Spirit Animals 6: Die Stunde schlägt - Scholastic Inc. - E-Book

Spirit Animals 6: Die Stunde schlägt E-Book

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Beschreibung

Band 6 des spannenden Tierfantasy-Abenteuers! Rollan und Conor machen sich auf die Suche nach dem Talisman des Löwen Cabaro. Doch Cabaro hasst alle Menschen und will ihnen seinen Talisman nicht geben. Meilin und Abeke, die in der Gewalt der Eroberer sind, sehen unterdessen mit eigenen Augen, wozu ihre Feinde fähig sind. Was können die Kinder gegen so viel Zorn und Grausamkeit aufbieten? Etwas viel Mächtigeres: Freundschaft, Loyalität und Heldenmut. Entdecke die Welt der "Spirit Animals": Band 1: Der Feind erwacht Band 2: Die Jagd beginnt Band 3: Das Böse erhebt sich Band 4: Das Eis bricht Band 5: Die Maske fällt Band 6: Die Stunde schlägt Band 7: Der Zauber befreit Band 8: Das Dunkle kehrt zurück Band 9: Die Erde bebt Band 10: Der Sturm naht

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2017Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2017 Ravensburger Verlag GmbHOriginaltitel: Spirit Animals. Rise and FallCopyright © 2015 by Scholastic Inc. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012, USA.SCHOLASTIC, SPIRITANIMALS and associated logos are trademarks and/or registered trademarks of Scholastic Inc.Übersetzung: Wolfram StröleLektorat: Franziska JaekelUmschlag: Keirsten Geise, unter Verwendung einer Illustration von Angelo RinaldiVorsatzkarte und Vignetten: Wahed KhakdanAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47795-1www.ravensburger.de

Für Ombwe und Oshwe, zwei Bonobos, die meine Seele erobert haben– E. S.

GEFANGEN

Ein dumpfer Schlag.

Zitternd fuhr Abeke aus dem Schlaf hoch. Im ersten Moment glaubte sie, sie hätte nur geträumt. Dann hörte sie es wieder.

Bumm!

Sie sprang auf und wäre fast mit dem Kopf gegen die Decke gestoßen. Die an ihrem Knöchel befestigte Kette schlug gegen Meilin und weckte sie ebenfalls.

„Was ist los?“, fragte Meilin und streckte im Dunkeln tastend die Hand aus.

Abeke erinnerte sich schlaftrunken daran, wo sie sich befanden: Sie waren immer noch auf einem Schiff gefangen, das sie zum Lager der Eroberer im südlichen Nilo brachte. Abeke war schon einmal mit einem Schiff der Eroberer gefahren – aber damals war sie Ehrengast gewesen. Sie hatte in einer Kabine mit Federbett und goldgerahmtem Spiegel übernachtet und sich auf dem ganzen Schiff frei bewegen dürfen. Jetzt war sie im Schiffsgefängnis eingesperrt, einer kleinen, fensterlosen Kammer mit besonders dicken Wänden tief unten im Bauch des Schiffes. Dort mischte sich das Trippeln der Ratten in das Knarren der Balken. Um die Haft noch zu verschärfen, hatte man Abeke und Meilin mit schweren Eisenketten an den Knöcheln aneinandergefesselt.

„Stimmen“, flüsterte Abeke aufgeregt. „Da kommt jemand. Steh auf!“

Meilin erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und verursachte dabei trotz der schweren Fußkette nicht das kleinste Geräusch. Sie mochte besiegt und gefesselt sein, ihre Reflexe waren dadurch aber nicht beeinträchtigt.

Der Schein einer Kerze fiel in ihre Zelle, nicht besonders hell, doch nachdem sie Tage in fast völliger Dunkelheit verbracht hatten, wurde Abeke geblendet. Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah sie einen Jungen in der Tür stehen. Er war groß und breitschultrig, hatte eine helle Haut und sanfte Augen, deren Blick sie um Entschuldigung bat.

Shane.

Abeke hasste die Eroberer, aber sie wusste, dass sie in Shane einen Verbündeten hatten. Er hatte sie während der langen Schiffsfahrt als Einziger mit Essen und frischem Trinkwasser versorgt. Ohne ihn wären sie jetzt tot.

Sie spürte die Abneigung, die Meilin gegen Shane empfand, aber Meilin schwieg. Für Shane war Abeke zuständig.

„Wie geht es euch?“, fragte er. Es klang freundlich, aber Abeke sah den Säbel an seiner Hüfte glänzen. Er hatte sie in der Hand. Trotz allem gehörte er immer noch zu den Eroberern, die sie gefangen genommen hatten. Und er hatte ein wildes, grausames Seelentier, einen Vielfraß. Abeke war zwar überzeugt, dass ihre Leopardin Uraza dem Vielfraß überlegen war, aber ein Vielfraß konnte sehr gut auf beengtem Raum kämpfen, Uraza dagegen nicht.

„Den Umständen entsprechend“, antwortete Abeke knapp und rasselte mit der Kette.

„Das tut mir wirklich leid.“ Shane seufzte. „Ich habe den anderen gesagt, Ketten seien nicht notwendig.“ Er verstummte und starrte an die Decke. Über ihnen waren scharrende Geräusche zu hören. „Aber euer Aufenthalt hier ist jetzt sowieso vorbei. Wir sind an unserem Stützpunkt eingetroffen.“

Abeke kniff die Augen zusammen. Erwartete er, dass sie erleichtert war? Natürlich mochte sie ihr Gefängnis nicht, aber das, was sie im Stützpunkt der Eroberer erwartete, war bestimmt noch schlimmer. Sollten sie vielleicht der Großen Schlange Gerathon geopfert werden? Oder würde man ihr den schrecklichen Gallentrank einflößen, der sie wie Meilin zu einer willenlosen Marionette des Großen Tieres machte?

Abeke hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. Sie musste an Mulops Insel denken und grausame Bilder tauchten vor ihren Augen auf. Sie sah die Finger, mit denen Meilin ihren Arm umklammert und sie zum steinigen Strand hinuntergezerrt hatte. Als sie sich gewehrt hatte, hatte Meilin ihr den Kampfstab auf den Kopf geschlagen, dann war es Nacht um sie geworden …

„An eurem Stützpunkt?“, fragte sie und verdrängte die Erinnerungen. „Wem hat er davor gehört?“

„Einem Fürsten der Steppen von Nilo.“ Shane seufzte wieder. „Ich bin wirklich nicht stolz darauf, dass wir dem Fürsten den Palast weggenommen haben. Aber wenigstens lebt er noch. Ich sorge auch nach Kräften dafür, dass den Menschen, die hier arbeiten und leben, nichts passiert und sie genug zu essen haben. Ich versuche, das Beste aus der Situation zu machen.“

Abeke verschränkte die Arme und runzelte die Stirn.

Shane schlug die Augen nieder. „Bitte komm freiwillig mit, Abeke“, sagte er. „Um deinetwillen und um Meilins willen.“

Abeke warf Meilin einen Blick zu und Meilin nickte kaum merklich. Wenn sie keinen besseren Verbündeten als Shane hatten, mussten sie auf ihn hören und ihm zugleich so viele Informationen wie möglich entlocken.

Abeke nickte. „Also gut, Shane. Geh voraus.“

Es war schwierig, die Schiffsleiter mit gefesselten Knöcheln hinaufzusteigen. Abeke ging eine Sprosse, wartete dann, bis Meilin nachkam, und machte den nächsten Schritt. Endlich kamen sie oben an. Der Himmel war zwar bedeckt, aber das Tageslicht blendete sie trotzdem. Abeke musste die Augen zusammenkneifen, Tränen liefen über ihr Gesicht.

Shane wartete auf sie und zog sie mit seinen starken Händen vollends an Deck. Sie setzten sich auf die Planken.

Abekes Augen gewöhnten sich nur langsam an die Helligkeit und als sie sie endlich öffnen konnte, erschrak sie.

An Deck waren ein Dutzend Eroberer damit beschäftigt, ein Boot für den Landgang klarzumachen. Die Soldaten trugen einfache Uniformen aus Leder, deren mit Öl eingeriebene Brustpanzer schwarz glänzten. Die Uniformen waren nicht für zeremonielle Anlässe gedacht, sondern ausschließlich für den Kampf.

Damit greifen sie meine Landsleute an, dachte Abeke bitter. Menschen, die ihre Heimat verteidigen.

Auch Zerif stand an Deck – der Mann, der Abeke einst hatte weismachen wollen, sie würde bei ihm auf der Seite der Guten stehen. Er war keinen Meter von ihr entfernt. Sie erinnerte sich noch gut an das ebenmäßige, von strengen Falten durchzogene Gesicht mit dem kurz geschnittenen Bart. Neben ihm stand eine schlanke Frau, die Abeke seit ihrer Reise in den Norden nicht mehr gesehen hatte: Rollans Mutter Aidana. Mit ihrem hageren Gesicht und den müden Augen wirkte sie selbst ein wenig wie eine Gefangene, obwohl sie keine Fesseln trug. Abeke war zum ersten Mal erleichtert, dass Rollan nicht da war. Seine Mutter in diesem elenden Zustand zu sehen, hätte ihm womöglich den Rest gegeben.

Doch das waren noch nicht alle. Neben Aidana stand ein Mädchen, das Abeke nicht kannte, hochgewachsen und bleich, mit großen Augen und einem hinterhältigen Lächeln. Sie trug eine Montur aus schwarzem Leder mit Einlagen aus Elfenbein, die an Spinnenbeine erinnerten. Durchdringend sah sie erst Abeke, dann Meilin und zuletzt Shane an. Ihre Lippen bewegten sich kaum beim Sprechen.

„Das sind also die beiden Gören, die du mit solcher Mühe eingefangen hast, Bruder? Ich bin enttäuscht.“

Bruder! Erst als Abeke das ausgeprägte Kinn, die hohen Wangenknochen und die dicken weißblonden Haare eingehender betrachtete, erkannte sie die Ähnlichkeit. Auch die Schwester war eine Gezeichnete. Auf ihrer Schulter saß eine Spinne so groß wie eine Möwe. Sie war gelb gestreift und ihrem aufgedunsenen Unterleib nach zu schließen giftig.

Die Worte seiner Schwester brachten Shane für einen Moment aus dem Gleichgewicht, doch als er antwortete, hatte er sich wieder gefasst.

„Willst du uns noch einmal erzählen, wie oft du dem Burgvogt von Greenhaven schon unterlegen warst, Drina? Oder willst du lieber nicht darüber sprechen?“, fragte er spöttisch.

Offenbar hatte er damit einen wunden Punkt getroffen. Drina wirkte verletzt, doch als sie Zerifs Blick auf sich spürte, grinste sie nur höhnisch. Ohne Zerif wäre der Wortwechsel unter den Geschwistern bestimmt anders verlaufen, dachte Abeke.

„Genug!“, rief Zerif barsch, als Drina gerade zu einer Erwiderung ansetzen wollte. „Der Sieg in Nilo steht kurz bevor und ihr solltet euch nicht wie kleine Kinder zanken.“

Abeke warf Meilin einen kurzen Blick zu. Vielleicht konnten sie den Streit unter den Eroberern zu ihrem Vorteil nutzen. Doch Meilin saß bewegungslos und mit geschlossenen Augen auf den Planken und bekam von alldem nichts mit. Die Hände hatte sie auf die Knie gelegt.

Die vier Eroberer Shane, Zerif, Aidana und Drina blickten misstrauisch auf Abeke und Meilin hinunter. Unvermutet brach die Sonne hinter ihnen aus den Wolken, sodass Abeke ihre Gesichter im Gegenlicht nicht mehr erkennen konnte. Sie waren nur noch vier schwarze Silhouetten, die drohend über ihr aufragten. Abeke fühlte sich ihnen hilflos ausgeliefert.

„Ein jämmerlicher Anblick“, sagte Zerif. „Aber als ich Abeke kennenlernte, wusste ich gleich, dass wir von ihr nichts zu befürchten haben. Ihr eigener Vater war von ihr enttäuscht und jetzt ist er das bestimmt erst recht. Schließlich liegt Okaihee mitten in dem Gebiet, das wir erobert haben.“

Ohnmächtige Wut stieg in Abeke auf, ein vertrautes Gefühl. Sie kam sich vor wie damals in ihrem Dorf, als ihre Schwester Soama ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen und aufgezählt hatte, was an ihr alles hässlich war. Soama hatte schon immer schön sein wollen – und das ging am leichtesten, wenn Abeke hässlich war. Damals hatte Abeke gelernt, sich keine Regung anmerken zu lassen, und das tat sie auch jetzt. Dabei hätte sie am liebsten Uraza losgelassen und zugesehen, wie die Leopardin Zerif die Kehle durchbiss. Doch das Seelentier des Eroberers, ein Schakal, strich unruhig um seine Knöchel. Und die Spinne hockte geduckt auf Drinas Schulter, als könnte sie jederzeit zubeißen. Es wäre dumm gewesen, jetzt anzugreifen.

„Aufstehen!“, befahl Zerif.

Abeke zögerte, aber Meilin stand mühsam auf. Die Ketten klirrten. Abeke sah Meilin an, doch das Gesicht ihrer Gefährtin zeigte keinerlei Regung. Im ersten Moment fürchtete sie schon, Meilin könnte wieder von Gerathon besessen sein, doch dann bemerkte sie, dass Meilin die Fäuste geballt hatte.

„Und jetzt wieder hinknien“, sagte Zerif mit einem grausamen Lächeln. Er verschränkte die Arme.

Abeke sah kurz zu Shane hinüber, den der Sadismus Zerifs zu verwirren schien. Meilin zitterte vor mühsam unterdrückter Wut.

Nicht angreifen, flehte Abeke sie in Gedanken an. Jetzt ist der falsche Zeitpunkt.

„Zerif hat gesagt, ihr sollt euch hinknien!“ Drina trat mit dem Fuß zu. Sie war schneller, als Abeke erwartet hatte, und schien dieselben Reflexe zu haben wie ihre Spinne. Bevor Abeke wusste, wie ihr geschah, landeten sie und Meilin auf den Knien. Abeke schlug unsanft mit dem Kinn auf und schmeckte Blut.

„Drina“, hörte sie Shane sagen. „Lass das!“

Ein längeres Schweigen folgte. Abeke hielt die Augen geschlossen.

„Tut mir leid, Bruder,“, sagte Drina dann. Zu Abekes Überraschung klang sie sogar zerknirscht.

Zerif schnaubte. „Gar hat angeordnet, dass die beiden an Land gebracht werden, aber er hat nicht gesagt wie. Bei unserer letzten Begegnung wollte Abeke mich mit einem Pfeil erschießen, deshalb kann ich jetzt mit Recht verlangen, dass sie dafür büßt. Die beiden sollen schwimmen.“

Shane begann zu protestieren, jedoch vergeblich. Abeke spürte einen schweren Stiefel im Kreuz und als Nächstes flog sie über das Deck. Die Kette, die sie mit Meilin verband, bremste sie, doch dann hörte sie einen dumpfen Laut und einen Schrei. Zerif hatte Meilin ebenfalls einen Tritt verpasst. Meilin schlitterte über die Planken. Dann fiel sie über Bord.

Abeke versuchte verzweifelt, sich an den Planken festzuhalten, aber sie rutschte ab. Sie hörte die Schreie Meilins, die an der Bordwand hing, und sie spürte das Gewicht, mit dem Meilin sie ebenfalls über Bord zog. Zuletzt sah sie noch Shanes Gesicht, dann wurde sie über den Rand gerissen. Sie hörte Meilin unter sich auf dem Wasser aufschlagen. Im nächsten Moment tauchte auch sie darin ein.

Kaltes Salzwasser zerrte an ihrem Mund und Panik stieg in ihr auf. Die schwere Kette zog sie in die Tiefe. Instinktiv schwamm Abeke dagegen an und versuchte, wieder aufzusteigen, aber das war so gut wie unmöglich. Unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft konnte sie lediglich verhindern, dass sie noch tiefer sank, denn unter ihr hing Meilin und zog sie mit ihrem Gewicht nach unten.

Dann ließ der Zug der Kette plötzlich nach und Abeke konnte zur Oberfläche aufsteigen. In Panik schlug sie auf das Wasser ein, um nicht wieder hinuntergezogen zu werden. Mit brennenden Augen sah sie Meilin, die neben ihr aufgetaucht war und genauso verzweifelt versuchte, sich über Wasser zu halten. Abekes Muskeln schmerzten bereits. Lange konnten sie das nicht durchhalten, dann würden sie wieder sinken.

Meilin keuchte immer lauter und die Kette wurde immer schwerer. Abeke hatte keine Kraft mehr, den Kopf zu heben, aber sie hörte, wie Shane in der Ferne nach Hilfe rief. Drina schrie Zerif an und sogar sie klang panisch.

„Schwimm zum Ufer, Abeke!“, schrie Shane. „Schwimm zum Ufer! Es ist nicht weit.“

Abeke sah sich nach der Küste um. Nein, Shane hatte Unrecht. Die Kette war unendlich schwer und ihre Lunge brannte vom Salzwasser. Sie würden es nie zur Küste schaffen. Aber es war ihre einzige Hoffnung.

„Meilin“, rief sie. „Das ist unsere einzige Chance. Komm!“

Zum wilden Geschrei von Drina und Shane begann Abeke zu schwimmen. Es kam ihr vor, als hätte jemand ihre erschöpften Beine in Brand gesteckt. Meilin konnte sich zumindest neben ihr halten und mühte sich ebenfalls Zentimeter für Zentimeter durchs Wasser.

„Los, Meilin!“, feuerte Abeke sie an. „Wir schaffen das!“

Doch trotz ihrer Entschlossenheit wurden ihre Arme immer langsamer. Ihre Beine sanken, vom erbarmungslosen Gewicht der Kette gezogen, immer tiefer und mit jedem keuchenden Atemzug bekam sie salziges Wasser in den Mund. Sie spürte noch, wie Meilin sie mit den Händen unter den Armen stützen wollte, aber es war zu spät. Sie ging unter und das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen.

Doch da berührte sie mit den Füßen den Boden.

Eine Sandbank!

Meilin tauchte neben ihr auf und lachte erleichtert. Zwar reichte ihnen das Wasser bis zum Hals, aber sie drohten nicht mehr zu ertrinken. Keuchend verschnauften sie eine Weile.

Meilin blickte zum Schiff zurück. „Zerif spinnt doch“, sagte sie. „Die Eroberer wollen uns lebend, sonst hätten sie uns gleich in Oceanus getötet. Warum riskiert er also, dass wir ertrinken?“

„Ich hätte ihn fast getötet“, sagte Abeke abwesend. „Das kann einen schon wütend machen. Aber jetzt haben wir ein anderes Problem. Sieh doch, Meilin.“

Am Ufer war das Meer in Aufruhr geraten. Die Brandung teilte sich und ein Ungetüm pflügte durch das Wasser auf sie zu.

Zuerst glaubte Abeke, ein Felsbrocken werde vom abfließenden Wasser mitgerissen. Doch dann sah sie im Wasser einen um sich schlagenden, mit dicken Lederplatten gepanzerten Schwanz. Keine zehn Meter von ihnen entfernt blieb das riesige Krokodil in der Brandung stehen und starrte die beiden erschöpften Mädchen an.

Eine hochgewachsene Gestalt, deren Gesicht hinter einer gehörnten Maske verborgen war, watete durch das seichte Uferwasser zu dem Tier und legte ihm die Hand auf die Schnauze. Dann verschränkte der Mann seine muskelbepackten Arme und starrte zu Abeke und Meilin hinaus, die auf der Sandbank festsaßen.

General Gar, der Anführer der Eroberer, erwartete sie. Der Schlinger.

OKAIHEE

Rollan wusste, dass sie auf der Suche nach Cabaros Goldenem Löwen durch feindliches Gebiet marschieren mussten. Aber er hatte sich damit getröstet, dass es in Nilo wenigstens warm sein würde wie in Concorba, der Stadt seiner Kindheit.

Tagsüber schwitzten sie auch alle – Rollans Kittel war voller salziger Flecken. Doch jetzt, nach Sonnenuntergang, fröstelte er etwas, und er war froh, dass er zum Schlafen dicht neben Conor lag – so bekam er wenigstens etwas Wärme ab!

Trotzdem war es ein schöner Abend. Der Himmel war mit Sternen übersät, die gelegentlich hinter den Baumkronen der schlanken Bäume verschwanden, die sich in der Brise wiegten. Tarik hatte auf einer sandigen Anhöhe Halt machen lassen. Von hier aus sah man auf ein kleines Dorf hinunter, während sie selbst durch dürres Gestrüpp mit ledrigen Blättern einigermaßen geschützt waren.

Okaihee ist vielleicht von Eroberern besetzt, hatte Tarik sie gewarnt. Wir sollten deshalb eine Zeit lang beobachten, wer dort ein und aus geht.

Bisher hatten sie allerdings noch keine Menschenseele zu Gesicht bekommen. Es wurde immer kälter und Rollan fühlte sich zunehmend zu den rötlichen Herdfeuern auf der anderen Seite der Palisade hingezogen. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass an diesen Feuern Eroberer saßen, war es dort doch wenigstens warm.

Dass die Eroberer Okaihee besetzt hatten, war durchaus wahrscheinlich. In allen anderen Dörfern, an denen sie bisher vorbeigekommen waren, waren die Häuptlinge entweder getötet worden oder hatten sich verpflichten müssen, die Eroberer zu unterstützen. Dafür standen sie dann unter dem Schutz der Eroberer. Tarik hatte erklärt, was unter diesem „Schutz“ zu verstehen war: dass die Kinder nicht als Soldaten zwangsverpflichtet wurden und dass die Eroberer zu ihrer Verpflegung nur die halbe Ernte beschlagnahmten.

In Okaihee war zwar alles still, aber Abeke und ihre Freunde hatten schmerzhaft erfahren müssen, dass man beim Betreten eines Dorfes nicht vorsichtig genug sein konnte. Erst am Vortag hatten sie einen Dorfhäuptling angesprochen und waren im nächsten Moment von einem halben Dutzend Eroberer umzingelt gewesen, einer davon in Begleitung eines sehr gefährlich aussehenden Luchses.

Rollan strich mit den Fingern über den Verband der Wunde an seinem Unterarm. Meilin hätte so getan, als ekle sie sich davor, wäre aber vermutlich insgeheim beeindruckt gewesen.

Meilin. Wo war sie überhaupt? Ihr Einsatz in Oceanus hatte dramatisch geendet. Sie hatten zwar nach langer Suche den Kraken Mulop gefunden und er hatte ihnen seinen Korallenkraken freiwillig gegeben, aber er hatte sie auch gewarnt. Der Schlinger war scharf auf die Talismane der Großen Tiere, weil er damit den Affen Kovo aus seinem Gefängnis befreien wollte.

Dann war die Katastrophe eingetreten. Der seltsam kranke Blick, mit dem Meilin sich zu ihnen umgedreht hatte, verfolgte Rollan immer noch. Besonders schlimm war für ihn gewesen, dass er diesen Ausdruck von seiner Mutter Aidana kannte, die ebenfalls von Gerathon beherrscht wurde. Schon zweimal wäre er beinahe von Menschen getötet worden, die ihm nahestanden. Aus ihren Gesichtern hatten die Augen der Großen Schlange geblickt.

Er schüttelte den Kopf und wollte sich wieder der Palisade des Dorfes zuwenden, doch das Bild der besessenen Meilin, die mit vollkommen unbewegter Miene Abeke zu den Eroberern geschleift hatte, kehrte immer wieder vor sein geistiges Auge zurück. Ihm war, als enthalte das Bild eine Botschaft an ihn: Die anderen werden dich immer wieder verlassen. Dich zu lieben ist ein Fluch.

Doch immer wenn Rollan Essix’ Schatten vor den mondhellen Wolken am nächtlichen Himmel vorbeifliegen sah, ließ sein Kummer ein wenig nach. Wenigstens war das Falkenweibchen ihm treu geblieben. Er hatte fast schon den Eindruck, als würde Essix ihn mögen. Ohne sie hätte er womöglich gar nicht die Kraft gehabt weiterzumachen. Und ohne Tarik auch nicht. Der ältere Grünmantel hatte sie unbeirrt immer tiefer nach Nilo hineingeführt, obwohl Meilins und Abekes Gefangennahme auch ihn zutiefst erschüttert hatte. Vielleicht sogar mehr, als er zeigen wollte.

„He, Rollan“, sagte Conor.

Rollan zuckte zusammen. Sein bester Freund sah ihn mitfühlend an und schien besorgt über das, was er in seinen Augen las.

„Alles in Ordnung?“

„Ja“, sagte Rollan und legte sich anders hin. „Abgesehen davon, dass ich schrecklich friere, Sand in der Unterhose habe und mir buchstäblich ein Stachel im Fleisch steckt. Sonst fehlt mir nichts.“

„Du hast nur so …“ Conor verstummte. Er hustete. „Ich dachte nur, dass wir so viel wie möglich über das sprechen sollten, was passiert ist.“

„Das ist nicht dein Ernst“, erwiderte Rollan. „Wir sind in feindlichem Gebiet unterwegs und suchen einen der wenigen Talismane, die wir noch kriegen können, und du willst über Gefühle sprechen?“

Tarik, der auf der anderen Seite von Conor auf dem Bauch lag, fasste über Conor hinweg und legte Rollan die Hand auf die Schulter. „Im Grunde willst du das doch auch“, flüsterte er. „Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass es nicht Meilins Schuld war, zu keiner Zeit. Wir werden sie und Abeke finden, aber das macht ihre Gefangennahme nicht weniger schrecklich. Ich ertrage es kaum, daran zu denken. Doch es hilft ja nichts, es ist nun mal passiert.“

„Bei Mulop!“, rief Rollan. „Du auch? Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Von dir hätte ich mehr erwartet, Tarik.“

Tarik hielt ihm den Mund zu.

„Mmm“, nuschelte Rollan und wehrte sich gegen die Finger.

„Pst!“, zischte der ältere Grünmantel und wandte sich wieder dem Dorf zu.

„Genau“, pflichtete Conor ihm leise bei. „Pst, Rollan!“

Tarik hielt auch ihm den Mund zu. „Dort unten bewegt sich etwas. Vor der Palisade rechts außen. Ich kann es nicht genau erkennen. Rollan, könntest du …“

„Bin schon dabei“, sagte Rollan, was eher wie „Bnschndub“ klang, da Tarik ihm weiter den Mund zuhielt. Tarik ließ los und Rollan wandte sich in Gedanken Essix zu, die von Luftströmungen getragen hoch über der Palisade kreiste.

Das war ein Trick, den Rollan auf ihrem Weg durch Nilo gelernt hatte. Er hatte eines Tages abwesend nach oben zu Essix geblickt und gedacht: Wie es wohl wäre, die Savanne von da oben zu sehen? Dann war ihm plötzlich aus einem unerklärlichen Grund schwarz vor Augen geworden. Nach einem schrecklichen Moment der Panik war in der Mitte des Dunkels ein heller Lichtpunkt erschienen, dann konnte er auf einmal wieder sehen – und war erst recht in Panik geraten.

Er sah die Welt jetzt durch Essix’ Augen aus dreihundert Metern Höhe. Irgendwie hatte sie sein tagträumendes Bewusstsein gepackt wie eine schmackhafte Wüstenmaus und war damit über die Savanne aufgestiegen. Erst nach einigen Versuchen legte sich seine Panik und er begann den neuen Ausblick zu genießen.

Die Augen des Falkenweibchens saßen seitlich am Kopf, sodass Rollan jetzt den Eindruck hatte, die Welt wäre viel weiter geworden. Er konnte nach oben, nach unten und nach beiden Seiten blicken und gleichzeitig den gelben Mond, den Wald im Norden, das Sumpfgebiet im Westen und ein von Ast zu Ast springendes Flughörnchen sehen. Sein Blick war ständig in Bewegung und wanderte über das Gras und die Hütten unter ihnen. Essix war diese Art des Sehens natürlich gewöhnt, aber Rollan hatte das Gefühl, mit offenen Augen einen Abhang hinunterzupurzeln. Ihm wurde übel. Trotzdem erregte etwas seine Aufmerksamkeit, etwas Großes.

„Da ist ein Elefant“, sagte er. Er sah zwar noch mit Essix’ Augen, konnte aber zugleich als Mensch sprechen, wenn er sich konzentrierte. „Er drückt gegen die Palisade.“

„Ein Elefant? Wie Dinesh?“, fragte Conor. Hinter ihm knurrte Briggan unruhig.

„Viel kleiner als Dinesh – ein normaler Elefant.“

Essix kreischte und flog in immer engeren Kreisen über dem Elefanten.

„Er … zerstört die Palisadenwand, als wollte er durchbrechen“, berichtete Rollan weiter. „Etwas hat ihn erschreckt.“

Conor brummte. „Sind Eroberer bei ihm?“

„Nein“, sagte Rollan und blickte wieder durch seine eigenen Augen. „Er ist allein.“

Conor starrte mit zusammengekniffenen Augen zum Dorf hinunter. Er wollte gerade etwas sagen, da ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen.

„Moment“, sagte Rollan, „ich sehe noch mal durch Essix’ Augen.“

„Nicht notwendig“, fiel Tarik ein, der ebenfalls ins Dunkel spähte. Er stand geduckt da und hielt sein Schwert mit der geschwungenen Klinge bereit. „Es ist ziemlich klar, was passiert ist. Der Elefant hat die Palisade umgeworfen. Wahrscheinlich hat er den Gallentrank bekommen. Damit ist Okaihee den Eroberern ausgeliefert.“

„Dann los“, sagte Conor zu Briggan. Der Wolf hatte eben noch mit dem Kopf auf den Pfoten gedöst, doch jetzt stand er zum Sprung bereit und knurrte leise. „Wir müssen dem Dorf helfen.“

„Sollten wir diesem durchgedrehten Elefanten nicht besser aus dem Weg gehen?“, fragte Rollan.

Conor, Tarik und sogar Briggan blickten ihn vorwurfsvoll an.

„Na gut“, lenkte er ein und stand auf. „Dann gehen wir eben. Mir krabbeln sowieso gerade Termiten die Hosenbeine hoch.“

Sie schlichen leise hangabwärts. Der Elefant stapfte inzwischen durch Okaihee. Rufe wurden laut.

An der Palisade angekommen, sahen sie, dass der Elefant alles niedergetrampelt hatte. Auf beiden Seiten der Bresche lagen Pfähle und zerrissene Seile. Sie hörten wieder ein lautes Krachen, diesmal von der anderen Seite des Dorfes. Briggan duckte sich und knurrte.

„Unser Elefant scheint das Dorf wieder zu verlassen“, sagte Rollan.

„Wenn die Eroberer Abekes Dorf tatsächlich schon besetzt haben“, sagte Tarik, „lenkt der Elefant sie vielleicht von uns ab. Wir müssen unbedingt zuerst Chinwe suchen. Sie ist ein treuer Anhänger der Grünmäntel und war bei Abekes Nektarzeremonie dabei. Bestimmt kann sie uns erklären, was hier passiert. Und vielleicht kann sie uns auch sagen, wo wir Cabaros Goldenen Löwen finden.“

Sie wollten weitergehen, aber Tarik hob die Hand. „Nehmt euch vor den Eroberern in Acht. Ich will nicht auch noch euch beide verlieren.“

Leise betraten sie das Dorf. Rollan spürte, wie Essix über sie hinwegglitt. Briggan war im Mondlicht deutlich zu erkennen, aber Rollan machte sich deshalb keine allzu großen Sorgen. Von den Eroberern war keine Spur zu sehen. Im ganzen Dorf herrschte wieder gespenstische Ruhe. Wer immer vorhin gerufen hatte, war entweder dem Elefanten nachgerannt oder nach Hause zurückgekehrt. Alles war dunkel und still. Vorhänge aus Gras flatterten in der nächtlichen Brise.

Sie schlichen weiter. Rollan, der vorausging, wurde allerdings das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete. Er spähte in die Hütten, an denen sie vorbeikamen, entdeckte aber niemanden.

Sie kamen zu einer Feuerstelle. Dort hatte der Elefant offenbar einige Palisadentrümmer abgeworfen, die er mitgeschleift hatte. Überall lagen Holzsplitter und Seilenden. Rollan stieß mit dem Fuß gegen einen losen Pfahl, halb in der Erwartung, dass sich gleich jemand auf ihn stürzen würde.

„Conor“, sagte er schließlich, „spürst du auch …“

Im nächsten Moment lag er auf dem Rücken und ein spitzer Stock wurde an seinen Hals gepresst. Er schlug ihn mit einer reflexartigen Bewegung weg, aber die Spitze war sofort wieder da und drückte auf seine Luftröhre.

„Hilfe!“, rief er erstickt. Dann sah er seinen Angreifer: ein mageres Mädchen, ein wenig jünger als er selbst.

Er beobachtete, wie Tarik und Conor sich geduckt von hinten an das Mädchen anschlichen, bereit, sich bei der ersten falschen Bewegung auf sie zu stürzen. Briggan, der neben Conor ging, knurrte – ein Laut, bei dem sich Rollan die Nackenhaare aufstellten, obwohl er ja wusste, dass der Wolf auf seiner Seite stand.

Doch das Mädchen schien keine Angst zu kennen. Unverwandt starrte sie Rollan mit einem stumpfen, betäubten Blick an, als wollte sie zeigen, dass das Leben ihr nichts Schlimmes mehr antun könne. Rollan kannte diesen Blick von den Waisen auf den Straßen Concorbas. Das Mädchen musste etwas Schreckliches erlebt haben.

„Wir tun dir nichts“, sagte Tarik hinter ihr. „Du brauchst ihm nicht zu drohen.“

Das Mädchen starrte Rollan weiter an, ohne Tarik zu beachten.

Rollan wollte etwas sagen, aber der Stock drückte ihm immer noch die Kehle zu und so konnte er die Angreiferin nur weiter mit großen Augen ansehen.

„Wir sind Freunde von Abeke“, fuhr Tarik fort. „Sie hat in diesem Dorf gelebt. Kennst du sie?“

Der Blick des Mädchens belebte sich. Sie drehte sich zu Tarik um und der Druck des Stocks ließ nach.

„Kannst du uns sagen, wo wir Chinwe finden? Wir würden gern mit ihr sprechen.“

Das Mädchen schlug die Augen nieder.

„Wie heißt du?“, krächzte Rollan und rieb sich den Hals.

„Irtike“, murmelte das Mädchen.

„Irtike“, sagte Rollan, „kannst du uns sagen, wo Chinwe ist?“

„Sie ist tot“, flüsterte das Mädchen. Endlich trat sie einen Schritt zurück. Ihre Anspannung ließ nach, obwohl sie den angespitzten Stock nicht senkte. „Sie wurde getötet, als sie Okaihee gegen den ersten Angriff der Eroberer verteidigte. Wir haben sie am Ende der letzten Regenzeit begraben.“

Tarik senkte den Kopf. „Mein Beileid. Sie war eine starke Frau und hatte ein gutes Herz. Bestimmt sind alle hier über ihren Tod sehr traurig.“

„Steht Okaihee unter der Herrschaft der Eroberer?“, fragte Rollan und stand auf.

„Nein“, erwiderte das Mädchen leise. „Abekes Vater Pojalo ist jetzt Häuptling, denn der alte Häuptling wurde wie Chinwe bei der Verteidigung des Dorfes getötet. Pojalo sorgt dafür, dass wir möglichst nicht auffallen. Die Eroberer lassen uns in Ruhe, weil es hier nicht viel zu holen gibt. Die Ernte ist in diesem Jahr ausgefallen.“