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»Was war in seinem Leben so schiefgelaufen? Er kam ihr vor, als sei er auf der Flucht. Sie kannte das Gefühl. Manchmal brauchte man einfach Zeit mit sich selbst, um wieder zu sich zu finden.«
Nach einer zweijährigen Auszeit in Tasmanien kehrt Ellen nach Deutschland zurück. Sie will sich in dem Haus, das sie geerbt hat, ein neues Leben aufbauen. Für die Renovierung sucht sie einen Handwerker. Und so tritt Sascha in ihr Leben, der Ellen unentgeltlich hilft und dafür bei ihr einzieht.
Zwischen den beiden knistert es nicht nur ordentlich - langsam aber sicher verliert Ellen ihr Herz an den verschlossenen Schreiner. Doch sie ahnt nicht, dass zusammen mit Sascha auch die Gefahren ihrer Vergangenheit ihr Leben zurückgekehrt sind ...
»Spuren auf unserer Haut« ist der erste Band der einfühlsamen und romantischen Liebesromanreihe von Lili Eden. Für alle, die romantische Geschichten lieben.
Das sagen die Leserinnen und Leser in der Lesejury:
»Atemlos habe ich die beiden Protagonisten begleitet, dabei mit ihnen gelacht und geweint. Was für ein emotionales, romantisches und dramatisches Buch!« (black_snapper)
»Die Geschichte von Sascha und Ellen hinterlässt Spuren, erinnert mich daran, nicht zu schnell über andere Menschen zu urteilen.« (Redrose)
»Die berührende Lovestory hat mein Herz gewonnen und bekommt von mir eine klare Leseempfehlung!« (tkmla)
Dieser Roman ist bereits in einer früheren Ausgabe unter dem Titel »Die Spuren auf unserer Haut« erschienen.
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Nach einer zweijährigen Auszeit in Tasmanien kehrt Ellen nach Deutschland zurück. Sie will sich in dem Haus, das sie geerbt hat, ein neues Leben aufbauen. Für die Renovierung sucht sie einen Handwerker, und so tritt Sascha in Ellens Leben, der unentgeltlich hilft und dafür bei ihr einzieht. Zwischen den beiden knistert es nicht nur ordentlich – Ellen verliebt sich langsam, aber sicher in den verschlossenen Schreiner. Doch dass sich mit Sascha die Gefahren ihrer Vergangenheit in ihr Haus und in ihr Leben zurückschleichen, ahnt sie nicht ...
Lili Eden
Spuren aufunserer Haut
Zwei Jahre zuvor
Ellen schlug die Augen auf und lauschte, doch durch das gekippte Fenster drangen nur Vogelgezwitscher und Verkehrsgeräusche. Hatte sie sich das tiefe Grummeln nur eingebildet? Am gestrigen Nachmittag war es real gewesen, daran bestand kein Zweifel. Klara war hier gewesen und hatte es ebenfalls gehört. Ihre beste Freundin war ganz bleich um die Nase geworden, hatte immer wieder den Kopf geschüttelt und das Fenster schließlich zugedonnert, dass Ellen befürchtet hatte, die Scheibe würde zerbersten.
Waren die Motorräder nun gerade erneut vorbeigefahren, oder spielte ihr das Unterbewusstsein einen Streich?
Sie stemmte sich mühsam mit den Händen hoch und schob sich vorsichtig ans Kopfende des Betts.
Die Tür sprang auf und Klaras Gesicht erschien. »Warte, ich helfe dir.« Mit wenigen Sätzen war sie bei ihr, stopfte ihr das Kissen in den Rücken und sah besorgt zu, als sie sich anlehnte.
»Perfekt«, kommentierte Ellen und gab sich Mühe zu lächeln. Doch in Wahrheit schmerzte die Bauchwunde bereits bei der kleinsten Anstrengung. Ein Blick auf den Verband verriet, dass die Nähte noch hielten. Vorgestern war das nicht der Fall gewesen, und die dunklen Flecken auf dem weißen Stoff hatten den behandelnden Chirurgen gezwungen, sie noch einmal in Narkose zu legen.
»Guck mal, wen ich auf dem Parkplatz aufgegabelt habe«, sagte Klara und strahlte.
Ellens Zwillingsbruder stand in der offenen Tür, und sein Blick verriet ihr, dass sie zwar Klara vormachen konnte, sich besser zu fühlen, es bei ihm aber vergebens sein würde.
Es war das erste Mal, dass sie sich seit der Sache vor einigen Tagen, als Ellen sich die Bauchverletzung zugezogen hatte, sahen.
»Müsstest du nicht irgendwo in Russland auf Recherche sein?«, fragte Ellen und streckte eine Hand nach ihm aus.
Wenig innig wie stets griff er danach, überwand sich aber immerhin, ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken, was den Ernst der Situation verdeutlichte. »War vorgestern noch in der Taiga. Als ich das erste Mal in dieser Woche Handyempfang hatte, waren gleich mehrere hysterische Nachrichten unserer Mutter auf der Mailbox. Sie meinte, du seist im Dienst bei einem Schusswechsel beinahe umgekommen, und ich solle meinen Hintern nach Hause bewegen und dich überreden, deinen Job aufzugeben.« Er ließ sich auf den Stuhl neben ihrem Bett fallen und sah sie an. »Also, hörst du nun auf als Polizistin zu arbeiten, ehe du noch mit deinem Leben bezahlst?«
»Das hat jemand anderes«, murmelte Ellen so leise, dass er es nicht wahrnahm und schluckte. »Auf gar keinen Fall«, sagte sie schließlich lauter.
Er zuckte mit den Schultern. »Sag Mutter, dass ich mein Bestes gegeben habe, es dir auszureden.« Dann schmunzelte er. »Hätte es auch nicht anders von dir Dickschädel erwartet.«
Einen Moment lang schloss Ellen die Augen, um sich zu sammeln, dann sah sie von ihrer besten Freundin zu ihrem Bruder. »Ich muss euch etwas sagen, wenn ihr schon beide hier seid.«
Klara sank auf den Rand der Matratze und griff nach ihrer Hand. »Noch mehr Überraschungen halte ich nicht aus. Nicht nach der Sache da«, sie deutete auf den Verband, der unter Ellens kurzem Shirt herauslugte.
»Ich werde meinen Job nicht aufgeben, aber ich habe mich auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen.«
Klara schien erleichtert. »Das ist doch gut, oder nicht? So kannst du dich richtig erholen.«
»Deshalb tue ich es nicht.« Ellen sah auf die Bettdecke, unter der sich ihre Füße abzeichneten, die unruhig hin und her rutschten.
»Meine Vorgesetzten wollten mich zumindest für eine Weile verschwinden lassen.«
»Verschwinden?« Verständnislos blickte Klara sie an.
»Zeugenschutz«, hörte sie ihren Bruder sagen.
Ellen nickte. »Sozusagen, auch wenn ich nicht wirklich eine Zeugin bin. Aber zu meiner eigenen Sicherheit, und bis alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Und vermutlich noch etwas länger, um sicher zu sein, dass ich nicht mehr in Gefahr bin.« Sie unterdrückte ein Seufzen. Niemand wusste, wie viel Zeit bis dahin vergehen würde. Sie stand sprichwörtlich im Fadenkreuz einer Bikergang, und es fühlte sich beschissen an. Die Motorräder, die seit Tagen immer wieder in Gruppen die Straße vor dem Krankenhaus auf und ab fuhren, waren nicht falsch zu verstehen: Sie kamen ihretwegen – und man wartete auf sie.
»Und können wir uns dann noch sehen? Oder ist das wie in den Filmen, in denen du eine völlig neue Identität bekommst?« Klaras Stimme klang beinahe panisch.
Ellen drückte ihre Hand. »Ich habe abgelehnt.« Ihr Bruder schnaufte, doch Ellen ignorierte ihn. »Ich mache es auf meine Art. Dass ich eine Auszeit nehmen muss, ist klar, aber ich werde meinen Job nicht aufgeben und irgendwann zurückkommen.«
»Wie? Zurückkommen? Wohin willst du denn gehen?«, fragte Klara.
Ellen zuckte mit den Schultern. »So weit wie möglich von hier weg, schätze ich.«
»Um das zu schaffen, müsstest du auf die gegenüberliegende Seite der Erde. Unsere Antipode müsste östlich der Grenze zwischen Indischem und Pazifischem Ozean liegen«, sagte ihr Bruder.
Klara rollte mit den Augen. »Kannst du einmal aufhören, so ein Nerd zu sein?«
»Rechts neben Neuseeland«, antwortete er, ohne auf Klaras Bemerkung einzugehen. Zu lange kannten ihr Bruder und ihre beste Freundin sich schon, dass sie eigentlich selbst befreundet waren, es nur nicht zugeben konnten. Und beide schienen es zu lieben, sich zu necken. Seine oft schräge Art hatte Klara früher genug Angriffspunkte geliefert. Doch nun war ihr Bruder meist beruflich auf Reisen.
Ellen überlegte, wie lange es her sein musste, dass sie das letzte Mal alle drei zusammen gewesen waren.
»Ellen?«, riss Klara sie aus ihren Gedanken.
»Hmmm?«
»Ich habe gesagt, dass du doch wohl nicht wirklich in Betracht ziehst, nach Neuseeland abzuhauen. Oder?« Schon wieder war Klaras Haut fast so weiß wie die ungemütlich steife Bettwäsche, und ihre Sommersprossen fielen noch mehr auf als sonst.
»Nein, ich gehe nicht nach Neuseeland«, sagte Ellen abwesend. »In Australien ist das Wetter besser, nehme ich an. Mir ist irgendwie nach Sonne.« Sie nickte zu sich selbst. »Ja, Sonne wird helfen.«
Die Fensterläden schlugen im Takt des Windes gegen die Rahmen und brachten die kleinen verstaubten Glasvasen auf dem Sims darunter zum Klirren. Ellen wälzte sich auf die Seite. Auf dem Kissenbezug hatten sich feuchte Flecken gebildet, und ihre Haare waren schweißnass. Ihr Kopf drohte zu platzen. Sie hatte in der Vergangenheit nur selten starke Kopfschmerzen gehabt, doch das fortwährende Pulsieren in ihren Schläfen glich einem Sturm. Und dieser war ebenso unerbittlich wie das Unwetter, das draußen um die Hütte herumtobte.
Sie rappelte sich auf und schlüpfte in die groben Arbeitsschuhe, die vor dem Bett standen. Obwohl es ein warmer Herbsttag gewesen war, spürte sie, wie sich die Härchen an ihren Armen aufstellten.
Als sie sich endlich auf ihre Beine wagte, glaubte sie einen Moment, das Gleichgewicht zu verlieren. Das Pochen wurde heftiger. Sie nahm die bunte Patchworkdecke von dem alten schlichten Eisenbett und legte sie sich um die Schultern. Dann trat sie zur Tür, die ihr, als sie die Klinke drückte, durch den starken Wind wie von selbst entgegenkam.
Eine Böe fuhr durch ihre Haare, und augenblicklich war die Gänsehaut zurück. Die Luft schmeckte salzig und roch frisch, grün und wild. Wild wie diese Insel. Wild wie das Meer, das an die Klippen schlug, und wild wie die einzigartige Natur, die sich auf diesem abgelegenen Stückchen Erde befand.
Ellen ging ein paar Schritte über die Holzterrasse und sank auf die Bank an der Hauswand. Sie atmete tief durch und sah hinauf in den stürmischen Himmel. Noch am Mittag hatte die Sonne geschienen und nichts auf solch einen Wetterumschwung hingedeutet. Doch Tasmanien war immer für eine Überraschung gut, das hatte Ellen im vergangenen Jahr gelernt.
Die Witterung hier konnte sich ebenso schnell ändern wie das Leben selbst, das hatte sie beim Anruf am gestrigen Morgen einmal mehr begriffen. Auch wenn es nicht nötig gewesen wäre, ausgerechnet sie erneut auf diesen Umstand hinzuweisen. Doch das Schicksal trieb seine Spiele manchmal unbarmherzig, und es schien mit ihr noch nicht fertig zu sein.
Einen Augenblick lang hatte Ellen sich gewundert, warum ihre Mutter sich nicht wie üblich erst am Sonntag wieder meldete. Eine ungute Ahnung war in ihr hochgekrochen. Anna war tot. Ihre geliebte Großmutter war im Schlaf gestorben, einfach so. Ganz, wie sie es sich immer lautstark und mit einem Lächeln auf den Lippen gewünscht hatte. Dennoch war es zu früh gewesen. Nicht für Anna, aber für sie.
Den Tag über hatte Ellen ihre Trauer versteckt, es niemandem erzählt. Kaum, dass sie zu Bett gegangen war, hatte sie plötzlich die Sehnsucht nach Anna und ihrem Zuhause überwältigt. Beinahe zweimal hatte die Erde inzwischen die Sonne umkreist, seit sie damals in Deutschland überstürzt abgereist war.
Ellen hatte in den letzten Monaten endlich etwas zu sich selbst zurückgefunden. Über ein Jahr lang war sie fast jeden Tag weitergezogen. Hatte ganz Australien bereist und es geschafft, die Einsamkeit auszuhalten und ihre Gedanken zu ordnen. Schließlich, als sie genug von der Hitze und dem Staub Australiens gehabt hatte, hatte sie ein Ticket für die Überfahrt auf die abgelegene Insel gebucht.
Vor rund zehn Monaten, als sie von der Spirit of Tasmania aus den ersten Blick auf Tasmanien geworfen hatte, war Ellen der Atem gestockt. Frühmorgens hatte sie die Hügel und das Grün der Insel zwischen den Nebelschwaden vom Deck der Fähre aus erblickt. In diesem Moment war Ellen endlich bereit gewesen, sich für einige Zeit an einem Ort niederzulassen. Diese Insel war schon ziemlich nah dran an dem Punkt, den ihr Bruder damals im Krankenhaus beschrieben hatte, aber vermutlich hätte ihr Bruder sich den Hinweis, dass Neuseeland noch exakter gewesen wäre, nicht verkneifen können. Und trotzdem war das hier in Ellens Augen sprichwörtlich das Ende der Welt. Und bis zu dem Anruf war es auch perfekt gewesen. Und jetzt, durch dieses eine Gespräch, spürte sie plötzlich die gewaltige Entfernung zu ihrem früheren Leben.
Ein lautes Zischen riss Ellen aus ihren Gedanken. Gleißend hell zuckte ein Blitz durch die Dunkelheit und schien weit entfernt im Meer zu enden. Kurz darauf grollte der Donner über den Nachthimmel. Inzwischen prasselten die Regentropfen fast waagerecht unter das Vordach.
Ellen ließ im kurzen Licht eines weiteren Blitzes den Blick über die Hügel bis hinunter zum Strand der mehrere Kilometer entfernten Bucht gleiten. Gab es ein schöneres Fleckchen auf dieser Welt? Selbst bei solch einem Unwetter bezauberte die Insel sie. So ursprünglich sie war, so schön und zauberhaft war sie auch. Mit den großen Farnen und den merkwürdigen Tieren schienen die Wälder Tasmaniens direkt einem Märchenbuch zu entspringen.
Ellen sog die kühle Luft ein, rieb sich die Schläfen und stand auf. Die Tür ließ sich nur schwer gegen den Wind schließen. Sie warf die Decke aufs Bett und sah auf den Wecker. Es war drei Uhr morgens, und sie hatte nur noch wenige Stunden, ehe sie sich für die Arbeit auf der Plantage anziehen musste. Stöhnend fiel sie zurück ins Bett und griff nach dem Eispack auf dem Nachttisch. Es war inzwischen lauwarm und würde ihr in dieser Nacht keine Linderung mehr verschaffen.
Ellen drehte mit der rechten Hand das Gaspedal nach unten. Die letzte Nacht wirkte noch nach, auch wenn die Kopfschmerzen inzwischen erträglicher waren. Das Quad nahm an Geschwindigkeit zu, und sie musste aufpassen, in den Kurven der unbefestigten Piste nicht wegzurutschen. Die trockene Erde wirbelte in einer gewaltigen Staubwolke unter den Reifen auf. Am Ende des Weges steuerte Ellen das Quad zwischen die Kirschbäume und hielt an. Sie griff nach der Schrotflinte, die in der abgesägten hohlen Stange seitlich des Lenkers steckte. Mit beiden Füßen stieg sie vorsichtig auf die Sitzbank und richtete sich auf. Als sie einen festen Stand gefunden hatte, nahm sie die Sonnenbrille ab und schob sie an den Kragen ihres Shirts. Der Blick war unbeschreiblich. Sie stand inmitten von gut siebentausend Kirschbäumen, die ihr jetzt bis etwa an die Schultern reichten. Bei dieser geringen Höhe konnten die Kirschen leichter abgeerntet werden.
Ellen hörte das verräterische Krächzen, auf das sie gewartet hatte. Lautlos legte sie das Gewehr an und lauschte. Als mehrere rabengroße Vögel ein paar Baumreihen weiter aufflatterten, visierte sie einen der dunklen Punkte an. Dann riss sie das Gewehr zur Seite und der Schuss grollte dröhnend durch die Bäume und überall stoben panische Vögel in Richtung Himmel. Ellen atmete tief ein und zielte erneut. Kurz bevor sie den Druckpunkt der Schrotflinte durchzog, entließ sie das Tier aus dem Visier. Zufrieden beobachtete sie, wie sich der Schwarm zügig von der Plantage entfernte.
Sie stieg von der Bank herunter und steckte die Schrotflinte wieder in die Halterung. Langsam wendete sie das Quad und machte sich auf den Weg zurück zur Scheune. Dass es hier in Tasmanien andere Regeln gab, hatte Ellen schnell mitbekommen. Anfangs hatte sie sich gewundert, warum der Farmer immer eine Flinte mit sich führte, wenn er auf der Farm unterwegs war. Zuerst hatte sie auf giftige Schlangen getippt, jedoch nicht nachgefragt. Als er plötzlich mitten in einem Gespräch mit ihr nach dem Gewehr gegriffen und einen Vogel aus einem der Bäume geschossen hatte, hatte Ellen die Erkenntnis ereilt: Die Tiere fielen in Schwärmen über die Obstbäume her. Sie fraßen nicht einfach einige der Kirschen, stattdessen pickten aus unzähligen Früchten meist nur ein Stückchen heraus. Der Schaden, den sie damit anrichteten, war nicht zu unterschätzen. Es ging nicht darum, möglichst viele Vögel zu töten, sondern darum, die cleveren Tiere zu erschrecken. Fielen einzelne Tiere eines Schwarms zu Boden, so merkten sich die restlichen diese Erfahrung. Ellen hatte jedoch beobachtet, dass die Wirkung die Gleiche war, wenn die Schrotladung die Vögel knapp verfehlte und den Farmer überzeugt, dass es nicht notwendig war, zu töten. Nun drehte sie mehrmals täglich die Runde über die Farm, um nach den Kirschdieben Ausschau zu halten und sie zu vertreiben. Die Ruhe und das Freiheitsgefühl bei ihren Streifzügen war ein Genuss.
Seit dem Vorfall vor knapp zwei Jahren hatte Ellen keine Waffe mehr in der Hand gehabt. Allein der Gedanke daran ließ ihr den Schweiß auf der Stirn ausbrechen. Erst hier konnte sie wieder die Kraft aufbringen, ihre Angst zu überwinden. Der Farmer hatte ihr gerne eine seiner Schrotflinten überlassen und Ellen auf einem Zaun in einiger Entfernung leere Bierdosen aufgestellt. Nachdem die ersten Versuche danebengegangen waren, hatte sie den richtigen Dreh mit der uralten Flinte schnell herausgehabt. Vermutlich war das alles hier eine Art Therapie. Eine unübliche Therapie, aber es half – und nur das war es, worauf es ankam.
Als sie das Quad neben der Scheune abstellte, kam Johnny auf sie zu. Ellen beobachtete, wie er sich die Hände an seiner Hose abrieb und den Hut vom Kopf zog, um sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sie lächelte in sich hinein. Es war stets der gleiche Bewegungsablauf, wann immer der Bursche eine Pause von der Arbeit machte.
»Alles klar bei dir?« Er lehnte sich an die Scheunenwand und verschränkte die Arme.
»Ging schon mal besser.« Ellen griff nach dem Gewehr und brachte es zum Waffenschrank im Innern des Gebäudes. Sie hörte Johnnys Schritte hinter sich, als sie die unbenutzten Patronen in die Schachtel zurückräumte.
»Was ist los?«, hakte er nach.
Ellen drehte sich um und setzte sich auf den staubigen Betonboden. Sie stützte ihren Kopf in die Hände und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Meine Oma ist gestorben.«
Johnny nahm seinen Hut ab und ging vor ihr in die Hocke. »Das tut mir leid.«
»Ich bin seit fast zwei Jahren unterwegs. Damals hatte ich meiner Großmutter versprochen, ich würde nach einem Jahr zurückkommen.« Ellen wischte sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange. »Dann habe ich den Rückflug immer wieder verschoben. Und jetzt ... jetzt ist es zu spät ...« Ihre Stimme versagte, aber was hätte sie auch sagen sollen? Sie fühlte sich elend und schuldig.
Johnny beugte sich nach vorne und tätschelte ihr ungelenk das Bein. »Und was willst du jetzt machen?«
Ellen hob den Kopf und sah die Sorge in seinen dunklen Augen, die sonst vor Lebensfreude zu sprühen schienen. »Ich habe keine Ahnung!«, sagte sie müde.
*****
Die Luft war kalt und feucht. Den ganzen Tag schon regnete es unablässig und auf dem unebenen Betonboden hatten sich Pfützen gebildet. Sascha stand mit dem Rücken an die Backsteinwand gelehnt und betrachtete den Zigarettenrauch, wie er in der Dunkelheit langsam davonwehte. Er nahm einen weiteren Zug und inhalierte tief. Das schwache Licht, das durch die halb geöffnete Hintertür fiel, erhellte nur wenige Meter des trostlosen Hofes. Wie er diesen Ort hasste. Sascha versuchte es zu vermeiden, hierherzukommen, doch heute hatte er keine andere Wahl gehabt. Missmutig schnippte er die Zigarette weg, löste die Satteltasche von seinem Motorrad und warf sie sich über die Schulter. Er stapfte durch den Flur und trat in den schummrigen Barraum, der mit rotem Teppich ausgelegt war. An den Wänden hingen Bilder von Frauen in lasziven Posen, und Sascha schnaubte verächtlich. Suchend sah er sich um und entdeckte hinter der Theke die Frau, die diesen Ort ein wenig erträglicher machte. »Maja.« Er nickte ihr zu, ging zur Bar und ließ sich auf einen der Hocker sacken.
»Sascha, das ist ja schön.« Maja schenkte ihm ein warmes Lächeln und kam auf ihn zu. »Was machst du denn hier, ich dachte, Andi würde euren Anteil abholen?«
»Er hat sich heute Morgen die Hand gebrochen, also muss ich seine Runde übernehmen«, erklärte Sascha, wie es dazu kam, dass er schon seit Stunden unterwegs war, und sicherlich noch die restliche Nacht beschäftigt sein würde. Zahltag. Er wusste nicht mehr, an wie vielen Orten er heute bereits kassiert hatte.
»Ach herrje, er hat sich die Hand gebrochen?« Maja schüttelte mitleidig den Kopf. »Wie ist es denn dazu gekommen?«
»Ich will es gar nicht wissen«, brummte Sascha. Nein, inzwischen wollte er so wenig wie möglich darüber erfahren, was seine Clubbrüder trieben, wenn es nicht unbedingt sein musste.
Erneut lächelte sie ihm zu, holte dann ein Bier aus dem Kühlschrank und reichte es ihm.
Sascha schlug den Kronkorken an der Platte des Tresens ab und nahm einen großen Schluck, während Maja in der Kasse kramte und ein Bündel Scheine, das von einem Gummi zusammengehalten wurde, herausfischte und ihm reichte. Wortlos schob er es in die Satteltasche.
»Willst du nicht nachzählen?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Andi zählt immer nach.«
»Ich weiß, dass du dich nicht verrechnest«, gab Sascha zurück und zwinkerte ihr zu.
»Das stimmt.« Hell lachte sie auf und band ihre blonden Haare in einem unordentlichen Dutt zusammen, der nicht zu ihrer restlichen Aufmachung passte. Das knappe glitzernde Kleidchen bedeckte kaum das Nötigste, und wie immer war Maja perfekt geschminkt. Doch er kannte die Person hinter dieser sorgfältig aufgesetzten Fassade.
Sascha beobachtete, wie sie die dreckigen Gläser vom Tresen in die Spülmaschine räumte. Er konnte einfach nicht verstehen, wie eine so gütige und lebenslustige Frau an einem Ort wie diesem landen konnte. Wobei, eigentlich wusste er nur zu genau, wie es dazu gekommen war: so, wie bei all den anderen Mädchen hier auch. Das Schicksal hatte Maja beschissene Karten ausgeteilt, und nun verbrachte sie die besten Jahre ihres Lebens in diesem verfluchten Bordell.
Auch wenn Sascha diesen Ort hasste, ließ es sich manchmal nicht verhindern, das große Gebäude am Rande des Industriegebiets zu betreten. Und wann immer er es dennoch tat und auf Maja traf, erhellte zumindest eine Unterhaltung mit ihr seinen Tag. Mehrfach hatte er versucht, sie dazu zu bringen, sich nach einem anderen Job umzusehen. Doch Maja weigerte sich standhaft. Immer wieder behauptete sie, sich hier wohlzufühlen. Und wenn er sie so ansah, dann schien es tatsächlich die Wahrheit zu sein. Wünschte er sich, dass sie in diesem Laden unglücklich war? Weil er für sie ein anderes Leben wollte? So wie er hing Maja fest in einem Umfeld, das jenseits der normalen Gesellschaft dahinsiechte. Warum nur war er heute noch frustrierter als üblich?
Sascha lehnte sich ein wenig über den Tresen und senkte die Stimme. »Hast du je darüber nachgedacht, einfach abzuhauen und alles hinter dir zu lassen?« Er sprach aus, was ihm in den Sinn gekommen war, bevor er seine Worte abwägen konnte.
Maja hielt in ihrer Bewegung inne. Dann klappte sie die Spülmaschine zu und stützte sich auf die Arbeitsplatte. Ihre Augen waren unverwandt auf sein Gesicht gerichtet. Beinahe war es, als würde sich ihr Blick in seine Gedanken brennen. »Du wirst doch nichts vorhaben, was dich den Kopf kosten kann, Knight?«, fragte sie leise nach.
Knight. Mit dem Namen, der ihm vor scheinbar unendlich langer Zeit vom Club gegeben wurde, wies Maja ihn darauf hin, dass er nicht wegkonnte. »Nein, war nur ein dummer Spruch«, murmelte Sascha und starrte auf die Bierflasche in seiner Hand.
Maja lehnte sich nach vorne, und ihre Fingerspitzen wanderten über seine Kutte und ruhten einen Augenblick auf dem aufgenähten Patch, der seinen Namen trug, ehe sie die Hand zurückzog. »Du weißt, ich bin nicht diejenige von uns beiden, die sich an einen Schwur gebunden hat«, flüsterte sie.
Ja, Maja hatte ihre Seele nicht an eine Bruderschaft verkauft, aus der es kein Entkommen gab. Der Schwur, den er vor einem halben Leben geleistet hatte, band ihn und seine Ehre an den Club. Einmal geleistet, gab es kein Zurück. Fest presste Sascha die Zähne aufeinander, bis es in seinem Kiefer zu ziehen begann.
»Was ist denn in letzter Zeit mit dir los? Du schaust noch finsterer drein als üblich.« Auch ohne aufzusehen, wusste er, dass Maja jede noch so kleine Regung in seinem Gesicht wahrnahm. Diese Frau hatte ein Talent dafür, Menschen einzuschätzen. Ähnlich wie er selbst, war Maja darauf angewiesen, ihr Gegenüber im Bruchteil einer Sekunde zu analysieren, um ihr Verhalten entsprechend anzupassen. Der Unterschied war nur, aus welchen Gründen sie es taten. Maja, um einem Freier die perfekte halbe Stunde zu bieten, und er, um Macht zu demonstrieren und Forderungen durchzusetzen. Und jetzt gerade las Maja ihn.
»Ich weiß auch nicht, es geht alles den Bach runter«, brummte er.
»Im Club?«
Er nickte fast unmerklich. »Und mein Leben ebenfalls.«
Sie seufzte auf und tätschelte seine Hand. »Du kennst dieses Spiel doch, kaum einer findet sich darin besser zurecht als du.«
Genau das war das Problem: Er wusste zu viel. All die dreckigen kleinen Details, die inzwischen schwerer zu ertragen waren als früher. Die nach und nach seine Seele erstickten, oder das, was davon noch übrig war. »Es wird schon wieder«, sagte er matt.
»Das hoffe ich sehr.« Maja klang nicht überzeugt. »Du bist doch mein liebster ThunderBrother.« Sie gluckste amüsiert auf und machte sich daran, den Tresen abzuwischen.
»Das ist auch keine Kunst bei der widerwärtigen Konkurrenz«, nuschelte er in seinen Bart.
»Die Geister, die wir riefen«, sagte Maja, ohne ihn anzusehen.
Noch ehe er antworten konnte, war das Klingeln des Glöckchens über der Tür zu hören. Mit einer flinken Bewegung löste Maja das Gummi aus ihren Haaren und setzte ein strahlendes Lächeln auf, während ein älterer Mann den Raum betrat. »Man könnte fast glauben, dass du dich wirklich freust«, raunte Sascha ihr zu.
»Halt die Klappe«, zischte sie, und ein Grinsen zupfte an ihren Mundwinkeln.
Ein Blick auf die hängenden Schultern und die unbeholfene Gestik des Mannes verriet Sascha, dass er sich zumindest heute nicht um Maja sorgen musste. Dieser Kerl würde ihr aus der Hand fressen und dafür auch noch bezahlen. Und trotzdem wollte er Galle spucken bei dem Gedanken daran, was in den Zimmern im oberen Stockwerk ablief. Ganz hatte der Club seine Seele wohl noch nicht zerstört. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Situationen wie diese keine Regung mehr in ihm auslösen würden. In einem Zug leerte er das Bier, warf sich die Tasche wieder über die Schulter und vermied es, noch einmal zu Maja und dem Mann zu schauen.
»Wir sehen uns!«, rief Maja, und Sascha hob eine Hand, ehe er in den Flur verschwand. Während er zur Hintertür stapfte, dachte er darüber nach, wie verflucht merkwürdig das alles war. Diese Frau war mehr Freund für ihn als die Kameraden, mit denen er seit zwanzig Jahren fast jeden Tag verbrachte. Seit Maja hier aufgetaucht war, war zwischen ihnen nie etwas vorgefallen, was die Grenzen einer Freundschaft überschritten hätte, und genau das machte sie für ihn so wertvoll. Sie war keine der Frauen, mit denen er sich vergnügte, um zu vergessen, selbst wenn das mit dem Vergessen eindeutig zu selten funktionierte. Mit Maja konnte er reden, und sie verstand ihn auch ohne viele Worte, was ausgezeichnet war, denn er sprach ungern lange. Seine Gefühle für Maja entsprachen denen, die man für seine Schwester empfand. Vielleicht war es an der Zeit, einen neuen Schwur zu leisten? Einen, der gut war im Gegensatz zu dem, der über sein Dasein bestimmte. Ehe Sascha die Tür erreichte, blieb er stehen und drehte sich um. Er beobachtete, wie Maja mit dem Kunden zur Treppe ging. Eines Tages würde er sie hier rausschaffen und ihr zu dem Leben verhelfen, das sie verdiente. Ja, das wäre ein Schwur, der ihm ein wenig seiner Würde zurückgeben sollte.
Im Morgengrauen parkte er das Bike vor dem Clubgebäude des ThunderBrother MC. Nachdem Sascha die Geldbündel, die er in der in den letzten knapp zwanzig Stunden eingesammelt hatte, in den Tresor geworfen und eingeschlossen hatte, durchquerte er den weitläufigen Aufenthaltsraum mit den Billardtischen. Er stieg über Rock, der bewusstlos am Boden lag. Vor zwanzig Jahren hatte man dem Kerl diesen Rufnamen verliehen, weil er Oberarme wie ein Bulle gehabt hatte und standhaft wie ein Fels gewesen war. Jetzt hatte Rock, der im eigentlichen Leben Ralf hieß, keine dicken Arme mehr, dafür aber eine beginnende Wampe. Wir werden alle älter. In seiner Hand hielt Rock eine Bierflasche, deren ausgelaufener Inhalt eine Pfütze neben seinem ausdruckslosen Gesicht gebildet hatte.
Offensichtlich hatte Sascha eine wilde Party verpasst, jedenfalls ließ der Zustand des Raums darauf schließen. Überall standen leere Flaschen und Gläser und ein beißender Geruch brannte in seiner Nase.
Sascha arbeitete sich zur Treppe vor und ging in den ersten Stock hinauf. Als er die quietschende Tür aufschob, schlug ihm abgestandene Luft entgegen. Er ließ die Satteltasche und die Kutte fallen, öffnete das Fenster und streckte sich auf der durchgelegenen Matratze aus. Die schweren Stiefel und die abgewetzte Jeans behielt er einfach an. Er war ausgelaugt, und jedes Körperteil fühlte sich so schwer wie Blei an. Sascha sah sich in dem abgewohnten Zimmer um. Der Staub lag dick auf der alten Kommode und dem Schrank mit den ausgehängten Türen. Die ursprüngliche Farbe des Teppichs war dank der unzähligen Flecken und des Drecks nur noch zu erahnen.
Was tat er hier eigentlich? Es war nicht nur der vergangene Tag, an dem er das ein oder andere Mal nachdrücklich den Anteil seiner Bruderschaft bei diversen Geschäftskunden eingefordert hatte, der ihm wieder einmal die Sinnlosigkeit seines Daseins vor Augen geführt hatte. Es war alles. Es war Maja, die meinte, dieses Leben führen zu müssen, die Tatsache, dass seine Organisation diesen beschissenen Puff besaß und Mädchen wie sie überhaupt erst in diese Situation brachte, und es war auch das Clubhaus. Früher einmal hatte Sascha sich hier wohlgefühlt. Dreckige Zimmer hatten ihn nicht gestört, und wenn die anderen besoffen waren, hatte er einfach mitgetrunken. Was war nur los mit ihm? War er langsam zu alt für den ganzen Scheiß? Er betrachtete die Kutte mit dem aufgenähten Clublogo. Das Sinnbild seiner Existenz. Er kannte die Blicke, die Passanten ihm zuwarfen, nur zu gut. Früher hatte er sich dadurch selbstbewusst und unverwundbar gefühlt.
Doch inzwischen war das Emblem, das er auf dem Rücken trug, zu einer Last geworden. Es war nichts Ehrenvolles an dem, was sie hier taten, aber das hatte er lange nicht gesehen, oder eben nicht sehen wollen. Der Wunsch, Teil einer Gemeinschaft zu sein war das, was ihn zu den ThunderBrothers geführt hatte.
Nur was genau war das hier für eine Gemeinschaft? Eine, die von jedem Member erwartete, blind zu gehorchen? Zu springen, wenn man es ihm sagte? Eine, in der es klare Regeln gab, an die man sich halten musste. Bis in den Tod und vielleicht noch darüber hinaus. Sie alle hier hatten ihren Platz in der Hölle sicher, daran bestand kein Zweifel. Wenn es einen Himmel gab, dann war das kein Ort, der ihm offenstand. Seufzend rieb er sich über den Bart. All dem hatte er zugestimmt und noch so vielem mehr.
Die meisten seiner Kommilitonen waren inzwischen verheiratet, einige hatten bereits Familien gegründet. Während sie studiert und sich auf Partys rumgetrieben hatten, danach vernünftige Karrieren machten und nette Frauen kennenlernten, hatte er seine Zeit im Club verbracht. Und war zu Knight geworden. Dabei war nicht viel ritterlich an ihm, wenn er ehrlich zu sich war.
In den letzten zwanzig Jahren war er unzählige Male verprügelt worden, hatte noch öfter andere verprügelt und sich in jeder freien Minute um Clubangelegenheiten und die Geschäfte gekümmert. Damit hatte er sich die Möglichkeit auf ein normales Leben verbaut.
Wenn Sascha nicht hier übernachtete, dann schlief er bei seinem Vater in der kleinen Wohnung über dessen Schreinerei. Während andere ganz normale Leben führten, pendelte er zwischen zwei Welten. Natürlich hätte er sich auch eine Wohnung nehmen können, aber er wollte zumindest hin und wieder noch einen Abend mit seinem Vater verbringen, auch wenn sie sich selten etwas zu sagen hatten.
Tatsächlich hätte sich eine eigene Wohnung bei der ganzen Zeit, die der Club in Anspruch nahm, einfach nicht gelohnt. Aber er brauchte sich nicht zu bemitleiden, er hatte genau gewusst, auf was er sich einließ. Er hatte dieses Leben bewusst gewählt zu einer Zeit, in der ihn das alles hier mächtig beeindruckt hatte. Was war er jung und dumm gewesen. Der Club war seine Familie und alles, was zählte. Zumindest war es lange so gewesen. Inzwischen gab es immer mehr, das ihn anwiderte. Aber er hatte keine Wahl. Das hier war sein Leben. Er hatte sich dafür entschieden und so war es nun einfach.
Saschas Kopf kippte zur Seite, und er fiel wie so oft in einen traumlosen Schlaf. Wenn er doch mal träumte, dann waren es Albträume.
Ellen stand an dem alten massiven Zaun. Die Arme auf das spröde Holz gestützt, sah sie gedankenversunken über die weiten Felder, bis zu den grasbewachsenen Hügeln hinüber. Der Wind trieb die grauen Wolken, die so gut zu ihrer Stimmung passten, über den endlosen Himmel. Sie schüttelte den Kopf, um sich in die Wirklichkeit zurückzuholen, und fuhr mit den Fingern entlang der Maserung der ausgebleichten Holzlatte. Die Schritte hinter sich bemerkte sie nicht. Erst als Johnny neben ihr stehen blieb, wurde sie sich seiner Anwesenheit bewusst.
»Ist es wirklich so weit? Du gehst zurück nach Europa?«, fragte er.
Ellen nickte. »Deutschland, John. Deutschland.«
Johnny zuckte mit den Schultern und stellte sich neben sie, stützte ebenfalls die Arme auf das Holz und sah sie aus den Augenwinkeln an. »Sag ich doch. Europa.«
Ellen schmunzelte und dachte einen Moment darüber nach, eine Diskussion anzufangen, ob Tasmanier auch Australier waren oder doch etwas Eigenständiges mit ihrer abgelegenen Insel, und ob Deutschland daher nicht ebenfalls einen eigenen Namen verdiente. Sie verwarf den Gedanken, heute war ihr wirklich nicht nach einer Grundsatzdiskussion. Es hatte viel zu tun gegeben auf der Plantage und seit dem Anruf kürzlich hatte sie nur unruhige Nächte verbracht. Nun spürte sie die Erschöpfung in sich aufsteigen. »Ich fahre in ein paar Tagen nach Devonport, dann geht's mit der Fähre nach Melbourne und von dort aus nach Hause.«
Nach Hause. Wie merkwürdig diese Bezeichnung in ihren Gedanken klang. Die Einzimmerhütte, etwas abseits gelegen vom Haupthaus der Farm, war im vergangenen Jahr ihr Zuhause gewesen. An Deutschland hatte Ellen kaum gedacht. An Klara ja, an die Eltern, an Anna und ihren Bruder auch, doch es schien alles so unendlich weit weg zu sein. Das hier war eine andere Welt, ein anderes Leben. Es war nicht ihre Entscheidung gewesen, alles in Deutschland von heute auf morgen aufzugeben, aber es hatte sein müssen. Eine Weile hatte sie geglaubt, daran zu zerbrechen. Vermutlich war die einzige Chance, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, die gewesen, ihre Heimat aus ihrer Erinnerung zu verbannen. Zwar konnte sie den furchtbaren Erlebnissen von damals nur bei Tage entkommen, während die Nächte sie immer wieder schweißgebadet aufwachen ließen, aber es war besser geworden. Nach und nach. Und jetzt hatte sie die Realität auch am anderen Ende der Welt eingeholt. Vor ein paar Tagen war Annas Beerdigung gewesen – ohne sie. Doch was hätte Anna davon gehabt, wenn sie es zur Beerdigung geschafft hätte? Ihre Großmutter hätte sie in den letzten beiden Jahren gebraucht, auch wenn sie die Umstände über Ellens beinahe panischen Aufbruch damals verstand. Nein, Anna hatte sie sogar gebeten zu gehen. Um Ellen zu schützen. »Bis Gras über die Sache gewachsen ist«, hatte Anna ihr bei der Verabschiedung ins Ohr geflüstert und sie fest an sich gedrückt. Ellen betrachtete erneut die Wolken. War nun Gras darüber gewachsen? Sie wusste es nicht. Niemand aus ihrem alten Umfeld konnte es wirklich einschätzen. Sie würde vorsichtig sein müssen. Immer wieder über die Schulter blicken. Wenigstens das war hier nicht nötig gewesen. Doch Ellen hatte einen Plan und vor einiger Zeit viel Aufwand betrieben, ihren Nachnamen geändert und mit ihren Vorgesetzten gesprochen, um irgendwann eine Rückkehr in ihren Beruf möglich zu machen. Irgendwann war plötzlich näher als gedacht. Zum Plan gehörte auch, dass sie ähnlich abgelegen leben würde wie hier. Zwar nicht mit dieser einmaligen Aussicht, aber dafür an dem Ort, der tief in ihrem Herzen schon immer ihr Lieblingsplatz gewesen war.
Ellen schwankte zwischen Vorfreude und Bedauern. Dem Bedauern, Tasmanien zu verlassen, und der Vorfreude auf die Menschen, die sie so dringend wiedersehen wollte.
»Bist du wirklich sicher, dass du gehen willst?« Johnny kramte in seiner Jackentasche, und auch ohne, dass Ellen hinsah, wusste sie, dass er nach dem losen Tabak suchte, um sich eine Zigarette zu drehen.
»Es muss sein. Es ist an der Zeit«, antwortete sie. »Dreh mir auch eine mit!«
Ellen sah, wie er sie musterte, während er das Päckchen öffnete. Sie wandte sich ihm zu und beobachtete, wie er den Tabak in das dünne Papier einlegte. Gekonnt rollte er beides straff, leckte über das Papier und klebte es zusammen. John arbeitete hart und war ein guter Kerl. Er war ein begabter Mechaniker und brachte jede Maschine auf der Farm zum Laufen. Dinge, die Fingerspitzengefühl erforderten, waren seine Stärke. Mit Sicherheit drehte dieser Kerl die akkuratesten Zigaretten in ganz Tasmanien. Johnny reichte sie ihr und ließ klackend das Feuerzeug aufspringen.
Sie sprachen kein Wort, während sie rauchten. Ellen spürte einen leichten Schwindel in sich aufsteigen, wie meistens, wenn sie sich nach langer Zeit mal wieder eine Zigarette genehmigte. »Eigentlich könnte ich heute etwas Stärkeres gebrauchen«, murmelte sie und drückte die abgebrannten Stummel an der Zaunlatte aus.
Johnny tat es ihr gleich und drehte sich zum Gehen. »Das kriegen wir hin. Wir treffen uns in zehn Minuten bei der Hütte.«
Ellen sah ihm nach, wie er in Richtung Haupthaus ging, und musste unwillkürlich lächeln. Es war nicht immer leicht gewesen, mit Johnny zu arbeiten, aber sie hatte sich an ihn gewöhnt. Streng genommen war er als Sohn des Farmers ihr Chef, doch er hatte sich nie so verhalten. Mit seinen zwanzig Jahren kam er ihr so unglaublich viel jünger vor als sie selbst. Es lag wohl weniger an seinem Alter als an seiner Unbeschwertheit, dass er so jung wirkte. Anfangs hatte Johnny ständig versucht sie zu beeindrucken, und es war klar gewesen, worauf er es abgesehen hatte. Ellen hatte sich geschmeichelt gefühlt, ihm jedoch deutlich signalisiert, dass nie mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein würde. Nach einigen Wochen hatte er es offenbar akzeptiert. Allerdings hatte Ellen stets das Gefühl gehabt, Johnny würde sie im Auge behalten. Er schien immer aus der Entfernung zu kontrollieren, ob es ihr gut ging, ob sie sich einlebte oder irgendetwas benötigte. Ja, er war ein guter Kerl. Einer, der sein ganzes Leben auf einer Farm am Ende der Welt verbracht hatte. Der gerne schraubte, ständig schwarz verschmierte Finger hatte und fleckige Jeans trug.
Während sie zur Hütte ging, wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn und das alles hier vermissen würde. Die Arbeit war hart, die Bezahlung nicht besonders, und Ellen hatte immer gewusst, dass es nichts für die Zukunft war. Nichts Vernünftiges. Aber es hatte ihr gutgetan. Es war eine Arbeit, ein Leben, das gut für die Seele war.
Bald würde sie die Geborgenheit der Insel verlassen. Doch zu Hause gab es den einen Ort, an dem sie schon immer glücklich gewesen war. Das Haus, in dem sie als Kind mit Anna ihre Schulferien verbracht hatte. Anna hatte ihr bereits vor Jahren erzählt, dass sie Ellen als Alleinerbin in ihrem Testament eingesetzt hatte – auch wenn Ellen damals nichts davon hören wollte. »Und was ist mit meinem Bruder?«, hatte sie dagegengehalten und eigentlich ausdrücken wollen, dass Anna einfach nicht über ihren Tod reden durfte.
»Dein Bruder ist im Bilde, es war sogar seine Idee. Er weiß, dass du im Gegensatz zu ihm an dem Haus hängst. Damit ist alles für diesen Tag geklärt«, hatte Anna gesagt.
Wenn sie es schon verpasst hatte, ihre geliebte Großmutter noch einmal zu sehen, dann wollte sie wenigstens in den Wänden leben, in denen Annas Geist zu spüren wäre. Und ganz nebenbei war das alte Haus auch noch ein perfektes Versteck.
Wenige Minuten, nachdem sie die Arbeitsschuhe abgestreift, sich das Gesicht gewaschen und ein frisches Shirt angezogen hatte, klopfte Johnny bereits an die Tür. Als Ellen öffnete, stand er mit einem Sixpack Bier unter den Arm geklemmt und einer Flasche Whisky in der Hand vor ihr.
Lachend holte sie Gläser von der Spüle. Gemeinsam setzten sie sich auf die kleine Bank auf der Terrasse und prosteten sich mit dem Bier zu. Während sie das erste tranken, sprach keiner von ihnen ein Wort. Sie hatten sich nie besonders viel zu sagen gehabt. An den Wochenenden aß Ellen für gewöhnlich mit Johnny und seinen Eltern zu Abend. In den Gesprächen drehte sich meist alles um die Farm und die anstehenden Arbeiten für die kommende Woche. Hin und wieder hatte Johnnys unbeschreiblich herzliche Mutter sich nach Deutschland und Ellens Familie erkundigt, doch Ellen war ungewohnt wortkarg geblieben, wann immer dieses Thema angesprochen wurde. Weil es schmerzte.
Sie sah zu Johnny hinüber und bemerkte, dass er die Augenbrauen zusammengezogen hatte, während er ruhig auf das entfernte Meer sah.
»Ist alles gut?« Ellen stupste ihn mit dem Ellenbogen an.
»Wenn du gehst, brauchen wir einen neuen Mitarbeiter. Oder besser gleich zwei. In den nächsten Wochen stehen viele Arbeiten in der Plantage an, bald muss der Rückschnitt erledigt werden.«
»Ich bin noch nicht einmal weg und du denkst schon über meinen Ersatz nach?« Ellen zog die Augenbrauen hoch. »Ihr werdet sicher irgendwelche Backpacker finden. Die suchen immer Arbeit.«
Er stellte seine leere Bierflasche zur Seite und begann, in beide Gläser Whisky einzuschenken. »Diese Backpacker nerven mich. Sie sind immer nett, aber sie sind nur auf der Durchreise. Wollen sich die Welt anschauen und sehen das hier nur als gezwungene Auszeit, um Geld für die weitere Reise zu verdienen. Außerdem können die meisten nicht viel. Die sind frisch von der Schule und haben ihr ganzes Leben noch nicht richtig gearbeitet. Zumindest wirkt es so.« Er goss Whisky in die Gläser und reichte ihr eins.
Ellen prostete ihm zu, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. »Es tut mir leid, aber es ist, wie es ist. Dass ich früher oder später in mein richtiges Leben zurückmuss, war immer klar. Zu meiner Familie und meinem Job. Jetzt ist es eben so weit.« Sie nahm erneut einen Schluck und lehnte sich nach hinten.
Johnny nickte und setzte das Glas an die Lippen.
Inzwischen war es finster. Wenn Ellen die Augen zusammenkniff und ganz genau hinsah, konnte sie die Wolkenumrisse vor dem dunklen Himmel erkennen. Ihr Kopf surrte, und ihre Arme waren bleischwer. Aber sie fühlte sich warm und geborgen. In wenigen Tagen würde sie das Paradies verlassen und in die Wirklichkeit zurückkehren, doch noch war sie hier. Noch konnte sie das Meer rauschen hören, den sanften Wind auf ihrer Haut spüren. Und Johnnys Stimme lauschen, während er Geschichten aus seiner Kindheit erzählte. Sie hatte ihn noch nie so gelöst erlebt, wobei dies nicht am Alkohol allein liegen konnte. Angetrunken war er schon öfter gewesen, vor allem, wenn er sich an den Wochenenden mit Freunden getroffen hatte.
Er hielt mitten im Satz inne und sah zu ihr hinüber. »Du kannst noch nicht gehen!«, hörte sie ihn in seinem breiten tasmanischen Akzent sagen.
»Ich muss. Es geht nicht anders.« Sie strich ihm über den Arm und legte den Kopf zurück an die Hauswand. »Es fällt mir doch auch schwer.«
»Ich war mir sicher, ich kriege dich rum. Du kannst nicht fort, solange ich dich nicht rumgekriegt habe!« Er griff nach ihrer Hand, und sie spürte seine raue Haut auf ihrer.
»Wenn du mich rumgekriegt hättest, würdest du nicht wollen, dass ich gehe.« Ellen wusste, sie sollte ihre Hand aus seiner lösen, doch die Berührung fühlte sich gut und beruhigend an.
»Ich würde dich ziehen lassen. Aber dann wäre da etwas gewesen, was für immer bleiben würde. Verstehst du, was ich meine?« Seine Stimme klang lallend, und er rieb sich mit der anderen Hand die Stirn. »Warum wolltest du mich nicht? Jetzt, wo du gehst, kannst du es mir endlich sagen.«
Ellen atmete tief ein. Sie spürte den Alkohol und scheute ein ernstes Gespräch mit einem betrunkenen Johnny.
»Du bist zehn Jahre jünger, das ist in unserem Alter eine Menge.«