Das Erbe der Sturmhöhe - Lili Eden - E-Book
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Das Erbe der Sturmhöhe E-Book

Lili Eden

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Beschreibung

Die Finger ihrer Mutter tippten auf die Zeichnung auf dem Buch. »Dort liegt die Wahrheit«, glaubte Emily zu verstehen.

»Welche Wahrheit?«

»Mein Herz ...« Die helle Stimme brach ab und ging in flaches Atmen über.

Als ihre Mutter sich während ihrer letzten Atemzüge an einen Sommer erinnert, den sie vor vielen Jahren in Haworth verbracht hat, steht Emily vor einem Rätsel. Um herauszufinden, was dahintersteckt, reist sie in das düstere und dramatisch schöne Hochmoor von West Yorkshire. Hier begegnet sie Jack, der, getrieben von den Gespenstern seiner Vergangenheit, ein eigenbrötlerisches Leben führt.

Trotz Jacks Abneigung gegenüber Touristen gelingt es Emily, ihn davon zu überzeugen, sie bei den Nachforschungen über ihre Mutter zu unterstützen. Denn Jack versteht ihren Wunsch, mehr zu erfahren. Dass ausgerechnet Emilys Recherchen auch Geheimnisse seiner Familiengeschichte aufdecken werden, kann keiner ahnen ...

Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 450

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Danksagung

Über dieses Buch

Als ihre Mutter sich während ihrer letzten Atemzüge an einen Sommer erinnert, den sie vor vielen Jahren in Haworth verbracht hat, steht Emily vor einem Rätsel. Um herauszufinden, was dahintersteckt, reist sie in das düstere und dramatisch schöne Hochmoor von West Yorkshire. Hier begegnet sie Jack, der, getrieben von den Gespenstern seiner Vergangenheit, ein eigenbrötlerisches Leben führt.

Trotz Jacks Abneigung gegenüber Touristen gelingt es Emily, ihn davon zu überzeugen, sie bei den Nachforschungen über ihre Mutter zu unterstützen. Denn Jack versteht ihren Wunsch, mehr zu erfahren. Dass ausgerechnet Emilys Recherchen auch Geheimnisse seiner Familiengeschichte aufdecken werden, kann keiner ahnen ...

Über die Autorin

Lili Eden arbeitet schon ihr ganzes Berufsleben im Verlagswesen. Inzwischen in den Dreißigern, war es endlich an der Zeit, die Seiten zu wechseln und all die Ideen auf Papier zu bringen, die sich angesammelt haben. Da sie seit ihrer Kindheit das stürmische Hochmoor von West Yorkshire liebt und diese Gegend einfach ideal als Setting für einen Roman ist, reiste Lili einmal mehr nach Haworth – dieses Mal mit Notizheft im Gepäck.

Lili Eden

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Die Zitate aus dem Roman »Der Sturm-Heidhof« von Emily Brontë stammen aus der 1908 veröffentlichten Übersetzung von Gisela Etzel (https://www.projekt-gutenberg.org/brontee/sturmhei/sturmhei.html).

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Pias

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Kharchenko_irina7/Getty Images; kama71/Getty Images; James Elkington/Getty Imges

eBook-Erstellung: 3w+pGmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0875-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog   

Em

Die liebliche Mailuft, die durch das gekippte Fenster drang und spielerisch die dünnen Vorhänge bewegte, ließ nicht erahnen, was sich in dem lichtdurchfluteten Zimmer ankündigte.

Erneut hatten die Zeiger des Weckers eine Runde hinter sich gebracht, und was heute in den frühen Morgenstunden noch eine vage Annahme gewesen war, wurde mit jeder Umrundung mehr zur Gewissheit.

Seit kurz nach fünf saß Em am Bett und umfasste die dünne Hand, mit der beinahe durchsichtigen Haut. Immer wieder sackte ihre Mutter schwach atmend in einen Dämmerschlaf. Gelegentlich öffneten sich die pergamentartigen Augenlieder ein wenig, und Em konnte ein Hin- und Herzucken der Pupillen erkennen.

Die monotonen Schläge, die Mark mit dem Hammer auf den Meißel ausführte, hallten seit Stunden durch das großzügige Loft.

Auch wenn das unerbittliche Dröhnen das Ordnen ihrer Gedanken erschwerte, so wusste Em, dass es Marks Weg war, mit dieser Situation umzugehen. Als sie sich vorhin eine Kleinigkeit zu essen geholt hatte, hatte Em in sein Atelier gespäht.

Der Holzstamm, der gestern noch unbearbeitet auf einem Sockel mitten im Raum gestanden hatte, nahm immer mehr Form an. Langsam, aber sicher war der Körper einer Frau zu erkennen, doch bisher hatte Mark sich nicht an das Gesicht herangewagt. Natürlich konnte sie sich denken, wen der talentierte Bildhauer aus dem Holz herausarbeitete. Mark versuchte, das drohende Unglück auf seine Weise zu verarbeiten.

Aus der Küche drang ein Scheppern. Ihr Vater Rollo kochte eine weitere Suppe, von der er hoffte, wenigstens einige wenige Löffel über die Lippen von Ems Mutter zu bringen.

Fröhliches Zwitschern von der Fensterbank zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Aufgeplustert machte eine Amsel dort Radau.

»Em ...« Die Stimme war schwach und kaum zu vernehmen.

Hastig beugte sie sich vor und strich ihrer Mutter eine Strähne aus dem Gesicht. Trotz der kalten Hände war ihre Haut von einem feuchten Film überzogen.

»Was ist, Mama?«

Iris schlug die Augen auf und sah ziellos umher. Dann drehte sie ihren Kopf und blickte auf den Nachttisch. »In der Schublade ...«

Em zog die Schublade auf. Medikamentenschachteln und Taschentuchpackungen lagen darin verteilt. »Was brauchst du?«

»Die Bücher«, sagte Iris mit dünner Stimme.

Em schob die Schachteln zur Seite und fasste mit beiden Händen hinein. Sie zog einen Roman mit vergilbten Seiten und einen wuchtigen Bildband heraus. Links oben auf dem Einband prangte der Name ihrer Mutter. Irritiert betrachtete Em das Bild einer hügeligen und rau anmutenden Landschaft. Sie kannte die Arbeiten ihrer Mutter, doch dieses Buch hatte sie nie zuvor gesehen.

»Brontë-Country und die Pennines«, formten Ems Lippen tonlos.

Zitternd streckte ihre Mutter die Hände aus, und Em legte beide Bücher auf deren Beinen ab, die sich schmal unter der Bettdecke abzeichneten. Mit einer zielstrebigen Bewegung, für die ihre Mutter ihre letzte Kraft zu nutzen schien, zog sie den Roman an ihre Brust.

»Es ist so lange her«, murmelte sie und schloss die Augen.

»Was ist lange her?«, fragte Em und rutschte von ihrem Stuhl auf den Rand der Matratze.

Die Finger ihrer Mutter tippten auf die Zeichnung auf dem Buch. »Dort liegt die Wahrheit«, glaubte Em zu verstehen.

»Welche Wahrheit?«

»Mein Herz ...« Die helle Stimme brach ab und ging in flaches Atmen über.

Em unterdrückte die Tränen, die in ihren Augen brannten. Ihre Mutter war nicht mehr in der Gegenwart. Sie befand sich schon seit den frühen Morgenstunden in dem Zustand, den die Pflegerin als Übergang bezeichnet hatte. Dem Zeitraum, in dem sich das Leben aus dem Körper schlich.

Außer Marks unablässigen Schlägen war nichts zu hören. Die Amsel war verschwunden und die Atemzüge von Iris kaum noch wahrzunehmen. Em griff erneut nach den Händen ihrer Mutter und drückte sie fest.

Iris schnappte nach Luft und riss die Augen auf. Die Pupillen hatte sie fest auf die Schlafzimmerwand gerichtet, und Em glaubte ein schwaches Lächeln zu sehen. »Heathcliff«, flüsterte sie. Gleich darauf schlossen sich die Augen, und ihr Kopf sackte ins Kissen.

Em spürte, wie sich die schmalen Finger ihrer Mutter entspannten. Mit aufeinandergepressten Lippen wartete sie auf ein neues flaches Erheben der ausgemergelten Brust. Nichts.

Stumm lehnte sie sich vor, schob den Bildband zur Seite und senkte den Kopf auf den Schoß ihrer Mutter. Die Tränen wurden von dem hellgelben Bezug der Decke aufgesaugt. Es war vorbei. Der Kampf war vorüber.

»Ich liebe dich, Mama«, flüsterte Em und betrachtete die nun entspannten Gesichtszüge. Noch immer lag der Roman auf ihrer Brust. »Sturmhöhe«, las sie durch einen Tränenschleier.

Waren Minuten vergangen oder über eine halbe Stunde?

Zaghaft setzte Em sich auf, griff in die Schublade und fischte ein Taschentuch heraus. Sie tupfte ihre Wangen ab und erhob sich, ging mit weichen Knien zur Zimmertür und drückte die Klinke.

»Papa!« Die Stärke in ihrer Stimme überraschte sie, glaubte Em doch, keinen Ton hervorbringen zu können. Mit dem Rücken drückte sie sich an die Wand und sah auf das Bett, an dem sie in den letzten Wochen den Großteil ihrer Zeit verbracht hatte.

Schritte hallten durch den Flur, und als das angespannte Gesicht ihres Vaters in der Tür auftauchte, schüttelte Em schwach den Kopf.

Rollo schloss die Augen einen Moment lang und trat dann ein. Er ging auf das Bett zu und sackte auf den Stuhl.

Gleich darauf stürmte Mark ins Zimmer, sah zu Rollo und dann zu ihr. »Es tut mir so leid«, murmelte er und streckte seine Hand nach ihr aus.

Em stürzte sich an seine Brust und ließ die Schluchzer aus sich herausbrechen, die bis eben tief in ihr gewartet hatten. Der Geruch von Holz haftete am Hemd ihres zweiten Vaters, und Marks Arme schlossen sich um ihren Körper.

»Es ist geschafft.« Er seufzte und fuhr ihr immer wieder über die offenen, ungekämmten Haare.

Schritte schlurften über den Dielenboden, und gleich darauf spürte sie Rollo hinter sich, der die Arme um sie legte.

Zwei Väter und keine Mutter. Die neue Realität schmerzte beinahe unerträglich, auch wenn Em mehr als genug Zeit gehabt hatte, sich darauf vorzubereiten.

Em hielt den Atem an und trat in den Raum. Das Bett war abgezogen, und durch das offene Fenster fuhr ein kraftvoller Wind herein, der scheinbar den Tod aus dem Zimmer zu verscheuchen suchte.

Sie wusste nicht genau, wie lange es her war, dass der Arzt den Tod bestätigt und den Bestatter informiert hatte. Nur die Medikamentenschachteln in der offenen Schublade erinnerten an das, was sich hier am späten Vormittag ereignet hatte. Eine letzte Erinnerung an die unerbittliche Krankheit, die ihr die Mutter genommen hatte.

Auf dem Stuhl neben dem Bett entdeckte sie die Bücher. Zögernd ging sie darauf zu und setzte sich auf die Matratze. Warum hatte ihre Mutter in den letzten Lebensminuten nach Büchern verlangt? Em griff danach und platzierte beide auf ihren Knien. Und was war das für ein Name, den Iris gehaucht hatte, als das Leben aus ihr herausgeglitten war?

»Was machst du da?« Rollos warme Stimme drang von der offenen Tür herüber.

»Kennst du das hier?« Ihr Zeigefinger tippte auf den Roman.

Mit gerunzelter Stirn trat ihr Vater auf sie zu und setzte sich neben sie. Prüfend las er den Titel und griff danach. »Das sagt mir nichts, aber ich kenne mich mit Literatur auch nicht wirklich aus.« Dann blickte er auf den schweren Bildband und zog die Augenbrauen zusammen. »Die Fotos hierfür hat deine Mutter vor über dreißig Jahren gemacht. Aber ich habe es seit Jahrzehnten nicht gesehen.«

»Sie hat danach verlangt, kurz bevor ...« Ems Stimme brach ab, und sie holte tief Luft. »Weißt du, warum diese Bücher in ihrem Nachttisch lagen und weshalb Mama sie halten wollte, als sie starb?«

Rollo schüttelte kaum merklich den Kopf. »Du weißt, sie hat starke Schmerzmittel bekommen und war schon seit Tagen nicht mehr richtig klar.«

Em nickte, wie man es eben tat, wenn jemand ein vermeintlich stichhaltiges Argument vorbrachte. Iris hatte sich zwar in der Schwebe zwischen den Welten befunden, dennoch war es Em so vorgekommen, als ob das, was kaum hörbar ihre Lippen passiert hatte, der letzte wache Gedanke ihrer Mutter gewesen war.

»Ich gehe in mein Zimmer.« Mit einer hektischen Bewegung nahm sie das Buch aus den Händen ihres Vaters, huschte aus dem Zimmer und den Flur entlang.

Übermüdet sank sie auf ihr Bett und kuschelte sich unter die Decke. Auch wenn es heute warm war, fror Em. Sie fühlte sich ausgelaugt, und ihre Glieder schmerzten. Dennoch würde sie kein Auge zutun können, ehe die Sonne untergegangen war.

Sie schlug die erste Seite des Romans auf. Ihr Blick hetzte über die Zeilen und blieb schließlich an einem Namen haften.

Heathcliff.

Kapitel 1   

Sechs Monate später

Em

Mit verkrampften Fingern, an deren Nägeln sie während der Fahrt unaufhörlich geknibbelt hatte, reichte Em dem Taxifahrer die Scheine und stieg aus.

Augenblicklich durchfuhr ein herbstlicher Wind ihre offenen Haare. Fahrig strich sie sich die Strähnen hinter die Ohren und wuchtete ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Kaum, dass sie die Klappe zugeschlagen hatte, fuhr das Taxi davon.

Em zog den Reißverschluss des grünen Parkas bis ganz nach oben und bereute, den dicken Wollschal irgendwo unter den lieblos in den Koffer geworfenen Klamotten verstaut zu haben.

Schon am Flughafen in Manchester war der gleiche böige Wind zu spüren gewesen, und andächtig hatte sie zuerst auf der Zugfahrt bis nach Bradford und dann vom Taxi aus beobachtet, wie dieser unnachgiebig durch Bäume und Büsche brauste und graue Wolken über den Himmel trieb.

Sie hatte es geschafft. Sie war hier, auch wenn sie nicht recht wusste, was sie hier zu finden hoffte.

Em sah sich um. Der Taxifahrer hatte sie neben einem unebenen betonierten Parkplatz herausgelassen. Die Straße, an der sie stand, wurde gesäumt von Häusern, deren Sandsteinfassaden einst gelblich gewesen sein mussten, inzwischen aber dunkel und ein wenig düster wirkten. Nur hier und da war ein Hauch der ursprünglichen Farbe zu erkennen, doch die Jahrzehnte – oder waren es Jahrhunderte – hatten kaum etwas davon übrig gelassen.

Prüfend spähte Em zum bewölkten Himmel hinauf und dann auf ihre Uhr. Eine Stunde Zeitverschiebung. Also musste es jetzt kurz nach halb fünf sein, und die Dämmerung setzte tatsächlich schon ein. Doch Haworth lag auch deutlich nördlicher als Stuttgart.

»Haworth«, murmelte sie, und ein Kribbeln zog durch ihren Bauch.

Em zog das Handy aus der Jackentasche und öffnete die Landkarten-App. Ihr Daumen drückte auf die Adresse, die sie bereits in Deutschland eingespeichert hatte. Rosies Bed & Breakfast. Ein blauer Pfeil blinkte auf und bedeutete ihr, den vor ihr liegenden Kopfsteinpflasterweg entlangzugehen.

Rumpelnd rollte der schwere Trolley hinter ihr her, und Em bog in die schmale Gasse ab. Das Licht aus den Fenstern der kleinen Häuser wirkte einladend, und hier und da waren hinter den Scheiben entzündete Kamine zu erkennen. Ein wenig kam weihnachtliche Stimmung in ihr auf, doch es war erst Anfang November.

Erneut durchfuhr der Wind ihre Haare, und Em hielt an, um diese in den Kragen ihrer Jacke zu stopfen. Sicherlich sah sie nach der Reise und dem stürmischen Empfang hier inzwischen mehr als mitgenommen aus.

Nur wenige Häuser weiter wies bereits ein Holzschild mit schnörkeliger Schrift auf ihren Zielort hin. Die Sehnsucht nach einer heißen Dusche und etwas zu essen beschleunigte ihre Schritte.

Der Koffer schabte an der niedrigen Mauer entlang, doch Em hatte nur die von einer viktorianisch anmutenden Laterne beleuchtete Eingangstür im Blick. Sie trat durch das offene Gittertor, hievte den Koffer die drei Stufen zu der Holztür hinauf und drückte die Klinke.

Als sie eintrat, schlug ihr wohlige, verlockend süßlich duftende Luft entgegen. Ihre Schuhe sanken in dem plüschigen dunkelroten Teppichboden ein, und im Gegensatz zu vorhin rollte der Koffer nun lautlos hinter ihr her. Em steuerte auf den kleinen Empfangsbereich zu.

»Ich komme!«, rief eine warme Frauenstimme aus dem hinteren Teil des Hauses.

Em zog den Reißverschluss des Parkas auf und betrachtete die unzähligen Bilder, die in goldenen Rahmen an den Wänden hingen. Die meisten muteten mit ihrer Sepiafarbe alt an und zeigten Gebäude und Gassen. Ihr Blick haftete an einer Aufnahme, und Em trat darauf zu. Brontë-Museum stand unter dem Foto eines düster wirkenden Hauses.

»Da bin ich schon.« Dumpfe Schritte näherten sich über den Teppichboden, und Em wandte sich von der Aufnahme ab.

Die Frau kam auf sie zu und griff nach ihrer Hand. »Ich bin Rosie. Willkommen in Rosies B&B.«

Ein Lächeln legte sich auf Ems Lippen. Die kleine Frau mit dem herzlichen Ausdruck, dem graugesträhnten Bob und der geblümten Bluse strahlte Wärme aus. Und genau das war es, was sie jetzt brauchte. »Und ich bin Emily Sutter. Ich habe reserviert.«

»Natürlich.« Das Strahlen wurde noch breiter, und Rosie verschwand hinter dem Tresen, um in einem in Leder eingebundenen Buch zu blättern. »Ein Einzelzimmer für zwei Wochen, aber Sie haben per Mail angefragt, ob sie länger bleiben könnten?« Sie sah von dem Buch auf und kniff die Augen leicht zusammen. »Wie lange denn genau?«

»Um ehrlich zu sein, weiß ich das noch nicht. Ich nehme mir gerade eine Auszeit und möchte es auf mich zukommen lassen.«

Rosie zog die Augenbrauen hoch. »Und diese Auszeit möchten Sie ausgerechnet in Haworth verbringen?«

Statt einer Antwort nickte Em nur. Was sollte sie auch schon sagen? Dass sie die Hoffnung hergeführt hatte, etwas über eine Zeit im Leben ihrer Mutter herauszufinden, über die diese nie gesprochen hatte? Dass sie es zu Hause nicht mehr aushielt und dringend eine Luftveränderung brauchte? Nein, ein Nicken musste reichen.

Wieder lächelte die Frau ansteckend, und um ihre Augen bildeten sich Lachfältchen. »Sie können jederzeit verlängern. Bis zu den Weihnachtsferien sollte es kein Problem sein, das Zimmer für Sie zu reservieren.« Sie schob einen Zettel auf einem Klemmbrett über den Tresen und bedeutete Em, an der markierten Stelle zu unterschreiben.

»Sie haben hier WLAN?«, erkundigte Em sich. »Ich muss hin und wieder am Laptop arbeiten und benötige dafür Internet.«

»Natürlich. Das Passwort ist Indiana Bones.«

»Indiana Bones?« Wie kam man nur auf solch ein Passwort?

Rosie lachte und zuckte mit den Schultern. »Hier ist noch ein Stadtplan. Möchten Sie sonst noch etwas wissen, oder brauchen Sie noch was, Emily?«

Em zwang sich dazu, ihre Belustigung über das Passwort zumindest vorrübergehend zu unterdrücken und stützte sich auf dem Tresen auf. »Wann macht das Museum morgen auf?«

»Oh.« Die ältere Frau nahm auf dem Stuhl hinter dem Tresen Platz. »Momentan werden einige Instandhaltungen und die jährliche Grundreinigung durchgeführt, daher ist das Museum für zwei Wochen geschlossen.«

Em spürte, wie ihr die Kinnlade hinunterklappte. Und so wie Rosie gleich darauf aufsprang und sie besorgt musterte, sah man ihr ihre Gedanken offensichtlich an. »Das geht nicht«, flüsterte sie. »Ich bin extra deswegen hier.« Ems Hand legte sich an den Riemen des Rucksacks, in dem der Bildband mit den Aufnahmen ihrer Mutter steckte. Und Sturmhöhe. »Ich muss das Museum einfach sehen«, setzte sie hinzu.

Rosie verschränkte die Arme und legte den Kopf schief. »Ist das so wichtig für Sie?«, fragte sie mit sanfter Stimme.

»Es würde mir sehr viel bedeuten.« Em unterdrückte ein Aufstampfen mit dem Fuß. Am liebsten hätte sie laut geschrien und gegen ihren Koffer getreten.

Nun reiste sie hierher, endlich mutig genug, sich all dem zu stellen, was diese Reise für sie bereithalten sollte, und dann hatte das verflixte Museum zu?

Es war der erste Punkt auf ihrer Liste von Ideen, die vielleicht zu einer Erkenntnis über ihre Mutter führen würden. Nein, eigentlich war das Museum ihr einziger Anhaltspunkt. Ein Teil der Vergangenheit ihrer Mutter schien fest verschlossen. Und Haworth, so glaubte Em inzwischen, war der Schlüssel dazu.

Rosies Worte rissen sie aus ihren Gedanken: »Ich werde sehen, ob ich da was machen kann.« Mit einem Nicken tätschelte sie Ems Hand.

Diese beinahe schon mütterliche Geste kam unerwartet, aber sie beruhigte Em. Dankbar lächelte sie der Frau zu, als diese ihr den Schlüssel reichte.

»Die Treppe hoch und dann das erste Zimmer auf der rechten Seite. Das Gemeinschaftsbad liegt am Ende des Gangs. Ich bin eigentlich meistens hier, rufen Sie einfach nach mir, wenn Sie mich brauchen.«

Em betrachtete den Schlüssel mit dem sperrigen Holzanhänger daran. Zimmer drei. Dann griff sie nach dem Koffer und zerrte ihn zur Treppe. Die steilen Stufen mit dem hoffnungslos überladenen Monstrum zu bezwingen, würde nicht leicht werden.

Rosie eilte um den Tresen herum. »Nicht doch, sonst stürzen Sie noch. Wenn Sie ihn nicht sofort brauchen, lasse ich Ihnen den Koffer später hochbringen. In einer halben Stunde sollte das erledigt sein.«

Der Laptop und die Bücher befanden sich im Rucksack, ebenso wie ein etwas verrunzelter Apfel, der vorerst als Snack reichen musste. Vermutlich konnte das Auspacken des restlichen Gepäcks noch warten. »Ja, gerne.«

Sie ging die ebenfalls mit Teppichboden bezogenen schmalen Stufen nach oben. Im Flur gaben die Holzdielen knarzend unter ihren Schuhen nach.

Em öffnete die Tür, deren Beschriftung auf das Badezimmer hinwies, und spähte hinein. Unter einem Gemeinschaftsbad hatte sie sich ein unpersönliches und praktisches Zimmer vorgestellt, bestenfalls sauber und mit einer vernünftigen Dusche.

Stattdessen präsentierte sich hier ein niedliches Bad, mit einem Blumenstrauß auf dem Regalbrett an der gegenüberliegenden Wand und einer schweren Eisenbadewanne mit goldenen Füßen. Lavendelduft hing in der Luft, und das Einzige, was das Zimmer von dem in einem Privathaus unterschied, waren die Haken neben dem Waschbecken mit den Nummern darüber. Nur unter jenen mit den Nummern drei und fünf hing ein Handtuch.

Em war nicht begeistert davon, sich mit fremden Leuten ein Bad zu teilen, doch dieses B&B war dadurch günstiger als die meisten, die sie bei ihrer Recherche im Netz gefunden hatte. Und da sie nicht wusste, wie lange sie bleiben würde, ergab es durchaus Sinn, von Anfang an den Geldbeutel im Blick zu behalten. Das niedliche Bad stimmte sie hoffnungsvoll.

Em steckte den Schlüssel ins Schloss und schob die Tür auf. Sie ließ den Rucksack auf das breite Bett in der Mitte des Zimmers fallen und sah sich um. Es war nicht groß, aber liebevoll eingerichtet und auf den ersten Blick ebenso sauber wie das Bad.

Vor dem breiten Fenster ragte ein Vorsprung aus der Wand, auf dem ein gestreiftes Polster zum Sitzen einlud. Sie kniete sich auf den Sitzplatz und spähte hinaus. Inzwischen war es beinahe dunkel, und die raue Landschaft von West Yorkshire war in der Ferne nur noch zu erahnen.

Erst am Morgen würde sie die Aussicht genießen können. Ihr Blick folgte der kleinen Gasse zu zwei hell erleuchteten Geschäften. Wie einladend die Schaufenster in der Dunkelheit leuchteten und zum Stöbern lockten. Der Ausblick wäre einer Postkarte würdig, fand Em.

Sie sank auf das Polster und stützte den Kopf in die Hände. Einsamkeit breitete sich erbarmungslos in ihr aus. Auch wenn es hier hübsch war, so kannte sie niemanden in diesem Ort. Em wusste nicht einmal, was genau sie sich hier erhoffte zu finden.

Und doch hatte sie kommen müssen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Das wird schon werden.

Kapitel 2   

Jack

Der eisige Wind kroch wie so oft, unnachgiebig in jede sich bietende Ritze. Jack schlug den Kragen seiner Jacke hoch und zog den Kopf ein.

Obwohl er dieses Wetter gewohnt war und ihm Kälte wenig ausmachte, so war sie jetzt, nach einem langen Arbeitstag, dennoch unangenehm.

Er blieb stehen und sah sich prüfend um. Das letzte Licht des Tages erhellte den Himmel hinter den Kämmen der Pennines ein wenig, doch hier, auf der anderen Seite der Hügel, war kaum noch etwas zu erkennen. Er rollte die Zunge hinter den Schneidezähnen ein und stieß einen Pfiff aus.

Hinter sich nahm er ein Rascheln in den trockenen Heidepflanzen wahr und ging, ohne sich umzusehen, weiter den schmalen Pfad hinab. Ein Schatten holte ihn ein, umrundete ihn einmal und schlich sich dann beinahe lautlos an ihm vorbei.

Die Geräusche des Windes und der flinke Schatten waren seine einzigen Begleiter in der Weite des Hochmoors. Um diese Zeit traf er hier nie auf andere Menschen, und genau deshalb wählte er die abgelegenen Pfade für seine allabendliche Runde.

Selbst bei Tag beherrschte die Einsamkeit dieses Gebiet. Dies änderte sich nur in der Ferienzeit, wenn sich Touristen hier herumtrieben, um auf den Spuren längst vergangener Zeiten zu wandeln.

Ein Schnauben entwich Jack. Wie sehr ihn vor allem der Trubel während des Sommers in seinem Heimatdorf nervte. Scharen von Menschen, die sich durch die Gassen drückten, ihr Geld für unnötige Dinge in den Geschäften ausgaben und überall Fotos machten. Nein, Jack mochte den Sommer nicht. Den Herbst und den Winter schon eher.

Regen und Sturm lagen seinem Naturell mehr als Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Wobei er die wenigen warmen Wochen des Jahres früher mehr zu schätzen gewusst hatte als heute, doch das war lange her.

Er trat auf den sandigen, mit Steinplatten durchsetzen Pfad und stapfte den Hügel hinunter, bis er die Mauer des Friedhofs erreichte. Der Hund huschte durch das gewaltige offene Eisentor.

Jack hielt inne und versuchte das Ziffernblatt seiner Uhr zu erkennen. Heute nicht. Erneut pfiff er und ging über die Straße zurück in den Ort.

Die Wände der Häuser warfen den Hall seiner Schritte zurück, als er die Gasse und schließlich die weiße Haustür erreichte. Kaum hatte er den Flur betreten, kam bereits seine Mutter auf ihn zu.

»Du bist da, gut.« Mit geröteten Wangen sah sie ihn an und warf dem Hund flink ein Leckerli zu. »Kannst du bitte noch rasch zu Ellen gehen und den Schlüssel fürs Museum holen? Wir haben eben telefoniert, und sie weiß Bescheid.«

Er runzelte die Stirn und gab dem Hund ein Zeichen, sich auf die Decke hinter dem Tresen zu verziehen. »Was willst du damit?«

»Ein Gast möchte unbedingt das Museum sehen, und es ist doch momentan geschlossen.« Ein bedauernder Ausdruck zog sich über das Gesicht seiner Mutter. »Sie sah ganz enttäuscht aus, und irgendwas in ihrem Blick hat mich dazu gebracht, nachzufragen, ob sie das Museum nicht ausnahmsweise mit Begleitung sehen darf.« Seine Mum zog die Augenbrauen hoch, als sie erneut zu ihm aufsah.

Er kannte diesen Blick. Seufzend fuhr er sich über den Nacken. »Sag nicht, dass ich mit ins Museum soll«, presste er hervor.

»Kannst du es nicht morgen vor der Arbeit machen? Du weißt, ich kann hier nicht weg. Ich erwarte heute noch weitere Gäste und morgen bin ich den Vormittag über mit dem Frühstück und der Reinigung der Zimmer beschäftigt.«

»Ich schließe auf, und das war's. Ich gebe keine Führung. Und ich beantworte keine Fragen.« Missmutig zog Jack sich die Schiebermütze tiefer ins Gesicht und trat erneut vor die Tür.

Den Fremdenführer für Touristen zu geben, fehlte ihm gerade noch. Schlimm genug, dass er mit ihnen unter einem Dach leben musste. Wobei er für diesen Zustand selbst verantwortlich war.

Mit schnellen Schritten ging er die Gasse entlang. Der Regen kam, er konnte ihn schon den ganzen Tag riechen. Noch höchstens eine halbe Stunde, und es würden sich Pfützen auf den unebenen Steinwegen bilden.

Jack knallte den Schlüssel auf den Tresen und öffnete die Knöpfe seiner Jacke.

Die Stimme seiner Mutter schallte aus der Küche: »Der Koffer kommt in die Drei, und sag ihr bitte, dass du morgen mit ihr ins Museum gehst.«

Einen Fluch murmelnd griff er wieder nach dem Schlüssel und trat auf den Koffer neben der Treppe zu. Das Teil war nicht gerade klein und deutlich schwerer, als er erwartet hatte.

Jack wuchtete das Monstrum die Treppe hinauf und ließ ihn mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden aufkommen. Zielstrebig schleifte er den Koffer auf die Tür mit der goldenen Drei zu und klopfte an. Rascheln war zu hören, dann öffnete sie sich.

Jack zog die Augenbrauen zusammen. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn beim Anblick der Frau, die ihn fragend ansah. War dies ein Déjà-vu? Es war, als kannte er dieses Gesicht. Als hätte er sie schon einmal gesehen, aber er war sich sicher, dass dem nicht so war. Und doch kannte er diese zarten Gesichtszüge irgendwoher.

»Ja?«

Hastig hob er die Hand und hielt ihr den Schlüssel hin. »Fürs Museum«, murmelte er und bemühte sich, dem Blick aus ihren hellbraunen Augen auszuweichen, die beinahe die gleiche Farbe wie ihre Haare hatten und ihn an das herbstliche Moor erinnerten. Etwas verwuschelt fielen sie in Wellen bis über ihre Schultern.

»Ist das der Schlüssel für das Museum?« Eine Spur zu laut und beinahe quietschend sprudelten die Worte aus ihrem Mund.

Jack nickte und sah auf ihre Füße, die in dicken bunten Wollsocken steckten.

»Das bedeutet, ich kann das Museum doch sehen?«, hakte sie nach, und das Strahlen ihrer Augen entging ihm nicht. Das musste es gewesen sein, was seine Mutter dazu gebracht hatte, sich für sie einzusetzen. Was zum Teufel war nur so aufregend an diesem Haus voller Gerümpel, für das die Touristen in Scharen herkamen?

»Morgen früh. Um halb sieben gehen wir los«, sagte er und wollte sich abwenden, als er ihre Hand auf seinem Arm spürte. Er unterdrückte das Verlangen, sie abzuschütteln.

»Du gehst mit mir ins Brontë-Haus?«, fragte sie aufgekratzt nach.

»Meine Mutter muss sich um die Gäste kümmern.« Erleichtert stellte er fest, dass ihre Hand von seinem Arm rutschte.

»Du bist Rosies Sohn.« Die Frau nickte und lächelte ihn dann an. »Und was hast du heute Abend vor?«

Statt einer Antwort runzelte er nur die Stirn. Was wollte sie von ihm?

»Können wir das nicht jetzt gleich machen, anstatt morgen früh?« Sie schien beinahe vor Aufregung zu platzen.

»Es ist bereits dunkel«, setzte Jack an, doch sie spurtete schon durch das Zimmer und zog Turnschuhe an.

»Laut diesem Plan«, sie deutete auf den aufgeklappten Flyer, den seine Mutter an die Gäste verteilte und der auf ihrem Bett lag, »ist es ja nicht wirklich weit, oder?«

»Es ist um die Ecke«, murmelte Jack und beobachtete, wie sie in einen grünen Parka schlüpfte.

Musste er seinen Feierabend tatsächlich mit dieser aufgekratzten Person in dem totenstillen Haus hinter dem alten Friedhof verbringen? Doch er hatte keine Zeit, sich ausführlich zu bemitleiden, schon drückte sie sich an ihm vorbei durch die Tür und stieg über den Koffer, der davor auf dem Boden lag.

Noch ehe er deswegen nachfragen konnte, rauschte sie bereits die Treppe hinunter. Mit einem unzufriedenen Brummen versetzte er dem Koffer einen Stoß und schob ihn ins Zimmer. Er zog die Tür zu und folgte ihr.

Mit dem Fuß wippend stand sie in der offenen Eingangstür. Bist du anstrengend. Seufzend ging Jack an ihr vorbei und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie sich der Hund durch den Türspalt drückte.

»Darf er mit?«, rief sie, während sie ihm folgte.

»Ja.« Jack ging die knapp zwanzig Meter bis zum Pub The Kings Arms und bog dahinter in eine schmale Gasse ab.

Fröhliches Lachen erklang hinter ihm, und Jack sah sich um. Sie stand vor dem Pub und betrachtete das Schild, das dort an der verwitterten Steinwand hing.

»Hunde und schlammige Stiefel willkommen«, las sie vor und warf einen amüsierten Blick auf seine verdreckten Schuhe. »Klingt ganz nach einem Ort für dich.«

Wortlos drehte er sich um und stapfte weiter. Er sollte nett sein, aber es fiel ihm schwer. Augenrollend wies er nach links. »Das ist die Kirche. Da drin gibt's 'ne Platte, unter der die alle beerdigt sind«, erklärte er, stapfte weiter und zeigte auf das Gebäude rechts von ihm. »Altes Schulhaus.« Dann deutete er voraus. »Das ist das Wohnhaus.«

Sie holte ihn mit flinken Schritten ein. Keuchend lief sie neben ihm den aufsteigenden Weg entlang. »Wir sind schon da?«

»Hier geht es rein.« Jack trat durch das offene Metalltor in der hohen Mauer und ging zielstrebig auf die Eingangstür zu. Im Dunkeln tastete er nach dem Schloss, und endlich rutschte der Schlüssel hinein. Er gab der Tür einen Schubs und dem Hund ein Zeichen, zu warten. Dann sah er sich nach der Frau um.

Regungslos stand sie auf der untersten der Steinstufen. Erst jetzt bemerkte er, wie schmal sie war. Unter der langen Jacke lugten zierliche Beine heraus, und als der Wind beinahe besitzergreifend durch ihre Haare fuhr, wirkte sie fast schon hilflos und eingeschüchtert.

Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Hausfassade, und trotz des schwachen Lichts entging ihm die Furcht in ihrem Blick nicht. Hatte sie ihn nicht eben noch überrumpelt und gegen seinen Willen dazu gebracht, um diese Zeit hierherzukommen?

»Alles in Ordnung?«, fragte er, während er sich hinunterbeugte, um die Schnürsenkel zu öffnen.

»Ja. Es ist nur ...« Sie stieg die Stufen hoch, während er aus den Schuhen stieg. »Soll ich meine auch ausziehen?«

Erneut wanderte sein Blick an ihr entlang nach unten. »Du trägst nicht wie ich das halbe Moor mit dir herum. Also alles gut.« Als er in den Flur trat, spürte er die Kälte des uralten Steinbodens an seinen Fußsohlen.

»Muss er wirklich draußen warten? Bei dem Wind?« Mitleidig sah sie auf den Hund, der sich auf der obersten Stufe neben der Eingangstür zusammengerollt hatte.

»Er ist ein Bordercollie und dieses Wetter gewöhnt«, brummte Jack, während er nach dem Lichtschalter tastete.

Flackernd erhellte das Licht den Eingangsbereich, gleich darauf fand er die Schalter für die restlichen Räume. Blinzelnd sah sie sich um und schien unsicher zu sein, welchen der Räume sie als Erstes betreten sollte.

»Über den Türen sind Zahlen befestigt. Ich nehme an, man sollte diese Reihenfolge einhalten.« Er bemühte sich, sie aus ihrer Starre zu bringen. Er wollte hier raus, so schnell wie möglich. Und er war hungrig.

Zögernd trat sie in das Zimmer rechts neben dem Eingang. Mr Brontë›s Studies. Jack lehnte sich gegen die Flurwand und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ellen hatte ihn eindringlich darauf hingewiesen aufzupassen, dass diese Frau nichts anfasste. Auch wenn er es nicht nachvollziehen konnte, so bedeuteten diese betagten Möbel und der Kram, der überall verteilt lag, den Menschen, die hier lebten, sehr viel. Und die Sachen waren wertvoll.

Vermutlich hatte diese Frau nicht einmal einen Schimmer, was für ein Glück sie hatte, dass seine Mum Ellen dazu gebracht hatte, den Schlüssel herauszurücken. Und nun musste er den Aufpasser geben.

Sein Blick ruhte auf ihrem Rücken, als sie vor dem quer gespannten Seil stand und das Arbeitszimmer Mr Brontës, der im vorletzten Jahrhundert viele Jahrzehnte der Pfarrer von Haworth und der Vater der Schriftstellerinnen gewesen war, betrachtete.

Als sie sich umdrehte, hielt Jack die Luft an. Da war es wieder, dieses Funkeln in ihren Augen. Wie weggewischt war die Zurückhaltung, die eben noch darin gelegen hatte. Über ihre Wangen zog sich ein rosa Schimmer. Sie huschte an ihm vorbei in das gegenüberliegende Zimmer. Dining Room.

Ganz dicht stand sie auch hier an dem dicken Seil, und ihre Finger fuhren rastlos darüber, während sie das Informationsschild las. Jack schob sich hinter ihr in den Raum und hielt sich an der Wand.

Ruckartig drehte sie sich zu ihm um. »Ist das nicht unglaublich?«, rief sie und strahlte ihn an, um sich gleich darauf etwas über das Seil zu lehnen und die auf dem Tisch arrangierten Gegenstände zu betrachten.

»Was?«, brummte Jack und sah sich um. Federkiele, vergilbtes Papier und Tuschgläschen erschienen ihm wenig faszinierend.

»Hier ist es passiert«, hauchte sie und blickte über die Schulter zu ihm. »Hier wurden Jane Eyre, Sturmhöhe und die anderen Bücher geschrieben. Und hier«, sie deutete auf ein zierliches Sofa an der Wand, und in ihrer Stimme klang Ehrfurcht mit, »ist Emily Brontë gestorben.«

»Schon klar. Deshalb kommt ihr ja alle hierher.«

Sie legte den Kopf schief und musterte ihn. »Wie heißt du eigentlich?«

»Jack.« Sie hatten sich nicht einmal vorgestellt, so eilig, wie sie es vorhin gehabt hatte, ihn hierher zu bewegen. »Und du?«

»Em.« Sie trat auf ihn zu und streckte ihm ihre Hand hin. »Freut mich, dich kennenzulernen, Jack.«

Unwillig griff er danach und spürte die Wärme ihrer schmalen Handfläche an seiner. »Was bitte ist Em für ein Name?«, raunte er ihr zu und runzelte die Stirn. Er wusste nicht einmal, woher sie kam. Ein Akzent war vorhanden, aber nicht so stark, dass es ihm einen Hinweis hätte geben können.

Sie lachte glucksend. »Ich heiße Emily, aber alle nennen mich Em.« Dann schielte sie zurück zum Sofa, und wie ein Vorhang zog sich erneut der unsichere Ausdruck über ihr Gesicht. »Wie ich inzwischen vermute, wurde ich von meiner Mutter nach Emily Brontë benannt. Und auf diesem Sofa hier ist sie gestorben.«

Jack erkannte, wie sie mühsam schluckte. »Du vermutest es? Warum fragst du nicht einfach nach?«

Sie zuckte kaum merklich zusammen. »Meine Mutter ist vor ein paar Monaten gestorben. Die Verbindung zu Emily Brontë und diesem Ort habe ich erst nach ihrem Tod entdeckt«, murmelte sie und sah ihn dann mit einer Traurigkeit in den Augen an, die ihn beinahe dazu brachte, aus dem Raum zu stürzen.

Deshalb sprach er so ungern mit Leuten. Zu schnell sagte man etwas dahin, das eine Gefühlsregung beim Gegenüber auslöste. Und Jack hatte keine Geduld und keine Lust sich mit den Gefühlen anderer auseinanderzusetzen. Seine eigenen bestimmten sein Leben, und für mehr war kein Platz.

Fest presste er die Kiefer aufeinander, während er Verzweiflung in den hellbraunen Augen von Em zu sehen glaubte. Wie aufgeregt und beinahe schon euphorisch sie vor einer Minute noch gewesen war. Und jetzt war es wie weggewischt. Verdammt.

Es sollte ihm egal sein, was mit dieser Frau war, doch das war es nicht. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, erneut diese Freude in ihrem Gesicht zu sehen. Die beißende Kälte des Steinfußbodens hatte er dadurch beinahe vergessen.

Er trat auf das Seil zu und löste es aus der Halterung an der Wand. »Setz dich«, brummte er ihr zu und deutete auf das dunkelblaue Sofa.

Ein wenig öffneten sich ihre Lippen, doch es kamen keine Worte darüber. Überrascht sah sie ihn einfach nur an und runzelte die Stirn.

»Mach schon«, forderte er sie erneut auf.

***

Em

Em starrte in die beinahe schwarzen Augen, die unter ebenso dunklen zusammengezogenen Augenbrauen ruhten. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung und gab ihr keine Anhaltspunkte, ob er sich nur einen Spaß erlaubte.

Allerdings machte dieser Kerl nicht den Eindruck, als ob er zu Scherzen neigte. Kurzangebunden, beinahe unfreundlich ging er mit ihr um, seit er an ihre Zimmertür geklopft hatte. Doch Em dachte nicht daran, sich ihm anzupassen. Sich die Laune von anderen Menschen verderben zu lassen, kam nicht infrage.

So war sie nicht. Em bemühte sich immer, sich die natürliche Fröhlichkeit, die ihr so großzügig in die Wiege gelegt worden war, zu bewahren. Doch dieser Jack forderte sie dabei mehr heraus, als sie es gewohnt war.

»In Ordnung«, flüsterte sie und ging um ihn herum und auf das Sofa zu.

Noch vor ein paar Wochen war ihr Emily Brontë nicht wirklich ein Begriff gewesen. Doch seit sie sich nach Monaten endlich hatte überwinden können, das Buch zu Ende zu lesen, welches die Finger ihrer Mutter während deren letzten Atemzugs fest umklammert hatten, spürte sie jetzt, da sie hier in diesem Zimmer stand, eine Welle von Emotionen.

Inzwischen war sie fast sicher, dass sie tatsächlich nach Emily benannt worden war, auch wenn sie noch immer nicht durchschaute, warum Iris ausgerechnet diesen Namen gewählt hatte. So vieles hatte sie die letzte Zeit von den drei weltberühmten Schwestern gelesen, die ihre Werke hier an diesem Tisch, nur einen Schritt von ihr entfernt, in winziger Schrift aufs Papier gebracht hatten.

Und sie kannte deren tragisches Ende: Der viel zu frühe Tod und die damit einhergehende Verschwendung an Lebensjahren und Talent. Ems Fingerspitzen berührten den dunklen glatten Stoff des schmalen Sofas. Was sie hier tat, war verboten.

Sie warf einen Blick auf Jack, doch der beobachtete sie regungslos. Natürlich entging ihr nicht, dass dieser Ort nicht die gleiche Faszination auf ihn ausübte wie auf sie. Und dennoch war ihm scheinbar klar, was es für sie bedeutete, und so hatte er das Seil von der Wand gelöst, um ihr diese einzigartige Möglichkeit zu gewähren.

Em ließ sich vorsichtig auf das Polster sinken, bereit aufzuspringen, falls das alte Möbelstück ihr Gewicht nicht tragen sollte. Doch das Holzgerüst des Sofas quietschte nicht einmal. Ein Lächeln zog sich über ihre Lippen, während ihre Handflächen über die Sitzpolster glitten.

Hier hatten sie einst gesessen, und hier war eine von ihnen gestorben – die Talentierteste, wie Em fand, auch wenn die ältere Charlotte mit Jane Eyre mehr Erfolg gehabt hatte als die jüngeren Schwestern. In diesem Zimmer hatten sie die Welten ihrer Bücher erschaffen und das zu einer Zeit, in der Frauen dies nicht zugetraut worden war.

Ein Geräusch war zu hören, und Em sah auf. Prasselnd schlug der Regen gegen die Fensterscheibe. Eilig stand sie auf und ging zu Jack zurück. »Was ist mit dem Hund?«

»Der wird sich ein Versteck suchen.« Unbeeindruckt hängte er das Seil wieder ein.

Was war das nur für ein mürrischer Kerl? Unauffällig betrachtete Em ihn, während sie durch den Flur zur Küche gingen.

Unter der grauen Schiebermütze lugten dunkle Locken hervor. Seine Haare waren nicht lang, aber auch nicht kurz. Em fand, es war eine ungewöhnliche Länge. Vielleicht hatte er es auch einfach ein paarmal zu oft verschoben, sie schneiden zu lassen, oder aber ihn interessierte sein Aussehen nicht wirklich.

Auch der Bart war weder ein Dreitagebart noch ein richtiger Vollbart und dennoch lang genug, um es ihr schwer zu machen, seine Gesichtsform zu erahnen. Nur die markanten Jochbeine waren nicht zu übersehen, ebenso wie die für einen Mann überraschend schön geformte Nase.

Wie alt war Jack wohl? Mitte dreißig vielleicht? Wie schwer Männer mit Bart doch einzuschätzen waren.

Als hätte er ihre Blicke gespürt, wandte er sich ihr plötzlich zu, als sie die Tür zur Küche erreichten. Em sah zu Boden und ging an ihm vorbei hinein in den Raum. Wie auch bei den anderen beiden Räumen blieb er hinter ihr, obwohl kaum zu übersehen war, wie wenig ihn das alles hier interessierte.

»Du musst nicht mitgehen. Ich kann das hier auch alleine machen«, schlug sie ihm in der Hoffnung vor, etwas Zeit für sich an diesem einzigartigen Ort zu haben.

»Soll auf dich aufpassen, damit du nichts anfasst und so«, bemerkte er mit rauer Stimme.

»Ach so. Und warum durfte ich dann eben auf dem Sofa sitzen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Schätze, ich mache meinen Job nicht besonders gut.«

Fröhlich lächelte sie ihm zu. So merkwürdig, wie er war, er hatte ihr damit einen großen Gefallen getan. Eilig konzentrierte sie sich auf die Ausstattung der Küche. Ihm zuliebe wollte sie sich hier beeilen. Dem Mann war anzusehen, dass er sich tödlich langweilte.

Beim Anblick des altertümlichen Ofens und des Geschirrs bemerkte Em ihren knurrenden Magen wieder. Der Apfel war wenig sättigend gewesen, und da auch das Mittagessen nur aus Snacks bestanden hatte, übermannte sie der Hunger beinahe.

Doch wenn sie Pech hatte, würde das Museum erst wieder öffnen, wenn sie bereits abgereist war. Diese Gelegenheit nicht zu nutzen, kam nicht infrage. Sie drückte sich an Jack vorbei und nahm dabei einen herben, aber angenehmen Geruch wahr. Ehe sie überlegen konnte, nach was er roch, hatte sie bereits die Steintreppe erreicht, die in das obere Stockwerk führte.

Ergriffen betrachtete sie das feine Stoffkleid in der Glasvitrine. Charlottes Kleid. Glänzend und mit ausgefransten Nähten hing es in dem Kasten. Der Tafel nach hatte die Schriftstellerin es 1854 getragen, als sie in die Flitterwochen aufbrach. Em presste die Lippen aufeinander. Die Ehe sollte nicht lange halten, denn auch Charlotte starb jung.

Ein verächtliches Brummen war zu hören. Ein paar Schritte neben ihr stand Jack und starrte auf zwei zierliche Stoffschuhe.

»Was ist?«, fragte Em und trat neben ihn.

Ihr entging nicht, wie er einen Schritt zur Seite machte. Verlegen sah sie von ihm weg. Ganz offensichtlich war ihm ihre Nähe unangenehm.

»Diese Schuhe sind lächerlich. Damit kann man sich hier bei unserem Wetter doch nur den Tod holen«, brummte er.

»Aber sie sind niedlich. Ich glaube nicht, dass ich schon mal solch niedliche Schuhe gesehen habe.«

»Ich frage mich, wie sie mit diesen Dingern und solchen Kleidern bis nach Top Withens gekommen sind.« Er lachte heiser auf. »Vermutlich gab es noch richtige Stiefel, die es nicht in die Ausstellung geschafft haben.«

»Top Withens?« Fragend drehte Em sich ihm zu. Obwohl er gelacht hatte, wirkte sein Gesicht ernst, wie schon die ganze Zeit.

Jack runzelte die Stirn. »Dachte eigentlich, das müsstest du wissen, wenn du dich so für Emily Brontë interessierst.« Er machte eine kurze Pause. »Dieses Buch, von dem du vorhin gesprochen hast – Sturmhöhe. Anscheinend war Top Withens dafür die Vorlage. Deshalb wandern immer wieder Touristen rauf zu der Ruine.«

Em glaubte ihren Puls zu spüren. Wie schon so oft sah sie vor sich, wie die bleiche Hand ihrer Mutter auf dem Einband des Romans lag. Beinahe zärtlich hatten ihre Finger über Emilys Zeichnung von Wuthering Heights gestrichen, ehe jegliche Bewegung aus ihrem Körper gewichen war. Und diesen Ort sollte es wirklich geben?

»Wo ist das?«, platze es aus ihr heraus, und erneut trat sie auf ihn zu, doch dieses Mal blieb er stehen.

»Weit hinten im Moor. Ist einigermaßen gut ausgeschildert, aber je nach Wetter nicht ganz einfach hinzuwandern.« Jack sah zum Fenster. »Nach solch einem Regen wird es ganz schön schlammig sein.«

»Und wie lange brauche ich bis dorthin?«

Em glaubte den Ansatz eines Grinsens in seinen Mundwinkeln zu sehen.

»Das hängt von deiner Kondition ab. Aber vom B&B aus und wieder zurück etwa vier Stunden würde ich sagen.«

»Vier Stunden?« Nun verstand Em, was er mit seinem Spruch zu den zierlichen Stoffschuhen gemeint hatte. Niemals würde sie damit vier Stunden wandern können.

Sie musste dringend in dem Bildband ihrer Mutter nachsehen, ob auch Iris dort gewesen war. Ihr Plan sah vor, anhand der Fotos ihrer Mutter deren Schritte hier nachzuvollziehen. Wenn nur nicht ein Teil davon fehlen würde.

Jack riss sie aus ihren Überlegungen: »Können wir weiter?« Er schielte dabei auf seine Uhr.

»Natürlich.«

Nass glänzte das Kopfsteinpflaster der Gassen, als sie in inzwischen leichterem Nieselregen zurückliefen.

Em hätte Stunden in diesem Haus verbringen können, und doch hatte sie die Hinweisschilder nur flüchtig überflogen. Sie hatte sich bemüht, die Stimmung der Zimmer trotz ihres schlecht gelaunten Begleiters in sich aufzunehmen.

War es nicht ein Glück, das Museum ohne weitere Besucher gesehen zu haben? Ganz abgesehen von dem Geheimnis, auf dem Sofa gesessen zu haben.

Em hatte auf eine Erkenntnis gehofft. Oder auf ein Zeichen. Etwas, was auf die Zeit ihrer Mutter an diesem Ort hindeutete, und erklärte, warum Iris ihr Leben lang den Sommer in Haworth verschwiegen hatte. Hatte Jack ihr vielleicht einen nützlichen Hinweis gegeben?

Abrupt blieb sie stehen und betrachtete Jacks Rücken, während dieser schweigend weiterstapfte. Er hatte sie auf Top Withens aufmerksam gemacht. War es möglich, dass ihre Mutter mit ihrer letzten Geste diese Ruine und nicht den Roman an sich gemeint haben könnte? Oder interpretierte sie zu viel hinein?

Gut möglich, dass es hier kein Geheimnis zu entdecken gab, wie ihr Vater Em in den vergangenen Monaten immer wieder versichert hatte. Dass ihre Mutter einfach nur verwirrt gewesen war und sich in den Minuten ihres Todes plötzlich an diesen lang zurückliegenden Sommer erinnerte. Doch warum hatten die beiden Bücher dann in der Schublade gelegen?

Als Em aufsah, stand Jack im Schein einer Laterne. Wie ein Vorhang fiel der Regen auf ihn hinab, und sein Atem bildete eine gespenstische Wolke, in der sich das Licht brach. »Ist alles in Ordnung?«, rief er ihr zu.

Em nickte und folgte ihm. »War nur in Gedanken.« Neben ihr tauchte ein Schatten auf. »Da bist du ja wieder«, flötete sie und beugte sich hinunter, doch der Hund machte keine Anstalten, weiter auf sie zuzukommen.

»Er ist etwas menschenscheu«, sagte Jack, während er weiterging.

»Von wem er das wohl hat«, murmelte Em.

Als sie die West Lane erreichten, in der nicht nur Rosies B&B lag, sondern auch die kleinen Läden mit den entzückenden Schaufenstern, straffte sie unbewusst die Schultern. »Kann ich dich als Dankeschön auf ein Bier einladen?«