Raumsprünge, das kleinere Weltall und andere fantastische Erzählungen - Karsten Kruschel - E-Book

Raumsprünge, das kleinere Weltall und andere fantastische Erzählungen E-Book

Karsten Kruschel

3,9

Beschreibung

Zum ersten Mal werden hier die frühen Erzählungen Karsten Kruschels zusammengefasst. Neben den ersten Kurzgeschichten von 1979 sind das auch verstreut erschienene Texte aus verschiedenen Anthologien und alle Geschichten des Bandes "Das kleinere Weltall" (1989), von denen einige später zu den preisgekrönten Romanen "Vilm" und "Galdäa" ausgearbeitet wurden. Hier findet der Leser aufsässige Haustiere, seltsame Theorien, kosmische Phänomene und immer wieder Menschen, die auch angesichts der überragendsten Technik nichts anderes können, als menschlich zu handeln. Und so Menschen zu bleiben. INHALT: Raumsprünge Der Brunnen Ein Fall von nächtlicher Lebensweise Großartige Party, wirklich großartig Schach mit Otto Die Schuld Herrliche Zeiten Rede auf dem EUROCON '96 in Bitterfeld Unautorisierter Mitschnitt, nach Liechtenstein geschmuggelt Glücklicher Lotse Aussage des Assistenten Der Galdäische Krieg Theorie der Kugelblitze Die Garnison LESEPROBE: Josepha und Fred verbissen sich in ihre Arbeit und waren fast böse, wenn man sie auf Streife schickte. Auf einer dieser Streifen - die ohne Kontakte mit Wirblern verliefen - kam Fred jene Idee, die sie weiterbrachte. Vorausgesetzt, die gesuchte Information war zerhackt und per Zufall oder System auf die Frequenzbänder verteilt worden, müsste man nur die Schnittstellen finden und könnte das eigentliche Band zusammensetzen. Das bedeutete natürlich, dass die Übersetzung als Hilferuf nur ein Missverständnis wäre. Das "wilde" Orsini-Netz rechnete ergebnislos an der Aufgabe herum. Die Idee stimmte nicht. Doch kam Fred mit Josephas Hilfe auf andere Deutungen. Die Zahl Sechs hatte angefangen, in Freds Gedanken herumzuspuken, und seine neue Idee war verrückt genug, um zu stimmen. Sie probierten sie aus. Sie bildeten einen Teil der Sendung auf einen andern ab, als wäre das Signal die verschlüsselte Darstellung eines sechsstrahligen Kristalls. Es war viel komplizierte Rechnerei, aber sie schien sich zu lohnen, als sie Kennmarken fanden, die ins Bild hineinpassten, sozusagen die Endpunkte der sechs Strahlen bezeichneten. An diesem Punkt verloren Fred und Josepha den Kontakt zu den anderen. Natürlich lebten sie weiter in der Garnison, stapften mit, wenn es auf Streife ging, oder sie pflegten einige Tage die Weggeschickten. Ihre Gedankenwelt aber war den anderen unverständlich geworden. Ihre Gespräche drehten sich um das Signal und das Schneekristallsystem, und Peter, der hin und wieder zuhörte, schüttelte verständnislos den Kopf.

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Impressum

Karsten Kruschel

Raumsprünge, das kleinere Weltall und andere fantastische Erzählungen

ISBN 978-3-86394-385-1 (E-Book)

Die Erzählung "Raumsprünge" erschien 1985 beim Verlag Neues Leben, Berlin (Das neue Abenteuer, Heft 470).

Die Erzählung "Schach mit Otto" erschien 1985 beim Verlag Neues Leben, Berlin in: Aus dem Tagebuch einer Ameise. Wissenschaftlich-phantastische Tiergeschichten.

Die Erzählung "Ein Fall von nächtlicher Lebensweise" erschien 1990 beim Verlag Neues Leben, Berlin in: Der lange Weg zum Blauen Stern. Phantastische Geschichten.

Die Erzählung "Herrliche Zeiten" erschien 1999 beim Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München in: Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod – und andere abwegige Geschichten.

Die Erzählung "Theorie der Kugelblitze" erschien im Juni 1979 in der Zeitschrift "neues leben".

Die Erzählung "Aussage des Assistenten" erschien im Juni 1979 in der Zeitschrift "neues leben".

Das Buch "Das kleinere Weltall. Science-Fiction-Erzählungen" mit den Erzählungen "Der Brunnen", "Großartige Party, wirklich großartig", "Die Schuld", "Glücklicher Lotse", "Der Galdäische Krieg" und "Die Garnison" erschien 1989 beim Verlag Das Neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Thomas Schreiter

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Raumsprünge

I.

Dieses große, kraftvolle Raumschiff ist ein wundervoller, atemberaubender Haufen Schrott, für den es keinen Unterschied macht, auf welche Art er zerschmettert, atomisiert oder zerschmolzen wird. An Bord ist eine gut ausgesuchte, hervorragend trainierte Mannschaft, die verrückt ist, übergeschnappt und irr. Nur ich, der ich hier in der Ecke der Zentrale zwischen Kartenraum und Klo hocke und mich nicht bewege, bin noch normal, denke klar und unerhört logisch. Manchmal muss ich kichern, wenn ich mir überlege, dass ich allein, ich ganz allein, weiß, dass ich normal bin; dass die andern das Um des Himmels willen nicht wissen dürfen, ja, nicht einmal ahnen dürfen sie es. Sie halten mich für irr. Mich!

Wenn ich nicht so still sitzen müsste, würde ich wieder ein Kichern aus mir herauslassen. Aber ich darf nichts aus mir hinaus tun, sonst riechen sie etwas - sonst kommt Mechin in seinem weißen Anzug, der Verrückte, der sich für den Schiffsarzt hält, und blickt mich an, dass ich zusammenschrumpfe unter diesem Blick. Manchmal kann ich mich nicht beherrschen, wenn er mich ansieht. Oder ein anderer. Manchmal halte ich es nicht einmal aus, wenn ich eine Kamera auf mich gerichtet fühle. Dann schießt es kalt in mein Innerstes, dann weiß ich nicht mehr zu denken noch zu atmen. Deswegen habe ich mir diese Ecke hier ausgesucht: rechts neben mir die schmale Tür zum Kartenraum, die selten benutzt wird, linker Hand die Drehtür, hinter der das Klo ist.

Gute Sicht hab ich über alles in der Zentrale, kann alles sehn, und die Kameras erfassen mich nicht. Diese Ecke ist zu unbedeutend, um ein starres Kameraauge in sie hineinleuchten zu lassen. Also, ich kann hier sitzen. Wenn einer in die Zentrale kommt, blickt er mich kurz an, ach, was heißt anblicken - streift mich mit einem kurzen Blick. Es trifft mich. Tief und wie ein Schlag ins Gesicht. Nicht hart oder so, nein, wie ein nasser Sack - oder wie eine Schaufel Lehm, die mir, schwungvoll an meinen Kopf geworfen, zäh vom Gesicht rinnt, während ich mich winde und mich selbst fast umbringe, nur um nicht zu stöhnen.

Stöhnen wäre furchtbar. Mechin würde aufmerksam werden. Die Mikrofone sind sehr empfindlich. Zu empfindlich, ich möchte den Konstrukteur erwürgen. Oder einen andern, mitunter kommt mich die Lust darauf an. Angeblickt zu werden aber..., ist das klar?

Die wirkliche Welt, die Welt, in der es all diese Irren nicht gibt, ist auch ganz in der Nähe. Wenn das Brausen in meinem Hirn beginnt und sich die Fingernägel zu heftig pulsenden Kugeln blähen und meine Augen sich wie warmer Marmor anfühlen und nur noch schwer in meinem Schädel rollen, dann weiß ich, dass ich wieder auf die Reise gehe, während irgend etwas von mir hier zurückbleibt. Und wenn ich auf der Außenhaut des Schiffes angelangt bin - schööön! -, sehe ich meine Freunde dort um einen runden Tisch sitzen. Der Fahrtwind kraust ihre Lippen, und die Sterne wühlen ihnen in den Augen. Lachend und morsend spielen sie mit goldenen Spielkarten. Ich darf mich dazusetzen und mitspielen. Hören auf den rhythmischen Gong, wenn die goldenen Platten mit den Piques und Assen auf den Tisch treffen und dort die funkelnden Kristallwölkchen aus den Ritzen emporstäuben...

Es endet immer mit dem Brausen und einem Stechen im Arm und mit zornigen oder mitleidigen Rufen und irgendwann mit Mechins ruhiger Stimme, die mich in tiefen Schlaf redet und mich immer wieder zurückbringt auf meinen Platz in der Ecke zwischen Kartenraum und Klotür.

Still sein. Keinen Blick auf sich ziehen. Die Worte vorbeiziehen lassen. Auf das Brausen warten. Auf das Pulsen in den Fingern. Sich nicht bewegen. In sich sein. Hineinhören.

Kann nichts hören. Möchte dennoch glauben, dass gleich etwas passieren könnte. Als ob etwas passieren müsste, was endlich die andern von mir ablenkt.

Doch seit das Schiff Schrott ist, obwohl sie so tun, als sei es noch ein stolzes Schiff, achtet niemand mehr auf mich. Schön.

Der Bildschirm des Computers flackert· immer wieder in jenem blauen Licht; das bedeutet Fragt-mich-doch-was-Leichteres und Ich-weiß-es-doch-auch-nicht. Oder es flackert rot, dann hetzen sie umher und schlagen auf glühende Tasten und reißen Hebel herum und starren verdutzt auf farbige Linien auf den Auswertern, die ihnen die Sinnlosigkeit ihres Tuns beweisen. Oder sie bosseln in elektronischen Eingeweiden herum, messen, bauen, reparieren. Was geht das mich an?

Hoffentlich dauert das noch sehr lange. Wieso eigentlich?

Wieso hoffentlich? Hoffen? Was ist das? Was bedeutet es...? Ein Schmerz brüllt und tötet die Fragen und lässt mich wieder ruhig auf die arbeitenden Leute in der Zentrale blicken.

Sie arbeiten, schwitzend, gebeugt über ihre Arbeit. Einige hocken mit nackten Oberkörpern - das ist verboten! - in den Eingeweiden der Maschinen, wo es heiß ist, und ich kann den Schweiß an ihnen herabrinnen sehen. Mechin geht herum und hält dem einen oder andern Pillen hin. Sie nehmen sie oder nehmen sie nicht. Sie fluchen. Auf mich? Ja, ich könnte ihnen helfen, ja, ich weiß dort Bescheid. Nein, nie wieder. Nie wieder.

Der Schmerz heult auf, ich will mitheulen, aber ich presse mich still in meine Ecke.

II.

"Maschine", sagt Tanner in das Kom und hat die Taste für eilige Gespräche so tief eingedrückt, dass sich jedes Gespräch grell beim andern meldet. Doch es ist ja richtig so. Jedes Gespräch des Kommandanten ist nämlich äußerst dringend.

Cravens schwitzender Schädel erscheint auf dem Schirm. Craven blickt nicht auf die Kamera, sondern irgendwohin seitlich. Tanner weiß, dass dort die Tafeln sind, auf denen man den Zustand der Aggregate erkennen kann. Tanner stellt keine Frage.

"Energie stabil", sagt Craven mit seiner hellen Stimme, der man unmöglich glauben kann, dass sie aus einem so massigen Mann kommt. "Der Druck steigt, das Feld kompensiert noch alles. Strahlungseinbrüche eingedämmt. Was wir jetzt brauchen, ist Zeit, viel Zeit."

Er blickt voll in die Kamera, um zu sehen, ob Tanner die Schultern zuckt oder ob er lächelt.

Tanner lächelt nicht. "Wir sinken weiter", sagt er. "Ihr müsst es ganz einfach in den nächsten Stunden schaffen. Die Planetologen sagen, dass wir in hundertdreizehn Minuten in die Theta-Schicht geraten. Dann..."

"Ja, ich weiß. Aber ohne den Computer ist es ein schweres Arbeiten. Was ist denn los mit dem Ding?"

Tanner wirft einen raschen Blick zu den schwitzenden Technikern hinüber, dann beugt er sich zum Kom hinab und spricht leiser. "Unsere, nun ja, Fachleute sind ratlos. Sie basteln und fummeln, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sie in der Lage eines Klempners bei einer Herzoperation sind. Sie stochern drin herum, ohne bestimmt zu wissen, dass es hilft."

Craven guckt mit seinem hellen Vogelblick in die Luft, als suche er Halt. "Du meinst, sie wissen nicht genau, ob sie das Ding nicht vielleicht ganz kaputtspielen mit ihrer - Stocherei?"

"Das hab ich nicht gesagt..."

"Aber verstanden habe ich dich richtig, nehme ich an."

"Lassen wir das. Wer kann uns mit Handsteuerung von hier wegbringen?"

"Bist du wahnsinnig! Der liebe Gott!"

"Wahnsinnig ist ein Wort, mit dem du vorsichtiger sein solltest", sagt Tanner leise.

Craven ist beschämt. "Ja doch, verdammt noch mal. Ist mir nur so rausgerutscht. Aber Handsteuerung ist Blödsinn."

"Warum?"

"Das weißt du doch! Du bist der Kommandant!"

Tanner grinst ein verzweifeltes Grinsen, vielleicht ist es auch hinterhältig oder verschlagen, Tanners Gesicht ist zu starr, um so eindeutige Festlegungen zuzulassen. "Nimm an, ich möchte es von dir hören."

"Na gut. Du bist unmöglich, Kommandant. Erstens: Die Emitter der G-Anlagen sind schwer beschädigt und würden beim Start auseinander fallen. Zweitens: Die Havarieantriebe sind teils ausgebrannt, teils sind sie uns schon um die Ohren geflogen. Drittens: Die Konverter können nur vom Computer gesteuert werden, und der ist im Eimer. Viertens: Warum begehen wir eigentlich keinen Selbstmord?"

"Ereifere dich nicht. Wenn ihr es schafft, wenigstens einen G-Emitter klarzumachen, können wir uns in dieser Höhe halten, das wäre schon was."

"In nicht ganz zwei Stunden?"

"Nein, früher. In fünfzig Minuten etwa. Sonst sind wir zu tief, als dass wir mit einem einzigen Emitter noch stoppen könnten."

"Fünfzig Minuten." Craven ist fahl geworden. In seinen kleinen grauen Augen steht einen Augenblick lang Angst. Er denkt an die Sonne, in deren äußerem Rand sie stecken und auf deren Kern sie langsam zufallen - es würde nur kurzzeitige Verschiebungen der Spektrallinien geben, wenn der höllische Druck da draußen die Schutzfelder zerquetscht und die Sonnenglut das Schiff aufreißt. In Zehntelsekunden wäre alles vorbei.

"Nun?"

Craven schaut einen Moment in den Bildschirm, in dem sich Tanners langes, scharfes Gesicht wie eine Briefmarke ausnimmt. Dann schüttelt er den Kopf.

Tanner schaltet sofort ab.

Als ob er nichts mehr sehen will, denkt Craven und wendet sich den Tafeln zu; auf denen sich wie leuchtender Aussatz die roten Havariesignale hinziehen.

Tanner, oben in der Zentrale, starrt noch ein paar Sekunden in den erloschenen Schirm. Da sieht er eine sitzende Gestalt, schwach, als Schemen, im Glas gespiegelt. Er weiß sofort, wer das ist und dass er sich keinesfalls umdrehen und den Mann ansehen darf.

Es ist ein unheimliches Gefühl, mit einem Menschen zusammen zu leben, den man nie ansehen darf. Jens Jakub ist verrückt seit den Zwischenfällen auf Samylia, und das fatale ist, dass Jens Jakub diesen Computer selbst mitentwickelt und gebaut hat. Dass er der einzige ist hier an Bord, der dieses verflixte Ding in Ordnung bringen könnte. Gerade jetzt...!

Tanner weiß, dass Craven es unmöglich schaffen kann, die lädierten Emitter zu reparieren. Nicht in so kurzer Zeit und nicht ohne die Hilfe des Computers.

Er sieht zu den verbissen arbeitenden Technikern hinüber. Einige Biologen haben sich als Helfer verdingt und reichen Instrumente zu, laden Laserskalpelle nach, holen Ersatzteile aus dem Lager. Tanner sucht Henryk. Schließlich entdeckt er ihn in einem Terminal. Zu sehen sind nur ein Paar sich hin und wieder heftig bewegende Beine; der Mann steckt in dem Gehäuse und schnauft vor Anstrengung. Dass das Henryk sein muss, erkennt Tanner an den stählernen Schuhsohlen - wie alle Menschen, die auf Karna geboren sind, vermisst auch Henryk die große Schwere seiner Heimatwelt, und das Gehen unter normalen Bedingungen ist für ihn eine Qual, Gehopse, wie er zu sagen pflegt.

Tanner ruft, ohne sich vom Platz zu rühren, hinüber, dass Henryk kommen solle, und schnell. Er weiß, dass der Elektroniker gern Rufe überhört, wenn er beschäftigt ist. Jetzt aber kommt gleich ein Geräusch aus dem Gehäuse, und schneller, als man es ihm zutrauen würde, kriecht ein stabil gebauter Mann aus den Innereien des Terminals.

Henryk ist sehr groß, sehr breit und mit einer enormen Reserve überschüssiger Kraft ausgestattet, verbunden mit der Fähigkeit, seine Bewegungen sicher zu beherrschen, ruhig wie ein Chirurg. Tanner betrachtet sich den Mann genau, als er mit seinen stampfenden Stahlsohlen auf ihn zukommt: von Kopf bis Fuß ein Kaniese. Dort gibt es Nachkommen vieler Nationen. Henryk hat den Vornamen und seinen Charme von der polnischen Mutter, den Nachnamen und die Dickköpfigkeit von einem irischen Urgroßvater, die blauen Augen und das dröhnende Lachen von einem Norweger und die breiten Lippen und die Ausdauer von einem anderen Urgroßvater, der seinerseits zum größten Teil, wie Henryk selber todernst sagt, ein Afrikaner war.

Tanner weiß genau, wie er und wann er mit Henryk reden kann; im Moment ist es ungünstig, aber es geht eben nicht anders. Henryks Augen zeigen graue Ringe, die stark geschwollen sind, und in seinen Augäpfeln schimmert das Rot zerplatzter Äderchen. -Trotz seiner gewaltigen Kraft hat er sich überanstrengt. Zwecklos, auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren.

"Kommandant?"

Tanner bewegt sich nicht. Sein Blick hängt an dieser Gestalt, seine Gedanken sind weit weg. Deswegen schrickt er zusammen, als Henryk ihn anredet.

"Wann ist der Computer wieder betriebsbereit, Henryk?"

"Nie, wenn wir Jens nicht endlich zu sich bringen."

"Was soll das heißen?"

"Wir konnten keinen einzigen Fehler finden. Das ist Fakt eins. Fakt zwei ist, dass die gesamte Sensotronik in Ordnung ist. Das kann es also nicht sein. Ich habe eine halbe Stunde mit dem Kopf nach unten in diesem Schacht gehangen."

Tanner muss den Eindruck niederkämpfen, dass die dumpfe und laute Stimme Henryks ihm ein schmerzhaftes Druckgefühl in den Ohren verursacht. Er weiß, dass das Einbildung ist. Henryks Stimme ist sehr tief. Und wenn er erregt ist, steigert er die Lautstärke. Das ist manchmal erschreckend. Jetzt ist er ruhig, zu ruhig.

"Fakt drei ist, dass nicht einmal die SOS-Checks durchkommen. Das kann nur eins bedeuten..."

"Was?"

Henryk sieht Tanner mitleidig an und weist auf Jens Jakub.

Tanner ist versucht hinzusehen.

"Es muss ein Prozess innerhalb der Zentralkreise sein; eine Überlagerung, ein irreales Problem, an dem er sich die Zähne ausbeißt. Vielleicht ist ein Kreislauf in Gang gekommen, der alles andre blockiert. Ein Blackout. Nein, das trifft es nicht."

Henryk schaut zu den Pulten, und Tanner erschrickt, wie hoffnungslos dieser Kerl von einem Menschen plötzlich aussieht.

"Weißt du, was ich denke, Kommandant?"

Tanner würgt irgendetwas hervor.

 Henryk achtet nicht darauf. "Unser herrlicher Computer geht an seiner eigenen Herrlichkeit ein. Er ist zu groß. Zu perfekt."

"Ich verstehe nicht..."

"Das Ding ist verrückt geworden. Genau wie sein Erbauer."

Das klingt hart, verächtlich. Aber es leuchtet Tanner irgendwie ein.

"Was schlägst du vor, Henryk?"

"Fragt da der Kommandant?"

Tanner grinst. Henryk hat sich gefangen.

"Ja. Ich fordere eine Antwort."

"Wie lange hält das Feld uns noch die Sonne vom Hals? So lange können wir noch, hm, irgendwas machen. Dann nichts mehr."

"Gar nichts?"

"Nein." Henryk sagt das ganz ruhig. Seine rotgeäderten Augen sehen Tanner an, ohne dass sie eine Regung erkennen lassen, und er steht da wie ein Klotz.

Tanner wundert sich nicht über diese unheimliche Ruhe: Es ist eben Henryk. Der kann sich gegen etwas, was er als unausweichlich erkannt hat, nicht mehr auflehnen. Sein Verstand sagt ihm, dass das Schiff irgendwann vom Druck der Sonne zerstört wird oder verbrennt, wenn das Feld die Hitze nicht mehr kompensiert.

Der Kommandant stößt sich vom Pult ab, seine Stimme ist hart. "Wenn du dich aufgibst, bringst du dich um. Ich finde das schäbig. Es gibt noch eine Möglichkeit. Dazu brauche ich dich noch."

Henryk blickt verwundert auf den Kommandanten herab. "Eine letzte Nachricht für die Basis? Dazu brauchst du mich doch nicht." Er weist auf das schwarze Schaltpult. "Da ist der Tachyonensender. Bitte."

Tanner schüttelt den Kopf. "Das ist es nicht. Ich weiß, dass du für verrückte Sachen nicht zu haben bist, aber ich will, dass du etwas Verrücktes tust. Ich kann es nicht verlangen von dir, du kannst dabei draufgehen."

"Was?"

"Ein handgesteuerter Raumsprung."

Henryk ist sprachlos. Er ist Elektroniker, nicht Pilot; ein Pilot hätte sofort abgelehnt. Ein Raumsprung ist etwas, was benutzt wird, ohne dass man allzu genau weiß, was eigentlich vorgeht. Es gibt Tausende von Faktoren, die die Länge und Richtung beeinflussen, selbst Hochleistungscomputer können nur ungefähr in die richtige Richtung steuern. So ist man ja hierher geraten. In einen Stern hinein statt dreihundert Millionen Kilometer davon entfernt.

...Unten wird repariert, was die Sekundenbruchteile heranflammende Sonne angerichtet hat. Henryk weiß, dass sie ebenso gut im Mittelpunkt des Sterns herauskommen können wie hinter dem letzten Planeten.

"Unsere einzige Chance, Henryk."

Aber um diesen Irrsinn ohne Computer zu machen, reicht eine Handsteuerung nicht hin. Das muss mit dem Sensorhelm gemacht werden. Das kann eine Rückkopplung geben - und das ein leeres Hirn. Eine Löschung. Vielleicht auch den Tod, aber das ist dann schon bedeutungslos. Was nach einer Löschung übrigbleibt, ist ein Körper mit dem Hirn eines Säuglings, nein, mit einer Nullpersönlichkeit. Henryk würde tot sein.

"Wenn nicht irgendeiner alles riskiert, sind wir schon am Ende. Wir fallen immer tiefer."

Henryk dreht sich um, er erträgt Tanners Augen nicht. Am großen Pult streicht er über ein paar Sensorfelder. Vom Bildschirm springt Sonnenlicht, das diesen Namen fragwürdig macht. Trotz der Dämpfung grell, mehr als grell. Diamanten, Pulverschnee bei klarem Wetter, Atombrand. Henryk kann erkennen, dass sich das Schiff in einer Blase befindet, kugelrund und beängstigend klein. Das ist das Feld. An der Grenze tobt der Kampf zwischen dem Schiff und der Sonne. Da schlitzen Wirbel die Hülle auf, wollen brüllend vorwärts stürzen. Werden mit aufzuckenden Impulsen der Steuerautomatik zurückgeschmettert in das Chaos, vermischen sich dort mit neuen Wirbeln.

"Henryk, ich würde es selber machen. Aber ich habe keine Ahnung von Elektronik."

Ein bläulich schimmernder Fleck schießt heran, stülpt sich zu einem flackernden Pilz auf, bevor er aufs Feld trifft, leuchtet einen Augenblick in einem irrlichternden Grün; bevor die rasch reagierende Automatik das Bild löscht, geht ein wenig von dem Zucken noch über den Schirm. Ein schrilles Geräusch füllt den Raum.

Plötzlich steht Eva neben dem Kommandanten, der immer noch Henryk ansieht. Sie hat alles mitgehört, und wie sie den Elektroniker kennt, würde er sich gleich entscheiden, wenn er hört, was sie zu sagen hat. Sie will es laut sagen. Tanner dreht sich um. "Ja?"

"Wir haben Pech. Eben sind fast alle Außensensoren zerstört worden. Ein Burst. Frag mich nicht, was das wirklich war. Es ist noch niemand innerhalb der Sterne gewesen. Meiner Meinung nach geraten wir in eine Art Wirbel. Vielleicht eine Protuberanz im Frühstadium. Vielleicht auch eine Reaktion auf unser Feld. Laut Berechnung bricht das Feld in sechs oder sieben Minuten ein - wenn das da draußen so weitergeht."

Tanner und Eva sehen zum leeren Astropult hinüber. Auf dem Schirm tanzen die bunten Linien irgendeines Diagramms. Alle Anzeigen tanzen mit. Tanner fasst unwillkürlich Eva am Arm, will sie an ihren Platz schieben, sinnlos, da ist nichts zu tun, da kann man den Stern beim Spielen beobachten. Eva bewegt sich nicht, sondern blickt Tanner aus großen Augen an. Craven schreit aus dem Koma etwas von Explosion und Energie und Um-Gottes-willen und Macht-doch-endlich-was, unter den Technikern kommt Unruhe auf. Henryk sitzt plötzlich auf dem unbenutzten Sessel und stülpt den Helm auf, und als er die Steuerung vom Computer trennt, spritzen ein paar Notsignale über die Bildschirme.

 Die Lichter werden dunkel, als Henryk alle Energie des Schiffes in die Konverter stopft und es ins Ungewisse reißt.

III.

Wie gut, dass ich noch da bin, um zu denken und zu bemerken, dass die Irren irrer werden und die Verrückten verrückter. Auch Mechin, der Wahnsinnige, der sich für den Arzt hält, ist schon - ach was weiß ich, was er ist.

Eben war ich wieder mit brausendem Kopf und den sich gewaltig blähenden Fingern draußen, wo die richtigen Menschen schweigen oder singend Karten spielen, mir zunicken, mir den Stern zeigen, in dem ich mich fühle wie zu Hause. Das Licht sprüht auf mich herab, während ich die goldenen Karten nehme und eine davon, weil sie ein falsches Muster zeigt, in das unendliche Feuer werfe. Die Karte verschwindet und löst Wirbel, bunte Lichter und farbige Schatten aus, die sich scherzend mit dem Blättchen Metall beschäftigen und es herunterfallen lassen auf den kristallenen Tisch; regenbogenfreundlich auffliegende Stäubchen, die die gefallene Karte einrahmen wie ein Kranz aus gestrickten Blättern einer fremden Blume.

Schmerzhaft, als packe mich ein riesiger Raubvogel, dessen Flügel laut rauschen, werde ich von dem glühenden Platz, der die Haut des Schrotthaufens ist, weggerissen.

Es hat jemand meinen Namen gesagt.

Die Wahnsinnigen haben meinen Namen gesagt, und ich beginne zu zittern. Ich spüre Gefahr. Ich kann nicht fliehen, ich bin festgebannt hier in dieser Ecke zwischen dem Kartenraum und dem verdammten Klo, auf das keiner geht, seit ich hier sitze. Wie lange sitze ich hier? Nein, nicht daran denken. Ich weiß die Folgen zu gut...

Die Wahnsinnigen haben meinen Namen gesagt, und die Rede geht von dem Ding, das ich gebaut habe und das so gut ist, dass es nicht einfach kaputtgeht, wenn ich hier sitzen muss, sondern treu und brav sagt, was ich sage, ich sage nein und nein und nein. Die Techniker schwitzen. Die Techniker achten kaum noch auf die blinzelnden, lachenden, schreienden Farbsignale, mit denen das Ding ihnen mein Nein sagt.

Die Wahnsinnigen haben meinen Namen gesagt, und dieser Name dröhnt in mir - die laute dumpfe Stimme, sie dröhnt in mir. Sie halten mich für irr, ausgerechnet mich, o Gott, mich, ist es nicht zum Lachen, es tut alles weh in mir. Was ist das nur?

Sie reden über mich, und mir tut alles weh davon, inwendig dreht sich alles. Ich höre jedes Wort. Alles hallt in mir wider wie ein Schuss in einer Schlucht, nackte Felswände ringsum.

Das schlimmste ist, dass ich alles verstehe, als ob mein Name einen Schleier weggerissen hat, der mein nacktes und fleischernes Gesichtsding verhüllte; das Blut bleibt aus unergründlichen Gründen bei mir und rinnt nicht auf den Boden, um dort einen Teich zu machen, mit Enten drauf aus meinem Kopf. Sie reden und reden, reißen mich fast auseinander. Mein Sitzplatz ist plötzlich ein höllischer Ort.

Aber das war er doch schon die ganze Zeit über, sage ich mir, und indem ich es mir sage, fällt mich jener brüllende Schmerz wieder an. Wieso wieder? frage ich noch mal gegen das Brüllen, das bloß lauter wird. Auch kommt Erinnerung hoch, die mich hilflos macht.

Ich habe in mir aufzuräumen, es tobt, wie draußen meine durchsichtigen Freunde beim Kartenspiel manchmal toben, wenn die Kristalle die goldenen Spiele nicht mehr mitmachen.

Das Dröhnen wird schwächer, vom Schirm her fällt ein Schimmer der höllischen Winde in mein Gesicht, das bäckt gar wie ein Würstchen im Ofen und verbrennt und wird schwarz und zerkrümelt.

Ich bin Jens Jakub. Das macht mich irgendwie anders, dass ich das denken kann, ohne in diesem Brausen davonzuschwimmen in diese eigentliche Welt da draußen.

Es geschieht etwas - plötzlich schreit das von mir gemachte Ding auf, man hat es verstümmelt, der Große hat das getan, er ist einer von Karna, fällt mir ein, einer von denen, die immer so stark tun und manchmal so schwach sind. Hedda fällt mir ein. Wer ist Hedda? Samylia fällt mir ein. Beides steht in einem Zusammenhang. Irgendwie ist beides zusammen wichtig und schrecklich. Spritzendes Fleisch fällt mir ein und aufleuchtende giftige Farben. Ein ganz merkwürdiges Gefühl fällt mir ein. Ich habe Angst. Der Karnese hat mein Geschöpf verstümmelt, und er wird es büßen, das spüre ich.

In diesem Moment geht das Licht aus, und ein mächtiges Donnern hebt die Zentrale hoch und spielt Pingpong mit ihr, kleine erschütternde Hopser, die meine Zähne aufeinander schlagen lassen.

Das Licht geht wieder an. Der unter dem Helmschutz ist ganz still, während auf den Schirmen fremde Bilder aufflammen, andere. In meinem Kopf explodiert etwas.

IV.

Tanner wird, als das Schiff wieder in den Normalraum eintaucht, in eine Ecke gedrückt, aus der er nicht wieder herauskommt; er ist in ein abgeschaltetes Terminal eingesperrt, sein linkes Bein ist in eine Verkleidung getreten, da steckt es nun fest. Mit der Schulter klemmt er in einem Wust zerstörter Schaltelemente, Siliziumkristalle rieseln herab. Tanner versteht nicht, wie er dahin geraten ist; er versucht sich zu rühren. Es geht nicht. Was, verdammt noch mal, ist passiert? Vor sich sieht er ein paar Kabel, einen gesprungenen Schaltblock, dahinter eine geäderte Masse. Es tropft eine trübe Flüssigkeit heraus.

Ein Bioelement. Wie kommt das in ein Terminal? Tanner ruckt mit dem anderen Bein. Er stößt an etwas Weiches. Den Kopf kann er nicht wenden. Er probiert es mit Sprechen, geht nicht. Er denkt nach und stellt fest, dass er mit dem Gesicht in einer der weichen Deckplatten steckt, die muss ihn einrahmen wie ein Bild. Tanner beschließt, ganz ruhig zu sein und zu warten, bis die anderen ihn herausholen. Das Weiche fällt ihm ein, an das sein Bein eben geraten ist. Er probiert nochmals; das Etwas ist weg.

Tanner hängt, er muss diesen Gedanken verdrängen, wie ein zum Experimentieren eingespanntes Kaninchen. Er ist aber nicht von ungefähr Kommandant eines so großen Schiffes - er hat die Eigenschaft, immer das Gegenteil von dem zu sein, was die andern sind. Ruhig, wenn alles hektisch ist, unruhig, wenn alles in Ordnung und sicher scheint, sicher, wenn die Experten zweifeln. Ohne das kann man einfach nicht in einem bestimmten Augenblick sagen, so und nicht anders müsse es gemacht werden. Tanner kann in Sekundenbruchteilen entscheiden; das nutzt ihm im Augenblick gar nichts. Tröstlich immerhin, daran zu denken. Jetzt ist er aktionsunfähig. Na gut. Es ist also unsinnig, sich zu winden.

Eine Weile hängt er so, dann erinnert er sich wieder an das Kaninchen, ihm eine Hand am Nacken fasst, ruckt und an ihm zerrt. Dann ist sein Gesicht frei, aber sein Blick trübt sich. Ist er nun auch noch blind?

"Was ist passiert?", fragt er und ist erleichtert, dass er seine Stimme dumpf wahrnimmt - irgendetwas verstopft seine Ohren. Sein Gesicht wird sauber gemacht, Eva lächelt ihn an und hat ein blutiges Tuch in der Hand. Mechin pflastert an Tanner herum. Das Gesicht muss heftig zerschrammt sein. Als der Arzt den Weichplast aus Tanners Ohren schabt, nimmt Tanner als erstes die Worte wahr, die durch die Zentrale schwirren.

"...Teufel; wer war das?", schreit Craven aus dem Kom, es antwortet keiner; die Techniker schnattern laut und erregt durcheinander. Dass etwas unmöglich sei, hört Tanner, und dass eine Steuerung nicht mehr anspreche, und noch einiges, was ihm mitteilt, dass sie zwar dem Stern entschlüpft sind, aber nicht ihren Problemen.

Eva will erklären, Tanner winkt ab, zieht direkte Information vor. Alle sind aufgeregt. Er ist kühl, er hat Zeit. Man zerrt ihn aus dem Schrott, er baut sich sofort vor den Anzeigen auf - das Kommandantenpult ist intakt - und kann sehen, dass sein Schiff nicht viel mehr beschädigt ist, als es ohnehin schon war. Merkwürdige Werte des Schutzfeldes. Rote höhnische Lichter an der Computerkontrolle. Ein Gewimmel roter Lichter im Maschinenraum. Tanner blickt Eva an, die schräg hinter ihm steht. Hinter ihr sieht er die matschigen Flecke, die von den herauskatapultierten Bioelementen stammen. Sie müssen zu locker eingeschoben worden sein. Einige zucken noch. Es stinkt.

"Also, Eva?"

"Unser größter Minuspunkt ist der Kurs. Wir sind in der Nähe des dritten Planeten herausgekommen und fliegen mit erheblicher Geschwindigkeit auf ihn zu. Keine Korrekturmöglichkeit, die G-Emittoren sind, wie soll ich sagen, vorher noch besser gewesen als jetzt. Es hat eine Explosion gegeben bei Craven!"

Das letzte schreit sie fast, und Angst ist in ihrer Stimme. Tanner fasst zu und schubst Eva in einen Sessel. Sie ist verblüfft, sieht ihn erstaunt an. Er konstatiert, dass Eva nicht mehr an ihre Angst denkt. Gut.

"Craven!"

Im Kom knackt es. Craven schwitzt und sieht, wie meist, seitwärts auf seine Anzeigen. Was er da sieht, scheint ihm nicht zu gefallen; seine Stimme ist schrill. Tanner zuckt ein wenig zusammen.

"Alles Scheiße!'", brüllt Craven. "Wir sind hier unten bei dieser Aktion völlig überrascht worden, der Computer hat nichts gemeldet, dieses Rabenaas - wer hat dieses Wahnsinnsprogramm eingegeben? Ich frikassiere ihn!"

"Niemand", sagt Tanner langsam.

Das hilft. Cravens Gesicht erstarrt und sieht einen Augenblick lang dümmlich aus. Eva gluckst leise hinter Tanners Rücken.

"Das war ein handgesteuerter Sprung. Wir sind aus dem Stern heraus. Das ist die Hauptsache. Du sollst nicht herumschreien, du sollst mich informieren."

"Zwei Verletzte, sie sind schon auf Station. Ein total geschaffter Emitter, explodiert. Wir brauchen viel Zeit. Mehr Zeit. Zweites Problem: Wir haben einen Feldeinbruch gehabt, als wir wegtauchten." Craven hat sich gefangen, er grinst. "Wenn wir zurückkommen, mach ich meinen Doktor auf diese Geschichte: Wir haben nämlich den Halfis-Effekt praktisch am Halse."

"Was ist denn das?"

"Eine rein theoretische Möglichkeit. Enklavation von umgebender Materie beim Raumsprung und Kapselbildung im Feld, Circulus vitiosus in der Feldkontrolle, es resultiert eine Feedback-Quasi-Sonne."

"Kannst du das einem normalen Menschen auch erläutern, ohne zu kauderwelschen?"

Craven lacht, ein helles Jungenlachen, das wie seine Stimme in schroffem Widerspruch zu seiner massigen Figur steht.

"Grob vereinfacht: Wir .haben ein Stück Stern eingefangen, das infolge eines steuertechnischen Effekts wie eine Blase von unserm Schutzfeld eingeschlossen und zusammengedrückt wird..."

"Eine Superbombe", sagt Tanner. "Was passiert, wenn wir das Feld abschalten?"

"Bumm."

"Was, wenn wir es nicht abschalten?"

"Bleibt das Ding bei uns."

"Aber doch nicht ewig!"

"Treu wie ein Dackel."

"Und die Energie?"

"Unser Feld komprimiert das Sternstück doch dauernd. Wir speisen unsere Sonne selbst."

"Was schlägst du vor?"

"Computer reparieren."

"Warum?"

"Der kann mit Zusatzaggregaten und guter Berechnung die Explosion ins All drücken."

"Per Hand geht das nicht?"

"Zu kompliziert, zu risikoreich. Das innere Feld könnte das Schiff zermalmen."

"Danke, Craven." Das klingt ironisch.

"Bitte." Craven bleibt nichts schuldig.

Tanner hat aber noch eine Frage. "Wie schätzt du unsere Chancen ein?"

"Schlecht. Der Computer entscheidet. Unsere Schicksalsgöttin, wenn du so willst."

"Will ich das?", sagt Tanner und schaltet ab. Craven weiß nichts vom Kurs, und das ist gut so. Es herrscht schon genug Panik, denkt Tanner.

Wie ein Auge, das nur gezwinkert hat, leuchtet der kleine Bildschirm des Koms wieder auf, und Craven ist wieder da, wohl nicht einverstanden damit, einfach abgeschaltet zu werden vom Kommandanten. So schaut er wieder herab und sieht Tanner sehr aufmerksam an, bevor er spricht.

"Du bist mehr in Sorge, als du zugibst, Tanner. Lass dich nicht..., nun, nicht hinreißen zu etwas, was du später vielleicht bereust."

Tanner ist angenehm berührt. Das bindet ihn schon so lange Jahre an diesen Chief, und er wollte noch nie einen andern haben als den, diesen dicken, unsympathischen Mann. Craven versteht es immer wieder, seinen Kommandanten zu überraschen und ihn in den merkwürdigsten Situationen mit den unerwartetsten Worten anzureden. Ruhepunkte in einem bewegten Wasser.

"Ich bin ganz ruhig. Das weißt du doch."

"Ja, das weiß ich doch..."

Craven grinst, eine Grimasse, die Tanner nur zu gut kennt, die schnell böse werden kann, wenn der Dicke es für nötig hält. Der kann seine Gefühle nämlich gut steuern, was man ihm kaum zuzutrauen bereit ist, wenn man ihn so sieht.

"Was willst du?", fragt Tanner.

"Ach je... Wer hat den Sprung eben, hm, gemacht, kann man das so sagen?"

"Das kann man."

"Also wer?"

"Henryk."

"Gut. Sag ihm, das nächste Mal soll er vorher Bescheid geben, sonst puste ich ihm die letzten paar Gedanken aus dem Schädel."

"Ich sag's ihm."

Craven, auf dem Bildschirm, legt mit bekümmerter Miene die Hand auf den Schalter und tastet sich - selbst! - aus der Verbindung heraus.

Ein paar Sekunden sitzt er still und hat die Augen geschlossen, wissend, dass da mehr ist als die Dinge, die ihm hier unten Kopfzerbrechen bereiten, dass da noch etwas anderes sein muss, was er nur ahnt, was er aber in Tanners dunkel gewordenen Augen gesehen hat. Was er gar nicht wissen will. Um keinen Preis möchte er das wissen. Das ist nicht Feigheit, das ist eine Art Schutz, um sich seine Welt zu erhalten, in der seine Gedanken etwas auszurichten vermögen. Dort oben vermag er nichts auszurichten. Das weiß er.

Oben hat Tanner einen Augenblick in den dunkel schimmernden Schirm geschaut. Als müsse er eine Last abschütteln, steht er ruckartig auf. Wenigstens da keine Panik, denkt er.

Einen sekundenkurzen Gedanken lang hat er eine blödsinnige Angst, dem hässlichen Mann da unten könne etwas zustoßen. Er sagt sich, dass es allen zustößt, was mit dem Schiff geschieht, allen, auch ihm selbst - und das beruhigt ihn.

Eva, hinter ihm, hat nicht weiter zugehört, sie hat zu tun an ihrem Arbeitsplatz.

Tanner geht zu ihr. "Bist du jetzt ruhiger. Eva?"

Sie sieht ihn von unten herauf an und schüttelt den Kopf: Tanner beschaut sie sich, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Aber er ist sicher, dass es nichts Bedrohliches gibt im Moment, nichts, was drängen würde. Die Lage ist schlecht, denkt er, aber wir halten es aus. Schließlich ist dieses Schiff so mächtig, dass es schon gewaltiger Anstrengungen bedarf, es zu vernichten.

Eva hat ein fast männliches Gesicht, graue, leuchtende Augen, extrem kurze Haare, hervorstehende Wangenknochen. Sie kann einen indianischen Großvater nachweisen; das Gesicht und die Haarfarbe sind dessen Erbstücke. Im Augenblick ist sie konzentriert und gefasst und hat Ähnlichkeit mit einem balancierenden Seehund, vom Schnurrbart abgesehen, denkt Tanner.

"Wir haben Kurs auf den dritten Planeten. Ich nehme an, eine Folge des ungesteuerten Sprunges. Ausrichtung auf das stärkste Gravitationsfeld. Wenn wir nicht etwas unternehmen, treten wir in etwa vierzig bis fünfzig Minuten in die Atmosphäre ein. Vielleicht werden wir noch schneller durch die Anziehungskraft des Planeten."

"Hat er schon einen Namen?"

Sie sieht ihn erstaunt an. "Ich schaue nach." Ihre Finger lassen die Tastatur klappern.

Ein Flackern geht über den Schirm. Die Flugkurve verschwindet, und eine ausführliche Notiz flammt auf.

"Atanija", sagt Eva ernst. Das hat einiges zu bedeuten. Auch, dass dieser Planet Leben trägt. Nur solche erhalten Namen. Da dieser Name hethitischer Herkunft ist, muss er noch aus der Zeit der Sonnenerkundung stammen. "Wie der Unglücksplanet", fügt sie hinzu. Sie muss an Samylia denken und an Hedda.

"Was passiert, wenn wir den Kurs beibehalten?", fragt Tanner. Er weiß, woran Eva erinnert wird, er muss sie davon abbringen. Und er muss an Jens denken.

"Das habe ich schon berechnet. Wir knallen fast senkrecht darauf, unser Feld kann das aber auffangen. Wir werden etwa dreizehnhundert Meter tief zum Stehen kommen. Von da aus können wir uns frei machen. Aber..."

"Ich weiß, Eva. Das wäre eine Vernichtungsaktion. Wir dürfen so etwas auf einem Lebensplaneten nicht machen." Tanner geht zu Henryk hinüber, der groß und blass in einem Sessel liegt; Mechin ist bei ihm.

Aber, denkt der Kommandant, es ist noch die Frage, ob das Feld den Aufprall wirklich abfangen könnte. Wir schleppen eine kleine Sonne mit uns herum. Ach, Henryk.

Mechin richtet sich auf. "Henryk ist in Ordnung. Der Stoß hat ihn mitgenommen, aber sein Gehirnkasten ist o. B."

"Ihr wisst genau, dass ihr mich so leicht nicht los werdet", sagt Henryk mit tiefdröhnender Stimme. Graue Schatten sind unter den Augen des Mannes, aber; erinnert sich Tanner, die waren schon vorher da.

"Wie geht es dir?"

"Blendend wie immer; bloß der Medizinmann lässt mich nicht aufstehn. Er denkt, ich klappe zusammen. Bin ich ein Pappmensch? Nein, ich bin von Karna und ein wenig stabiler gebaut."

"Du bleibst, wo du bist", sagt Mechin. Er hat seine Apparate angeschlossen und testet Henryks riesigen Körper durch.

Ohne Fachmann zu sein, sieht Tanner; dass da einige rote Punkte flimmern. Plötzlich ist ihm im Innern schrecklich kalt.

Er blickt zu Eva. Eine dreiviertel Stunde noch, denkt er und zwingt sich, die Zentrale richtig und gründlich anzusehen, bevor er mit Henryk und mit Mechin sprechen wird.

Die Zentrale ist ein wenig verändert. Außer Tanner ist noch einer der Techniker in die Terminals gesaust; dessen Gesicht ist auch halb zerpflastert.

Die zerdrückten Stellen im Weichplast klaffen weit. Die stinkende Flüssigkeiten aussondernden Bioelemente werden gerade in einen Behälter abgesaugt. Auf der anderen Seite werden neue Elemente eingesetzt und justiert. Aber ein bisschen besser als die alten! will Tanner rufen, aber er unterdrückt das. Kein Grund, die Leute zu verunsichern. Bei diesem Gedanken wird er aufmerksam. Ja: Alle sind ruhig. Eva nicht, die arbeitet aber. Craven auch nicht, aber der hat seine Nerven wieder im Zaum. Mit bestürzender Deutlichkeit kommt Tanner zu Bewusstsein, dass er der einzige ist, der um die bedrohliche Lage weiß. Das ist wahrscheinlich gut so. Keiner außer ihm sollte damit belastet werden.

Doch, einer. Henryk.

"Kannst du ihn wieder freigeben, Mechin?" Tanner weiß, dass der Arzt das nicht kann, aber er muss allein mit dem Karnesen sprechen.

Mechin blitzt den Kommandanten aus schmalen Augen an. "Er muss auf Station! Da ist einiges durcheinander. Er braucht Ruhe."

"Geh, Mechin! Das ist eine Bitte. Noch ist es das."

"Tanner! Ich bin hier der Arzt! Und die Gesundheit der Besatzung..."

"Ich weiß", sagt Tanner leise. "Aber ich bin der Kommandant. Also!"

Mechin will noch einmal protestieren, aber Tanner herrscht ihn an, und er siezt ihn, was auf dem Schiff eine seltene Ausnahme ist. Tief innen tut es ihm unendlich leid. Du wirst es verstehen, denkt er. Aber zu sehen, wie Mechin brüsk den elektronischen Auswerter hinwirft und sich umdreht, das tut weh.

"Was hab ich falsch gemacht?", dröhnt Henryk.

"Du kannst nichts dafür. Aber..."

"Sprich dich aus! Ich bin nicht zerbrechlich."

Tanner schaut Henryk an: die Stahlsohlen an den Schuhen, die dicken Beine, denen man ansieht, dass sie mehr aushalten als einfache Erdenschwere; die gewölbte Brust, an deren Schultern die Muskelpakete der Arme festgemacht sind; den Stiernacken, die breiten Fäuste, die das Wasser aus festen Kartoffeln herauszupressen fähig sind. Die Karnesen pflegen ihre Kräfte mit solchen Tricks zu demonstrieren.

"Wir sind aus dem einen Schlamassel heraus", sagt Tanner.

Henryk richtet sich aufmerksam auf. "Aber wir sind im nächsten Schlamassel drin?"

Tanner sieht nicht, wie Mechin von einem Terminal aufspringt und mit einem Paket Kompaktspeicher zu Eva geht, ja rennt, wie er auf sie einredet und wie Eva den Arzt immer erstaunter anblickt.

"Wir sind dabei, einen Planeten zu rammen. Der Planet trägt Leben", sagt Tanner.

Henryk hört zu.

"Theoretisch könnten wir den Absturz aushalten. Aber wir haben ein Andenken an den Stern, aus dem du uns herauskatapultiert hast. Eine Minisonne, die sich unserem Schutzfeld angehängt hat. Wir werden sie ohne den Computer nicht los. Und wahrscheinlich verschluckt sie so viel Energie, dass wir den Aufprall nicht riskieren können. Wir würden zerfetzt."

Henryk weiß, was aus dem Planeten würde. Wenn er nicht ganz und gar zerplatzt, wird er radioaktiv verseucht werden. Beides darf nicht sein.

Der Kommandant und der Elektroniker sind beide still, schauen sich an, erwarten etwas voneinander. Henryk sieht in Tanners Augen dessen Hilflosigkeit und die Bitte, den Kopf noch einmal in die Höllenmaschine zu tun und es mit einem Sprung zu versuchen, ins Ungewisse, keiner weiß; wohin.

Zwischen Mechin und Eva ist ein leiser, aber rascher und heftiger Dialog ausgebrochen. Mechin breitet die Arme aus, Eva wehrt ab, der Arzt zeigt, ohne hinzusehen natürlich, auf Jens Jakub, Eva zuckt zusammen und beißt sich auf die Unterlippe. Dann spricht sie schnell zu Mechin und blickt zu ihm auf. Während Tanner und Henryk schweigen, ist zwischen den beiden irgendetwas entschieden worden.

Mechin beginnt, die Kompaktspeicher in die Eingaben zu stopfen und ein Programm bereitzustellen, das schon fertig zu sein scheint. Eva steht auf und geht zu ihrem Spind, einem winzigen Fach neben dem Kartenraum.

Tanner merkt, dass Henryk ihn verstanden hat. Einen Augenblick lang fühlt er sich versucht, selbst den Helm aufzusetzen, aber er weiß genau, dass er nichts ausrichten würde. Er kann nicht in den Begriffen denken, die der Elektroniker benutzt. Tanner ist kein Mensch, der mit den Maschinen reden kann. Er hat Überblick zu haben. Er kann das Räderwerk regieren, nicht ein einzelnes Rad.

Henryk richtet sich auf, wuchtet sich hoch und geht stampfenden Schrittes zu dem Pult, vor dem der Helm liegt, auf den Boden geworfen, achtlos; das war Mechin.

Als Henryk schnell den Helm durchtestet und ihn in Ordnung findet, eilt Mechin zu Tanner und packt ihn am Arm. Tanner dreht sich um. Sie reden nicht; es ist alles gesagt worden, und der Kommandant hat entschieden.

Tanner durchfährt es kalt, als er Mechins Augen sieht. Er wehrt sich gegen den Gedanken, aber er hat es noch nie gut verstanden, sich gegen einen offensichtlichen Schluss zu wehren, Mechin hasst ihn. Er hasst ihn unerbittlich und tief in diesem Augenblick.

Leicht, denkt Tanner, wird das wohl kaum zu flicken sein, vielleicht nie.

Tanner bewegt sich nicht. Henryk will den Helm aufstülpen, als Mechin ihn mit einer herrischen Geste stoppt.

"Kommandant, ich habe mit Ihnen zu sprechen."

Wieder fühlt Tanner jene stumpfe Kälte in seinem Innern. "Wir haben wenig Zeit."

"Wie Eva sagt, etwa fünfzig Minuten."

"Gut. Sprechen Sie."

"Es gibt einen anderen Weg, den Kurs zu ändern und die Lage des Schiffes zu stabilisieren."

"Und der wäre?"

"Jakub repariert den Computer."

Tanner erstarrt und wagt sich nicht zu bewegen, erwartet einen Anfall des in der Ecke Zusammengekauerten, aber der ist ruhig.

Mechin erklärt in ruhigen und konzentrierten Worten, während Eva endlos scheinende Informationen abruft.

V.

Alles ist anders, alles ist vollkommen auf eine nicht bestimmbare Art. Ich meine zu träumen: meine Freunde vom kristallenen Spieltisch haben ihre goldglitzernden Karten aus den staubigen Händen gelegt und sind zu mir gekommen und bilden einen glühenden Ring um mich, der die Wahnsinnigen von mir wegzutreiben sucht. Aber die hören nicht; sie hasten und tun, und tief in mir ist ein Schorf aufgesprungen, öffnet sich eine schreckliche, eiternde Wunde, brennt sich in mich hinein. Erinnerung.

Erinnerung an was? Und an wen?

Ich spüre glutheiße Finger mich berühren, mir übers Gesicht streichen, rote, sich aufwerfende Striemen müssen davon zurückbleiben, ebensolche Striemen wie die Blutfäden, die herabgeronnen sind, als zwei der Irren in einen Apparat geschleudert wurden und sich ein paar Schrammen holten. Was für eine Farbe, dieses Rot, was für ein leuchtendes Signal, meine gespenstischen Freunde verblassen fast dagegen - der Wahnsinn will nicht enden, und mein Platz soll hier sein, und mein Kopf soll fast zerspringen über der Anstrengung, die dieses Rot in mir entfacht hat. Erinnern, was für ein hässliches Wort und wie drängend.

Ein Blinder, dem Augen eingesetzt werden - das bin ich nun. Die Wahnsinnigen sehen sich an und schweigen, wenn sie nicht reden, und dieses Dastehen, dieses Nichtstun, macht mich fertig, verwandelt mich in ein austrocknendes Bündel Kaulquappen, schrumpft mich, bedroht mich...

Dann wieder ein Gefühl, als wenn gleich ein Lied anfangen müsste, ein Lied, in dem ein Zug durch sonnenhelle Landschaft fährt und Eisen singt, alles Erinnerungen, Erinnerungen - an was? Die Bilder kommen auf mich zu, ziehen an mir vorbei, ich sehe Vergangenheit, sehe mich, Jens Jakub, am Computer sitzen, arbeiten, einem verborgenen Rätsel hinterher lauschend, in bunten verschlungenen verwirrenden Kurven, ha, verwirrend nicht für mich, ich sehe alles klar und deutlich, kann mein Denken in diese Linien hinein verweben, schwinge mit, schwimme in langsamen, schwellenden Wellen und erkenne, was hier treibt und was da hemmt und wo sich die Wirbel bilden im Strom; das lässt mich an meine blutenden Freunde denken, an die gemächlichen Bewegungen, mit denen sie ihre edlen Metalle auf das zerbrechliche Material des Tisches knallen lassen. Mit welcher Grazie sich der Staub emporschwingt, im Druck des Lichtes spielt und sich in weichen Bögen absetzt. Mein Name ist mir auf einmal nicht mehr schrecklich, ich kann mir sagen, dass ich Jens Jakub bin, dünne blonde Haare, die nie eine Frisur behalten wollten, schmale Nase, blasse Augen, ein nichts sagendes Gesicht, eine Dutzendmaske, wie hasse ich sie. Nur wenn man sagte, das ist der, der die besten Maschinen baut, wurde es ein besonderes Gesicht, und dann, wenn ich in das Innere meiner Geschöpfe tauchen konnte, dieser Maschinen voller Kraft und Intelligenz und... Mein Kopf ist zu klein dafür, für dieses Zurückdenken, für dieses Bild, wie ich da saß in meiner Welt aus mir und dem Ding und wie ich mich verschloss und irgendetwas nicht hörte, irgendetwas Wichtiges; es zerfetzt mich, zerstört mich!

Die Wahnsinnigen, die Unsinniges tun, Unverständliches reden, Merkwürdigkeiten im Blick haben und im Schilde führen, diese Wesen, die mich so sehr nicht beachten hier in meiner Ecke, sind wieder einmal aufgeregt, schimpfen, schreien, ja, sie schreien, auch wenn sie nicht sehr laut sind, aber was sie sagen, schreit, und wie es schreit – donnernde Verrücktheiten.

Donnern?

Es ist nur mein Name, der mir laut scheint und mich wie mit Fingern aus glühendem Stahl zu bezeichnen weiß. Erbarmungslos. Ich will mich flüchten auf die glückliche Außenhaut mit ihren Sternenwindspielen.

Es geschieht etwas, was mich am Wegsacken in die wahre Welt hindert, mich festbannt und zum Mittelpunkt macht. Die Irren sehen mich und wenden sich zu mir. Ich bin ihr Spielzeug, und sie spielen ihr Spiel mit mir. Sie verändern alles um mich herum, alles wird anders, fremd. Nein - vertraut, unheimlich vertraut. Mir ist, als erblickte ich ein anderes Ich, ein früheres, freundliches. Freundlich gewesen zu den Irren? Das muss jemand anders gewesen sein....

Trotzdem: Der Name Samylia fällt mir ein und der Name Hedda, und die Irren beginnen, in meinem Innern zu stochern und mir meine sieben feurigen Häute abzuziehen, und es tut weh.

Ich wehre mich nicht. Ich kann mich nicht wehren. Ich bin längst auf meinem Platz festgefroren.

VI.

Mechin erzählt, während Eva mit schmerzenden Augen und wachsendem Interesse die Texte der Kompaktspeicher studiert, mit leiser und ruhiger Stimme von seinen Nachforschungen. Von Versuchen, Jens Jakub zu heilen. Er hat alle befragt, die Jens kannten, und das waren doch wohl alle hier an Bord.

Die Männer sehen sich an und erinnern sich an die geschickt gestellten, wie beiläufigen Fragen Mechins. Aus ganz anderen Gesprächen heraus hatte Mechin das Thema berührt, und mancher war bereit gewesen, vieles zu sagen, was man sonst vielleicht nicht so einfach preisgibt. So hat sich Mechin ein Bild Jens Jakubs zusammengepuzzelt, wie er es nennt, und die Frauen, sagt er ohne das leiseste Zwinkern in den hellen Augen, die Frauen haben ihm ganz besonders geholfen. Einige lächeln, .andere sehen erstaunt drein und versuchen sich zu erinnern. Ein altes Vorurteil, meint Mechin, habe sich bestätigt - dass Frauen die besseren Beobachter seien. Und, setzt er hinzu, noch immer ohne Lächeln, die Frauen haben auch das bessere Gedächtnis. Sie erinnerten sich gut an Jens Jakubs Art, seine manchmal altmodische Eleganz, seine merkwürdige Art Charme, immer zuvorkommend und höflich an der Oberfläche, immer mit einer leisen, aber· funkelnden Ironie. Wenn er einer mit Gesteinsproben beladenen Planetologin den Arm bot, aber ihr nicht die Steine abnahm, begründend, nur beim Fachmann seien die Klunkern ja richtig gut aufgehoben... Wenn er, beim Tüfteln mit seinem Computer gestört, mit säuerlichem Lächeln heilige Eide schwor, gerade von der jetzt Eintretenden würde er sich mit Vorliebe stören lassen, und sei's beim Erfinden des Fahrrades - und gleich darauf die Bosheit mit einer gut gespielten Herzlichkeit vergessen machte... An solche kleinen Episoden erinnert Mechin, und er ist nicht willens, weitere Proben seiner Ausgrabungsergebnisse bei der weiblichen Bevölkerung, wie Henryk spöttisch bemerkt, zu geben.

Statt dessen spricht Mechin, ohne seine Stimme zu heben, alle zu Aufmerksamkeit zwingend durch den fast flüsternden Tonfall, von Jakubs Besessenheit, seinen ohnehin einmaligen Computer noch weiter zu vervollkommnen, ihn auf eine Stufe zu bringen, wo Elektronik, Sensorik und Positronik wirklich zu einer eigenständigen Intelligenz werden. Intellektronik hatte Jakub das genannt, jeder, der dort steht, kann sich erinnern, dass der jetzt Verrückte zu ihm davon gesprochen hat. Erklärungsversuche, meint Mechin, die zum Scheitern verurteilt waren. Denn Jens war in seiner ständigen Arbeit mit dem modernsten Denkgerät der bekannten Welt in Höhen und Probleme vorgedrungen, deren Darlegung kein anderer mehr folgen konnte. Fachkauderwelsch, das nicht einmal die Fachleute mehr verstanden.

Dem können sie noch folgen, aber die Leute werden unruhig, als Mechin, ungerührt und leise, von einem Verbrechen berichtet, das er im Verlauf seiner Nachforschungen begangen hat. Die Intimsphäre eines jeden Menschen wird per Gesetz geschützt, aber Mechin - und er sagt dies, ohne mit der Wimper zu zucken! - fühlte sich wegen der Wichtigkeit des Falls ermächtigt, die persönlichen Speicher zu lesen, wie er es gewandt umschreibt.

Alle wissen, was dies zu bedeuten hat. Mechin hat Kode um Kode geknackt, Alarmprogramme ausgetrickst, Hacker gespielt, alles verbotene Dinge, ungeheuerlich! Murren kommt auf. Tanner räuspert sich und bringt Ruhe in den Raum mit Mechins leiser Stimme darin.

Ja, eingebrochen habe er, gibt Mechin zu, aber es sei eben nicht zu vermeiden gewesen, versichert er - und er entwickelt seine Vorstellung von den Ursachen der seltsamen und bedrohlichen Computerverwirrung, die ihnen augenblicklich so viele Schwierigkeiten bereite.

"Schwierigkeiten!", ruft hier Henryk böse.

Der Computerfachmann, führt Mechin aus, habe seinen Computer, dessen Innenleben er ja gründlichst kenne, mit einer erheblichen Reserve an - wie solle man das nur nennen? -, nun, an Denksubstanz ausgestattet. Hier seien Speicher- und Rechenblöcke nicht getrennt, es gebe keine klare Trennung von Programmspeichern und Programme entwickelnden Einheiten - es sei eben wirklich Denksubstanz. Und mehr davon, als zum Lenken des Schiffes nötig sei, erheblich mehr.