Science Fiction«: Die Diskussion darüber, was Science Fiction sei, ist so alt wie die Literatur, die mit diesem Begriff bezeichnet wird. Selbst die Anwendung des »Genre«-Begriffs ist zweifelhaft. Die formal bestimmten Genres der epischen Literatur ─ Erzählung, Roman, Novelle, Kurzgeschichte, Anekdote, Fabel und so weiter ─ finden sich alle mehr oder weniger häufig in der SF-Literatur wieder, wenn es auch ein deutliches quantitatives Übergewicht bei den Genres Roman und Kurzgeschichte gibt.

Als inhaltlich bestimmtes Genre ließe sich SF neben ebenfalls reichlich unklar definierte Begriffe wie Kriminalliteratur, Abenteuerliteratur, Heimatliteratur oder Kriegsliteratur setzen. Hier wird bereits das nächste Dilemma solcher Benennungen deutlich: Viele Elemente aus Kriegs-, Kriminal- und Abenteuerliteratur finden sich auch in SF-Texten. Die Benutzung des Terminus »Genre« erfolgt also nur »unter Vorbehalt und aus rein praktischen Gründen«, wie es Földeak (1975) ausdrückte. Eine in der Sekundärliteratur immer wieder auftauchende und schwer widerlegbare These lautet denn auch, dass es eines der kohärenten Kennzeichen der Science Fiction sei, sich Erzählmuster, literarische Mittel, Figuren, Fabeln, Ideen und kurz gesagt alles brauch- und benutzbar Erscheinende aller denkbaren Genres anzuverwandeln (und tatsächlich gibt es in der SF-Literatur reichlich Texte, die man ruhigen Gewissens als Kriminalroman, Kriegsroman oder Abenteuerroman identifizieren kann). Diese These würde auch erklären, warum die Versuche, Science Fiction über verschiedene Themen- und Inhaltskataloge zu definieren, kläglich gescheitert sind.

Bis heute gibt es keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs »Science Fiction«, nicht einmal einen Grundkonsens über den Korpus dieser Literatur. Es gibt eine Unzahl von Definitionen, die von den verschiedensten Ausgangspositionen aus zu den verschiedensten Schlüssen kommen. Dementsprechend groß sind die Unsicherheiten, welcher Text das Etikett »Science Fiction« zu Recht führe und welcher nicht. Zusätzlich kompliziert wird diese begriffliche Konfusion durch die Entwicklung der Literatur.

Die Herausbildung neuer Formen und die Notwendigkeit ihrer Vermarktung bringt ständig neue Begriffe, aber auch neue Texte hervor, die sich einer Kategorisierung immer wieder hartnäckig entziehen. Als Beispiele wäre hier etwa die Fantasy in der Nachfolge Tolkiens zu nennen, die sich mit traditioneller SF gelegentlich zu sogenannter Science Fantasy vermischt; letzteres Etikett wird nicht nur in bezug auf Jack Vance gern verwendet, es wird gelegentlich auch auf den Traummeister, einen Roman von Angela und Karlheinz Steinmüller, angewendet.

In diesem sich von der SF abgrenzenden Bereich der Fantasy-Literatur finden sich dann die Unterbegriffe Low Fantasy, High Fantasy, Sword & Sorcery und Heroic Fantasy Klassifizierungen, über die zu streiten ebenso langwierig wie letztlich unergiebig ist. Weitere Vermischungsprozesse finden mit der Horrorliteratur statt, die sich aus dem Fundus der SF ebenso ungeniert bedient wie die SF das mit dem Fundus der Weltliteratur seit jeher tat. Neue Namen für Science Fiction kamen mit der New Wave und dem Cyberpunk ins Spiel, gegen die wiederum Subgenres wie Hard-Core-SF oder Space Opera sich abgrenzen bzw. abgegrenzt werden. Einige Spielarten der Science Fiction, vor allem die zahlreichen Alternativ- und Parallelwelt-Geschichten oder die überlegen-satirischen Texte verschiedenster Prägung à la Terry Pratchett, Douglas Adams oder auch Johanna und Günter Braun, sind mit einer überwältigenden Vielzahl der existierenden SF-Definitionen überhaupt nicht mehr fassbar.

Um die aus diesem theoretischen Desaster resultierende Verwirrung zu vervollständigen, löst sich in der Distribution von Literatur die literarische Sinnhaftigkeit von Genrebezeichnungen allmählich zur Gänze auf und wird durch rein kommerzielle Überlegungen bestimmt. Nicht nur im marktführenden Heyne-Verlag werden SF-Texte ─ zum Beispiel von Asimov und Clarke ─ aus wirtschaftlichen Gründen in der Allgemeinen Reihe veröffentlicht, während Bücher, die zweifelsfrei keine SF sind und in keine SF-Definition passen, ebenfalls aus rein wirtschaftlichen Gründen unter dem Label SF veröffentlicht werden, wie zum Beispiel Daniel Keyes (Die Enthüllung Claudias) oder Iain Banks (Die Wespenfabrik, Barfuß über Glas) oder die beiden orsinischen Bücher von Ursula K. LeGuin (Malafrena, Geschichten aus Orsinien). Im bundesdeutschen Taschenbuchmarkt sind Autoren, die einmal in einer SF-Reihe publiziert wurden, in anderen Vermarktungsschienen nicht mehr unterzubringen, also stigmatisiert.

Also greift mittlerweile auch die von Brian W. Aldiss stammende, ebenso lakonische wie pragmatische Definition nicht mehr, dass SF einfach das sei, was in den Buchläden unter der Rubrik Science Fiction angeboten werde. Eine ähnliche Definition wurde dennoch der Einfachheit halber in der vorliegenden Arbeit benutzt, um der leidigen Begriffs-Diskussion weitgehend aus dem Wege zu gehen ─ die, nebenbei gesagt, ja auch innerhalb des erwähnten Buch-Gesamtprojekts, nicht von einer einzelnen Arbeit, geleistet werden sollte. Die angesprochenen Auflösungserscheinungen der Genrebezeichnungen hat es in der DDR in dieser Form nicht gegeben, so dass ein solches Vorgehen noch legitim war.

Andere Definitionen, die mehr ins Detail gehen als die etwas flapsige von Aldiss, legen die SF auf einzelne ihrer verschiedenen Aspekte fest. Hugo Gernsback, der Namensgeber des Genres, hielt SF für »in Prosa gekleidete Prognostik der Zukunft«, ihr damit eine unerfüllbare futurologische Aufgabe aufbürdend. Natürlich war diese Auffassung von Gernsbacks hemmungslosem Vertrauen in Wissenschaft und Technik geprägt ─ und sie wurde bis in die frühen Phasen der SF in der DDR getragen, in denen SF-Bücher stolz als »Zukunftsromane« firmierten.

Jörg Hienger sagte später (1972) über das Genre SF:

Als beherrschende Kraft dieser Literatur wirkt der Wunsch, ein Veränderungsdenken einzuüben, das den künftigen Wandel bisher konstanter Realitätsfaktoren zu imaginieren vermag und beipiellose Veränderungen in der menschlichen Situation sich verspricht.

Dies wäre ein ehrenvoller Vorsatz, vollziehen sich die wirklich umwälzenden Veränderungen der modernen Gesellschaft doch immer noch unbeachtet von jener Literatur, die sich selbst unbeirrt als die einzig wahre Literatur feiert und von den SF-Lesern den verächtlich-abwertenden Namen »mainstream« verpasst bekam. Leider trifft Hiengers Satz nur auf einen kleinen Teil der SF-Texte zu, nicht auf das Genre insgesamt. Zahlreich sind die Beispiele, in denen SF-Welten geschildert werden, die sich allein oberflächlich, durch ein paar technische Vorrichtungen, nicht aber wesentlich und schon gar nicht grundsätzlich von der Realität des Lesers unterscheiden. Solche Texte üben aber kein Veränderungsdenken ein, sondern zementieren im Gegenteil das Bestehende im Bewusstsein des Lesers oder gehen sogar auf dem Wege der Regression auf überwundene Ideengebäude zurück. Pehlke und Lingfeld haben diese Tendenz, polemisch zugespitzt, in ihrem Buch Roboter und Gartenlaube (1970) anhand der Untersuchung hauptsächlich US-amerikanischer SF herausgearbeitet und sind zu dem ─ ideologisch stark eingefärbten ─ Schluss gekommen:

Dem Leser wird unverblümt eingeredet, ökonomisch, gesellschaftlich und politisch bleibe alles beim Alten, ja Gestrigen. (Pehlke/Lingfeld 1979, S. 66)

Theodore Sturgeon sagte:

Eine SF-Story ist eine Geschichte, die den Menschen als Mittelpunkt sieht, ein menschliches Problem behandelt und eine menschliche Lösung besitzt, die aber ohne ihren wissenschaftlichen Gehalt überhaupt nicht zustande gekommen wäre.

Zwar stellt diese Definition den Menschen in den Mittelpunkt, doch besteht sie auf einem postulierten »wissenschaftlichen Gehalt« von SF-Geschichten; womit natürlich ganz automatisch hard sciences, also die Naturwissenschaften, gemeint sind. Dazu ist zweierlei zu sagen. Zum einen gibt es eine Vielzahl von SF-Texten, die überhaupt keinen wissenschaftlichen Gehalt haben und deren Autoren dieser »Gehalt« auch herzlich gleichgültig ist. Zum zweiten ist es auch in mit wissenschaftlichen Passagen versehenen und mit wissenschaftlichem Anspruch geschriebenen SF-Texten mit der Wissenschaft nicht allzu weit her (wie Lem nachgewiesen hat und Amit und Maggie Goswami gezeigt haben). Kingsley Amis definierte SF so:

SF ist eine bestimmte Art der erzählenden Prosa, die eine Situation so darstellt, wie sie sich in der Realität nicht ereignen kann.

Diese Definition schließt in dieser Form jeden phantastischen Text der Literatur ein, Kafka, E. T. A. Hoffmann, den Geist von Hamlets Vater und so weiter. Um eine solche Interpretation tunlichst zu vermeiden, schließt Amis an:

Vielmehr wird eine Situation hypothetisch angenommen, die auf der Basis einer Erfindung in Wissenschaft oder Technik beruht und die menschlichen oder außermenschlichen Ursprungs sein kann.

Hier wird nun die Literatur letztlich von der im Text vorkommenden Hardware her definiert. Das bedeutet auch, dass ganze Themengebiete der SF ausgegrenzt werden, zum Beispiel die so beliebten Post-Doomsday-Geschichten oder sämtliche Alternativ- und Parallelwelt-Geschichten.

Die vorkommende Technik (oder Wissenschaft) dient auch als entscheidender Punkt in der etwas extremen Definition John W. Campbells, für den in der SF »technisch Interessierte über technisch Interessierte zur Befriedigung technisch Interessierter« schreiben, so das Genre zur Ingenieursbelletristik umfunktionierend. Campbell hat diese Linie auch weitgehend durchgesetzt, als er in seiner Position als Herausgeber maßgeblich Einfluss auf die Entwicklung der SF nahm ─ unter seiner Ägide war SF fortschrittsfanatisch und technikverliebt.

Darko Suvin (1972) beschrieb SF als

ein literarisches Genre, dessen notwendige und hinreichende Bedingung das Vorhandensein und Ineinanderwirken von Verfremdung und Erkenntnis sind und deren formales Hauptstilmittel ein imaginativer Rahmen ist, der als Alternative zur empirischen Umwelt des Autors fungiert.

Dieser Ansatz wird bereits bei Jehmlich (1980) völlig zu Recht als zwar wohlklingend, aber leider für neunundneunzig Prozent der SF unzutreffend bezeichnet; dieses Schicksal teilt er mit einer Reihe von ähnlich »wohlklingenden« Definitionsversuchen, die ich als voluntaristisch bezeichne, weil sie nicht die Textwirklichkeit widerspiegeln, sondern die Idealvorstellung der Definitionsurheber von SF. In geringerem Maße trifft das auch auf die oben erwähnte Definition Hiengers zu.

Um an dieser Stelle das Thema einer Definition des Begriffs Science Fiction zu einem vorläufigen Ende zu bringen ─ ein generelles Ende dieser Diskussion erscheint mir nicht denkbar ─, folgen drei letzte Aussagen hierzu.

Zum ersten ist die in der vorliegenden Arbeit vorgenommene pragmatische Definition, die sich ähnlich wie die erwähnte von Aldiss auf die Publikationsform beruft, für die Zwecke dieser Arbeit ausreichend gewesen. Keiner der untersuchten Texte bietet für Zweifel an seiner Genrezugehörigkeit irgendwelche Zweifel, ebenso wie Unklarheiten in dieser Beziehung in der DDR-SF generell selten anzutreffen waren (dafür sorgte schon das gleichermaßen gewohnheitsmäßige wie schlampige Misstrauen der Institutionen der DDR gegenüber einem so merkwürdigen Phänomen wie SF).

Zum zweiten erscheint mir in der Vielzahl von vorgelegten Definitionsvorschlägen die von Suerbaum, Broich und Borgmaier (1981) am weitesten von der Unbrauchbarkeit entfernt. Sie definieren SF als

Gesamtheit jener fiktiver Geschichten, in denen Zustände und Handlungen geschildert werden, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht möglich und daher nicht glaubhaft darstellbar wären, weil sie Veränderungen und Entwicklungen, der Wissenschaft, der Technik, der politischen und gesellschaftlichen Strukturen oder gar des Menschen selbst voraussetzen. Die Geschichten spielen in der Regel, aber nicht mit Notwendigkeit, in der Zukunft.

Diese Definition ist weit genug, um sowohl die Utopie als auch die ihr weitläufig verwandten Alternativ- und Parallelwelt-Geschichten einzuschließen. Andererseits gerät sie nicht in die Gefahr vieler apologetischer Definitionsversuche, einen Großteil der Weltliteratur zu Zwecken der Aufwertung unter dem Namen SF zu subsumieren.

Zum dritten: Das Ansinnen, vom Begriff »Science Fiction« im Rahmen dieser Arbeit eine eigene Definition geben zu wollen, ist offensichtlich müßig. Die Zahl der Definitionen ist längst unüberschaubar geworden. Die angehäuften Definitionsvorschläge sind oftmals diskutiert und ebensooft verworfen worden (Jehmlich 1980; Pehlke/Lingfeld 1970; Graaf 1981 u. a.), ohne dass Einigung in Sicht oder erzielt ist (vgl. Alpers/Fuchs/Hahn/Jeschke 1987, S. 26 ff.). Überspitzt ausgedrückt: In der Regel liefert jeder, der sich wissenschaftlich und/oder sekundärlitarisch mit Science Fiction beschäftigt, eine eigene scheinbar neue und in der Regel unbrauchbare Definition; hinzu kommen jene oft abseitigen Definitionen, die von SF-Schriftstellern und den puren Apologeten der SF gegeben werden.

Dabei werden diese Definitionen oft nicht aus Kenntnis und Analyse der in Frage kommenden Texte abgeleitet, sondern voluntaristisch gesetzt ─ selbst die Auswahl der in Frage kommenden Texte wird so vorauseilend beeinflusst. Solche Definitionen benennen weniger das Phänomen »Science Fiction« selbst als vielmehr die persönlichen Intentionen des Definitionsverfassers von dem, was SF seiner Meinung nach sein solle. Zur allgemeingültigen Beschreibung von SF-Literatur sind solche Statements denkbar ungeeignet, siehe oben.

Auch rein apologetische »Definitionen«, die beweisen sollen, dass Science Fiction ernstzunehmende Literatur ist, können nicht als Grundlage für eine Untersuchung dienen, weil sie in der Regel nur auf geringe Teile der Science-Fiction-Literatur zutreffen. Auch ein Ausdruck der durch diese Konfusionen entstandenen Unsicherheit ist die Tatsache, dass Science Fiction in der DDR meist nicht unter diesem Namen publiziert wurde, sondern unter anderen, mehr oder weniger irreführenden Bezeichnungen ─ »Zukunftsroman«, »Phantastik«, »utopischer Roman«, »wissenschaftlich-phantastischer Roman« usw. Auch betrachtete man den Begriff »Science Fiction« als einen Ausdruck US-amerikanischer Unkultur und verdammte seine Anwendung auf »sozialistische« Literatur als Ausdruck einer kulturpolitischen Variante der Konvergenztheorie (vgl. Förster 1980, S. 18) und somit nicht benutzbar für »sozialistische« Literatur und für die Literaturwissenschaft in der DDR.

Um der großen Anzahl nicht akzeptierter Definitionen von Science-Fiction ─ von denen oben eine kleine Auswahl gegeben wurde ─ nicht eine weitere hinzuzufügen, wird in dieser Arbeit auf die Erarbeitung und Formulierung eines eigenen Definitionsversuches völlig verzichtet; die erwähnte Definition von Suerbaum, Broich und Borgmaier mag als inhaltliche Annäherung gelten. Unter »Science Fiction der DDR« wurden ganz pragmatisch im Rahmen dieser Arbeit alle Texte verstanden, die in der DDR unter den Bezeichnungen bzw. Untertiteln »Science-Fiction«, »wissenschaftlich-phantastischer Roman«, »Zukunftsroman«, »Utopischer Roman«, »Phantastik« oder »Utopie« veröffentlicht wurden.

2. Verwandtschaften, Strukturen, Motive

Der von Thomas Morus geprägte Begriff »Utopia« ist im Laufe der Jahrhunderte in seiner Bedeutung derart verändert und erweitert worden ─ siehe oben ─, dass seine Verwendung in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen an eine strenge Definition gebunden ist.

In der Umgangssprache dient das Wort mit meist leicht pejorativer Wertung als Adjektiv. Als »utopisch« können heute alle Vorstellungen, Ideen und Texte bezeichnet werden, die in irgendeiner Art und Weise phantastisch, irreal, versponnen, träumerisch sind oder die dafür gehalten werden. Mit der von Morus gemeinten Bedeutung hat das kaum noch etwas zu tun. Ihm ging es um die Darstellung einer idealen Gesellschaft als Gegenbild zur existierenden Gesellschaft seiner Zeit ─ die von Morus als zutiefst unbefriedigend und unvollkommen empfunden wurde. Dabei war er sich der Tatsache bewusst, dass er eine Wunschwelt beschrieb, nicht nur einen »ou-topos« oder »Nicht-Ort«, sondern auch einen »eu-topos« oder »Schön-Ort« (Dietz 1987, S. 22). Die Doppeldeutigkeit des Wortes war ihm wohl bewusst. Nach Morus entstanden eine Vielzahl von literarischen Texten, die sich ─ explizit oder implizit ─ auf dieses Werk beriefen. Im Lauf der Jahrzehnte und der literaturgeschichtlichen Entwicklung traten neue Aspekte hinzu, wurde der ursprüngliche Denkansatz in Frage und auch auf den Kopf gestellt. Nach fast fünfhundert Jahren ist der Begriff »literarische Utopie« zu einem vielschichtigen und komplizierten Terminus geworden.

Deshalb sollen hier Arbeitsdefinitionen verwendet werden, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Sie werden angewendet und funktionieren innerhalb dieser Arbeit, bleiben aber vom generalisierenden Standpunkt aus durchaus hinterfragbar; gerade in neuerer Zeit und aus aktuellem Anlass ist die Diskussion über den Begriff der Utopie wieder in Bewegung gekommen.

Der Begriff »Utopie« ist als Arbeitsdefinition innerhalb dieser Arbeit bestimmt als literarische Darstellung einer fiktiven, von der Wirklichkeit des Autors deutlich und wesentlich unterschiedenen Gesellschaft.

»Eutopie« hingegen ist als Arbeitsdefinition innerhalb dieser Arbeit bestimmt als literarische Darstellung einer fiktiven, von der Wirklichkeit des Autors deutlich und wesentlich unterschiedenen Gesellschaft, die in vom Autor positiv gemeinter Vollkommenheit ein Wunschbild menschlicher Existenz ist.

Eutopien in diesem Sinne sind Utopia von Thomas Morus (Utopia, 1516), Der Sonnenstaat von Tommaso Campanella (Civitas solis, 1623) und Das neue Atlantis von Francis Bacon (Nova Atlantis, 1627). Alle diese Schilderungen fiktiver Gesellschaftsordnungen sind von ihren Autoren positiv intendiert, d. h. als vorbildlich empfunden und gedacht worden. Die Tatsache, dass es heutigen Lesern einiger Details dieser Gesellschaften wegen sehr schwer fällt, sie als erstrebenswert oder erträglich zu empfinden, ändert nichts daran, dass die Entwürfe ─ zu ihrer Zeit und von ihren Autoren ─ durchaus so gemeinte erstrebenswerte Welten schilderten (vgl. Berghahn/Seeber 1982, S. 25 ff. Ueding 1980 Alpers /Fuchs/Hahn/Jeschke 1987, S. 48 f.).

Die Eutopie ist damit indirekte Zeit- und Gesellschaftskritik: Indem der Autor sich eine perfekt funktionierende menschenwürdige Art menschlichen Zusammenlebens ausdenkt, impliziert und widerspiegelt er Unvollkommenheit und Menschenunwürdigkeit seiner eigenen Zeit und Gesellschaft. Als Gegenbild zur real existierenden Art, miteinander zu leben und umzugehen, erfüllt die Eutopie eine wichtige Funktion ─ sie macht einerseits die Unvollkommenheit des Bestehenden offenkundig und zeigt andererseits eine bessere, ja eine ideale Möglichkeit auf (ungeachtet ihrer Durchführbarkeit bzw. Undurchführbarkeit) und konstituiert sich zum dritten mit ihrem Bestehen auf der Verbesserungswürdigkeit des Existierenden als zukunftsbildende und dem Fortschritt zugewandte Kraft.

Eutopien hat es seit Morus, Campanella und Bacon immer wieder gegeben (hier seien nur einige Verfasser eutopischer Texte genannt: Edward Bellamy, Edward Bulwer-Lytton, Samuel Butler, Etienne Cabet, Werner Illing, Ludvig Holberg, Sebastian Mercier, Johann Gottfried Schnabel, B. F. Skinner, Jonathan Swift, Henry David Thoreau, Herbert George Wells). In all der Vielfalt und Vielzahl von eutopischen Texten sind doch einige von Morus her stammende strukturelle und motivliche Konventionen sichtbar, die dem Leser zeigen, dass er es mit einer Eutopie zu tun hat.

Zunächst wäre die Isoliertheit der Eutopie zu nennen. Gleichgültig wie die Abkapselung im Text erklärt oder vorausgesetzt wird, als abgelegene Insel in unbekannten Gegenden der Weltmeere (Morus, Illing, Schnabel), als geheimnisvolles Tal in unwegsamem Gebirge (Butler), als eigener Quasi-Kosmos im Innern der Erde (Holberg) oder als zukünftiger Zustand der Menschheit (Bellamy, Wells), immer ist Eutopia getrennt vom Rest der menschlichen Gesellschaft, auf jeden Fall von des Lesers gegenwärtiger Welt. Eine Eutopie ist unbekannt und unerreichbar. Auf diese Weise lässt sich dem Leser plausibel machen, dass die Zeitgenossen des Verfassers nie etwas von jener Gesellschaftsform gehört haben. Hinzu kommt selbstauferlegte Geheimhaltung der Eutopie; wenn es Kontakte mit dem Rest der Welt gibt, dann unter Wahrung des Geheimnisses von Eutopias Existenz und strikt einseitigem Informationsfluss ─ nur hinein, aber nichts hinaus.

Dieses Prinzip wird durch den Text, wenn er Authentizität vortäuscht, durchbrochen, indem er Informationen aus der Eutopie hinausschmuggelt. Dies wird mit Hilfe einer literarischen Figur bewerkstelligt, die aus der »normalen« Welt hinaus- und in die Eutopie hineingelangt. Dieser Besucher der Eutopie betrachtet unvertraute Zustände mit den vertrauten Augen des Zeitgenossen und bietet dem Leser die Möglichkeit der Identifikation. Natürlich ist dieser Besucher Fremdkörper in der Eutopie und steht dem Neuen, das ihm begegnet, durchaus nicht unparteiisch gegenüber; der Verfasser liefert mittels dieser Figur dem Leser bereits Wertungen der eutopischen Gesellschaft und engt die Wertungsmöglichkeiten, die der Leser hat, bewusst ein.

Als Bindeglied zwischen dem Besucher und der für ihn fremden Welt der erdachten Eutopie dient die Figur des Mentors. Dies ist ein Mitglied der eutopischen Gesellschaft, das den Auftrag hat, den Fremden mit den Errungenschaften und Eigenheiten Eutopias vertraut zu machen. Dem Autor bietet diese Figur die Möglichkeit, seine Ansichten über Gesellschaft, Politik usw. explizit zu äußern und die zeitgenössischen Ansichten des Besuchers immer wieder in Frage zu stellen und mit seinen eigenen Ansichten ─ die für die des Mentors ausgegeben werden ─ zu konfrontieren.

Um den Besucher mit möglichst vielen verschiedenen Aspekten der Eutopie bekanntzumachen, wird das Element der Führungsreise benutzt, die seit Morus fast jeder Verfasser einer Eutopie benutzt. Hierbei besuchen Mentor und Besucher gemeinsam nach und nach verschiedene Gegenden bzw. Institutionen der Eutopie, die vom Mentor ausführlich erläutert werden. Im Verlauf dieser Führungsreise gelangt der Besucher durch Vermittlung des Mentors zu einer neuen Sicht sowohl auf die Eutopie als auch ─ und vor allem ─ auf seine eigene Gesellschaft.

Um den Bogen zu schließen ─ es muss erklärt werden, wieso die anfangs postulierte Isolation Eutopias mit dem vorliegenden Bericht durchbrochen wird ─, verwenden die Autoren verschiedene Tricks, um das Strukturelement der Berichtsübermittlung einzufügen. Mit fiktiven Dokumenten, der Schilderung angeblicher mündlichen Informanten und ähnlichem wird nicht nur Urheberschaft des Verfassers verschleiert, der Autor erhält sich auch die Möglichkeit, sich von dem ─ in seiner Entstehungszeit oft brisanten ─ Text zu distanzieren, sollten politische oder andere Zeitumstände das erfordern.

Aus diesen fünf herausgegriffenen Strukturelementen ergeben sich Folgerungen für Charakteristika der Schreibweise. Die Figurenkonstellation Besucher/Mentor und die Führungsreise bedingen eine weitgehende Abwesenheit von Handlungselementen und ein Überwiegen des Diskursiven gegenüber dem Narrativen. Lange Gespräche, Schilderungen und Erörterungen prägen die eutopischen Texte von Morus, Campanella und Bacon und auch viele ihrer literarischen Nachfolger. Ein literarischer Konflikt im heutigen Sinne ist in diesen Texten nicht zu erkennen.

Für die Eutopie, jenes imaginäre Staatswesen, sind einige Eigenschaften kennzeichnend, die bei vielen Eutopien motivisch immer wiederkehren.

Zunächst sind Bürger einer Eutopie materiell abgesichert, aufs beste mit den lebensnotwendigen Gütern versorgt. Hierbei sind große Unterschiede darin festzustellen, welchen Umfang dieses materielle Gut hat. Je nach der (an historische Bedingungen geknüpften) Einstellung des Autors kann das für heutige Begriffe sehr wenig, aber auch ein unangemessen erscheinender Luxus sein. Immer aber gilt: Ein Bürger Eutopias braucht sich keinerlei existentielle Sorgen um materielle Lebensnotwendigkeiten zu machen ─ was wäre diese Eutopie sonst auch für eine Wunschwelt.

Was für materielle Bedürfnisse gilt, gilt sinngemäß auch für die geistigen. Ein Staat perfekter Verhältnisse leistet auch Vollkommenes in Erziehung und Bildung. Die Autoren der Eutopien legen auf die Darstellung dieses Aspektes großen Wert. Das geistige Niveau der Bürger Eutopias ist derart hoch, dass es dem Besucher eindrucksvoll demonstriert werden kann. Die Bürger Eutopias sind nicht nur wohlgebildet ─ geistig ebenso wie körperlich ─, sie sind dem Besucher an Intelligenz und Güte überlegen (beziehungsweise mit der Qualität genau jener Eigenschaften, die der Verfasser der jeweiligen Eutopie für besonders wichtig erachtete). Auf diese Weise wird dem Leser im Text entgegengehalten, was dem gegenwärtigen Zeitgenossen zum wahrhaft gebildeten Menschen fehlt.

Ein Nebenaspekt, der in den klassischen Eutopien wenig Bedeutung hat, aber in den zahllosen Nachfolgern mehr oder weniger stark in den Vordergrund tritt, ist die Mobilität der Bürger Eutopias. Der perfekte Staat sorgt für das perfekte Verkehrswesen. Seien es Kurierdienste, technische Meisterleistungen (wie die rollenden Gehwege und verzweigten Rohrpostanlagen, die immer wieder hartnäckig in den epigonalen Eutopien auftauchen) oder auf andere Weise: Immer werden Verkehrsprobleme zufriedenstellend und umfassend gelöst. Hier handelt es sich weniger um ein Motiv als vielmehr ein Versatzstück, das in den nachfolgenden Texten auf verschiedene Weise verändert wird und Teil eutopischer Tradition geworden ist.

»Dystopie« ist als Arbeitsdefinition innerhalb dieser Arbeit bestimmt als literarische Darstellung einer fiktiven, von der Wirklichkeit des Autors deutlich und wesentlich unterschiedenen Gesellschaft, die in der Totalität repressiver und menschenverachtender Eigenschaften ein Schreckbild menschlicher Existenz ist.

Dystopien in diesem Sinne sind Wir (My, 1920) von Jewgenij Samjatin, Schöne neue Welt (Brave New World, 1932) von Aldous Huxley und 1984 (1984, 1949) von George Orwell (vgl. Alpers/Fuchs/Hahn/Jeschke 1987, S. 51 ff; Dietz 1987, S. 34 ff.). Diese drei Romane werden gewöhnlich als die »klassischen« und das »Genre« prägenden Dystopien angesehen. Die Zahl der im 20. Jahrhundert entstandenen literarischen Dystopien ist mittlerweile schier unüberschaubar, zumal die SF-Literatur so intensiv dystopische Traditionen aufnahm und kolportierte, dass in den meisten Fällen eine exakte Trennung zwischen Dystopie und SF nicht mehr möglich und sinnvoll erscheint. Zu den besten und bekanntesten Beispielen moderner Dystopien gehören zum Beispiel die Romane Das höllische System (Player Piano, 1952) von Kurt Vonnegut jr., Fahrenheit 451 (1953) von Ray Bradbury, Morgenwelt (Stand On Zanzibar, 1968) von John Brunner, Uhrwerk Orange (Clockwork Orange, 1962) von Anthony Burgess sowie Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute (The Space Merchants, 1953) von Cyril M. Kornbluth und Frederik Pohl, ganz zu schweigen von den noch zahlreicheren einschlägigen Kurzgeschichten, Erzählungen und Novellen.

Diese fiktiven Gesellschaftsordnungen sind von ihren Autoren negativ intendiert, d. h. sie sind als fürchterlich und furchterregend empfunden und gedacht (und gefürchtet) worden. Dabei wird die Fiktionalität der Texte dadurch relativiert, dass von den Verfassern solcher Texte bestimmte Tendenzen und Entwicklungen der gegenwärtigen Wirklichkeit des Verfassers zugespitzt und überhöht werden, vom Autor also spekulativ in die Zukunft ─ in der diese Texte meist handeln ─ verlängert worden sind.

Das kann ─ wie im Fall von George Orwells 1984 ─ eine Reaktion auf das traumatische Erlebnis der inneren Kompatibilität von Faschismus und stalinistischem Personenkult sein oder ─ wie im Fall von Ray Bradburys Fahrenheit 451 ─ eine (Abwehr-)Reaktion auf Bildungsfeindlichkeit und Gesinnungsschnüffelei der McCarthy-Zeit in den USA oder─ wie im Falle von Cyril M. Kornbluth und Frederik Pohls The Space Merchants ─ eine Reaktion auf die zunehmend repressiv und verbrecherisch wirkenden Staatsstrukturen derselben Ära, oder ─ wie im Falle von John Brunners Stand On Zanzibar ─ eine Reaktion auf die drohenden Menschheitskatastrophen im Gefolge von Überbevölkerung, Umweltverschmutzung und schamloser Ausbeutung der sogenannten »dritten« Welt. Immer handelt es sich um die Schilderung einer alles andere als erstrebenswerten Welt. Immer handelt es sich um ein Warnbild.

Die Dystopie ist damit direkt Zeit- und Gesellschaftskritik: Indem der Autor sich perfekt funktionierende Unterdrückungsmaschinerien, zutiefst menschenunwürdige und abscheuliche Arten des »Zusammen«lebens ausdenkt, hält er seiner eigenen Zeit und seiner eigenen Gesellschaft ─ aus der jene Scheußlichkeiten erwachsen (könnten) ─ einen Spiegel vor, in dem Fehler und Gebrechen der Wirklichkeit überdeutlich sichtbar werden. Als warnende Überspitzung der real existierenden Art und Weise, »mit«einander zu leben, erfüllt die Dystopie wichtige Funktionen ─ sie macht einerseits die Unvollkommenheit des Bestehenden offenkundig und zeigt andererseits Tendenzen und Entwicklungen auf, die zu noch viel schlimmeren Zuständen führen könnten.

Auch bei den Dystopien finden sich einige strukturelle und motivliche Konventionen, die dem Leser zeigen, dass er es mit einer Dystopie zu tun hat. Diese Konventionen ─ vor allem in struktureller Hinsicht ─ zeigen sehr deutlich eine nahe Verwandtschaft der Dystopie mit der Eutopie, von der die Dystopie abstammt ─ sie entstand als Reaktion auf die unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen unglaubwürdig und unwirksam erscheinende Eutopie um die Jahrhundertwende.

Zum Ersten korrespondiert die Isoliertheit der Eutopie mit einer ganz ähnlichen Gegebenheit in Dystopien. Dystopische Gesellschaften kennen in der Regel keinen Kontakt mit der Außenwelt, keinen Austausch mit anderen Gesellschaftsformen. Die Ausschließlichkeit des Negativ-Ideals verlangt das. So gibt es zum Beispiel keine anderen Gesellschaftsformen mehr (Orwell, Brunner, Bradbury), die Dystopie kapselt sich selbst ab (die »Grüne Mauer« bei Samjatin) oder wird von den anderen Staaten abgekapselt (wie in Gert Prokops Wer stiehlt schon Unterschenkel? und Der Samenbankraub), die sich vor der menschenfeindlichen Gesellschaft schützen wollen. Eine Variante der Isolation ist die in einem Bunker oder einem Höhlensystem eingeschlossene Gesellschaft (Peter Lorenz: Aktion Erde, Reinhard Kriese: Eden City, Stadt des Vergessens, Jan Gerhard Toonder: Aufstehn am Samstag). Kenntnis von einer Welt außerhalb der dystopischen Gesellschaft gibt es nicht, oder sie wird geheimgehalten und als staatsgefährdend angesehen; die konsequente Warnwelt ist ausweglos, weil sie keine Alternative zulässt.

Zum Zweiten: Eine Entsprechung des Eutopie-Besuchers ist bei den Dystopien in der Figur des Außenseiters zu finden. Dieser gehört nicht oder nicht mehr zur dystopischen Welt und betrachtet ihre Einrichtungen und Auswirkungen mit anderen Augen. Der Außenseiter wird so zur Identifikationsfigur für den Leser (adäquat zum Besucher der Eutopie). In Samjatins Wir und Orwells 1984 stellen sich Protagonisten selbst außerhalb der dystopischen Gesellschaft, indem sie verbotene Liebesbeziehungen eingehen in Huxleys Schöne neue Welt wird ein »Wilder« gefunden und in die dystopische Welt verbracht. Dieser Wilde, der ungebildet und oft naiv-verständnislos ist, für den Leser aber die Verkörperung humanistischer Ideale darstellt, die in der Dystopie mit Füßen getreten werden, erscheint letztlich trotz seines Scheiterns als moralisch überlegen.

Diese Außenseiter-Figur findet sich in allen dystopischen Romanen wieder. Oft durch zufällige Ereignisse aus dem Alltag gerissen, gerät der Außenseiter in einen unauflösbaren Widerspruch zur Gesellschaft ─ in Herbert W. Frankes Ypsilon Minus beispielsweise bekommt ein Überprüfer im totalen Überwachungsstaat den Befehl, sich selbst zu überprüfen und entdeckt unversehens seine eigene unterdrückte Vergangenheit. Mit der Konstitution der Außenseiter-Figur enthält die Dystopie ─ ihrer eben geschilderten Grundkonstellation entsprechend ─ etwas, das die Eutopie ihrer Struktur folgend entbehren muss: den Konflikt. Dieser tiefe und per definitionem unlösbare Konflikt zwischen dem nach Freiheit, Selbstbestimmung und persönlichem Glück strebenden Individuum und der nivellierenden, Individualität unterdrückenden und Gedanken kontrollierenden Gesellschaft wird in den »klassischen« Dystopien auf Kosten des Individuums gelöst: Der Außenseiter wird ─ unter Zerstörung dessen, was zur Auflehnung geführt hatte: seiner Individualität ─ wieder in die dystopische Gesellschaft eingegliedert (Samjatin, Orwell) oder nicht nur psychisch, sondern auch physisch vernichtet (Huxley, Orwell).

Zum Dritten: Der Figur des Mentors in der Eutopie entspricht die der Kontaktperson in der Dystopie. Dem weniger diskursiven als vielmehr narrativen Charakter der Dystopie folgend hat diese Figur geringere Bedeutung als in der Eutopie. Ist der Mentor in der Eutopie weitgehend neutrales und vermittelndes Bindeglied zwischen Besucher und eutopischer Welt, so kann die Kontaktperson in der Dystopie durchaus eine negative Rolle spielen (man vergleiche die Rolle des O'Brien in 1984 oder die von Bernard Marx und Mustapha Mond in Schöne neue Welt). Die grundlegende Funktion dieser Figur für den Aufbau des Romans ist dieselbe: Bindeglied zu sein zwischen der fiktiven Welt, der ausgedachten Warnwelt, und der Identifikationsfigur des Lesers, dem Außenseiter.

Zum Vierten: Eine Führungsreise wie in der Eutopie ist in der Dystopie nicht in derselben Weise möglich. Trotzdem findet sich ein Pendant dazu in dystopischen Romanen. Die Figur des Außenseiters ─ im Bestreben, den Konflikt mit der Gesellschaft zu lösen ─ durchlebt mehrere Stationen der dystopischen Gesellschaft. Der Autor erhält dabei Gelegenheit, auf verschiedene Aspekte der dystopischen Welt näher einzugehen und so seine Warnwelt dem Leser vorzuführen. Diese Rundreise ist in vielgestaltigen Formen möglich (in Schöne neue Welt findet sie teilweise ohne die Außenseiterfigur statt; in 1984