Stadt der Löwen - Ute Fillinger - E-Book

Stadt der Löwen E-Book

Ute Fillinger

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Beschreibung

Venedig überflutet. Der Löwe Markus brüllt seinen Zorn über die Menschen in den stürmischen Nachthimmel. Er ruft die Wächter der Stadt und ihre Verbündeten zu einer geheimen Versammlung in das Arsenal. Die zwölfjährige Nia und ihr Freund Karim schleichen sich nachts in die berühmte Schiffswerft. Dort werden sie Zeugen einer unheimlichen Verwandlung. Ein verwegener Plan zur Rettung der Stadt nimmt Gestalt an. Nia und Karim begeben sich mit den Löwen, einem Pegasus und einer Möwe auf die Suche nach einem vergessenen Volk und den sagenhaften Pferden des Meeresgottes Poseidon. Eine Fantasy-Geschichte aus dem heutigen Venedig.

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Für Ole und seine Begeisterung für Geschichten und für Wolfgang in Erinnerung an Venedig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

1

Es war weit nach Mitternacht. Grauschwarze Wolken hetzten über den Himmel, verdunkelten den bleichen runden Mond und gaben ihn wieder frei. Dächer, Kuppeln und Türme der alten Stadt schimmerten regenfeucht.

Das Heulen von Sirenen vermischte sich mit dem Brausen des Windes.

Als für einen Augenblick das stürmische Lied verstummte und die Sirenen schwiegen, stieg ein donnerndes Brüllen in den Nachthimmel und ließ die Luft erzittern.

»Basta!«, brüllte der Löwe. »Es reicht! Sie kriegen es nicht hin, sie kriegen es einfach nicht hin!« Verdrossen schüttelte er seine feuchte Mähne. Es klirrte leise. »Es kommt noch so weit, dass ich mir nasse Tatzen hole.«

Er stand auf einer hohen Säule aus Granit und Marmor. Das Fell in Bronze gerüstet, die mächtigen Schwingen gespreizt, bewachte er seit Jahrhunderten von dort oben die Stadt, der die Menschen so viele Namen gegeben hatten. Und einer schöner als der andere: Stadt aus Licht und Gold, Stadt des Mondes, Stadt der tausend Gondeln und La Serenissima – Venedig. Doch ihr wahrer Name war: Stadt der Löwen.

Wasser, nichts als Wasser. Aufgepeitscht von einem heftigen Wind, der über das Meer fegte und Welle um Welle vor sich hertrieb, strömte es in die Lagune. Soweit nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war auch nicht, dass das Wasser nicht haltmachte vor Uferbefestigungen und Mauern.

Venedig lebte schon immer mit dem Steigen und Fallen des Wassers. Wenn im Herbst und Winter der Mond als schmale Sichel am Nachthimmel erschien oder als runde Scheibe sein schimmerndes Licht ausgoss und Wind aus dem Süden heranstürmte, bedrängte das Meer die Stadt besonders hart und streckte gierig seine kalten Finger nach ihr aus. Doch selten – und das war das Ungewöhnliche – kam das Hochwasser so früh im Jahr, mitten hinein in einen noch sonnenwarmen Oktober.

Ohne Unterlass schlugen die Wellen gegen die Ufer und ließen die schwarzen, an Holzpfählen vertäuten Gondeln an ihren Leinen zerren wie junge Hunde, die sich aus ihrem Halsband winden wollen. Dunkel wie ausgelaufene Tinte kroch das salzige Wasser Meter für Meter über die hellen Steinplatten von San Marco und leckte am Sockel des engelbekrönten Campanile, des höchsten Glockenturms der Stadt. Das Wasser umspülte die Mauern der prächtigen Kathedrale mit den goldenen Kuppeln und flutete die Säulengänge des berühmten Dogenpalastes. Mühelos überwand es Stufen und Treppen und suchte sich durch jede Ritze, jeden Spalt einen Weg in die Häuser, Kirchen und Paläste.

Als auch die Laufstege überflutet wurden und der Sturm immer heftiger an Dächern und Steinfiguren, Laternen und Schildern riss, sperrte die Polizei den Markusplatz.

Das Herz der Stadt wurde dunkel. Nur hier und da blitzten die Lichtkegel starker Stablampen auf. Feuerwehr und Küstenwache suchten nach Menschen, die vom Wasser eingeschlossen waren.

Die Sirenen der Ambulanzboote gellten durch die Nacht.

Über nasse Tatzen konnten Castor und Pollux in dieser Nacht nur müde lächeln. Das Wasser auf dem Markusplatz war unaufhörlich gestiegen und hatte die Menschen vertrieben. Als die Brühe den Löwenzwillingen schließlich bis zum Kinnbart stand, verließen sie ihren Platz neben der Kathedrale und suchten sich eine trockene Stelle unter dem überdachten Eingang des Glockenturms.

Pollux hob kurz den Kopf und lauschte, als nach Mitternacht ein ohrenbetäubendes Brüllen erklang. »Das war Markus.«

»Kein Warnruf«, antwortete Castor, ohne die Augen zu öffnen. »Aber es klang mächtig sauer.«

Helle Vogelschwingen zeichneten sich groß vor den dunkel ziehenden Wolken ab. Mit heiseren Schreien ließ sich eine Möwe vom Aufwind hoch in den Himmel tragen, um kurz darauf pfeilschnell nach unten zu schießen. Als wäre dies eine Nacht wie jede andere, drehte sie Schleifen und Achten und jagte in einem wilden Tanz über die Lagune.

Nachdem sie genug vom Spiel mit dem Wind hatte, flog sie einen letzten weiten Bogen und landete zwischen den Vorderpfoten des Löwen. Sein aufgerissenes Maul schwebte bedrohlich nah über ihrem Kopf, die Reißzähne spitz wie Dolche.

Neben der massigen Gestalt wirkte die Möwe winzig. Doch das schien sie nicht zu kümmern. Mit einem »Gut gebrüllt« widmete sie sich ihrem Gefieder. Eine Feder nach der anderen zog sie durch den Schnabel und glättete sie.

»Nun sag schon, Sirikit«, drängte Markus, »wie sieht es aus in der Stadt?«

»Wie soll es schon aussehen?« Die Möwe richtete weiter ihre Federn.

»Muss ich dir jeden Fisch aus dem Schnabel ziehen?«

»Fische aus meinem Schnabel klauen? Wage es!« Sofort plusterte Sirikit sich auf.

Diese Möwe kann einem den letzten Nerv rauben. Laut sagte Markus: »Lassen wir die blöden Spielchen. Verschaff dir besser einen Überblick, wie es in der Stadt aussieht.«

Sirikit rührte sich nicht.

»Was ist, bist du flügellahm?« Langsam verlor Markus die Geduld. Am liebsten hätte er Sirikit gepackt und einmal kräftig durchgeschüttelt, dass die Federn nur so flogen. Er atmete tief durch.

»Flügellahm, dass ich nicht lache. Was glaubst du, habe ich die letzten Stunden gemacht, während du wie festgewachsen auf deiner Säule thronst? So wie hier sieht es überall aus. Kaum ein Platz, der nicht als Fischteich genutzt werden könnte, würde nicht so viel Abfall und Dreck darauf schwimmen. Die Gassen sind gurgelnde, schlammige Bäche. Die ebenerdigen Wohnungen an den Kanälen sind Planschbecken. Kurzum: Venedig ist abgesoffen.«

Markus schloss müde die Augen. Seine Stadt – abgesoffen. Bilder von Häusern, in denen die graubraune Brühe schwappte. Teppiche, Möbel, die Spielsachen der Kinder – nass. Paläste, Kirchen, Museen – geflutet. Überall Wasser, das Mosaikböden zerbrach, Statuen, Gemälde und Wandbehänge beschmutzte und kostbare alte Bücher aufweichte, die auf der Welt einmalig und unersetzbar waren.

»Und die Menschen?«

»Die Menschen? Versuchen zu retten, was noch zu retten ist.«

Es war eine Katastrophe und sie konnten nichts daran ändern.

Sirikit ahnte, wie ohnmächtig, traurig und wütend sich Markus auf seiner Säule fühlte. Sie beschloss, den Rest der Nacht neben ihm zu verbringen, zog ein Bein ein und kniff die stahlgrauen Augen zu.

Im Halbschlaf hörte sie den Löwen murmeln: »Es muss etwas passieren!«

2

Der Wind jagte das Boot erbarmungslos vor sich her. Nia kauerte auf dem Boden, die Ruderpinne fest umklammert. Sie fror. Furcht wollte ihr ins Herz kriechen.

Meer und Himmel bildeten eine wabernde graugrüne Masse, auf der das kleine Boot wie betrunken hin und her taumelte. Schaumkronen tanzten auf dem Scheitel der Wellen.

Nia hörte das Heulen des Windes, hörte das Knattern der Segel und das dumpfe Pochen der Wellen, die an den Bootsrumpf schlugen. Und doch klangen alle Geräusche eigenartig gedämpft, als wäre sie in einem Zelt aus Watte. Wirklich merkwürdig, dachte sie, als plötzlich eine kräftige Bö das Boot auf die Seite drückte und ihr die Pinne aus der Hand schlug. Mit einem spitzen Schrei rutschte sie gegen die niedrige Bordwand, Gischt spritzte ihr ins Gesicht. Sie fiel.

Mit einem Ruck setzte Nia sich auf. Die Augen weit aufgerissen, wusste sie im ersten Augenblick nicht, wo sie war. Halb war sie noch in ihrem Traum gefangen, zitterte im Wind, spürte die Gischt – dann verblassten die Traumbilder.

Sie war in ihrem Bett, trocken und warm. Erleichtert ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. Keine Pfütze auf dem Boden, kein Wasserfleck an der Decke. Alles sah aus wie immer. Und dennoch war etwas passiert. Nur was?

Leise Schritte auf der Treppe. Vorsichtig klopfte es an der Zimmertür. Eine Frau spähte durch den Türspalt.

Ein klares, offenes Gesicht, helle Augen in einen Kranz aus Lachfalten gebettet, die langen silberdurchwirkten Haare zu einem lässigen Dutt aufgesteckt: Großmutter. Und mit ihrer Nonna kam auch Nias Erinnerung.

»Guten Morgen, Liebes.« Ihre Großmutter Chiara setzte sich auf die Bettkante. »Ausgeschlafen?« Sanft strich sie Nia die dunklen kurzen Locken aus der Stirn und schaute ihr prüfend in die blauen Augen. »Schlecht geträumt?«

Nia nickte. »Das Wasser, wie hoch?«

»Hoch«, antwortete die Großmutter zögernd. Ihr Blick kehrte sich nach innen. Erinnerungen an eine andere Flut wurden wach, eine Überschwemmung, die die Stadt heimgesucht hatte, als sie ein Kind war. »So hoch wie seit mehr als fünfzig Jahren nicht mehr. Ich war damals jünger als du. Doch ich erinnere mich genau.« Sie seufzte.

Die Welt draußen war verstummt, als würde auch sie sich erinnern an damals – und an gestern. Nur das Zwitschern eines Vogels war zu hören, so unbeschwert, hell und leicht, als hätte es die schlimme Nacht nicht gegeben. Eine Weile hingen Großmutter und Enkelin ihren Gedanken nach.

Plötzlich sprang Nia mit einem Satz aus dem Bett und riss den Kleiderschrank auf. »Schule! Ich komme zu spät.«

»Piano, piano, nicht so eilig, Kind. Heute ist keine Schule.«

»Ein Glück. Dann geh ich gleich bei Karim vorbei und zu Luigi.« Schnell schlüpfte Nia in ihre Jeans und angelte sich ein frisches T-Shirt.

»D’accordo, einverstanden, aber vorher wird gefrühstückt.«

Nia stöhnte. Typisch Erwachsene. Ständig kamen sie einem mit Nebensächlichkeiten. »Ich habe aber keinen Hunger«, wollte sie protestieren, als ihr Magen laut knurrte. Verräter!

»Wir essen im Wohnzimmer«, sagte ihre Großmutter mit einem verstohlenen Lächeln in den Mundwinkeln. »Die Küche steht noch unter Wasser.«

Eine halbe Stunde später. Nia war schon in Gummistiefeln und tastete sich auf dem glitschigen Boden zur Haustür, als ihre Großmutter hinter ihr herrief: »Bleib bitte nicht so lange. Ich brauche hier noch deine Hilfe.«

»Ich bin bald zurück, versprochen.«

Im Erdgeschoss standen immer noch Pfützen. Hässliche braune Wasserränder zogen sich entlang der Wände, die ihre Großmutter und sie erst vor wenigen Wochen in einer warmgelben Farbe gestrichen hatten. Es roch feucht und etwas modrig. In den Fugen hatten sich Schlamm und Schmutz festgesetzt. Die alte Truhe im Flur, die so schwer war, dass sie nur mit vereinten Kräften von der Stelle bewegt werden konnte, hatten sie gleich nach dem Frühstück schon ein Stück von der Wand abgerückt. Es würde Wochen dauern, bis die Mauern ausgetrocknet waren.

Nia trat aus dem Haus und schaute, wie es ihre Gewohnheit war, zuerst nach links, um die glitzernde Wasserfläche der Lagune zu begrüßen und die Inseln San Clemente und San Giorgio, die in einem weichen, dunstigen Licht schwammen. Dann spähte sie den schmalen Kanal entlang, der an dieser Seite des Hauses vorbei in die Lagune führte.

Das ockerfarbene Haus ihrer Großmutter mit den flaschengrünen Schlagläden an den Fenstern lag für Nia an der schönsten Stelle, an der ein Haus in Venedig stehen konnte. Nah genug am lebhaften Treiben der Via Garibaldi, der breiten Geschäftsstraße von Castello, dem Stadtteil der Arbeiter, Handwerker und kleinen Kaufleute, und doch ganz für sich am Ende einer schmalen Gasse, der Calle di San Domenico. Das Haus hatte nach hinten einen kleinen Garten, eine Seltenheit in der steinernen Pracht Venedigs, und dieser Garten grenzte an eine Allee mit hohen Bäumen, hellen Kieswegen und leuchtend roten Bänken. Ein grünes Band, das die Via Garibaldi mit dem Ufer der Lagune verband. Nein, nicht für den prächtigsten Palast am Canal Grande würde Nia ihr Zuhause eintauschen wollen.

Das Wasser des Kanals schmatzte und schlürfte an der Hauswand. Eine tote Ratte trieb auf einem Bett aus Zweigen und Blättern, die der nächtliche Sturm von den Bäumen gefegt hatte.

Nia wandte sich nach rechts und stapfte los. Die enge Gasse lag im Schatten, eingezwängt zwischen mehrstöckigen Häusern und einer hohen Ziegelsteinmauer. Dort, wo die Morgensonne auf die Häuser fiel, ließ sie die Fassaden gelb, ziegelrot und ockerfarben leuchten. Braune und grüne Holzläden umrahmten die Fenster. Auf den schmalen Balkonen reihten sich Töpfe und Schalen mit Kräutern, Geranien und Petunien.

In der Mitte der Gasse versperrte ihr eine große Pfütze den Weg. Verstohlen schaute sie sich um. Niemand zu sehen. Sie zögerte noch einen Wimpernschlag lang, dann sprang sie mit beiden Füßen mitten hinein in die Pfütze. Das Wasser spritzte hoch und nach allen Seiten.

Sie lächelte zufrieden, bis eine Stimme von oben fragte: »Na, Nia, noch nicht genug vom Wasser?«

Ein breit grinsendes Gesicht, umrahmt von einem wilden Lockenkopf, tauchte auf einem Balkon über ihr auf. Fabio. Er war ein paar Jahre älter als sie und hatte schon eine Freundin. Eines Abends hatte sie zufällig beobachtet, wie sie sich im Park geküsst hatten. Und jetzt hatte er sie gesehen: beim Pfützen springen. Wie peinlich! Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht kroch und brachte keinen Ton heraus.

Fabio tat, als würde er Nias Verlegenheit nicht bemerken. »Sollte ich auch mal wieder versuchen, war immer ein großer Spaß«, meinte er leichthin.

Nia nickte wortlos, dann machte sie, dass sie wegkam.

»Ciao, Nia«, hörte sie Fabio noch hinter sich herrufen.

Wenige Meter weiter öffnete sich zwischen zwei Häusern ein überdachter Durchgang, der auf einen Innenhof führte. Ihre Freundin wohnte hier im ersten Stock. Nia überlegte kurz. Sollte sie mal eben schnell nach Elena sehen? Nicht jetzt, beschloss sie, später ist auch noch Zeit, erst zu Karim und Luigi.

Sie trat aus dem Schatten der Calle di San Domenico ins Sonnenlicht, blieb am Zeitungskiosk stehen und schaute die Via Garibaldi hoch und runter.

Hier summte es an Wochentagen vor Geschäftigkeit. Von früh bis spät wurde gehandelt, eingekauft, gegessen, getrunken, geplaudert und gelacht.

Aber an diesem Morgen waren alle Läden und Cafés geschlossen. Nicht einmal Brot konnte man kaufen. Kein Lachen war zu hören.

In jedem Haus und jedem Geschäft standen Türen und Fenster weit offen, um die Feuchtigkeit aus den Räumen zu vertreiben. Rinnsale graubraunen Wassers schwappten über Eingangsstufen auf das Straßenpflaster. Schimpfend und fluchend fegten die Menschen mit Besen das Schmutzwasser nach draußen und kippten eimerweise klares Wasser über die Fliesen und Steinböden. An den Hauswänden lehnten Müllsäcke, nasse Teppiche und aufgequollene kaputte Möbelstücke. Aus dem Supermarkt an der Ecke trugen die Angestellten Karton um Karton und Kiste um Kiste mit verdorbener Ware. Vor den Bars und Restaurants stapelten sich Tische und Stühle, die in der Herbstsonne trocknen sollten.

»Ciao, Nia, va bene? Geht es dir und deiner Nonna gut?«, erkundigten sich viele, wenn sie vorbeiging.

»Si, si, aber das Hochwasser …«

Die Leute nickten, jeder wusste, was sie meinte.

Und dann passierte es. Mit einem erbosten »Man sollte denen das Dreckwasser in Kübeln über die Köpfe schütten!« traf Nia ein Schwall Wasser, der mit Schwung auf die Straße gekippt worden war. Erschrocken und ungläubig schaute sie auf ihre Hose.

Aus einem dämmrigen Flur schälte sich die rundliche Gestalt einer Frau in Schürze und Gummistiefeln. Mit gerunzelter Stirn schaute sie auf Nia, dann sah sie auf den leeren Eimer in ihrer Hand und der mürrische Gesichtsausdruck wich Bestürzung. »Oh, war ich das? Mädchen, das tut mir leid. Du bist ja völlig nass!«

Sie verschwand im Haus, kam augenblicklich mit einem Handtuch zurück und stiefelte die Eingangsstufe hinunter. »Ach, du bist es, Nia. Ich habe dich gar nicht gleich erkannt ohne Brille.« Sie hob bedauernd die Schultern. »Aber das haben wir gleich.«

Mit energischen Bewegungen begann die Frau, die nasse Jeans abzureiben. Sie rieb und rieb und drückte dabei so fest auf, dass es wehtat.

Nia wusste nicht, wie ihr geschah. »Äh, ist schon gut, Signora Scarpa, das trocknet auch von allein.« Mit einem großen Schritt rückwärts brachte sie sich in Sicherheit. In der Hoffnung, von ihrer Hose ablenken zu können, fragte sie: »Wen haben sie denn vorhin gemeint mit ›Dreckwasser über die Köpfe schütten‹?«

»Na, diese Politiker, diese nichtsnutzige Bande.« Signora Scarpas Augen funkelten zornig und ihre Stimme wurde lauter. »Versprechen das Blaue vom Himmel herunter, unfähig, alle unfähig.«

»Recht hast du«, schaltete sich eine kleine, drahtige Frau aus dem Haus nebenan ein.

Sie war ebenfalls mit Schürze, Eimer und Wischmopp ausstaffiert. Die krausen grauen Haare hatte sie sich mit einem feuerroten Kopftuch aus dem Gesicht gebunden. Ein kurzer, neugieriger Blick zu Nia, dann nahm die Frau, deren Name Nia nicht einfallen wollte, Signora Scarpa in Beschlag. Nach einer Schimpftirade über »diese Politiker« gingen die beiden genüsslich zum Klatsch des Tages über.

Nia stahl sich mit einem leisen »Buongiorno« davon. Die Frauen schenkten ihr keine Beachtung mehr.

Weiter die Straße hinauf, die feuchte Jeans klebte unangenehm an den Oberschenkeln. Ihr Ziel war der Kanal am Ende der Via Garibaldi.

Dort verkauften Karims Eltern Obst und Gemüse. Auf einem alten Kahn. Orangefarbene Sonnensegel überspannten den Schiffsrumpf, dessen grüne Farbe an vielen Stellen abblätterte. In Holzkisten leuchteten und glänzten je nach Jahreszeit Tomaten, Paprika, Auberginen, Zucchini, Bohnen, Kartoffeln, Äpfel, Birnen, Erdbeeren, Trauben, Bananen und Nüsse. Rot, Grün, Orange, Violett, Gelb, Braun, Blau – alle Farben eines Malkastens waren versammelt. Am Wochenende standen die Bewohner des Viertels in langen Schlangen an, belagert von Touristen mit gezückten Smartphones und Kameras, die den Einheimischen auf der Suche nach dem besten Bildausschnitt oft im Weg standen.

Nia kam fast jeden Tag am Gemüsekahn vorbei und jedes Mal freute sie sich an der bunt glänzenden Auslage. Für sie war der Kahn einmalig. Das hatte sich auch nicht geändert, als Karims Vater eines Tages erwähnt hatte, dass es in Venedig noch ein zweites Gemüseschiff gab. Im westlichen Stadtteil Dorsoduro. Aber dort kannte sie sich nicht gut aus, der Bezirk lag zu weit weg für die Streifzüge, die sie allein oder mit Karim unternahm.

An diesem Morgen lag der Kahn träge und fest vertäut im Wasser, die Sonnensegel waren abgebaut und das Bootsinnere mit Planen verschlossen wie eine Auster.

Gegenüber stand die Tür zu einem Laden offen, der als Lager diente. Karim und sein Vater räumten Kisten von einer Ecke zur anderen, während der Großvater die Ware kontrollierte, wobei er leise mit sich selbst sprach.

Am Vortag hatte die ganze Familie noch eiligst Kartons und Kisten mit Obst und Gemüse in die Wohnung ein Stockwerk höher geschleppt. Was im Lager bleiben musste, Säcke mit Kartoffeln und Rüben, wurde auf Stapel leerer Kisten gewuchtet in der Hoffnung, dass das Wasser sie nicht zu fassen bekam.

»Ciao, Karim.«

»Ciao, Nia.« Karim setzte eine Kiste ab, rieb sich die Hände an seiner Hose ab und trat unter den Türsturz. Er lächelte und seine braunen Augen strahlten Nia warm entgegen.

Er war dreizehn, ein Jahr älter als Nia, einen halben Kopf größer und bärenstark. Seit er klein war, nannten ihn seine zahlreichen Onkel und Tanten und auch die Nachbarn «Ercole«, Herkules. Bereits als Vierjähriger schleppte er unverdrossen Kisten, sofern er sie hochheben konnte. Seine Eltern und sein Großvater mussten stets ein Auge darauf haben, dass er sich nicht überhob.

»Alles in Ordnung bei euch?«, fragte er.

»Ja, soweit. Im Flur und in der Küche stand das Wasser knöchelhoch.«

»Hier auch. Hast du gesehen, alle Geschäfte sind zu, auch die Bäckereien.«

»Nonna sagt, es war das schlimmste Hochwasser, seit sie ein Kind war.«

»Großvater hat sich furchtbar aufgeregt.« Karim wandte kurz den Kopf nach hinten. »Er schimpft schon den ganzen Vormittag vor sich hin. Er hat eine Mordswut auf die Politiker.«

»Na, da ist er nicht der Einzige, was ich auf dem Weg hierher so gehört habe.«

Karim strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn »Nicht, dass es eilt«, grinste er, »aber weißt du, wann wieder Schule ist?«

»Keine Ahnung. Ich frag mal Elena, die weiß so etwas.«

»Stimmt, wenn es jemand weiß, dann Elena.«

»Ich mach mich wieder auf den Weg. Ich will noch kurz zum Buchladen und danach nach Hause, Großmutter helfen. Hast du Luigi schon gesehen?«

»Nein, er hat sich noch nicht auf der Straße gezeigt. Aber im Laden sieht es bestimmt schlimm aus.«

»Das fürchte ich auch.«

3

Luigis Buchladen lag im unteren Teil der Via Garibaldi, zwischen einem Café und einem Geschäft für Haushaltswaren.

Schon von weitem sah Nia, dass das Schaufenster leer war, nicht ein Buch, nicht ein Bildband lockte.

Sie spähte durch die offene Ladentür ins Innere. Im Halbdunkel bot sich ihr ein Bild der Verwüstung. Die kunstvoll aufgeschichteten Bücherstapel, die sonst jeden freien Platz belegten, sich in Ecken und auf Tischen türmten, waren umgestürzt. Bücher lagen verstreut auf dem Boden, die Buchdeckel aufgeweicht, die Seiten feucht, zerknittert, zerrissen. Viele schwammen in den Pfützen, die das Wasser auf seinem Rückzug zurückgelassen hatte. Papierklumpen, die nie mehr ihre Geschichten erzählen, nie mehr ihre Geheimnisse preisgeben würden.

Im Laden war es dämmerig, nur am Fenster erhellte Tageslicht die unwirkliche und traurige Szene.

Nia trat ein, bückte sich und griff wahllos nach einem Buch: »Die Abenteuer des Pinocchio«. Sie wollte es aufschlagen, um die ersten Zeilen zu lesen, aber die Seiten waren zusammengeklebt. Während sie das Buch mit einem Seufzen beiseitelegte, suchten ihre Augen den Raum ab.

Hinter der hohen Ladentheke tauchte eine Gestalt auf, die sich mühsam aufrichtete.

»Pah, meine Knie werden auch nicht jünger«, ächzte der Mann leise.

Er trug eine locker sitzende Stoffhose und einen abgetragenen Pullover. Die Ärmel waren hochgeschoben und entblößten sehnige Unterarme. In der Armbeuge hielt er ein paar Bücher. Er schaute sich fragend um, als suche er einen trockenen Platz für sie.

»Ciao, Luigi.«

Der Mann spähte zum Eingang. »Ciao, Nia, wie schön, dich zu sehen.«

»Die Bücher, es tut mir so leid.« Eine Träne rollte unbemerkt Nias Wange hinunter.

Luigis hageres Gesicht war grau vor Müdigkeit, die Augen rot gerändert, um die Mundwinkel hatten sich tiefe Falten eingegraben. Er suchte einen freien Platz, legte den Bücherstapel vorsichtig ab und kam mit einem Lächeln auf Nia zu. Dabei breitete er die Arme weit aus, so wie er das immer tat, und Nia flüchtete in die Umarmung.

Die Nase in seinen abgetragenen blassgrünen Pullover gedrückt, schnupperte sie den flüchtigen und doch unverwechselbaren Duft nach Rasierwasser, Leder, Leim und Papierstaub, der zu Luigi gehörte wie seine Bücher. Luigis «Ladenkleider«, wie er sie nannte, verströmten zuverlässig diese Duftmischung, egal wie oft sie gelüftet und gewaschen wurden.

Eine Weile hielten die beiden sich wortlos fest.

Schließlich fasste Luigi Nia sanft bei den Schultern, schob sie ein Stück von sich und sagte: »Glaub mir, mein Herz weint wie deines um jedes einzelne Buch, das nicht mehr aufgeschlagen und gelesen werden kann. Das Hochwasser hat uns diesmal übel mitgespielt. Und das ist noch untertrieben. Aber es sind keine Menschen verletzt worden. Ist das nicht wichtiger?«

Nia nickte zögerlich. Luigi hatte recht, aber das änderte nichts daran, dass ihr die Kehle so eng war, dass sie kaum schlucken konnte.

»Hey, Kopf hoch, ich konnte mehr meiner Kinder retten, als es den Anschein hat. Die wertvollsten Bücher und Folianten sind alle sicher und trocken«, versuchte Luigi sich und Nia zu trösten.

»Wie hast du das gemacht? Die dicken Wälzer sind doch sauschwer!«

»Ich hatte Helfer. Als das lang gezogene Heulen der Sirenen vier Mal ertönte und es hieß, das Wasser würde diesmal so hoch steigen wie schon lange nicht mehr, stand wenig später eine Gruppe junger Leute vor der Tür.«

»Wer denn?«

»Fabio und seine Clique. Du kennst doch Fabio? In Windeseile waren meine Schätze – Bücher, antiquarische Drucke, historische Landkarten, alte Seekarten – oben in meiner Wohnung. Und vorsichtig waren die jungen Leute mit meinen Büchern, als wären es ihre Babys. Was sagst du dazu?« Luigis Augen glänzten.

Aber Nia konnte Luigis Begeisterung nicht so recht teilen. Etwas hatte ihr einen Stich versetzt. Zu blöde, dass ich nicht dabei war, dachte sie. Und: ausgerechnet Fabio. Der konnte also nicht nur Mädchen küssen im Park und nachts mit dem Boot über die Lagune brettern. Der entpuppte sich auch noch als hilfsbereit. Irgendwie ärgerte sie das.

»Wirklich toll.« Es klang lahm, sie merkte es selbst und schob rasch ein Lächeln hinterher, das ihr nicht so recht glücken wollte.

In der nächsten Sekunde wurde ihr siedend heiß: die Lesehöhle!

Nia umrundete die Ladentheke. Dahinter war ein Durchgang zu einem fensterlosen Raum, der als Büro und Lager diente. In einer Ecke stand ein alter Schreibtisch, auf dem Luigi die Buchhaltung machte. Zwei Wände waren von hohen Regalen verdeckt. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, auf dem Luigi die frisch gelieferten Bücher auspackte und in die Bestandsliste aufnahm, bevor sie in die Regale geräumt wurden.

Auf diesem Tisch, er war aus Eiche mit einer runden Tischplatte, lag seit Jahr und Tag ein lichter sonnengelber Stoff, der bis hinunter zum Boden reichte und dort üppige Falten schlug. Unter dem Tisch hatte Luigi eine kleine Lampe befestigt. Der Boden war mit weichen Decken und buntgemusterten Kissen ausgepolstert: ihre Lesehöhle.

Schon als kleines Kind war Nia unter den Tisch gekrochen und hatte es sich mit einem Bilderbuch gemütlich gemacht. Sie konnte damals zwar noch keine Buchstaben oder gar Wörter erkennen, aber das machte nichts. Sie hatte sich die Geschichten, die sie auf den Bildern sah, einfach laut »vorgelesen«. Zumindest erzählten das ihre Nonna und Luigi. Sie selbst konnte sich daran nicht erinnern.

Kaum konnte sie richtig lesen, entdeckte sie, dass die Lesehöhle ein magischer Ort war, der sich verwandeln konnte.

Bei den ersten Zeilen einer Geschichte geschah es: Dann sauste sie auf einem fliegenden Teppich neben dem blauen Dschinn durch die Nacht, ärgerte mit dem Sams Frau Rotkohl, schlich sich neben Ronja Räubertochter durch die finstere Burg im Wald, spürte das Rollen der See auf dem Piratenschiff von Long John Silver oder schwang als Hermine ihren Zauberstab in Hogwarts – mit Vorliebe gegen ihren Lieblingsfeind Draco Malfoy.

Die Höhle war ihr Zufluchtsort, wenn etwas sie bedrückte und traurig machte. In den ersten Jahren in der Schule lief sie nach der letzten Stunde oft in den Laden, das Schulgebäude war nur einen Steinwurf entfernt, und verschwand nach einem kurzen Gruß gleich unter dem Tisch. Luigi hatte ihr gleich am ersten Schultag ein großes Schild geschrieben, auf dem stand: »Bitte nicht stören!« Immer wenn Nia das Schild aufstellte, ließen Luigi, Nonna und alle anderen Erwachsenen sie in Ruhe.

Nur wenn sich in ihrem Gesicht tiefer kindlicher Kummer eingegraben hatte und sie sich stumm verkroch, hantierte Luigi früher oder später mit einem Stapel Bücher am Tisch. »Dieser Keksteller stört. Ich brauch den Platz. Am besten, ich stelle ihn mal eben auf den Boden.«

Nicht lange und das Tuch wurde wie von Geisterhand ein Stück hochgehoben und der Teller verschwand im Inneren der Höhle.

Luigi tat dann immer ganz überrascht: »Nanu, wo sind denn die Kekse hin? Einfach weg. Das wird doch hoffentlich kein Geist gewesen sein?«

Ein leises, wenig geisterhaftes Kichern war die Antwort und Luigi widmete sich wieder beruhigt seiner Arbeit.

Die Lesehöhle war verschwunden, nur der Tisch stand noch da, nackt und kahl, die Tischbeine im Nassen.

Nia drehte sich fragend zu Luigi um.

»Ich habe dein altes Nest und die Bücher in Sicherheit gebracht.« Und mit einem schiefen Lächeln: »Bald ist alles wieder so, wie es war.«

Nachdenklich schüttelte Nia den Kopf. Nein, es würde nicht mehr so werden, wie es war. Die Lesehöhle war verschwunden. Und sie war kein kleines Kind mehr.

Luigi rieb sich über die stoppeligen Wangen. Er konnte in Nias Gesicht lesen wie in einem offenen Buch.

»Was soll jetzt werden?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Was wohl«, gab er sich betont munter. »Putzen, alles an seinen Platz räumen, neue Bücher bestellen und mit der Versicherung über den Schaden streiten. Außerdem wollte ich den Laden schon lange neu einrichten. Gute Gelegenheit.

»Ich helfe dir beim Saubermachen und Aufräumen, aber nicht gleich, erst braucht Nonna mich.«

»Na, dann lass meine liebe Freundin Chiara nicht länger warten und grüß sie von mir.« Mit diesen Worten begleitete er Nia zur Tür, winkte noch kurz und verschwand zwischen Bücherregalen.

4

Markus schaute sich auf seiner Säule um. Im Einklang mit den Gezeiten hatte sich das Wasser zurückgezogen und zeigte ein Bild der Verwüstung.

Wind und Wellen hatten viele Gondeln losgerissen und auf den Canal Grande hinausgetrieben. Andere hingen zerschmettert an ihren Leinen. Mehrere Vaporetti, robuste Stahlschiffe, die als Wasserbusse auf den großen Kanälen der Stadt und zwischen den Inseln verkehrten, hatten sich an ihrem Liegeplatz ineinander verkeilt. Einige hatte der Sturm ans Ufer geschleudert, wo sie wie gestrandete Wale lagen. Anlegestellen waren aus ihren Verankerungen gerissen. Auf großen Arbeitsbooten schwangen Kräne und Stahlwinden hin und her, um die Trümmer der Pontons und halb gesunkene Schiffe zu bergen.

Die Mauern an der Uferpromenade waren eingestürzt, Stühle, Tische und Sonnenschirme lagen verstreut vor den Cafés und Markisen hingen zerfetzt an den Scharnieren. Das Panzerglas des Schaufensters einer Bank war zersplittert. Gerade verschlossen Arbeiter das Loch mit schweren Holzplatten.

Zwei Möwen stritten sich um Beute. Die eine, Markus erkannte Sirikit, hatte ein großes Stück Pizza im Schnabel. Bestimmt hatte sie es einem Touristen aus der Hand gerissen, während dieser noch das Wechselgeld verstaute. Diese Art Beutezug war ihre Spezialität.

Mit verwegenen Flugmanövern versuchte Sirikit ihre Verfolgerin abzuschütteln, doch die Artgenossin bedrängte sie immer wieder hart. Erst als Sirikit die Säule anflog und wenige Flügelschläge später elegant neben dem Löwen landete, drehte die Möwe ab.

Zufrieden klappte Sirikit die Flügel ein und sicherte die Pizza unter ihren Krallen. »Ganz schön lästig, diese Jungmöwen. Glauben, sie könnten mir meine Beute streitig machen.« Stück für Stück schlang sie die Pizza hinunter, nicht ein Krümel blieb zurück.

Markus hasste es, wenn Käsereste, Fischschuppen oder Hühnerknochen auf seiner Säule lagen, aber noch mehr hasste er es, wenn man ihn warten ließ. Als auch der letzte Krümel beseitigt war und Sirikit sich ihrem Gefieder widmen wollte, sauste Markus Schwanzquaste peitschenschnell durch die Luft.

»Rede endlich. Hast du meine Botschaft überbracht? Heute Nacht, werden sie kommen?«

»Sie werden kommen, zumindest einige.«

»Gut, danke.«

»Oh, keine Ursache. Ich war noch nie bei einer Versammlung von halbverwitterten steinernen Fratzen und von kunstvoll aus Marmor gemeißelten Statuen, an denen der Zahn der Zeit auch schon kräftig genagt hat.« Sirikit grinste spöttisch.

»Habe ich dich eingeladen?«, fragte Markus trocken.

Sirikit stutzte für eine Sekunde. Dann brach sie in ein heiseres Lachen aus. »Auch ohne Einladung, das Spektakel lasse ich mir nicht entgehen.«

Markus verzog belustigt sein Löwengesicht. »Kleiner Scherz. Ich bestehe sogar darauf, dass du dabei bist. Scharfe Augen und ein wacher Verstand sind immer nützlich.«

»Keine Komplimente«, wehrte die Möwe ab. Doch insgeheim fühlte sie sich sehr geschmeichelt.

Die Nacht war klar. Die weite Wasserfläche der Lagune war ein Tuch aus blauschwarzem Samt mit Lichtperlen bestickt, die im Mondlicht aufglänzten und verschwanden.

Die Umrisse der Häuser und Türme und die mächtige Kuppel der Kirche San Pietro di Castello zeichneten sich dunkel und scharf gegen den Himmel ab, wie mit der Schere ausgeschnitten.

Das Arsenal war ein geheimnisumwitterter und verbotener Ort. Eine Mauer aus Ziegelstein schützte Venedigs legendäre Schiffswerft vor ungebetenen Augen. Das Licht der wenigen Laternen malte bizarre Schatten auf die dunkle Wand und ließen die zwölf Meter hohe Mauer noch abweisender erscheinen als bei Tag. Nur das Wassertor der Nuova Porta, die Zufahrt zu den weitläufigen Hafenbecken und unzähligen Werfthallen, war von Scheinwerfern hell ausgeleuchtet.

Nah am Wassertor stand eine Halle im Schatten hoher Kräne. Daneben reckte sich ein runder Turm aus rotem Ziegelstein in den Himmel.

Die Halle war ebenfalls aus Ziegeln gebaut. Die Jahre hatten ihr nicht viel anhaben können, nur die vergitterten Fenster starrten blind in die Nacht. An einer Stelle war das Dach eingebrochen. Das Loch sah aus wie eine klaffende Wunde mit ausgefransten Rändern, in die Sonne, Wind, Regen und Frost ungehindert eindringen konnten.

Sirikit hatte sich auf dem höchsten Punkt des Turms niedergelassen. Sie wollte das Eintreffen der Wächter nicht verpassen. Während sie mit ihren scharfen Augen den Himmel im Auge behielt und jede Bewegung auf den Wasserwegen und am Boden verfolgte, nicht die kleinste Maus huschte ungesehen von einem Versteck zum anderen, fragte sie sich, was Markus mit der Versammlung bezweckte. Außer »Es muss etwas passieren« und »Wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen«, hatte sie ihm nichts Genaueres entlocken können.

Das mit den Händen war eine Redensart der Menschen. Es müsste heißen »… in die Pfoten, Tatzen, Pranken oder Krallen nehmen«. Für ihre Möwenohren klang das besser, aber Markus sammelte Worte und Ausdrücke der Menschen wie Mäuse Nüsse für den Wintervorrat.

Am Nachthimmel tauchte eine fliegende Gestalt auf, ein massiger Körper, nicht geformt für leichte und schnelle Bewegungen in der Luft, und doch brachten die kraftvollen Flügelschläge die Gestalt erstaunlich schnell näher.

Mit angelegten Ohren, die Mähne vom Wind glatt gestrichen, kreiste der Löwe über dem Dach der Halle, verlor Höhe und verschwand aus Sirikits Gesichtsfeld.

Mit einem Ächzen landete Markus unsanft auf dem Holzboden. Staub wirbelte auf. Ich bin eindeutig aus der Übung, aber wenigsten hat keiner meine Landung gesehen, tröstete er sich. Er hatte bewusst darauf verzichtet, als Letzter in die Halle einzufliegen und einen großen Auftritt hinzulegen. Außerdem wollte er die Zeit, bis die Ersten eintrafen, nutzen, um sich auf seine Rede vorzubereiten. Es würde nicht leicht werden, die Wächter zu überzeugen. Markus legte die Flügel an, strich die Federn glatt und sah sich um.

Balken, dick wie Säulen, unterteilten den großen Raum. Sie trugen ein Gitter aus hölzernen Pfosten und Streben: das Gerüst des Daches. Der Raum war leer. Nur an den Längsseiten waren lange Bretter aufgestapelt und in den Ecken lagen Rollen aus altem Tauwerk. An einer Schmalseite, nicht weit entfernt von der Stelle, wo das Dach eingestürzt war, stand ein schwerer Tisch. Die Tischplatte war voller Rillen und Kerben und Spuren einer rostroten Farbe.

Markus schritt die Wände entlang. Der Dachboden war offensichtlich länger nicht mehr betreten worden. Seine feine Nase nahm nur einen sehr schwachen Geruch nach Mensch wahr. Sein Blick ging Richtung Tisch und er nickte zufrieden. Der Tisch würde in dieser Nacht seine Säule sein. Gut sichtbar für alle. Mit einem Satz sprang er auf die Tischplatte, ließ sich auf allen vieren nieder und legte den Kopf zwischen die Vorderpfoten. Mit geschlossenen Augen spielte er im Geist seine Rede und den Verlauf der Versammlung durch.

Draußen erhöhte sich nach und nach der Luftverkehr, wie Sirikit zufrieden feststellte. Den Schatten nach zu urteilen, näherten sich die wunderlichsten Geschöpfe. Alle zogen wachsame Kreise über dem Ort der Versammlung, erst dann ließen sie sich in Spiralen auf das Hallendach hinuntersinken und verschwanden.

Im tiefen Schatten der schlafenden Häuser trabten die Löwenzwillinge Castor und Pollux lautlos durch die Gassen der Stadt.

Die wenigen Fußgänger, die um diese Stunde müde und in Gedanken versunken ihren Wohnungen zustrebten, hielten sie für Schemen, die so schnell verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Ein kurzer Augenblick der Verwunderung, ein flüchtiger Gedanke: Das sah aus wie ein Löwe. Nein, kann nicht sein. Ich sehe schon Gespenster. Höchste Zeit, ins Bett zu kommen.

Die Brüder erreichten den Landeingang des Arsenals.

Vor dem prächtig geschmückten Portal des Haupttores wachten vier Löwen. Castor und Pollux wussten nicht viel über ihre Herkunft. Nur, dass sie aus anderen Ländern von den Venezianern hierher entführt worden waren. In einer fernen, glanzvollen Vergangenheit, als Venedig die unangefochtene Königin unter den Städten war und als Seemacht das ganze Mittelmeer beherrschte. Die vier gehörten wie sie selbst nicht zur Familie der Markus-Löwen. Ihnen fehlten die Flügel.

Eine der Statuen zeigte eine Löwin. Auffallend waren die großen Augen in einem sanften Gesicht, das eher dem einer Leopardin glich.

Der weitaus größte Löwe stammte angeblich aus dem Hafen von Piräus, einer Stadt in Griechenland. Hoch aufgerichtet saß er da, ganz Kraft und gezügelte Energie. Selbst für die Zwillinge eine beeindruckende Gestalt, was sie aber niemals zugegeben hätten. Markus hatte ihnen einmal von einem Rätsel um seine Herkunft erzählt. Auf einer seiner Flanken seien noch schwache Spuren von Schriftzeichen zu erkennen, Zeichen, die in fast vergessenen Zeiten im hohen Norden benutzt worden waren. Die Zwillinge waren sich nicht sicher, ob Markus sich mit dieser Geschichte nicht einen Scherz erlaubt hatte. Sie hätten sich zu gerne selbst von den eingravierten Schriftzeichen überzeugt. Denn wie sollte das zusammenpassen: nordische Runen auf einem Raubtier der heißen Savanne? Aber ein unauffälliger Blick auf das grimmige Gesicht des Riesen und sie hielten es für besser, dem Burschen nicht zu nahe zu kommen.

Außerdem waren sie spät dran. Also begnügten sie sich damit, den Kopf grüßend vor den Statuen zu neigen, bevor sie an ihnen vorbeischlüpften. Drei der Löwen zeigten keine Reaktion. Doch hatte ihnen nicht der Kleinste aus einem arg verwitterten Gesicht gutmütig zugezwinkert?

Während sie einen Weg zu der Halle suchten, in der die Versammlung stattfinden sollte, wurden die beiden jungen Löwen immer aufgeregter und übermütiger.

Es fing mit einem Schwanzhieb von Pollux in die Flanke seines Bruders an. Ein »Hey, Alter, was soll das?« war der Auftakt zu einer Balgerei. Keiner wollte dem anderen etwas schuldig bleiben und so teilten sie Knuffe, Hiebe und Schwanzschläge immer kräftiger aus. Rempelten sich gegenseitig an, zogen sich mit der Pranke eins über den Rücken, schnappten sich spielerisch in die Ohren und ins Fell.

Sie liefen gerade an einem der Kanäle entlang, die das Werftgelände durchzogen, als Pollux unversehens seine Schulter so heftig in Castors Seite rammte, dass dieser mit einem lauten Platsch im Wasser landete.

»Spinnst du?«, prustete er wütend, als er wieder an die Oberfläche kam.

Pollux zwinkerte ihm nur frech zu und machte sich davon.

»Na warte«, knurrte Castor hinter ihm her.

Wenige Meter entfernt schwamm eine Arbeitsplattform. Nicht leicht, sich mit dem nassen, schweren Fell auf den schwankenden und rutschigen Boden zu hieven, aber nach zwei vergeblichen Versuchen, bei denen Castor jedes Mal wieder im Wasser landete, war er oben und sprang schnell auf festen Boden. Er schüttelte sich, die Wassertropfen flogen nach allen Seiten, dann machte er sich an die Verfolgung seines Bruders.

Pollux wartete mit engelsgleicher Miene an der eisenbeschlagenen Eingangstür zur Versammlungshalle.

»Wir haben noch eine Rechnung offen.« Castor trat seinen Bruder blitzschnell und mit einem genüsslichen Löwengrinsen auf die Vorderpfote.

Pollux gab sich unbeeindruckt, obwohl der Schmerz ihm das Bein hochschoss. »Ja, schon gut, aber jetzt interessiert mich mehr, wie wir in diese Hütte hineinkommen. Und wenn du die Güte hättest, von meiner Pfote runterzusteigen.«

»Vielleicht probierst du es mal mit Türklinke runterdrücken.«

»Ha, ha, Klugscheißer. Als ob die Tür nicht abgeschlossen wäre.«

Castor begann, sich in aller Gemütsruhe das Fell zu lecken.

Pollux schaute ihm einen Augenblick zu, dann stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die schwere Holztür und drückte mit der Pfote die verrostete Klinke nach unten. Unerwartet leicht ging die Tür auf und Pollux stürzte mit Gepolter ins Leere.

»Klasse Aktion«, ätzte Castor, »und so geräuschlos. Wie aus einem Lehrbuch für Geheimtreffen.«

Sie funkelten sich an, die goldgrünen Augen zu schmalen Schlitzen verengt, bereit, aufeinander loszugehen. Doch plötzlich grinsten sie und schlugen sich brüderlich auf die Schulter.

»Das Treffen ist auf dem Dachboden. Irgendwo muss eine Treppe geben«, sagte Pollux.

Der große Raum war stockdunkel. Für Menschen wohlgemerkt. Die Zwillinge bewegten sich mit einer Gewandtheit in dieser Finsternis, als durchquerten sie einen hell erleuchteten Ballsaal.

Es roch nach Vergangenheit, nach Holz, Teer, Metall, Öl, Leder und Staub. Überall verstreut lagen Gegenstände. Ein alter Kompass aus Messing, Öllampen und Decksleuchten, Ruder, ein zerborstenes Rettungsboot und eine Gondel, deren schwarzer Lack mit den Jahren stumpf geworden war. Netze, Leinen und Taue in allen Längen und Dicken wanden und ringelten sich wie Schlangennester. In einer Ecke türmten sich Stoffe, fadenscheinige Segel, zerschlissene Fahnen und mottenzerfressene Teppiche, die Farben ausgelaufen und verblasst. Auf wackligen Regalen lagen Fernrohre, Zirkel, Lineale, Sanduhren, alles in Staub gehüllt. An den Wänden lehnten übermenschengroße Nixen und Wassermänner. Sie waren einst in kräftigen Farben bemalt auf dem Bug venezianischer Schiffe durch die Wellen geritten.

Als sie genug geschnüffelt und gesehen hatten, stiegen die Brüder Seite an Seite und gespannt wie Flitzebögen die Treppe in das obere Stockwerk hinauf.

5

Karim lauschte. Leises Atmen, gleichmäßig und tief, verriet ihm, dass Luca schlief. So schnell würde seinen kleinen Bruder nichts wecken. Leise glitt Karim aus dem Bett und schlüpfte in Jeans und Sweatshirt. Hatte er alles dabei? Er prüfte seine Taschen. Ja, da waren sie: die kleine Taschenlampe und sein Taschenmesser, beides unverzichtbar, vor allem heute Nacht.

Die Schuhe in der Hand schlich er zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Kein Quietschen in den Angeln verriet ihn, dafür hatte er mit ein paar Tropfen Öl vorgesorgt. Jetzt musste er auf dem Weg nach unten nur noch die abgetretene Holztreppe hinter sich bringen, die gerne mit lautem Knarzen gegen die großen und kleinen Füße protestierte, die auf ihr tagein und tagaus hinaufliefen und hinuntersprangen. Karim hatte die Treppe regelrecht auskundschaftet und jede einzelne Stufe geprüft. An welcher Stelle knarrte sie, wenn man hinaufging, wo quietschte sie beim Hinuntergehen und wo konnte er auftreten, ohne dass sie sich lautstark beschwerte.

An der Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern hörte er gedämpftes Schnarchen. Bestimmt sein Vater. Obwohl?

Einmal darauf angesprochen, hatte sein Vater sich entrüstet: »Ich und Schnarchen. Nie! Aber deine Mutter …«

»Willst du etwa behaupten, ich würde schnarchen?« Empört hatte seine Mutter die Hände in die Hüften gestemmt. »Giovanni, das ist unerhört. Nimm das sofort zurück!«

»Na gut«, hatte der Vater gemurmelt. »Sie schnarcht nicht. Vielleicht ab und zu, ein winziges Bisschen … sozusagen unhörbar.« Dann war er lachend aus der Reichweite seiner Giulia geflohen, die hinter ihm herjagte.

Eltern! Manchmal waren sie so kindisch. In Gedanken an diese Episode lächelte Karim unbewusst, während er sich Stufe für Stufe die Treppe hinunter tastete. Die vorletzte überstieg er, denn egal, wo man auftrat, die quietschte immer. Unten angekommen hielt er einen Augenblick inne und lauschte. Alles blieb ruhig. Er schlüpfte durch die Haustür.

Die Via Garibaldi lag still im Licht der Straßenlampen, die warmgelbe Kreise auf das Pflaster malten. Die Häuser lehnten sich eng aneinander, die Fassaden dunkel, Türen und Fensterläden verschlossen. Nur hier und da brannte Licht in einem Zimmer.

Unbemerkt erreichte Karim den Eingang zum Park, dessen hohe Tore mit den goldbemalten Spitzen Tag und Nacht offenstanden, und lief die breite baumgesäumte Allee hinunter.

Nia schlief. Sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um Tagebuch zu schreiben, aber mittendrin waren ihr die Augen zugefallen. Das Notizheft lag auf ihrem Bauch und hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Der Kugelschreiber war unter das Bett gerollt. Dort lag er von einer Staubmaus umfangen.

Schon früh am Morgen war sie zu Luigi gelaufen. Karim und Maurizio hatten sich bereits in die Arbeit gestürzt. Und Fabio und seine Freunde waren kurz nach ihr durch die Ladentür gestürmt.

Jeden Roman, jeden Krimi, jeden Bildband und jedes Kinderbuch hatten sie in die Hände genommen. Was unversehrt war, wurde in die trocken gewischten Regale geräumt. Doch viele Bücher waren nicht mehr zu retten. Die Einbände aufgeweicht und wellig, die Buchseiten zusammengeklebt oder fleckig: Papierbrei. In Kisten und Kartons wurden sie an die Straße gestellt für die Müllabfuhr.

»Was soll mit den Büchern geschehen, die nur am Einband oder an den Ecken etwas feucht sind?« Die Frage kam von Fabio.

»Verkaufen kann ich sie nicht mehr. Also, wenn euch welche davon gefallen, nehmt sie mit nach Hause«, war Luigis Antwort. »Dann weiß ich wenigstens, dass sie in guten Händen sind.«

»Und die bei uns kein neues Zuhause finden, können wir doch verschenken.«

»Ein Bücherbasar, gute Idee, Nia.« Luigi schenkte ihr sein schiefes Lächeln, das sie so sehr an ihm liebte und welches an diesem Tag so selten war wie ein Sonnenstrahl bei Dauerregen.

Stunde um Stunde schufteten sie.

Der ein oder andere Magen knurrte schon vernehmlich, da stand Nonna in der Ladentür und neben ihr Nias beste Freundin Elena. Aus großen Körben packten sie belegte Brote aus und stellten Wasser, Cola und Wein auf den Tisch. Ihre Großmutter musste ein geheimes Vorratslager haben, wo sonst sollten Brot, Schinken und Käse herkommen, waren doch alle Geschäfte geschlossen.

Und als hätten sich die drei verabredet, schob sich Minuten später Karims Großvater Salvatore durch die Ladentür, eine Kiste mit Tomaten und Obst in den Händen. »Ich komme wohl genau richtig, der Wein ist ja schon eingeschenkt«, rief er lachend.

Die Stimmung änderte sich schlagartig. Ernst und Eifer, Anspannung und auch Traurigkeit hatten den Tag in wechselnde Schattierungen von Grau gefärbt. Nun spürten alle ein sonnenwarmes Gefühl von Gemeinschaft und Zusammenhalt. Mit jedem Bissen wurde die Stimmung lebhafter und bald flogen Scherze und Neckereien hin und her.

Was für ein Vogel war das? Ein schriller Pfiff, einmal, zweimal, dreimal. Dann ein Prasseln, als ob Steinchen auf Glas treffen. Wieder der schrille Pfiff.

Nia wachte auf.

Erneut prasselte ein Katapult von Steinen gegen die Fensterscheibe.

Karim. Ihre Verabredung! Schnell hüpfte sie aus dem Bett und steckte den Kopf aus dem Fenster.

Eine leise, körperlose Stimme rief zu ihr hinauf: »Na, endlich, du Schlafmütze. Wie lange soll ich mir noch die Beine in den Bauch stehen?«

Sie schlüpfte in ihre Sneakers, öffnete das Fenster und stieg auf das Fensterbrett. Mit einer Hand hielt sie sich am offenen Fensterrahmen fest und schob einen Arm und ein Bein auf einen dicken Ast, der sich ihr entgegenstreckte. Bei Nias Geburt war die Platane ein Winzling gewesen. Inzwischen war sie zu einem stattlichen hohen Baum herangewachsen und bedrängte die Rückseite des Hauses mit ihrer ausladenden Blätterkrone.

Als sie sicheren Halt gefunden hatte, zog Nia sich mit dem ganzen Körper auf den Ast. Dann hangelte sie sich geschickt nach unten und mit einem Sprung überwand sie die letzten eineinhalb Meter bis zum Boden. Sie kletterte über den Gartenzaun und da stand auch schon Karim vor ihr.

»Schläft deine Nonna?«, flüsterte er.

»Ja, tief und fest. Was ist mit dem Boot?«

»Abfahrbereit.«

»Weiß dein Großvater, dass du sein Boot nimmst und auch noch nachts?«

»Keine Sorge, Nonno hat nichts dagegen. Seine Worte: »In Venedig kann man nicht früh genug lernen, mit einem Boot umzugehen. Aber lass dich nicht von der Polizei erwischen. Deine Mutter würde mich wie eine Esskastanie über dem offenen Feuer rösten.«

Nia kicherte. »Das hat er gesagt?«

»Hat er. Er liebt meine Mutter abgöttisch, aber er fürchtet auch ihr Temperament.«

Karim startete den Motor, Nia löste die Leinen und dann tuckerte das Boot langsam den schmalen Kanal entlang. Jetzt, wo sie nichts zu tun hatte und die Häuser rechts und links an ihr vorbeizogen, spürte Nia, wie aufgeregt sie war. Die Härchen in ihrem Nacken kribbelten und ein kurzer kühler Schauer strich ihr über den Rücken. Was würden sie in dieser Nacht wohl erleben? Hoffentlich wachte Nonna nicht auf und schaute in ihr Zimmer.

Sie hatte mit Karim schon viele Streifzüge durch Castello und den angrenzenden Stadtbezirk Cannaregio unternommen. Allerdings immer nur bei Tag.

Wie von einem starken Magneten angezogen, schlichen sie bei ihren Erkundungen in verlassene, abbruchreife Häuser, kletterten über Mauern in die Hinterhöfe stillgelegter Handwerksbetriebe und durchstreiften das Niemandsland am ehemaligen Gasometer.

In Nias Fantasie waren die verrosteten Stahlgerüste des Gasometers vergessene Kronen aus Eisen. Vom Himmel in seidenes Blau gekleidet und von der Sonne mit goldenen Funken verziert, warteten sie Jahr für Jahr darauf, eines Tages wieder die Häupter von Riesenköniginnen und Königen zu krönen.