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Beschreibung

In den letzten Jahren führte der intensive akademische Austausch zwischen Deutschland und Brasilien zu einer erhöhten Nachfrage nach Deutschunterricht in Brasilien, wobei der Erwerb der Wissenschaftssprache eine besondere Herausforderung darstellt. Doch Deutsch und deutsche Dialekte sind schon länger, vor allem seit der deutschen Einwanderung im 19. Jahrhundert, in Brasilien präsent und werden in einigen Regionen von Generation zu Generation weitergegeben. Dieser Band leistet einen wichtigen Beitrag zur germanistischen Linguistik aus brasilianischer Perspektive. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse des Sprachgebrauchs im Kontext seiner unterschiedlichen Facetten, so beispielsweise der Revitalisierung und Transkulturalisierung des sprachlichen und kulturellen Erbes deutscher Einwanderer nach Brasilien wie im Falle des Pommerischen im Bundesstaat Espírito Santo und der alten Kaiserresidenz Petrópolis oder auch dem mündlichen Erzählen, sei es im Rahmen einer hunsrückisch-portugiesischen zweisprachigen Erziehung von Kindern in Südbrasilien, sei es im Kontext des Unterrichts in Deutsch als Fremdsprache in Brasilien. Hinzu kommen sprachvergleichende Studien zu Motivationsschreiben von brasilianischen Studierenden auf Deutsch und Portugiesisch, Fragen der Intonation im Deutschen und Portugiesischen sowie eine kontrastive Studie zu den Modalpartikeln im Deutschen und Portugiesischen.

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ibidem-Verlag Stuttgart

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Deutsche Einwanderung in Brasilien: Sprachrevitalisierung und Transkulturalisierung

Zweisprachige Erzählungen im Spracherwerb Portugiesisch-Hunsrückisch in Brasilien

Mündliches biographisches Erzählen brasilianischer Studierender in DaF

Die thematische Struktur von Motivationsschreiben: Ein Vergleich deutschsprachiger L1-Texte mit deutschsprachigen L2-Texten brasilianischer Muttersprachler

Unterschiede im Gebrauch und in der Funktion prosodischer Merkmale im deutschen und brasilianischen Sprechen im Kontext des Transkribierens

Eine pragmatische Gebrauchsanalyse der Modalpartikeln im deutsch-portugiesischen Vergleich

Autoren und Autorinnen dieses Bandes

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Einleitung

 

Zu Beginn der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts wächst das Bewusstsein darüber, dass eine Auslandsgermanistik im Gegensatz zu jener in den deutschsprachigen Ländern unter dem Blickwinkel der jeweiligen Zielländer zu konstituieren sei und in Beziehung zu diesen gesetzt werden müsse, weshalb Alois Wierlacher (1980: 15) sie auch als „vergleichende Fremdkulturwissenschaft“ bezeichnete. Später geht aus diesen neuen Entwicklungen gleichsam die Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik hervor, die jedoch lange Zeit primär literaturwissenschaftlich orientiert ist und als interkulturelle Hermeneutik ihr Augenmerk vornehmlich auf Kultur als Text, Imagologie und Stereotypenforschung legt, wobei im Vordergrund der Untersuchungen Gattungen wie Reise-, Kolonial-, Exil-, Migrationsliteratur, Utopien, Abenteuerromane und Robinsonaden sowie postkoloniale Literatur stehen (Gutjahr 2007). Einer der Gründe für dieses stete ‚Hinterherhinken‘ der Linguistik im Vergleich zur Literaturwissenschaft im Bereich der Auslandsgermanistik könnte damit zusammenhängen, dass die Linguistik häufig in den Dienst des Fremdsprachenerwerbs gestellt wird, im universitären Alltag spezifische Linguistikseminare gar eine Seltenheit sind und kaum in vollem Umfang als Thematik eigenen Rechts anerkannt werden. So bilden sich erst spät Vorüberlegungen zu einer Interkulturellen Linguistik heraus, die im Rahmen einer interkulturellen Germanistik fruchtbar gemacht werden, etwa in der Programmschrift von Csaba Földes (2003), der Konzepte, Probleme und Desiderata zu diesem neuen Forschungszweig zusammenträgt. Er schließt seine Darlegungen mit der Forderung nach einer Interkulturellen Linguistik als Verknüpfung von „systemlinguistischen“ mit

psycho-, sozio-, pragma- und kontaktlinguistischen sowie sprachenpolitischen Untersuchungen von Sprach- und Kulturkontrast bzw. -kontakt, der kulturübergreifenden Kommunikation im weitesten Sinne und des sprachkommunikativen Umgangs mit Fremdheit/Alterität (Földes 2003: 44).

Wirft man nun einen Blick auf die Entwicklungen der Sprachwissenschaft im Verlauf der letzten dreißig Jahre, finden sich auch hier aufschlussreiche Tendenzen, die dafür sprechen, Arbeiten im Rahmen einer Interkulturellen Linguistik Vorschub zu leisten: Waren in den achtziger Jahren die klassischen Einführungen in die Sprachwissenschaft noch vom generativen Paradigma geprägt, die das grammatische Wissen in die Abschnitte Phonologie, Syntax, Morphologie, Semantik und Pragmatik unterteilten1, stellt ‚Grammatik‘ selbst inzwischen lediglich einen Auschnitt aus der sprachlichen Wirklichkeit dar, neben den gleichberechtigt ‚Interaktion‘ und ‚Kognition‘ treten, wie der Untertitel von Auers (2013) Sprachwissenschaft: Grammatik – Interaktion – Kognition bezeugt, und die der Autor als diverse „Facetten eines Untersuchungsgegenstandes“ (Auer 2013: 1) betrachtet. Auer erläutert die Weitläufigkeit seines Sprachverständnisses folgendermaßen:

Wir haben uns nicht auf die sog. Kerngebiete der Linguistik – nämlich die Grammatik und Phonologie – beschränkt, weil wir davon überzeugt sind, dass Sprache kein abstraktes System ist; es kann weder von seiner kognitiven Repräsentation und Verarbeitung noch von seiner interaktionalen Funktion als Ressource des Kommunizierens und Sich-Verstehens getrennt werden. Aus diesem Grund finden sich in diesem Buch auch (Teil-)Kapitel, die man in vielen (deutschsprachigen) Einführungen vergeblich suchen wird – von der Sprachverarbeitung bis zur Kreolistik, von der multimodalen Interaktionsanalyse bis zum Code-Switching, von der Sprachtypologie bis zur anthropologischen Linguistik (Auer 2013: IX).

Auch wenn hier angemerkt werden muss, dass Ansätze zu einer kommunikativen (vgl. Engel 1990; Schmidt-Radefeldt 2003) und zur kognitiven Grammatik2 ein deutlich umfassenderes Verständnis von Grammatik im Blick haben3, so beziehen sich die von Auer hier genannten Teilgebiete genau auf diejenigen Aspekte, die für die Auslandsgermanistik in einem bestimmten Kontext – im vorliegenden Fall im brasilianischen Kontext – von entscheidender Bedeutung sind: Die genannten Dimensionen von Sprache beinhalten (i) die kognitive Seite von Sprache, d.h., zum einen kulturelle Modelle, Szenarien und Skripte, zum anderen das Prozessieren der Fremdsprache im spezifischen Verhältnis zur eigenen Sprache, wobei Aspekten des Sprachkontakts, der Mehrsprachigkeit, der Sprachvarietäten gerade auch der deutschen Sprache in Brasilien besondere Aufmerksamkeit zukommt; (ii) die interaktive Seite von gesprochener Sprache in ihrer Multimodalität, die den lokal-situativen Kontext mit der konkreten Handlungskoordination zwischen den Interagierenden umfasst, sei es in vergleichender Perspektive oder in der interkulturellen Kommunikation, die in Zeiten der Globalisierung immer wichtiger wird und zu der ebenso eine praxisorientierte Grammatiktheorie gesprochener Sprache gehört (Günthner 2007);4 (iii) schließlich die vielseitigen Formen kommunikativer Gattungen, die entlang einer Gesprächs- und Diskurslinguistik erfasst werden können (Günthner/ Knobloch 1994).

Darüber hinaus gehören zu den Fragen nach den konkreten Sprachpraktiken im Kontext des Gebrauchs nicht nur die kommunikative handlungssteuernde, -leitende und praktisch-orientierende Dimension, d.h. der kommunikative Erfahrungszusammenhang, sondern als Ergebnis einer Vergegenständlichungs- und Vergewisserungspraxis5 durch die Angehörigen von verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaften innerhalb Brasiliens ebenso die Frage danach, wie der extrakommunikative Umgang mit der deutschen Sprache realisiert wird.

Brasilien ist ein zwar dominant portugiesischsprachiges, aber immer noch mehrsprachiges Land, in dem 274 indigene Sprachen von 305 verschiedenen Ethnien gesprochen werden (Zensus des IBGE 2010 nach IPHAN 2014: 20) und etwa 56 sogenannte Einwanderersprachen und –varietäten von 10 verschiedenen Gruppen: Deutsch, Italienisch, slawische Sprachen, Chinesisch, Japanisch, Jiddisch/Hebräisch, Romanes, dazu Spanisch, die Sprache der Nachbarländer, Kreolsprachen und andere (vgl. Altenhofen/ Morello 2013, Altenhofen 2013: 106, Altenhofen 2014: 74-76). Darüber hinaus existieren die brasilianische Gebärdensprache und verschiedene Sprachvarianten in den verbliebenen Gemeinschaften der Quilombos (Gemeinschaften von während der Sklavenzeit des brasilianischen Kaiserreichs entflohenen Sklaven).

Stellten die europäischen Einwanderergruppen in den ersten 50-80 Jahren nach der Einwanderung zunächst und absichtsvoll einen weitgehend desintegrierten sozioökonomischen, kulturellen, sprachlichen ,Fremdkörper‘ dar, so ist - unter den Vorzeichen der ökonomischen Entwicklung zum ,Schwellenland‘ und der infrastrukturellen Modernisierung des Landes seit den 1970ern – die Zeit der soziokulturellen und sozioökonomischen Isolation dieser Gruppen definitiv vorbei.

Dies setzt eine neue Dynamik in Gang, im Rahmen derer Mehrsprachigkeit und Transkulturalität die kennzeichnenden Merkmale eines Prozesses der sozialen Restrukturierung der brasilianischen Gesellschaft werden. Die rezente Politik der Anerkennung ethnischer Diversität trägt diesem Umstand Rechnung: ,Fremdsprachen‘ finden vermehrt Eingang ins staatliche Bildungssystem, ,Minderheitensprachen‘ – Einwanderersprachen und indigene Sprachen – werden als Unterrichtsfach zugelassen und lokal sogar als kooffizielle Sprachen etabliert.

Die sprachliche und kulturelle Vielfalt Brasiliens spiegelt sich heute erstmals in einer bundesweiten, amtlichen brasilianischen Sprachenpolitik wider: Der Bundesbeschluss Nr. 7.387 vom 9. Dezember 2010 legt die Erhebung eines „Nationalen Inventars der brasilianischen Sprachenvielfalt (INDL)“ fest.6

Zur Beschreibung der Sprachen Brasiliens wurden mittlerweile ca. 230 Sprachen katalogisiert und kategorisiert: Dazu gehören Sprachen, die von ihren (ehemaligen) Sprechern nicht mehr als Identifikationssprachen angesehen werden, es gibt mündlich tradierte Sprachen von geringer sozialer Reichweite, denen aber eine wichtige Rolle bei der Herausbildung von ethnischer Identität zugeschrieben wird, sowie indigene Sprachen (oder Sprachgruppen), die durch Sprachenpolitik und Sprachforschung institutionell gefördert werden und besonderes Prestige genießen – und es gibt Sprachen, die einen besonderen rechtlichen Status besitzen, da sie national, regional oder lokal als kooffizielle Amtssprachen gelten: die Gebärdensprache, fünf indigene Sprachen und vier Einwanderersprachen.

Seit den 2000ern wurden eine Reihe von Forschungsarbeiten, häufig Dissertationen, ausgeführt, die vor allen anderen von Cleó V. Altenhofen inspiriert wurden und sich überwiegend an dem Konzept der pluridimensionalen Dialektologie (cf. Thun et al. 2002) orientieren. Nicht zufällig werden dabei oft Sprachkompetenz, Sprachgebrauch und Spracheinstellungen der jüngeren Generationen thematisiert. Zusammenfassend ließe sich der Forschungsstand zur Sprachkontaktsituation in Brasilien etwa folgendermaßen einschätzen (vgl. Rosenberg 2018: 217-244):

Brasilien hat den Deutschen lange Zeit Rückzugsmöglichkeiten geboten, die Eigenheiten ihrer Sprachinseln zu bewahren. Die lange Dauer des Assimilationsprozesses von immerhin sechs Genera­tionen, die deutliche Differenzierung zwischen Land- und Stadtbewohnern, die spracherhal­tende Funktion der geschlossenen ländlich-abgeschiedenen Siedlerkolonien, die Dominanz und Binnenmischung dialektaler Ortsvarietäten und die Stigmatisierung infolge der Zäsur des Zweiten Weltkriegs haben die Vitalität der meisten Gemeinschaften jedoch – zumindest in den jüngeren Generationen – deutlich geschmälert. Die jüngste sprachenpolitische Anerkennung der Minderheiten im Rahmen der Kooffizialisierung kommt spät, vielleicht nicht zu spät. Das starke Überwiegen der aus dem Hunsrück stammenden Einwanderer, und ihre Expansion zu einem „Spracharchipel“, das andere Varie­täten verdrängt oder zum Teil sogar überdacht, stellt eine hochinteressante Entwicklung dar. Die sprachlichen Aus­gleichsmechanismen, die diesem Prozess zugrunde liegen, sind in den „Neuen Kolonien“ ein ergiebiger Untersuchungsgegenstand. Was die deutschbrasiliani­schen Sprachinseln über­dies spannend macht, ist die Tat­sache, dass die Verbreitung des Huns­rückischen nach wie vor anhält, z.B. im brasilianisch-paraguayischen Grenzgebiet. Die Aus­gleichsvorgänge laufen unter unseren Augen ab. Nach welchen Regularitäten vollziehen sie sich? Es wird von beson­derem Interesse sein, zu ver­folgen, welche Mischungsprozesse, aber auch welche koexistie­renden Formen aus dem Zu­sammentreffen kompakter Sprechergemein­schaften resultieren: Dabei treten Prozesse der dialektalen Variation, des dialektalen Aus­gleichs, des Dialekt­wandels und der sprachlichen Interferenz (mit dem Portugiesischen) auf, die analytisch voneinander zu unterscheiden sind. Alle diese Prozesse werden aber überlagert vom Rückgang des Sprachgebrauchs, der Sprachkompetenz – und der Sprachloyalität – bei den jüngeren Generationen. Dies gilt sogar für die noch vitalsten Sprachgemeinschaften der Hunsrücker und Pommern. Sind diese Prozesse irreversibel, dann werden auch die Sprachrevitalisierungsmaßnahmen der letzten Jahre nicht mehr aufhalten.

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes basieren auf Vorträgen der Sektion „Sprache im Kontext“, die auf dem 15. Kongress des Lateinamerikanischen Germanistenverbandes gehalten wurden, der vom 8.-12. September 2014 an der Bundesuniversität von Paraná (UFPR) in Curitiba, Brasilien, stattfand. Sie behandeln ein breites Spektrum an Fragestellungen bezüglich des Verhältnisses von Sprache und Kontext mit Bezug zu Brasilien bzw. dem brasilianischen Portugiesisch.

Mônica Savedra und Peter Rosenberg stellen in ihrem Beitrag „Deutsche Einwanderung in Brasilien: Sprachvitalisierung und Transkulturalisierung“ zwei Forschungsprojekte vor, in denen es um die Revitalisierung des sprachlichen und kulturellen Erbes geht, zum einen um das Pommerische im Bundesstaat Espirito Santo, zum anderen um das kulturelle Erbe der deutschen Einwanderer in Petrópolis im Bundesstaat Rio de Janeiro. Dabei geben die Autoren auch einen aktuellen Einblick in die brasilianische Sprachpolitik hinsichtlich der Minderheiten. Ein bemerkenswerter Aspekt ist u.a., dass im Gegensatz zur Europäischen Charta zum Schutz der Minderheitensprachen in Brasilien auch Einwanderersprachen wie Pommerisch und Hunsrückisch auf Gemeindeebene kooffizielle Sprachen werden können.

Bernardo Kolling Limberger untersucht an drei- bis sechsjährige Kinder gerichtete, zweisprachige mündliche Erzählungen (Hunsrückisch und Portugiesisch) von Müttern in Südbrasilien. Eines seiner Ergebnisse ist, dass das Erzählen in beiden Sprachen eine wichtige Hinführung zur Entwicklung der Literazität der Kinder darstellt, an die auch Kindergarten und Schule anknüpfen sollten, wobei das Hunsrückische auch als Brückensprache zum Standarddeutschen gesehen werden kann.

Aspekte des Deutschen als Fremdsprache behandeln Luise Peters und Franziska Schwantuschke. In ihrem Beitrag „Mündliches biographisches Erzählen brasilianischer Studierender in DaF“ geht Luise Peters der Frage nach, inwieweit die portugiesische Muttersprache bei mündlichen biographischen Erzählungen brasilianischer Deutschlernender auf Deutsch einen Einfluss ausübt. Sie kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass unabhängig vom Sprachniveau in den deutschen L2-Erzählungen weniger Diskursmarker benutzt werden als in den portugiesischen L1-Erzählungen der Informanten, wobei auch die Kohärenzmittel weniger stark ausgeprägt sind. Franziska Schwantuschke konstatiert in ihrem Beitrag „Die thematischen Strukturen von Motivationsschreiben: ein Vergleich deutschsprachiger L1-Texte mit deutschsprachigen L2-Texten brasilianischer Muttersprachler“ in den auf Deutsch verfassten Motivationsschreiben gerinfügig andere inhaltliche Schwerpunkte als in den auf Portugiesisch verfassten. So fehlen beispielsweise in den deutschen L2-Texten Hilfsappelle an die Adressaten. Im Ergebnis kann die Autorin festhalten, dass den untersuchten brasilianischen Deutschlernenden die Anpassung an die deutschen Normen von Motivationsschreiben im Ergebnis weitgehend problemlos gelungen sei.

Ulrike Schröder und Mariana Carneiro Mendes gehen in ihrem Beitrag „Unterschiede im Gebrauch und in der Funktion prosodischer Merkmale im deutschen und brasilianischen Sprechen im Kontext des Transkribierens“ den Fragen nach, wann sich ein bestimmtes prosodisches Merkmal als relevant von einem idiosynkratischen Sprechermerkmal abhebt und inwieweit ein rekurrentes prosodisches Merkmal auf einen bestimmten Sprachgebrauch in einer Gruppe hinweist. Anhand exemplarischer Analysen kommen die Autorinnen zu dem Ergebnis, dass bestimmte Intonationsschwankungen im brasilianischen Portugiesisch noch im Bereich der Unmarkiertheit liegen, während selbige im Deutschen bereits kontextuell relevant seien. Damit indizieren die prosodischen Kontextualisierungshinweise im Deutschen und brasilianischen Portugiesisch auf unterschiedliche Weise emotionale Involviertheit und reflexive Distanziertheit.

Poliana Arantes geht in ihrem Beitrag „Eine pragmatische Gebrauchsanalyse der Modalpartikeln im deutsch-portugiesischen Vergleich“ ebenfalls auf prosodische Merkmale des Portugiesischen im Kontrast zum Deutschen ein. Sie zeigt u.a. exemplarisch auf, dass häufig die pragmatischen Funktionen deutscher Modalpartikel im Portugiesischen durch eine spezifische Intonation wiedergegeben werden. In dem Beitrag wird auch aufgezeigt, dass in der portugiesischen Grammatikographie die Modalpartikeln bis auf wenige Ausnahmen trotz der Pionierarbeit von Manoel Said Ali aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Ali 1930) bis heute vernachlässigt werden. Eine deutsch-portugiesische kontrastive Analyse muss jedoch noch weitere formale Kategorien in den Blick nehmen und kann nicht auf die Deskription der Kontextsensitivität der Modalpartikeln verzichten.

 

Wir danken unseren studentischen Hilfskräften der Fakultät Angewandte Sprachen und Interkulturelle Kommunikation der Westsächsischen Hochschule Zwickau, Vanessa Medina Torres, Peter-Michael Werner und Nadja Farouni, für ihre Hilfe beim Korrekturlesen und Formatieren der Texte sowie Gabriele Berkenbusch und Katharina von Helmolt für die Aufnahme dieses Bandes in die von ihnen betreute Reihe Kultur – Kommunikation – Kooperation.

 

Zwickau, Niterói und Belo Horizonte im August 2018

Thomas Johnen, Mônica Savedra, Ulrike Schröder7

 

Literatur

Ali, Manoel Said ([1930] 31971): Meios de expressão e alterações semânticas. Rio de Janeiro: FGV. 

Altenhofen, Cléo V. (2013): “Bases para uma política linguística das línguas minoritárias no Brasil”, in: Nicolaides, Christine/ Silva, Kleber Aparecido da/ Tilio, Rogério/ Rocha, Cláudia Hilsdorf (Hrsg.): Política e políticas linguísticas. Campinas: Pontes, 93-116.

Altenhofen, Cléo V. (2014): “O território de uma língua: ocupação do espaço pluridimensional por variedades em contato na Bacia do Prata”, in: Fernández, Ana Lourdes da Rosa Nieves/ Mozillo, Isabella/ Schneider, Maria Nilse/ Cortazzo, Uruguay (Hrsg.): Línguas em contato: onde estão as fronteiras? Pelotas: EDUFPEL, 69-103.

Altenhofen, Cléo V./ Morello, Rosângela (2013): “Rumos e perspectivas das políticas linguísticas para línguas minoritárias no Brasil: Entre a perda e o inventário de línguas”, in: Farenzena, Nalú (Hrsg): VI Encontro Internacional de Investigadores de Políticas Linguísticas. Porto Alegre: Universidade Federal do Rio Grande do Sul; Asociación de Universidades Grupo Montevideo, 19-26, unter: https://revistas.unc.edu.ar/index.php/RDPL/article/download/8668/9525 (letzter Zugriff: 11.11.2017).

Auer, Peter (Hrsg.) (2013): Sprachwissenschaft: Grammatik – Interaktion – Kognition. Stuttgart; Weimar: Metzler.

Bentes, Anna Christina/ Leite, Marli Quadros (Hrsg.) (2010): Linguística de texto e análise da conversação: Panorama das pesquisas no Brasil. São Paulo: Cortez.

Castilho, Ataliba Teixeira de (1990): „O Português Culto Falado no Brasil: história do Projeto NURC/BR“, in: Preti, Dino/ Urbano, Hudinilson (Hrsg.): A linguagem falada culta na cidade de São Paulo, Bd. 4: Estudos. São Paulo: T.A. Queiroz; FAPESP, 141-202.

Castilho, Ataliba Teixeira de (2006): „Apresentação“, in: Jubran, Clélia Cândida Spinardi / Koch, Ingedore Grunfeld Villaça (Hrsg.): Gramática do português culto falado no Brasil, Bd. 1: Construção do texto falado. Campinas: Editora da Unicamp, 7-25.

Engel, Ulrich (1990): „Kommunikative Grammatik?“, in: Muttersprache, 100, 99-115.

Fernández, Susana Silvia/ Falk, Johan (2014): Temas de gramática española para estudiantes universitarios: Una aproximación cognitiva y funcional. Frankfurt am Main: Lang.

Földes, Csaba (2003): Interkulturelle Linguistik: Vorüberlegungen zu Konzepten, Problemen und Desiderata. Veszprém: Universitätsverlag; Wien: Edition Praesens (Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis: Zeitschrift des Germanistischen Instituts an der Universität Veszprém, Supplement; 1).

Golubeva, Natal’ja Aleksandrovna (2010): Grammatičeskie precedentnye edinicy v sovremennom nemeckom jazyke: Monografija. Nižnij Novgorod: Tipografija Povolžʹe (Serija Filologičeskie issledovanija).

Grewendorf, Günther/ Hamm, Fritz/ Sternefeld, Wolfgang (1987): Sprachliches Wissen: Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung. Frankfurt: Suhrkamp.

Gutjahr, Ortrud (2007): „Interkulturelle Germanistik und Literaturwissenschaft“, in: Straub, Jürgen/ Weidemann, Arne/ Weidemann, Doris (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz: Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder. Stuttgart: Metzler, 144–154.

Günthner, Susanne (2007): Brauchen wir eine Theorie der gesprochenen Sprache? Und: wie kann sie aussehen? Ein Plädoyer für eine praxisorientierte Grammatiktheorie [Münster: Centrum Sprache und Interaktion] (gidi Arbeitspapierreihe; 6), unter: http://noam.uni-muenster.de/gidi/arbeitspapiere/ arbeitspapier06.pdf (letzter Zugriff am: 17.03.2017).

Günthner, Susanne/ Knoblauch, Hubert A. (1994): „’Forms are the food of faith’: Gattungen als Muster kommunikativen Handelns“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 4, 693–723.

IPHAN (2014): Inventário nacional da diversidade linguística (INDL): Guia de pesquisa e documentação para o INDL. Vol. 1: Patrimônio cultural e diversidade linguística. Brasília: IPHAN.

Jubran, Clélia Cândida Spinardi/ Koch, Ingedore Grunfeld Villaça (Hrsg.) (2006): Gramática do português culto falado no Brasil, Bd. 1: Construção do texto falado. Campinas: Editora da Unicamp.

Knop, Sabine de/ Rycker, Teun de (Hrsg.) (2008): Cognitive approaches to pedagogical grammar: A volume in honour of René Dirven. Berlin; New York: de Gruyter (Applications of Cognitive Linguistics; 9).

Linell, Per (2011): Språkande: Samtal, språk och grammatik. Linköping: Department of Culture and Communication (Studies in Language and Culture; 17).

Loenhoff, Jens (2003): „Kulturvergleich und interkulturelle Kommunikation“, in: Das Wort: Germanistisches Jahrbuch GUS, 18,105–114.

Marcuschi, Luiz Antônio (1991): „Análise da conversação e análise gramatical: Pontos de contato“, in: Boletim da Associação Brasileira de Lingüística, 10, 11-34.

Morello, Rosângela (Hrsg.) (2015): Leis e Línguas no Brasil: O processo de cooficialização e suas potencialidades. Florianópolis: IPOL.

Rosenberg, Peter (2018): „Lateinamerika“, in: Plewnia, Albrecht/ Riehl, Claudia Maria (Hrsg.): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee. Tübingen: Narr Francke Attempto, 193-264.

Schmidt-Radefeldt, Jürgen (2003): „Zur Konzeption einer kommunikativen Sprachvergleichsgrammatik Deutsch/ Portugiesisch“, in: Blühdorn, Hardarik/ Schmidt-Radefeldt, Jürgen (Hrsg.): Die kleineren Wortarten im Sprachvergleich Deutsch – Portugiesisch. Frankfurt am Main: Lang (Rostocker Romanistische Arbeiten; 7), 17-34.

Schmidt-Radefeldt, Jürgen (2006): „Zum Sprecherwechsel im Deutschen und Portugiesischen“, in: Schmidt-Radefeldt, Jürgen (Hrsg.): Portugiesisch kontrastiv gesehen und Anglizismen weltweit. Frankfurt am Main: Lang (Rostocker Romanistische Arbeiten; 10), 109-124.

Thun, Harald/ Jacquet, María da Gloria Pereira/ Harder, Andreas/ Machuca, Martín Ramírez/ Peemöller, Johanne (2002): Atlas lingüístico Guaraní-Románico: Sociología (ALGR-S). Tomo I-II. Kiel: Westensee (Dialectologia pluridimensionalis Romanica; 2).

Wierlacher, Alois (1980): „Deutsch als Fremdsprache: Zum Paradigmawechsel internationaler Germanistik“, in: Wierlacher, Alois (Hrsg.): Fremdsprache Deutsch: Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie, Bd. 1. München: Fink (UTB; 912), 9–27.

 

 

1 Vgl. z.B. Sprachliches Wissen (Grewendorf/ Hamm/ Sternefeld 1987).

22Vgl. zum Deutschen Golubeva (2010), zum Spanischen Fernández/ Falk (2014). Vgl. zu Ansätzen der Anwendung der kognitiven Grammatik für Lernergrammatiken den Sammelband von Knop/ Rykcer (2008).

33 Vgl. z.B. die Untersuchung von Schmidt-Radefeldt (2006) zum Sprecherwechsel im Deutschen und Portugiesischen, die im Rahmen eines Projektes zu einer kommunikativen sprachvergleichenden Grammatik des Deutschen und Portugiesischen entstand.

44 Vgl. auch Linell (2011). Ähnliche Überlegungen sind in Brasilien bereits Anfang der Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts artikuliert (vgl. Marcuschi 1990), und vor allem im Rahmen des Projekts einer Grammatik des gesprochenen Portugiesisch formuliert worden (vgl. Castilho 1990: 153; Castilho 2006: 11-12). Das zeigt sich auch an der Konzeption des ersten Bandes der Gramática do Português Culto Falado no Brasil [Grammatik des gehobenen gesprochenen brasilianischen Standardportugiesisch] (Jubran/ Koch 2006), der sich der Konstruktion des gesprochenen Textes widmet. Die empirische Basis stellen dabei vor allem die im Rahmen des NURC-Projektes, NURC (Norma Linguística Urbana Culta) seit den siebziger Jahren in Brasilien in den Städten São Paulo, Rio de Janeiro, Salvador, Recife und Porto Alegre erhobenen Corpora des gesprochenen Portugiesisch dar. Im Kontext dieses Projektes entstanden auch viele gesprächsanalytischen Studien in Brasilien. Für einen Überblick vgl. Bentes/ Leite (2010).

5 Vgl. zur doppelten Einstellung aller Kulturvergleiche Loenhoff (2003).

66 Vgl. Morello (2015). Von Seiten des IPHAN (Instituto de Patrimônio Histórico e Artístico Nacional), eines mit dem brasilianischen Kultusministerium verbundenen Instituts, wird auf die Bedrohung der Sprachenvielfalt als Begründung zur Anlegung des Spracheninventars verwiesen: 1.078 Sprachen habe es bei Ankunft der Portugiesen auf brasilianischem Gebiet gegeben. Heute seien es weniger als 30%. Die Hälfte der Sprachgemeinschaften zählt weniger als 100 Sprecher, gut ein Drittel nur bis 500, weniger als 10 % bis 2.000 (IPHAN 2014/1: 24).

7Ich möchte mich an dieser Stelle beim Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico für die Bolsa de Produtividade – PQ, 2015-2018 sowie bei der Fundação de Amparo à Pesquisa do Estado de Minas Gerais – FAPEMIG für die finanzielle Unterstützung durch das Programa Pesquisador Mineiro – PPM, 2015-2017 und 2017-2019 bedanken.

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Deutsche Einwanderung in Brasilien: Sprachrevitalisierung und Transkulturalisierung

 

Mônica Savedra und Peter Rosenberg

 

Zusammenfassung

Im Folgenden soll ein Forschungsprojekt vorgestellt werden, das sich mit europäischen Einwandererminderheiten in Brasilien beschäftigt, und zwar unter einer besonderen Perspektive: der Transkulturalisierung dieser Minoritäten. Nach einer Skizze der gegenwärtigen Sprachminderheitenpolitik Brasiliens wird zunächst das Konzept des begonnenen Projekts vorgestellt. Anschließend wird ein Überblick über die aktuelle Sprachsituation der Nachfahren deutscher Einwanderer in Brasilien gegeben. Abschließend wird an zwei Beispielen auf unterschiedliche Konzepte der ‚Revitalisierung‛ des sprachlichen und kulturellen ‚Erbes‛ eingegangen, die zugleich den Unterschied zwischen urbanen und ländlichen deutschsprachigen Gemeinschaften deutlich machen.

 

Resumo

Neste capítulo apresentamos um projeto de pesquisa que trata de minorias de imigrantes europeus no Brasil sob uma perspectiva particular: a transculturalidade vivenciada nestas comunidades minoritárias. Após um breve esboço da política linguística atual para línguas minoritárias do/no Brasil, apresentamos a situação histórica, linguística e cultural de duas comunidades de imigrantes germânicos no Brasil, através das quais apresentamos o conceito de transculturalidade. Por fim, discutimos os conceitos de ‘revitalização’ da ‘herança’ linguística e cultural dos dois exemplos apresentados que mostram de forma significativa a diferença dos processos de transculturalidade que se desenvolvem em comunidades de imigrantes urbanas e em comunidades de imigrantes rurais.

 

1 Brasilien als mehrsprachiges und multikulturelles Land

1.1 Ethnische Diversität in Brasilien

Brasilien ist ein Land reicher ethnischer Diversität: indigene Gruppen, eine lusobrasilianische Bevölkerungsschicht, europäische und asiatische Einwanderergruppen (v.a. Deutsche, Italiener, Japaner, arabische Einwanderer), vielfältige Migrationsbeziehungen mit den spanischsprachigen lateinamerikanischen Nachbarländern (vorrangig den Mercosul-/Mercosur-Staaten) haben eine Bevölkerungsdynamik von außergewöhnlicher Heterogenität und Mobilität erzeugt.

Brasilien ist ein zwar dominant portugiesischsprachiges, aber immer noch mehrsprachiges Land, in dem 274 indigene Sprachen von 305 verschiedenen Ethnien gesprochen werden (Zensus des IBGE 2010 nach IPHAN 2014: 20) und etwa 56 sogenannte Einwanderersprachen und -varietäten von 10 verschiedenen Gruppen, darunter: Deutsch, Italienisch, slawische Sprachen, Chinesisch, Japanisch, Jiddisch, Hebräisch, Romanes; dazu Spanisch, die Sprache der Nachbarländer sowie Kreolsprachen und andere (vgl. Altenhofen 2013). Darüber hinaus existieren die brasilianische Gebärdensprache LIBRAS sowie verschieden indianische und andere lokale Gebärdensprachen und verschiedene Sprachvarianten in den verbliebenen Gemeinschaften der Quilombos (Gemeinschaften von während der Sklavenzeit des brasilianischen Kaiserreichs entflohenen Sklaven).

Stellten die europäischen Einwanderergruppen in den ersten 50-80 Jahren nach der Einwanderung zunächst und absichtsvoll einen weitgehend desintegrierten sozioökonomischen, kulturellen, sprachlichen ‚Fremdkörper‛ dar, der u.a. der ‚Verweißung‛ der Bevölkerungsstruktur dienen sollte, setzte unter der nationalistischen Politik Getúlio Vargas‘ (1930-1945/1950-1954) ein Prozess der ‚Brasilianisierung‛ ein, der auf die soziokulturelle Vereinheitlichung (‚Brasilidade‛) des Landes gerichtet war. Unter dem Vorzeichen der ökonomischen Entwicklung zum ‚Schwellenland‛ als eines der BRIC-Staaten und der infrastrukturellen Modernisierung des Landes seit den 1970ern findet eine akzelerierte Assimilation der ethnischen Minderheiten statt. Die Zeit der soziokulturellen und sozioökonomischen Isolation dieser Gruppen ist vorbei.

Dies setzt eine neue Dynamik in Gang, im Rahmen derer Mehrsprachigkeit und Transkulturalität die kennzeichnenden Merkmale eines Prozesses der sozialen Restrukturierung der brasilianischen Gesellschaft werden. Die rezente Politik der Anerkennung ethnischer Diversität trägt diesem Umstand Rechnung: ‚Fremdsprachen‛ finden vermehrt Eingang ins staatliche Bildungssystem, ‚Minderheitensprachen‛ – Einwanderersprachen und indigene Sprachen – werden als Unterrichtsfach zugelassen und lokal sogar als kooffizielle Sprachen etabliert.

 

1.2 Kooffizialisierung indigener Sprachen sowie europäischer Einwanderersprachen1

Die sprachliche und kulturelle Vielfalt Brasiliens spiegelt sich heute erstmals in einer bundesweiten, amtlichen brasilianischen Sprachenpolitik wider: Der Bundesbeschluss Nr. 7.387 vom 9. Dezember 2010 legt die Erhebung eines „Nationalen Inventars der brasilianischen Sprachenvielfalt“ (INDL) fest. Zur Beschreibung der Sprachen Brasiliens wurden mittlerweile ca. 230 Sprachen katalogisiert und kategorisiert: Dazu gehören Sprachen, die von ihren (ehemaligen) Sprechern nicht mehr als Identifikationssprachen angesehen werden; es gibt mündlich tradierte Sprachen von geringer sozialer Reichweite, denen aber eine wichtige Rolle bei der Herausbildung von ethnischer Identität zugeschrieben wird, sowie indigene Sprachen (oder Sprachgruppen), die durch Sprachenpolitik und Sprachforschung institutionell gefördert werden und besonderes Prestige genießen. Einige Sprachen besitzen einen besonderen rechtlichen Status, da sie national, regional oder lokal als kooffizielle Amtssprachen gelten: die Brasilianische Gebärdensprache (LIBRAS), fünf indigene Sprachen und vier Einwanderersprachen.

Aktuell sind elf Vertreter von Minderheitensprachen als kooffizielle Sprache Brasiliens anerkannt: sieben autochthone Sprachen und vier allochthone Sprache (siehe Übersicht in Tabelle 1).

Kooffizialisierte Sprachen

Gemeinde

Jahr

Indigene Sprachen

Tukano

São Gabriel da Cachoeira-Amazonas

2002/2006

Nhengatu

Baniwa

Guarani

Tacuru-Mato Grosso do Sul

2010

Akwê Xerente

Tocantínia-Tocantins

2011

Macuxi und Wapichana

Bonfim und Cantá-Roraima

2011

Einwanderersprachen

Pomerano

Vila Pavão - Espírito Santo

2009

Pancas - Espírito Santo

2009

Laranja da Terra Espírito Santo

2009

Domingos Martins - Espírito Santo

2009

Canguçu - Rio Grande do Sul

2011

Itarana - Espírito Santo

2016

Pomerode - Santa Catarina

2017

Talian

Serafina Corêa, Flores da Cunha, paraí und Nova Roma do Sul - Rio Grande do Sul

2009

Antônio Carlos - Santa Catarina

2010

Hunsrückisch

Santa Maria do Herval - Rio Grande do Sul

2012

Deutsch

Pomerode - Santa Catarina

2011

Tab. 1: Kooffizialisierte Sprachen in Brasilien

 

2 Europäische Einwandererminderheiten in Brasilien

2.1 Allochthone Minderheiten zwischen Inklusion, Revitalisierung und Transkulturalisierung

Die Entwicklungsetappen der europäischen Einwandererminderheiten lassen sich auf eine knappe Formel bringen, die zugleich entscheidende Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der ethnisch heterogenen brasilianischen Gesellschaft markieren: Kolonisierung – nationale Inklusion – Transkulturalisierung.

Die Dynamik, die mit der Kooffizialisierung der oben genannten Sprachen verbunden ist, ist nicht als eine simple ‚Renaissance‛ der ethnischen Vielfalt und der Minderheitensprachen misszuverstehen.

Die soziolinguistische und die Sprachinsel-Forschung der vergangenen Jahre in Brasilien (u.a. Altenhofen 1996, 2013, Damke/ Savedra 2013, Höhmann 2011, Höhmann/ Gaio 2013, Rosenberg 1998, 2002, 2003, 2005, 2015, 2016; Savedra 2008, 2009, 2011, 2013) lässt Language-Shift-Erscheinungen deutlich erkennen: Ein generationenweiser Übergang zur brasilianisch-portugiesischen Mehrheitssprache ist unverkennbar. Zwar existieren ethnoterritoriale Kerne, in denen die Minderheitensprachen vital sind, z.B. das Pomerano in den erwähnten Regionen in Espírito Santo sowie um Pelotas, Rio Grande do Sul, das Hunsrückische in Rio Grande do Sul, jedoch sind die Deutschsprechenden (und Ähnliches gilt für alle Sprecher von Einwanderersprachen) alle mehrsprachig und zunehmend eher Fremdsprachenlerner des Deutschen, vor allem Jüngere und Bewohner von urbanen Gemeinden des brasilianischen Südens. Diese Entwicklung bringt es auch mit sich, dass die verwendeten Varietäten unfest werden, in unterschiedlicher Intensität Sprachwandelphänomene (besonders Vereinfachungen und Abbauerscheinungen) sowie Interferenzen aus Kontaktsprachen und -varietäten aufweisen.

Die Verbindungen der Einwanderungsbevölkerung in Brasilien mit ihren Herkunftsgebieten sind allerdings stets vorhanden oder zumindest potenziell nutzbar gewesen. Die Minderheiten deutscher Herkunft sind zwar seit Langem keineswegs mehr ‚reichs-‛ oder ‚bundesdeutsch‛ orientiert, jedoch bestand und besteht über staatliche und private Austauschbeziehungen ein kontinuierlicher Kontakt, etwa in Form des aus Deutschland unterstützten Auslandsschulwesens, von kirchlichen Patenschaftsbeziehungen, von (z.B. Landwirtschafts-) Praktika und Ausbildungsaufenthalten, dem Austausch von Medienerzeugnissen oder in Gestalt von Privatreisen nach Deutschland und dem sonstigen Europa.

Im Ergebnis dieses Prozesses zeigen diejenigen, die sich Einwandererminderheiten als zugehörig empfinden, in wachsendem Maße Züge einer komplexen und ‚hybriden‛ Identität, in der Minderheitensprachen nicht mehr lediglich für die ererbte paternity (‚ethnically oriented ancestry‛), die erworbene patrimony (‚ethnocultural pattern of education‛) und die aktuelle phenomenology (‚self-identification‛) (Fishman 1988) stehen. Mehrsprachigkeit repräsentiert vielmehr ein Ensemble ethnischer, nationaler und transkultureller Zugehörigkeiten.

 

2.2 Ethnicity in Motion – Transkulturalisierungsprozesse unter europäischen Einwandererminderheiten in Brasilien

Die Inklusion der vormaligen ‚Minderheiten‛ wird in dem hier vorgestellten Forschungsvorhaben auf neue Weise erforscht: Nicht eine ‚Revitalisierung‛ oder ‚Renaissance‛ von (deutscher, italienischer etc.) sprachlicher oder ethnokultureller Zugehörigkeit stehen im Zentrum der Forschung, sondern die Transkulturalisierungsprozesse, in denen das herkunftsbezogene ethnische Erbe und die nationale Zugehörigkeit innerhalb der hybriden Konstruktion transnationaler Räume verortet werden. Die Forschung versteht sich als innovativ durch die gleichzeitige Extensivierung und Intensivierung der Perspektive: Sie verbindet eine Erweiterung des Blicks auf transnationale (einschließlich europäischer) Bezüge und eine Vertiefung durch den Vergleich verschiedener europäischer Minderheiten (sowie indigener und anderer Minderheiten – u.a. Quilombos der Nachfahren geflohener afro-brasilianischer Sklaven).

Das Forschungskonzept setzt Ethnizität nicht voraus, sondern betrachtet sie als Gegenstand empirischer Untersuchung (vgl. Brubaker 2007): Sie sucht die lebensweltliche Verankerung ethnischer Grenzziehungen zu verstehen (Barth 1969; 1994) und bezieht den ethnischen Rahmen überschreitende transkulturelle und transnationale Prozesse ein (vgl. Pries 2008; Welsch 2012; Basch et al. 1997). Dies gilt im Besonderen für europäische Einwandererminderheiten, die auf vielfältige Weise ihre europäischen Wurzeln innerhalb staatlicher und privater Austauschbeziehungen pflegen.

Im Rahmen des „Projeto de Educação Escolar Pomerana“ (PROEPO, Pommerisches Schul­projekt) wird seit 2005 – mit Unterstützung des Schulministeriums des jeweiligen Bundesstaats – in fünf Orten des Bundesstaates Espírito Santo und einem Ort in Rio Grande do Sul die ostniederdeutsche „Pomerano“-Sprachinselvarietät in den Schulen eingeführt. Weitere Initiativen mit ähnlicher Zielsetzung betreffen andere Sprachinselvarietäten des Deutschen, wie etwa die am weitesten verbreitete Varietät des Hunsrückischen. Eine ähnliche Initiative gilt dem Italienischen in der dialektalen Form des venetischen­ Talian in je einem Ort in Rio Grande do Sul und Santa Catarina.

Diese erstmals (seit ca. 70 Jahren) in Brasilien wieder eingerichteten Schulprojekte fungieren vielerorts als Nukleus einer Restrukturierung ethnokultureller Netzwerke. Sie sehen den Unterricht – teils im Rahmen einer Kooffizialisierung – der Minderheitensprachen vor, im Falle des „Pomerano“ (Pommerisch) und des „Talian“ sogar in Dialektform. Daran entzündet sich z.Zt. eine Debatte über ethnische, nationale und/oder internationale Bezüge, auf die sich die ‚Revitalisierung‛ richten solle. Dies dient als Ausgangspunkt des Projekts, die Transkulturalisierungsprozesse in vivo zu verfolgen:

Die Vitalität dieser Gemeinschaften hängt in starkem Maße davon ab, ob die ‚vertikale‛ (intergenerationelle) Weitergabe von Minderheitensprache und -kultur gewährleistet ist. Dies wird in der Regel aber nicht mit isolationistischen Konzepten – quasi ‚rückwärtsgewandt‛ – zu erreichen sein, sondern nur unter Einbeziehung ethnischer ebenso wie nationaler und transnationaler Orientierungen. Das Deutsche oder Italienische wird z.B. nicht allein durch einen ‚Muttersprachen‛-Anspruch in den Schulen reüssieren, sondern durch einen Mehrsprachigkeitsanspruch – neben brasilianischem Portugiesisch, Spanisch und Englisch. Tragfähige Schulsprachenkonzepte in diesem Sinne sollen als praktisch verwertbares Projektergebnis Eingang in den lokalen (und regionalen) Diskurs finden.

Teil der Untersuchung ist ein Vergleich verschiedener Gemeinschaften: Die deutschsprachigen Pomerano-Sprecher in der Region um Pelotas stellten ein noch bis in die 1980er stabiles, heute jedoch in rasanter Auflösung begriffenes Sprachinselgebiet dar, das mit einem Kerngebiet des Pomerano in Espírito Santo sowie einer schon seit Langem weitgehend assimilierten Bevölkerung im urbanen Raum Rio de Janeiros verglichen wird. Die Einbeziehung der aufgrund konfessioneller und sprachlicher Nähe zur luso-brasilianischen Mehrheit sprachlich weitgehend assimilierten Bevölkerung italienischer Herkunft bietet eine andere Facette in Gestalt einer nur noch marginal sprachlich definierten, jedoch ethnokulturellen Identitätszuschreibung. Der Vergleich mit Quilombo-Gemeinschaften führt zu einer Thematisierung transkultureller Zugehörigkeitskonstruktionen jenseits von Nationalkulturen und –sprachen, wobei andererseits neue “Ethnisierungen” nachvollzogen werden.

 

2.3 Qualitative und quantitative Methoden des Projekts

Die Identitätskonstruktionen und diesbezüglichen Einstellungen der Befragten werden durch eine Verbindung von qualitativen und quantitativen Methoden erhoben: