Stadt der Träume - Kate O'Hara - E-Book
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Stadt der Träume E-Book

Kate O'Hara

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Beschreibung

Die große Familien-Saga aus der spannendsten Epoche Kaliforniens: San Francisco und die Waterfront – die berüchtigte Barbary Coast mit ihren Dutzenden Landungsbrücken, Werften, Fabriken und Lagerhallen – sind Lebensmittelpunkt und Lebensader der Familie Caldwell und ihrer Reederei. Hier ringt Harriet Caldwell, die älteste Tochter des Firmengründers, mit aller Macht um die Vorherrschaft im Familien-Unternehmen. Hier begegnet sie dem jungen Abenteurer Frank Maynard, der ihr Leben mitbestimmen wird. Hier werden Liebe und Hass, Ehrgeiz, Skrupellosigkeit und Opferbereitschaft zum Schicksal einer Dynastie. Und hier werden alle über sich hinauswachsen müssen, als 1906 ein schweres Erdbeben große Teile ihrer geliebten Heimat San Francisco zerstört. »Stadt der Träume« ist der erste Teil der Caldwell-Saga über das Schicksal einer Reederei-Familie im Kalifornien der Jahre 1898 bis 1926. Atmosphärisch dicht und opulent erzählt Kate O'Hara vom Aufstieg der Familie, von ihren Kämpfen um Geld, Macht und nicht zuletzt persönliches Glück. An der Seite von Harriet Caldwell erleben wir skrupellosen Verrat und eine große Liebe sowie die wechselvolle Geschichte San Franciscos, vom großen Erdbeben, als die Stadt vier Tage und Nächte in Flammen stand, bis zur Planung der berühmten Golden Gate Bridge.

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Seitenzahl: 532

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Kate O’Hara

Stadt der Träume

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

San Francisco und die Waterfront – die berüchtigte Barbary Coast mit ihren Dutzenden Landungsbrücken, Werften, Fabriken und Lagerhallen – sind Lebensmittelpunkt und Lebensader der Familie Caldwell und ihrer Reederei. Hier ringt Harriet Caldwell, die älteste Tochter des Firmengründers, mit aller Macht um die Vorherrschaft im Familien-Unternehmen. Hier begegnet sie dem jungen Abenteurer Frank Maynard, der ihr Leben mitbestimmen wird. Hier werden Liebe und Hass, Ehrgeiz, Skrupellosigkeit und Opferbereitschaft zum Schicksal einer Dynastie. Und hier werden alle über sich hinauswachsen müssen, als 1906 ein schweres Erdbeben große Teile ihrer geliebten Heimat San Francisco zerstört.

»Stadt der Träume« ist der erste Teil der Caldwell-Saga über das Schicksal einer Reederei-Familie im Kalifornien der Jahre 1898 bis 1926.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelZweiter Teil25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. KapitelEpilog
[home]

Für H in Liebe.

You are the wind beneath my wings!

 

Und für James Glenville,

mit dem in London alles begann.

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Dennoch

 

Es lehrt mich das Leben

darin keine Dinge

die qualvoller sind

als Liebe

 

die brennenden Schmerzen

der lähmende Kummer

die ersticken erdrücken

mein Herz

 

mir endlos verwehren

befreiend zu atmen

mich hindern wie Fesseln

am Gehen

 

doch müsst ich entscheiden

ganz ohne zu leben

so wählte ich doch

die Liebe

 

Lukas Emmanuel Wiemer, Lyrische Abenteuer II

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Prolog

1898

Nichts liebte Harriet Caldwell so sehr wie den lärmenden, quirligen Hafen, vor allem den sichelförmigen Bogen der zahllosen Landungsbrücken von North Beach. Wie die Füße eines Tausendfüßlers ragten die vorspringenden Piers der Waterfront in die kalten Fluten der San Francisco Bay. Der Hafen war ein Ort, dessen Magie mit Händen zu greifen war und der alle Sinne betörte. Harriet ergriff jede Gelegenheit, ihren Vater in sein Kontor am Ende der Vallejo Street zu begleiten, wo, nur einen Steinwurf entfernt, die Schiffe der Caldwell Shipping Company an der gleichnamigen Pier anlegten.

Evelyn Caldwell missbilligte die Ausflüge in die Niederungen der gewöhnlichen Leute, wie sie die Hafenbesuche ihrer Tochter zu nennen pflegte, aufs Schärfste. Eine solch widernatürliche Neigung, ganz zu schweigen von der Verfehlung, ihr immer aufs Neue nachzugeben, schicke sich nicht für eine junge Dame von Stand und werde noch ihren guten Ruf gefährden.

Zum Glück sah der Vater das völlig anders und ließ sich durch die Vorhaltungen der Mutter nicht davon abhalten, seine Tochter gelegentlich mitzunehmen. Zwar hegte Harriet seit Langem den Verdacht, dass es ihm dabei weniger darum ging, ihr einen Herzenswunsch zu erfüllen, als vielmehr darum, der Mutter ihre Grenzen aufzuzeigen, aber das änderte nichts daran, dass sie ihm dankbar war und jede Minute mit ihm an der Waterfront genoss. Es machte ihr auch nichts aus, dass er ihre Gegenwart im Kontor manchmal völlig zu vergessen schien. Vielleicht nahm er sie ja doch wahr, irgendwie im Hintergrund, und sah nur keinen Grund, ihretwegen seine Arbeit zu unterbrechen. So genau wusste sie es nicht, und letztlich war es auch egal, solange sie nur in seiner Nähe sein durfte. Deshalb hütete sie sich, ihn anzusprechen oder sonst wie Aufmerksamkeit zu erregen, und so konnte es geschehen, dass sie stundenlang hinter seinem schweren Schreibtisch mit den messingbeschlagenen Kanten in der Ecke saß, während er Papiere studierte, mit kratzender Feder Eintragungen in dicke ledergebundene Rechnungsbücher vornahm und mit Cecil Slocum, dem Prokuristen und strengen Herrscher über die Buchhaltergehilfen an ihren Stehpulten vorn in der Schreibstube, geschäftliche Belange besprach. Für diese besonderen Stunden hatte sie unter dem Ohrensessel aus seegrünem Leder ein Buch mit spannenden Geschichten versteckt.

An diesem frühen Aprilmorgen jedoch hielt es Harriet nicht im Kontor, auch ihr Buch lockte sie nicht. Wobei sie nicht wusste, was ihr mehr zusetzte: die bedrückende Gewissheit, dass sie schon in wenigen Wochen in ein vornehmes Mädchenpensionat an der Ostküste verbannt sein würde, die Wolken beißenden Zigarrenrauchs, die unter den rußgeschwärzten Deckenbalken durch den Raum waberten, oder die haarsträubenden Anekdoten ihres Vaters. Er hatte die drei Eigner eines zum Verkauf stehenden Dreimasters zu Besuch, was ihn veranlasst hatte, eine Flasche Kognak zu entkorken, die Kiste mit seinen guten Zigarren herumgehen zu lassen und Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben zum Besten zu geben. Ganz in seinem Element, schwelgte er in Erinnerungen an jene Zeit, als er mit seinem ersten Schiff, dem Schoner Sansibar, die Meere befahren und sich auf manche riskante Unternehmung eingelassen hatte. Und Onkel Henry, achtzehn Jahre jünger als der Vater und damals als junger Bursche an seiner Seite, gab fröhlich die Stichworte. Der Vater wusste auch nach fast zwei Jahrzehnten an Land noch Seemannsgarn zu spinnen wie kaum ein anderer.

Harriet hatte von den Abenteuern, die der Vater und Onkel Henry in der Südsee und anderswo bestanden hatten, in den dreizehneinhalb Jahren ihres Lebens schon zu oft gehört, um ihnen noch etwas abgewinnen zu können. Zudem wollte sie endlich den Clipper namens Davenport sehen, der an der Pacific Street Pier vertäut lag. Diesen schnittigen Dreimaster wollte der Vater kaufen. Die fünf Schoner und zwei Raddampfer, aus denen die recht betagte Flotte der Caldwell Shipping Company zurzeit bestand, waren vorwiegend im Küstenhandel eingesetzt. Wobei die Raddampfer ausschließlich den Sacramento, den American und den San Joaquin River befuhren, die schiffbaren Flüsse des Hinterlands. Mit dem Clipper, der aus einer angesehenen Werft in Maine stammte und ein echter Downeaster mit mächtigem Frachtraum war, wollten der Vater und Onkel Henry nun endlich im großen Stil in den lukrativen Überseehandel mit Südamerika und Australien einsteigen. Nach dem Kauf sollte er auf Samoa umgetauft werden, denn die Namen aller Schiffe der Caldwell Shipping Company fingen nach alter Tradition mit einem S an und trugen den Namen einer Insel.

Niemand achtete auf Harriet, als sie sich durch die Hintertür aus dem verräucherten Kontor schlich. Dort, in der Seitengasse, stand die väterliche Kutsche an dem Eisenring festgebunden, der oben an der Ecke zum Pier aus dem Mauerwerk der Hauswand ragte. Magnus Magnussen, ihr schwedischer Kutscher, hatte der Rotfuchsstute den Hafersack vors Maul gehängt. Er selbst wartete drüben in »Callahan’s Tavern« darauf, dass seine Dienste wieder gebraucht wurden. Vermutlich tunkte er seinen Walrossbart mittlerweile schon in den Schaum von seinem zweiten Humpen Bier.

Fahl milchige Nebelschleier trieben träge durch die Sackgasse, die nur wenige Meter hinter ihr vor den beiden Backstein-Lagerhäusern der Caldwell Shipping Company endete. Der Nebel fühlte sich an wie feuchter Atem auf dem Gesicht. Augenblicklich fiel Harriets Hoffnung, freie Sicht auf den Dreimaster unten am Pier zu haben, in sich zusammen wie Hefeteig in kalter Zugluft. Die beschlagenen Fenster des Kontors und das beständige dumpfe Tuten der Nebelhörner, das ihr wie ein Chor verlorener Seelen vorkam, hatten also doch nicht getrogen!

Enttäuscht blieb sie oben an der Ecke stehen, neben der Rotfuchsstute Becky, deren Kiefer träge Hafer zermahlten, und überlegte, ob sie sich auf die Pier hinauswagen sollte. Was gefährlich werden konnte, denn bei dem wallenden Nebel, der zudem dichter zu werden schien, vermochte sie keine zehn Schritte weit zu sehen. Statt wie an klaren Tagen in beiden Richtungen der Waterfront einen Wald aus Masten, Schornsteinen und Dampfkränen sowie ein manchmal geradezu ameisenhaftes Menschengewimmel vor Augen zu haben, sah sie jetzt nur hier ein Stück Bugspriet, dort einen halben Schornstein und an anderer Stelle den erstarrten Arm eines Ladebaums verloren aus der Nebelsuppe ragen.

Unschlüssig blickte sie in das milchige Treiben und rang mit sich, ob sie sich wirklich trauen sollte, als plötzlich wütendes Geschrei zu hören war. Es kam aus der Richtung der südlich liegenden Landungsbrücken, von der Broadway oder der Pacific Pier. Der Nebel dämpfte alle Geräusche wie eine Wand aus Watte, deshalb verstand sie zunächst nicht, was die rauen Männerstimmen riefen. Doch sie wurden schnell lauter, kamen näher, und dann war ihr zorniges Gebrüll selbst im Nebel nicht mehr misszuverstehen.

»Verdammte Austernräuber!«

»Wir kriegen euch, ihr dreckiges Pack!«

»Zum Teufel, haltet die Austernpiraten!«

»Ich mach euch fertig! Ihr plündert nicht noch einmal unsere Austernbänke, darauf könnt ihr Gift nehmen!«

Kaum hatte Harriet begriffen, wem die Männer auf den Fersen waren, tauchten vor ihr zwei Gestalten aus den Nebelschwaden auf. Junge abgerissene Burschen in fadenscheinigen halblangen Hosen, mit einem Strick als Gürtel und nacktem, braun gebranntem Oberkörper. Sie mochten sechzehn, siebzehn sein. Der eine hatte dunkles Haar, kraus wie Putzwolle, dem anderen quoll eine wild zerzauste weizenblonde Mähne unter der Schirmmütze aus bunten Flicken hervor. Der Krauskopf humpelte auf dem rechten Bein, blieb wenige Schritte vor der Gasse stehen und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Knöchel. Beide keuchten vor Anstrengung. Ein hastiger Wortwechsel entspann sich zwischen ihnen.

»Los, weiter, Lenny!«, drängte der Bursche mit der Flickenkappe und packte den Humpelnden am Arm.

»Verdammt, ich kann nicht mehr. Es tut höllisch weh!«

»Warte, bis uns die Fischer erwischen!«

»Mann, ich kann wirklich nicht, Frankie! Sieh zu, dass wenigstens du mit heiler Haut davonkommst!«

»Spinnst du? Kommt nicht infrage!«

Inzwischen polterten schwere Stiefel bedrohlich laut über die dicken Planken. Die Verfolger waren nahe. In ein paar Sekunden war das Schicksal der beiden besiegelt.

Harriet überlegte nicht lange. »Hey, ihr da!«, machte sie sich mit einem lauten Flüstern bemerkbar. »Hier in der Kutsche könnt ihr euch verstecken!«

Die beiden jungen Männer fuhren herum, ergriffen die Chance auf Rettung ohne Zögern, kamen zu ihr in die Gasse gelaufen und sprangen in die Kutsche. Selbst Lenny schaffte die wenigen Schritte in Windeseile, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen.

»Los, runter mit euch! Auf den Boden!«, raunte Harriet, folgte ihnen geschwind und dachte noch früh genug daran, den Kutschschlag nicht mit einem lauten Knall zu schließen, sondern leise ins Schloss zu ziehen. Sie rutschte auf die Bank in Fahrtrichtung, stellte ihre Füße, die in geschnürten Stiefeletten steckten, auf den Rücken von einem der Austernpiraten, schob eiligst das Fenster im Kutschschlag nach unten und beugte sich scheinbar neugierig hinaus.

Keine Sekunde zu früh.

Am Eingang zur Gasse erschienen die Verfolger der Austernräuber. Vier atemlose kräftige Fischer in derbem Zeug und klobigen Stiefeln, die ihnen die Verfolgung nicht leichter gemacht hatten. Sie hielten Prügel in den schwieligen Fäusten, und das Verlangen nach blutiger Gewalt sprang ihnen förmlich aus den Augen.

»Verdammt noch mal! Ich habe sie doch gerade noch gesehen!«, brüllte einer der Männer.

»Wenn Sie die beiden Galgenstricke meinen, die sind hier runter, Mister!«, rief Harriet ihnen zu und deutete in Richtung der Lagerhäuser. »Dahinten gibt es eine schmale Brandgasse zwischen den Gebäuden. Der eine hat bös gehumpelt und richtig gejammert. Der kommt bestimmt nicht mehr weit, den kriegen Sie noch!«

Die erbosten Fischer stießen ein hastiges Danke hervor, rannten die Gasse hinunter und verschwanden einer nach dem anderen in dem Durchgang, der gerade so breit war wie das Kreuz eines kräftigen Mannes.

»So, die Luft ist rein!« Harriet drückte den Schlag auf und kletterte über die am Boden kauernden Gestalten hinweg aus der Kutsche. Das prickelnde Vergnügen, die Fischer an der Nase herumgeführt und etwas ganz und gar Unschickliches, ja Verbotenes getan zu haben, verflüchtigte sich schnell. Plötzlich wollte sie nichts mehr, als dass die beiden sich so schnell wie möglich davonmachten. Nicht auszudenken, was geschah, wenn Magnus sie mit diesen abgerissenen Dieben in der Kutsche erwischte, ganz zu schweigen von ihrem Vater und Onkel Henry! Verrückt, auf was sie sich da spontan eingelassen hatte! Was war bloß in sie gefahren? Mit Enttäuschung, weil sie nun doch keinen Blick auf die Davenport hatte werfen können, oder purer Langeweile war ihr Verhalten wohl kaum zu entschuldigen.

Die Austernpiraten kletterten aus der Kutsche. »Mann, das war Rettung in höchster Not! Dafür hast du was gut bei mir, Süße«, sagte der Krauskopf mit verlegenem Grinsen. »Aber das mit den Galgenstricken hättest du dir sparen können, okay? Und von wegen ich habe gejammert! Da musst du dich verhört haben.«

»Die Süße kannst du dir sonst wohin stecken, Lenny Wer-auch-immer!«, erwiderte Harriet scharf, was den Burschen auflachen ließ. »Und ob du gejammert hast! Und jetzt verschwindet!«

Lenny verzog bloß das Gesicht und humpelte davon.

»Heilige Waschküche, wenn du das nicht geschickt eingefädelt hast, will ich nicht länger Frank heißen!«, sagte der andere, der umwerfend blaue Augen hatte, bewundernd und tippte mit zwei Fingern an den Schirm seiner Mütze. Dabei fiel Harriet eine dünne, sichelförmige Narbe auf, die links an seiner Stirn unter dem Haaransatz hervortrat und daumenlang in Richtung Ohr lief. »Du hast echt Mumm, Kleine! Tausend Dank!« Damit folgte er seinem Komplizen und war schon an der Ecke, als er abrupt stehen blieb, sich umdrehte und wieder auf sie zukam.

»Was ist? Hast du was vergessen?«, fragte Harriet ungehalten und schaute unwillkürlich ins Innere der Kutsche, ob ihm da vielleicht etwas aus der schäbigen Hose gefallen war.

»Ja, das hier!«

Und bevor Harriet wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr Gesicht in beide Hände genommen und ihr einen Kuss auf den Mund gedrückt. Die Berührung seiner warmen Lippen, sanft und innig zugleich, wirkte wie ein Stromschlag, der jäh durch ihren Körper jagte.

»Wenn du das nicht verdient hast, dann weiß ich auch nicht!« Er lachte sie an mit seinen blauen Augen, zog an einem ihrer Zöpfe und rannte davon.

Sprachlos, empört über die Unverschämtheit, die sich dieser dahergelaufene Kerl herausgenommen hatte, und zugleich verstört von der Wirkung des Kusses, taumelte sie einen Schritt zurück und schlug die Hand vor den Mund, was jedoch nicht mehr viel nützte. Kurz suchte sie nach einer passenden Beschimpfung, die sie ihm nachrufen konnte, doch noch bevor sie sich halbwegs gefasst hatte, war er schon um die Ecke und im Nebel verschwunden.

Ein kurzes Zittern ging durch den Rumpf des Raddampfers, als sich die beiden seitlichen Schaufelräder in Bewegung setzten. Laut rauschte das schäumende Wasser durch die mächtigen Radkästen. Schwerfällig schob sich die Eureka aus dem Hafen von Sausalito, doch dann nahm sie rasch Fahrt auf. Bald pflügte die Fähre kraftvoll durch die dunklen Fluten der Bay und nahm unter bewölktem Himmel Kurs auf das nur wenige Meilen entfernte Lichtermeer, mit dem sich die hügelige Skyline von San Francisco bei Einbruch der Dunkelheit schmückte. Eine frische Brise war aufgekommen und setzte den Wellen kleine weiße Kämme auf.

Arthur Caldwell stand, die Beine leicht gespreizt und die linke Hand auf dem Rücken, in Lee auf dem hell erleuchteten, aber fast menschenleeren Oberdeck und rauchte eine Zigarre. Sobald er Schiffsplanken unter den Füßen hatte, brauchte er freien Himmel über sich und unbehinderten Blick auf das Meer, auch wenn es in diesem Fall nur die San Francisco Bay war. Und bei diesem verfluchten Wetter, das so unverhofft umgeschlagen war, hielt es ihn erst recht nicht unter Deck!

Mit seinen bald sechzig Jahren war Arthur Caldwell durchaus noch eine stattliche und respektgebietende Erscheinung. Er hielt sich gerade wie ein Mastbaum und straffte die immer noch breiten Schultern wie ein Gardesoldat. Das schwarze, leicht gewellte Haar hatte nichts von seiner Fülle verloren, wenn es auch mittlerweile von einigem Grau durchzogen war. Was ebenso für seinen stets sorgfältig gestutzten Vollbart galt, der ein kantiges Gesicht mit energischen Zügen und klaren Augen einrahmte.

Besorgt blickte der Reeder hinüber nach Alcatraz, wo der aufziehende Nebel schon nach den Gebäuden der zum Militärgefängnis umgebauten Zitadelle griff. Die felsige Insel lag noch eine gute Meile voraus, aber so wie er die Lage einschätzte, würden die herantreibenden Nebelbänke sie verhüllen, noch bevor die Eureka sie an Steuerbord passiert hatte.

Arthur wünschte, er hätte im Haus seiner Schwester früher und energischer zum Aufbruch gedrängt. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass sie das andere Ufer noch erreichten, bevor jeglicher Schiffsverkehr zum Erliegen kam. Lautlos und geisterhaft waren die Nebelschwaden über den dunklen Pazifik herangejagt, kaum dass die Caldwells an Bord der Fähre gegangen waren, hatten die vorspringenden Landzungen des Golden Gate überrollt und breiteten sich nun in Windeseile in der weitläufigen Bay aus. Schon setzten die ersten Nebelhörner ein.

Harriet hatte, als sie zu ihrem Vater auf das zugige Vorderdeck trat, weder Augen für den Nebel noch Ohren für das vielstimmige, warnende Tuten. Sie wurde von ganz anderen Sorgen gequält. Mechanisch zog sie den wollwarmen Umhang fester um ihre Schultern. Wohlweislich hatte sie ihn zu dem Besuch bei Tante Dorothy in Sausalito mitgenommen. Es war Anfang Mai, aber selbst im Sommer konnte man an der Bay innerhalb eines Tages alle vier Jahreszeiten erleben.

Es war spät geworden bei Tante Dorothy, sogar reichlich spät. Eigentlich hatten sie bei Einbruch der Dämmerung schon wieder in San Francisco sein sollen, in ihrem Haus am Telegraph Hill, aber Dorothy, seit Jahren verwitwet, ohne eigene Kinder und in letzter Zeit gesundheitlich in bedenklicher Verfassung, hatte sie einfach nicht gehen lassen wollen. Wie hatte sie geweint, als sie erfuhr, dass sie ihre Nichte nun so lange nicht mehr sehen würde! Fast hätte Harriet mit ihr geweint. Und zum Weinen war ihr noch immer zumute.

Kurz rang sie mit sich, dann fasste sie sich ein Herz. Einmal, und waren die Chancen auch noch so gering, musste sie noch versuchen, ihren Vater anderen Sinnes werden zu lassen. Ihr blieben keine drei Tage, und in der Zeit würde sich zu Hause kaum noch einmal eine Gelegenheit ergeben, ihn so wie jetzt ganz für sich zu haben. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass die Mutter wegen ihrer Migräne nicht mit zu Tante Dorothy gekommen war. Abgesehen davon, dass sie auf deren Gesellschaft noch nie etwas gegeben hatte.

Sie räusperte sich und legte ihrem Vater in einer bittenden Geste die Hand auf den Unterarm. »Vater, muss es denn wirklich sein, dass ich …« Weiter kam sie nicht.

»Fang nicht wieder davon an, Harriet!«, rief er unwirsch. »Die Angelegenheit ist entschieden! Du gehst nach Boston auf dieses Pensionat, so wie es seit Jahr und Tag ausgemacht ist. Ich habe es deiner Mutter versprochen. Sie will, dass du die bestmögliche Erziehung erhältst, und das englische Institut von dieser Madame Worchester genießt nun mal einen exzellenten Ruf. Eines Tages wirst du stolz darauf sein, die Ausbildung dort absolviert und …« Er zögerte kurz und zuckte dann wie entschuldigend mit den Achseln, als wiederhole er nur etwas, und das auch noch ohne große Überzeugung. »… nun ja, und dort deinen gesellschaftlichen Schliff bekommen zu haben.«

Harriet verzog das Gesicht, als habe sie in eine Zitrone gebissen. Das mit dem »englischen Institut« war eine fixe Idee ihrer Mutter, die eine geborene Chadwick war, in England geboren und die ersten neun Jahre ihres Lebens in London aufgezogen. In ihren Augen war Kalifornien, das sein stürmisches Wachstum dem Goldrausch von 1848/49 und den späteren Ölfunden im Süden verdankte, noch immer überwiegend von halben Barbaren bevölkert. Für sie war die englische Kultur das Maß aller Dinge. Hörte man sie darüber reden, konnte man meinen, ihre Familie habe im huldvollen Schatten des königlichen Hofes gelebt. Wobei sich für Harriet oft die Frage stellte, die keiner auszusprechen wagte: warum dann die Chadwicks London so Hals über Kopf verlassen und sich in Boston niedergelassen hatten. Eine katastrophal verlaufene Börsenspekulation und einige ungedeckte Schecks waren dafür wohl ausschlaggebend gewesen, jedenfalls hatte Harriet das einer Bemerkung ihres Vaters entnommen, die sie aufgeschnappt hatte, als ihre Eltern sich einmal heftig gestritten und sich allein gewähnt hatten. Warum die Mutter bei ihrer Verherrlichung der englischen Kultur und Gesellschaft ausgerechnet einen Mann von der Westküste, also in ihren Augen einen halben Barbaren, geheiratet hatte, ließ sich schon leichter erklären. Jedenfalls hatte der Vater in jenem Streit der Mutter vorgehalten, dass er die mit Abstand beste Partie gewesen sei, die sich ihr und ihrer Familie geboten habe. Und bevor er aus dem Zimmer gestürmt war, hatte er noch gerufen, seiner Erinnerung nach hätten die Chadwicks sich damals nicht im Mindesten daran gestoßen, dass er all die unbezahlten Rechnungen in Boston nicht mit englischen Pfund, sondern mit harten amerikanischen Golddollar beglichen habe.

»Aber warum Boston? Warum ausgerechnet ein Institut an der Ostküste?«, beklagte sich Harriet. »Weißt du, wie weit das ist? Bestimmt fünftausend Meilen!«

»Ach was, es sind gerade mal dreieinhalbtausend«, erwiderte er und blickte erneut nach Alcatraz hinüber. Inzwischen befanden sie sich auf gleicher Höhe mit der Insel, deren massiger, bebauter Felsbuckel hinter den Nebelschwanden kaum noch zu sehen war. »Und mit der Southern Pacific bist du bequem in gerade mal viereinhalb Tagen in Boston. Früher hat so eine Reise über den Kontinent viele Wochen gedauert! Ganz zu schweigen von einer Schiffsreise um Kap Horn! Da war man Monate unterwegs und setzte zudem noch sein Leben aufs Spiel!«

Was für ein Trost!

»Jonathan musste aber nicht auf so ein Internat, wo einem die feinen englischen Manieren beigebracht werden! Damit ist er wohl schon zur Welt gekommen«, bemerkte Harriet bissig und kämpfte gegen die Tränen an. Jonathan war ihr sechs Jahre älterer Bruder, der seit letztem Jahr drüben in Berkeley studierte. Obwohl er nach allem, was er ihr bei seinen Stippvisiten zu Hause erzählte, offenbar viel öfter auf dem Tennisplatz, der Jagd, einer Regatta oder einer Bergtour in der Sierra anzutreffen war als in seinen betriebswirtschaftlichen Vorlesungen. Aber als Stammhalter und Mutters angehimmelter Goldjunge brauchte er, egal was er anstellte oder unterließ, keine Vorhaltungen, geschweige denn eine Verbannung ans andere Ende des Kontinents zu befürchten. Dagegen konnte der Nachzügler in der Familie, ihr kleiner Bruder Elliot, gerade erst vier geworden, ein stiller Träumer und das genaue Gegenteil von Jonathan, mit dieser grenzenlosen Nachsicht nicht rechnen. Das war für Harriet schon jetzt offensichtlich.

Arthur lachte kurz auf. »Nein, dagegen spricht wohl einiges, und dem Himmel sei Dank dafür! Aber das ist ja auch was anderes. Er ist nun mal ein Mann und wird eines Tages die Firma übernehmen«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Und du sollst einmal die Wahl haben und eine blendende Partie machen, weshalb deine Mutter …« Er brach ab, als das Tuten eines Nebelhorns von einem Augenblick auf den anderen seinen Klang veränderte. Eben noch hatte es sich angehört wie aus einiger Ferne, und nun, mitten im gedehnten Warnton, schien es plötzlich erschreckend nahe, so als sei das dazugehörige Schiff binnen Sekunden aus Nordwest herangejagt. In Wirklichkeit hatte die lang gestreckte Landmasse der Insel das Tuten eines Dampfers, der Alcatraz zur gleichen Zeit auf der Westseite passierte, stark gedämpft, wodurch der täuschende Eindruck von Ferne entstanden war.

»Gütiger Gott!«, rief Arthur und ließ vor Schreck die Zigarre fallen, als die Eureka aus dem Windschatten der Insel glitt und im selben Augenblick an Steuerbord der schwarze, hoch aufragende Keil eines Frachters mit zwei mächtigen Schornsteinen durch die Nebelbank schnitt. Mit schäumender Bugwelle lief der stählerne Koloss auf Kollisionskurs mit der Fähre.

Auf beiden Schiffen jaulten die Sirenen auf. Der Kapitän der Eureka warf das Ruder herum, sodass sich der Raddampfer scharf auf die Backbordseite legte. Aus dem Maschinenraum kam ein schrilles Kreischen.

Arthur packte seine Tochter mit beiden Armen, taumelte mit ihr von der Reling weg und rief ihr etwas zu, doch irgendwie erreichten seine Worte sie nicht. Sie hörte nur das durchdringende Schrillen und Heulen der Dampfsirenen, das Kreischen der Maschine, das hohle Klappern des Schaufelrads an Steuerbord, das sich bei der heftigen Neigung nach Backbord aus dem Wasser hob und die feuchte Luft peitschte – und sah entsetzt, wie der massige Bug des Frachters, von Nebelfetzen umwirbelt, direkt auf sie zuhielt.

Einige Herzschläge lang sah es so aus, als hätte auch der Kapitän des Frachters das Steuerruder noch früh genug herumgeworfen, um die Kollision zu verhindern. Es sah aus, als werde er haarscharf an der Eureka vorbeischrammen und sie mit einem Scheuern von Bordwand an Bordwand glimpflich davonkommen lassen. Aber es sollte nicht sein. Im letzten Moment rammte der Frachter die Fähre doch noch am Bug, ließ an Steuerbord die Reling splittern und drückte ein Stück Bordwand oberhalb der Wasserlinie ein. Dann rauschte er vorbei und ließ, relativ unbeschadet, die Fähre in seinem Heckwasser tanzen.

So verhältnismäßig gering der Schaden nach der kurzen Kollision auch war, der Stoß hatte gereicht, um Harriet und ihren Vater auf dem krängenden Deck rücklings gegen die Backbordreling zu schleudern. Der Aufprall jagte Arthur einen stechenden Schmerz durch Rücken, Schultern und Arme. Noch im Stürzen suchte er verzweifelt, Harriet festzuhalten, doch sie wurde ihm wie von einer unsichtbaren Gewalt aus den Armen gerissen und in die See katapultiert.

Die pechschwarze Kälte, die Harriet jäh umschloss und in die Tiefe zerrte, drang ihr ins Mark wie ein scharfer Dorn, der zugleich wie Feuer brannte. Schwer wie Blei hing der Wollumhang an ihr und wurde zum Komplizen des eisigen Wassertods, der sie tief unten in der schlammigen ewigen Kälte des Grundes haben wollte.

Panik erfasste sie und raubte ihr für einen Moment jeden klaren Gedanken. Sie wollte schreien, vermochte dem womöglich tödlichen Impuls jedoch zu widerstehen. Dann übertönte eine innere Stimme den Tumult der Todesangst: Ich kann schwimmen! Ich werde nicht ertrinken! Ich muss nur die Ruhe bewahren und nach oben kommen!

Zum Glück hatte sie schon mit sechs Jahren schwimmen gelernt, am Pazifik, in der prächtigen, mit Glaskuppeln überdachten Sutro-Badeanstalt bei Land’s End. Jonathan hatte hartnäckig und unnachgiebig darauf bestanden, sonst hätte er sie nicht mit zum Segeln genommen.

Statt sich der Panik auszuliefern, zerrte sie sich das Cape vom Leib, trat wild um sich und streckte sich der rettenden Oberfläche entgegen. Gottlob hatte sie bei dem Sturz ins Wasser ihre Schuhe verloren. Das Kleid und die Unterröcke, mit Wasser vollgesogen, machten ihr es schon schwer genug, sich nach oben zu kämpfen. Sie musste alle Kraft zusammennehmen, um dem tödlichen Sog in die Tiefe zu entkommen. Wäre jetzt Winter gewesen und sie hätte mit zugeknöpftem Mantel und festen Schnürstiefeln an Deck gestanden, wäre sie wohl verloren gewesen.

Eine Welle schwappte ihr ins Gesicht, als sie auftauchte und zu früh den Mund öffnete, um gierig nach Luft zu schnappen. Sie schluckte ordentlich Wasser, bekam einige Spritzer in die Luftröhre und glaubte erneut, ersticken zu müssen. Würgend, hustend und wie wild spuckend trat sie auf der Stelle Wasser. Ihre Augen brannten und tränten vom Salzwasser, während sie sich hin und her warf und nach der Fähre suchte. Sirenengeheul, gellende Rufe und einige wüste Verwünschungen schallten über das Wasser. Endlich entdeckte sie durch den Tränenschleier die Lichter des Raddampfers und den nachtschwarzen Umriss des Frachters, der sich vor die beleuchtete Waterfront von San Francisco schob und seine Fahrt in Richtung Oakland unbeirrt fortzusetzen schien, als habe der Zusammenstoß nicht stattgefunden oder als sei er keiner weiteren Beachtung wert.

Und dasselbe tat die Eureka!

Die Fähre drehte nicht bei, schlug keinen scharfen Bogen und ließ auch den Scheinwerfer auf dem Dach des Ruderhauses nicht kreisen, um nach ihr zu suchen! O Gott, hatte denn niemand bemerkt, dass sie über Bord gegangen war? Und ihr Vater? Lag er vielleicht bewusstlos an Deck, oder war er womöglich auch in die See geschleudert worden? Was, wenn niemand an Bord ihren Sturz bemerkt hatte?

Wieder stieg panische Angst in ihr auf. Die Fähre entfernte sich immer weiter, die Lichter wurden kleiner und kleiner. Harriet schrie um Hilfe und schwamm der Eureka, deren Umrisse immer mehr zusammenschrumpften, nach. Bis ans Ufer war es noch gut eine Meile. Zu weit, selbst für eine gute Schwimmerin. Mit all den Kleidern am Leib und bei dem eisigen Wasser schaffte sie das niemals. Ihre Hände und Arme waren schon jetzt erschreckend taub.

Harriet schrie und schrie in Todesangst, in grenzenloser Verzweiflung und mit aller Kraft ihrer Lungen. Wild klatschten ihre Arme auf das Wasser.

Den dunkelgrauen Schatten, der schräg hinter ihr aus der Dunkelheit heranschoss, sah sie nicht. Doch dann hörte sie kehlige Rufe, die Aufforderung, doch um Gottes willen Ruhe zu bewahren, und warf sich in der kabbeligen See herum. Die Gewissheit, gerettet zu sein, erfasste sie wie eine warme innere Woge, als sie das flache, offene Fischerboot mit geblähtem Groß- und Vorsegel wie aus dem Nichts kommen sah. Gleich würde es bei ihr sein!

Kräftige Männerhände zogen sie an Bord der Sloop. Triefnass und nach Atem ringend, sackte sie vor dem Mast zusammen, stammelte Worte des Dankes und schlug zitternd die Arme um ihre Schultern. Ihr war kalt, und sie fror erbärmlich in der steifen Brise, aber was machte das schon? Sie war gerettet, dem Himmel und den beiden Fischern sei Dank!

»Da! Jetzt haben die Idioten auf der Fähre endlich bemerkt, dass jemand über Bord gegangen ist!«, hörte sie einen ihrer Retter abfällig sagen. »Der Kahn dreht bei. Hoffe, da springt ’ne fette Belohnung raus!«

»Abwarten. Ich übernehme das Ruder. Zünd du die Laterne an, damit wir ihnen ein Zeichen geben können und nicht wie die Blöden hinter ihnen herkreuzen müssen!«, rief der andere und drehte das offene Boot wieder in den Wind, um möglichst schnell zur Fähre zu kommen.

»Ach, das können wir uns sparen! Die schmeißen bestimmt gleich ihren Scheinwerfer an, und dann reicht Winken mit dem alten Lappen hier! Na, was sag ich? Da tanzt der Kegel ja schon!«

Harriet stutzte. Die Stimmen kamen ihr bekannt vor. Oder irrte sie sich? Konnte das wirklich sein? War ein so unglaublicher Zufall möglich? Mit klammer Hand wischte sie sich das Gewirr nasser Strähnen aus dem Gesicht und versuchte, in der Dunkelheit Einzelheiten auszumachen.

Sie setzte sich auf und spähte angestrengt in die Gesichter ihrer beiden Retter, die sie für gewöhnliche Fischer gehalten hatte. »Seid … seid ihr das?«, fragte sie zögernd und noch immer außer Atem. »Die beiden … Austernräuber? Lenny und Frank?«

Kaum war die Frage heraus, glitt schon der Lichtkegel des Scheinwerfers über die Sloop hinweg, brach seine tastende Wanderung ab, kehrte mit einem Ruck zu ihr zurück und hielt das Boot mit seinem gleißenden Schein fest. Jubel tönte vom Deck der Fähre herüber. Eine kräftige Stimme übertrumpfte alle anderen. Es war die Stimme ihres Vaters, der ihren Namen rief. Er lebte also, Gott sei Dank! War nicht über Bord gegangen und hatte sich offenbar auch nicht schwerwiegend verletzt, so laut, wie er ihren Namen brüllte!

»Mensch, Frankie! Wenn das nicht die Kleine mit den schwarzen Zöpfen und den grünen Katzenaugen ist, die uns da vor Wochen in ihrer Kutsche versteckt hat!«

»Tatsächlich! Ich fass es nicht!«

Harriet starrte genauso ungläubig zurück. Sie waren es wirklich, der Bursche mit dem Krauskopf und sein Freund, der freche Kerl mit der blonden Mähne und der Narbe oben links auf der Stirn, der sich damals die Unverschämtheit herausgenommen hatte, ihr einen Kuss auf den Mund zu drücken! Er saß hinten an der Ruderpinne.

»Na, wenn das kein gutes Zeichen ist! Ausgerechnet diese Kleine haben wir aus der Bay gefischt«, rief er vom Heck des Bootes, schob sich die Schirmmütze in den Nacken und lachte vergnügt. Ja, er zwinkerte ihr sogar zu, als teilten sie ein amüsantes Geheimnis!

»Jede Wette, Kumpel!«, rief der andere zurück. »Das wird bestimmt ’ne verdammt erfolgreiche Nacht!«

Harriet, hin- und hergerissen zwischen altem Groll und Dankbarkeit, wusste nicht, was sie sagen sollte. Und dann waren sie auch schon bei der Fähre und drehten bei.

»Damit sind wir dann ja wohl quitt, was, Süße?«, sagte Lenny mit breitem Grinsen, als Harriet schon mit einem Fuß in der Strickleiter stand, die an der Bordwand bis zu ihnen ins Boot herabbaumelte.

»Nein«, erwiderte Harriet, drehte sich zu dem Blonden, der die Strickleiter auf der anderen Seite straffhielt, und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. »Jetzt sind wir quitt!«

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Erster Teil

1903

1

Harriet saß im luxuriösen Pullman-Salonwagen des Overland Limited an ihrem angestammten Fenstertisch und griff nach der Zeitung, die sie sich bei ihrem kurzen Aufenthalt in Sacramento vom Zugpersonal der Southern Pacific hatte besorgen lassen. Doch sie las nicht wirklich, wie sie auch den Tee auf dem mit weißem Damasttuch gedeckten Tisch nicht anrührte. Während der letzten Stunden der langen Reise wollte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen. Und damit sich keiner auf den Platz ihr gegenüber setzte und sie sich zu einer Unterhaltung genötigt sah, hatte sie ihre Reisetasche aus schwerem Gobelinstoff aus ihrem Schlafwagenabteil mit in den Salonwagen genommen und demonstrativ auf den freien Sitz gestellt.

Unter dem gleichmäßigen Rattern der Räder und Singen der Schienen zog die weite Ebene des San Joaquin Valley mit seinem fruchtbaren Farmland an ihrem Fenster vorbei. Damit war sie schon so gut wie zurück in ihrem geliebten San Francisco, dem Goldenen Tor der Welt, wie der Vater Stadt und Bay zu nennen pflegte. Was zählten da die paar Stunden, die noch bis zu ihrem Eintreffen im Hafen von Oakland blieben, und die kurze Fährüberfahrt ans andere Ufer? Umso weniger, als diesmal kein Zug wartete, der sie nach zwei, drei Wochen Urlaub zurück nach Boston und in das englische Zuchthaus brachte, das sich Madame Worchester’s Institute for Young Ladies nannte. Sie hatte es vom ersten Tag an gehasst. Denn um ein Zuchthaus im wahrsten Sinne des Wortes hatte es sich gehandelt. Fast fünf Jahre hatte sie dort zugebracht, eine einzige Zeit stillen Leidens.

Zehn Mal, jeweils fünf Reisen nach Osten und fünf nach Westen, hatte Harriet den gewaltigen Kontinent mit der Southern Pacific überquert. Zum Glück in der Ersten Klasse und rund um die Uhr umsorgt vom legendären Pullman-Personal, dessen exklusiver Service in den Pullman Palace Waggons dem eines 5-Sterne-Hotels in nichts nachstand. Ihr Schlafwagenabteil war ein wahrer Traum aus fein geschnitztem und vergoldetem Nussbaumholz, geätztem und bemaltem Tafelglas und versilberten Metallbeschlägen. Vor dem Fenster hingen schwere Damastvorhänge, der Waschtisch bestand aus feinstem Marmor, und der Rahmen des Spiegels darüber war vergoldet. Die Sitze waren dick mit Plüsch gepolstert, der Fußboden mit einem kostbaren Brüsseler Teppich belegt und die gewölbte Decke im Stil eines Freskos in Gold, Smaragdgrün, Karminrot, Azurblau und anderen prächtigen Farben wunderbar bemalt. Und genauso prunkvoll waren auch Speise- und Salonwagen.

Mehr als einen Heimatbesuch im Jahr, im Sommer oder zu Thanksgiving, hatte ihre Mutter weder für wünschenswert noch für finanziell vertretbar gehalten. Ihr Vater hatte sich aus jeder Diskussion zu diesem Thema herausgehalten. In solche »Frauenangelegenheiten« mische er sich prinzipiell nicht ein, hatte er einmal und abschließend erklärt. Stets hatte eine Gouvernante, auf der West-Ost-Route vermittelt von der Eisenbahngesellschaft und auf den Fahrten nach Westen von Madame handverlesen, sie auf der viereinhalbtätigen Zugfahrt begleitet, damit ihr guter Ruf keinen Schaden nahm.

Diesmal jedoch war der alten Ziege bei der Wahl der Gouvernante eine kapitale Fehleinschätzung unterlaufen – und zum ersten Mal war Harriet dem hageren Besen aufrichtig dankbar. Denn ihr leicht lispelnder Chaperon Polly Stricker, schon gute sieben, acht Jahre jenseits der dreißig und mit dem Liebreiz einer Mottenkugel gesegnet, hatte sich anders als all die anderen ältlichen Gouvernanten nur zu gern schon in Chicago von ihr auszahlen lassen. Was weniger an dem Scheck gelegen hatte als an dem etwas eulengesichtigen Vertreter für Gardinenstoffe und Polsterbezüge, der Ende fünfzig und seines langjährigen Witwertums überdrüssig schien und Polly schon am ersten Abend im Salonwagen dezent den Hof gemacht hatte. An seinem Arm hatte Polly den Zug in Chicago verlassen, zusätzlich zum Scheck auch noch fast den halben Erlös des Rückfahrtickets in ihrem mit Rosen bestickten Handbeutel. Die andere Beinahe-Hälfte hatte Harriet für sich beansprucht. Ihr Schlafwagenschaffner hatte sich gegen eine zehnprozentige Beteiligung schon in Detroit um die Erstattung des Fahrpreises gekümmert.

Am liebsten hätte Harriet Madame Worchester all das in einem hämischen Brief unter die spitze Nase gerieben, aber den Gedanken hatte sie sogleich verworfen, denn sie hätte sich damit nur ins eigene Fleisch geschnitten und sich eine Menge Ärger mit ihrer Mutter und womöglich sogar ihrem Vater eingehandelt. Ganz abgesehen davon, dass sie ihr das erschlichene Geld natürlich weggenommen hätten. Und dieses hübsche kleine Bündel Scheine behalten zu können war ihr doch wichtiger als die Genugtuung, Madame Worchester eins auszuwischen und sie um ihren guten Ruf bangen zu lassen. Sie hatte noch nie wirklich eigenes Geld besessen – abgesehen von den paar Silbermünzen Nadelgeld, die ihr monatlich für kleine persönliche Ausgaben zur Verfügung standen.

Harriet hatte geglaubt, dass sie ihre letzte Reise zurück in die Heimat mit einem Gefühl unsäglicher Erlösung, ja geradezu Glückseligkeit antreten würde. Endlich entkommen dem viktorianisch strengen Reglement, der formellen, affigen Geziertheit, den endlosen Unterrichtsstunden in den tausend Facetten steifer Etikette, dem seichten, überdrehten, ewig gleichen Geplapper über Nichtigkeiten und dem Klatsch der anderen Mädchen, von denen ihr in all der Zeit nicht eine wirklich zur Freundin geworden war. Und nicht zuletzt dem affektierten britischen Akzent der vertrockneten Worchester-Ziege entkommen!

Das Gefühl, ihre Freiheit wiedergewonnen zu haben, hatte sie durchaus, aber von Glückseligkeit konnte keine Rede sein. Vielmehr war sie bedrückt, voller Unruhe und Sorge, und dazu kamen noch eine kräftige Portion Unverständnis sowie Groll und Bitterkeit. Vor sechs Tagen, drei Monate vor dem für ihre Rückkehr eigentlich geplanten Termin, war in Boston ein Telegramm aus San Francisco eingetroffen. Die aus wenigen dürren Worten bestehende Nachricht hatte ihr alle Vorfreude geraubt. Ihr Vater hatte am Ostersonntag einen schweren Schlaganfall erlitten. In ihrer Bestürzung und Sorge war ihr gar nicht gleich zu Bewusstsein gekommen, dass nicht ihre Mutter, sondern Onkel Henry das Telegramm aufgegeben hatte. Und zwar nicht am Ostersonntag oder am darauffolgenden Morgen, sondern erst am Mittwochabend, drei ganze Tage nach dem Hirnschlag!

Andererseits – dass man es nicht für nötig befunden hatte, sie umgehend von einem erschreckenden Ereignis in der Familie zu unterrichten, war keine neue Erfahrung. Sie hatte schon einmal solch ein Telegramm von Madame Worchester ausgehändigt bekommen, begleitet von salbungsvollen Worten, die wohl so etwas wie Trost hatten darstellen sollen. Das war Ende Juni 1898 gewesen, wenige Wochen nach ihrem Eintreffen in Boston; die Nachricht vom Tod ihres Bruders Jonathan. Abgeschickt fünf Tage nachdem er bei der Besteigung einer steilen Felswand in den Yosemite-Bergen tödlich abgestürzt war! Fünf Tage! Als habe man sie im fernen Boston völlig vergessen und sich erst am Vorabend der Beerdigung ihrer erinnert. Der Tod des Bruders, den sie geliebt und von Kindesbeinen an angehimmelt hatte, hatte ihr fast das Herz zerrissen, und die Wunde war selbst jetzt nur schwach vernarbt. Dass sie aber derart vergessen worden war, hatte ihr eine ganz andere, nicht weniger tiefe Verletzung zugefügt, die vermutlich nie heilen würde.

Harriet wischte sich im Schutz der Zeitung die Tränen aus den Augenwinkeln und blickte aus dem Fenster. Überrascht stellte sie fest, dass der Zug das San Joaquin Valley längst hinter sich gelassen hatte und die bescheidenen Bergzüge der Diablo Range erklomm. Jetzt war es bis zum Fährhafen von Oakland nicht mehr weit.

Sie bezahlte den unberührten Tee, ließ den ungelesenen Sacramento Daily Record sowie ein angemessenes Trinkgeld auf dem Tisch zurück und begab sich in ihr Schlafwagenabteil, um die letzten Vorkehrungen für ihre Ankunft zu treffen. Natürlich hatte sie ihrer Mutter die Uhrzeit ihres Eintreffens in Oakland gekabelt. Ein Bediensteter der Eisenbahn hatte in Sacramento das knappe Telegramm, zwölfeinhalb Cent pro Wort, entgegengenommen und für sie aufgegeben. Aber sie wäre jede Wette eingegangen, dass nicht ihre Mutter sie dort am Fährhafen erwartete, sondern bestenfalls Onkel Henry.

2

Unter sonnig klarem Himmel fuhr der Overland Limited in den Oakland Pier Terminal ein. Zu beiden Seiten der Bahnstation am Ende der weit ins Wasser ragenden Landungsbrücke lagen Fährschiffe vertäut, bereit, die Passagiere nach San Francisco, Sausalito, San Mateo, Napa und zu anderen Ortschaften der Bay Area zu bringen.

Unter heftigem Zischen und Schnaufen und dicke Dampfwolken ausstoßend kam der Zug zum Stehen. Gefolgt von einem Pullman Porter, der sich ihres Gepäcks angenommen hatte, trat Harriet hinaus auf den überdachten Perron ihres Waggons. Sofort fiel ihr Blick auf Onkel Henry.

Der Bruder ihres Vaters lehnte an einem der geriffelten moosgrünen Stahlträger, auf denen das verglaste Dach der Bahnstation ruhte. Er rauchte eine Zigarette und studierte eine Wettzeitung, das kleinformatige Blatt wie üblich auf der halben Seite der Länge nach gefaltet. Und obwohl sie nicht mit ihrer Mutter gerechnet hatte, versetzte es ihr einen feinen Stich, ihn allein dort stehen zu sehen – sosehr sie ihn auch mochte.

Henry Caldwell war ein stets tadellos gekleideter, attraktiver Mann von vierundvierzig Jahren; kräftig, wenn auch nicht so groß gewachsen und breitschultrig wie Harriets Vater. Anstelle eines Vollbartes pflegte er einen Schnäuzer mit kurzen hochgezwirbelten Enden. Der Zwirbelbart gab seinem eher runden Gesicht eine leicht spöttische Note, die gut zu seinem unbeschwerten Wesen passte – wie auch zu seiner Neigung, nicht immer salonfähige, scharfzüngige Bemerkungen fallen zu lassen. Das dunkle und mit Pomade geglättete Haar trug er in der Mitte gescheitelt. Und natürlich war er wie aus dem Ei gepellt. Im Gegensatz zu seinem Bruder, der sich auch nach Jahrzehnten als Reeder noch ausschließlich in das schwere schwarze oder marineblaue Wolltuch kleidete, das ein Kapitän auf See trug und das dort auch geboten war, liebte er alles Modische. So steckte er, obwohl es bis Mai noch einige Tage hin war, schon jetzt in einem hellen Sommeranzug mit cremefarbener Seidenweste und porzellanblauem Krawattentuch, das mit einer perlenbesetzten Krawattennadel festgesteckt war. Und der Homburg auf seinem Kopf hatte natürlich eine zum feinen Anzug passende Farbe.

Nun, auch wenn die Ausgaben dafür sicher nicht unerheblich waren, konnte Onkel Henry sich die elegante Garderobe leisten. Immerhin war er an der Caldwell Shipping Company, die einen guten Profit abwarf, zu einem Viertel beteiligt. Außerdem hatte er wohl bei seinen Pferdewetten eine glückliche Hand, jedenfalls hatte sie das ihren Kutscher Magnus Magnussen einmal sagen hören.

»Gütiger Gott, wer ist denn diese bezaubernde junge Dame?«, rief er neckend, und ein strahlendes Lächeln trat auf sein Gesicht, als er sie entdeckte. Schnell ließ er das Wettblatt in der Innentasche seines Jacketts verschwinden, schnippte die Zigarette in den Gleisschotter unter den Waggon und nahm Harriet in die Arme. »Himmel, ich erkenn dich ja gar nicht wieder! Was ist denn aus meiner kleinen Nichte mit dem Grübchen und den braven Zöpfen geworden?« Er blinzelte, als traue er seinen Augen nicht. »Du siehst umwerfend aus! Und so erwachsen!«

Sie lachte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Onkel Henry, du alter Schmeichler! Das Grübchen ist doch noch da, wo es immer war!«

Henry trug gern dick auf. Aber er hatte sie zwei Jahre nicht gesehen. Bei ihrem letzten Besuch zu Hause war er wochenlang in Mexiko gewesen und hatte sich um die schwere Havarie eines ihrer Schiffe gekümmert, vor allem darum, mit den korrupten örtlichen Behörden die Schuldfrage zu regeln. In diesen zwei Jahren hatte sie zweifellos die letzten mädchenhaften Züge abgelegt und sich zu einer jungen Frau entwickelt. Ihr Reisekostüm mit der doppelten Knopfreihe mochte aus Tweed sein, hochgeschlossen bis zum samtschwarzen Stehkragen und von unauffälliger taubengrauer Farbe, weil im Haus von Madame ausschließlich Kleidung in schicklich gedeckten Tönen erlaubt war und jegliches Quäntchen nackte Haut streng verpönt, aber es zeigte doch unübersehbar ihre inzwischen sehr weibliche Figur mit einer Taille, die auch ohne Korsett auskam.

»Das ›alt‹ verbitte ich mir!«, gab er zurück und drohte ihr augenzwinkernd mit dem Finger. »Sag mir lieber, wann du mit mir ausgehst und ich mit dir angeben kann. Ich nehm dich mit in meinen Club! Sie werden dich für meine neueste Eroberung halten und vor Neid platzen!«

Harriet errötete. Das Kompliment mochte von gutmütiger, scherzhafter Natur sein, besaß aber doch auch eine etwas schlüpfrige Note. Eben typisch Onkel Henry! Ihre Mutter hätte ihn empört zurechtgewiesen, von Tante Ida ganz zu schweigen. Seine Frau hätte ihm den Kopf abgerissen. Seit sie nach der Geburt ihres Sohnes Guy, ihres ersten und einzigen Kindes, dermaßen in die Breite gegangen war, dass kein noch so eng geschnürtes Korsett das Matronenhafte ihrer einst ranken Gestalt verbergen konnte, reagierte sie auf Bemerkungen, die er über die körperlichen Vorzüge anderer, vor allem sehr junger Frauen machte – und sei es auch nur im Spaß –, äußerst empfindlich.

»Das wirst du schön bleiben lassen, sonst rede ich mal ein Wort mit Tante Ida!«, drohte sie in ihrer Verlegenheit.

»Da sei der Himmel vor!«, rief er und setzte eine zerknirschte Miene auf. »Willst du, dass ich den Rest meiner Erdentage in einem Büßergewand verbringen muss?«

Harriet stellte sich ihn in einem kratzigen Büßerhemd vor und wollte schon losprusten, doch das Lachen blieb ihr im Hals stecken. Plötzlich schämte sie sich des fröhlich frechen Wortwechsels. Wie geschmacklos angesichts der traurigen Umstände, die sie nach San Francisco zurückgeholt hatten! Was, wenn ihr Vater noch einen Schlag erlitten hatte und nicht mehr lebte? Aber nein, das war unmöglich! Dann wäre selbst Onkel Henry nicht in einem hellen Sommeranzug erschienen und hätte derart pietätlos gescherzt!

Er spürte den jähen Umschwung ihrer Gefühle und sagte schnell: »Verzeih, mein Kind, das war wohl alles etwas unpassend. Im ernsten Fach habe ich mich schon immer schwergetan, und ich wollte dir auch nur für einen Augenblick das Herz ein wenig leichter machen.« Ungeduldig schaute er sich um. »Aber sag mal, wo ist denn deine Gouvernante? Die lässt sich ja reichlich Zeit!«

»Auf die brauchen wir nicht zu warten. Ich habe sie schon in Sacramento entlassen und entlohnt«, log sie.

Er runzelte die Stirn. »So, so! Das schickt sich aber nicht! Deiner Mutter wird das gar nicht gefallen. Du weißt doch, wie sie in diesen Dingen ist!«

Ja, unerträglich gestrig! Als lebten wir nicht in einem neuen Zeitalter!, hätte Harriet am liebsten geantwortet, doch stattdessen sagte sie: »Die Gouvernante hat in Sacramento Verwandtschaft, und da konnte ich einfach nicht so sein. Es muss ja keiner erfahren. Du wirst mich doch nicht anschwärzen, oder, Onkel Henry?« Sie schenkte ihm ein um Nachsicht flehendes Lächeln.

Henry seufzte. »Nun ja, das behalten wir wohl besser für uns«, sagte er schließlich, und Harriet gab ihm zum Dank einen weiteren Kuss auf die Wange, was ihn sichtlich versöhnte. »Na, dann lass uns mal an Bord gehen.« Er bedeutete dem Pullman Porter, ihr Gepäck auf den Raddampfer Amador zu bringen, der nur ein Dutzend Schritte entfernt seine Gangway ausgebracht hatte, und bot Harriet den Arm.

Sie nickte, lächelte schwach und legte ihre Hand in seine Armbeuge. »Wie geht es meinem Vater?«

Er gab einen schweren Seufzer von sich. »Nun ja, es war wohl ein schwerer Schlag. Arthur hat eine halbseitige Lähmung davongetragen und traurigerweise auch die Sprache verloren. Ich meine, er gibt Laute von sich, aber das Gebrabbel ist vollkommen unverständlich«, berichtete er, während sie an Bord der Fähre gingen. »Aber das kommt vielleicht wieder, sagen die Ärzte. Man muss abwarten und das Beste hoffen.« Er hatte schon Fahrscheine gelöst und entlohnte den Gepäckträger mit einem Vierteldollar, was auch typisch für ihn war. Jeder andere hätte es bei zehn Cent belassen, und das wäre mehr als angemessen gewesen.

Harriet hielt es in den geschlossenen, rauchgeschwängerten Aufenthaltsräumen nicht aus und stieg hinauf auf das offene Promenadendeck, während Onkel Henry sich darum kümmerte, dass ihr Gepäck sicher verschlossen wurde. Dort oben konnte sie frei atmen und das Panorama ihrer geliebten Stadt am Golden Gate betrachten – die malerischen und teils steilen Anhöhen, gekrönt von prächtigen Villen und vereinzelten Wolkenkratzern –, und die im Sonnenlicht glitzernde Bay endlich wieder vor sich zu sehen schenkte ihr ein wenig Trost.

Auf dem Wasser herrschte der vertraute rege Verkehr: Lotsenboote, Zollkutter, Segelschiffe aller Art und Größe, Fischerboote, plumpe Kohlenfrachter, Lastkähne, Passagierdampfer, bullige Barkassen, Ausflugsboote und private Jachten sowie die allgegenwärtigen Raddampfer der Fährunternehmen zogen ihre Bahnen über die weite, sonnenflirrende Fläche der San Francisco Bay.

Vor dem Hintergrund der dunkelgrünen Bergzüge des Marin County, die am gegenüberliegenden, nördlichen Ufer hinter Sausalito aufragten, entdeckte Harriet vier hochbordige chinesische Dschunken. Sie segelten auf südöstlichem Kurs. Die mit Dutzenden Bambusstangen verstärkten drachenblutroten Segel, die wie riesige rechteckige Tücher von den Querrahen herabfielen, leuchteten weithin im Sonnenschein. Die Dschunken trugen, wie alle Boote der Chinesen, auf jeder Bugseite ein aufgemaltes Auge. »No eyes, no see where boat goes!«, lautete die allseits bekannte und an der Waterfront oft spöttisch zitierte Begründung der Chinesen für ihre Dschunkenaugen. Die vier Schiffe hielten auf China Cove zu, eine von gut zwanzig Siedlungen der chinesischen Krabbenfischer, die sich auf der Nordseite der Bay angesiedelt hatten und ihre Häuser mit Vorliebe auf Pfählen bauten.

Die Amador legte ab, und die vorgelagerte Insel Yerba Buena schob sich zwischen die Fähre und die Dschunken. Dafür tauchten schräg voraus ein halbes Dutzend Feluccas auf, traditionelle italienische Fischerboote. An Bug und Heck spitz zulaufend wie der Schnabel eines Adlers und überwiegend in Hellblau gehalten, der Farbe der Jungfrau Maria, tanzten die schmalen, offenen Boote, das dreieckige, hennagefärbte Lateinersegel in der frischen Brise prall gefüllt, über die Wellen.

Harriet hatte diese waghalsigen Fischer, von denen es in San Francisco eine gute Hundertschaft gab, schon als Kind bewundert, segelten sie doch in ihren winzigen Nussschalen bei Nacht und so gut wie jedem Wetter bis zu den Farallons hinaus, einer Gruppe nackter Felseninseln und scharfer Klippen dreißig Meilen vor den Landenden des Golden Gate. Die Indianer hatten der Felsgruppe inmitten der See den Namen »Inseln des Todes« gegeben, und das aus gutem Grund. Gewöhnlich kehrten die Feluccas kurz nach Sonnenaufgang mit ihrem Fang in ihren angestammten Hafen, die Fisherman’s Wharf am North Beach, zurück.

Wie vertraut und lieb ihr der Anblick der kleinen, pfeilschnellen Boote, ja selbst der Dschunken und übel rußenden Frachter und Fähren war! Wie sehr sie all das – diese Vielfalt an Farben, Menschen aus aller Herren Länder, Betriebsamkeit, Geräuschen und Gerüchen – während all der Jahre im abgeschiedenen Zuchthaus von Madame vermisst hatte! Und nun musste sie ein schlechtes Gewissen haben, weil sie beim Anblick der Stadt und des bunten Treibens auf der Bay solch unbändige Freude empfand.

Ihre stille, zwiespältige Betrachtung der Szenerie fand ein Ende, sobald Onkel Henry sich wieder zu ihr gesellte. Er senkte den Kopf, um sich im Windschutz seines Homburgs eine Zigarette anzuzünden, und kam dann ungefragt wieder auf seinen Bruder zu sprechen.

»Zumindest ist er seit gestern zu Hause. Im Krankenhaus können sie nichts mehr für ihn tun, sagen sie. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen und muss …« Er räusperte sich und fuhr mit einem Anflug von Verlegenheit fort: »… nun ja, in allen alltäglichen menschlichen Bedürfnissen und Belangen des Lebens betreut werden.« Er wedelte mit der Zigarette in der Hand durch die Luft. »Also beim Waschen, Anziehen, Essen und so weiter.«

Harriet verstand schon, worauf er anspielte.

Er schien ihre Gedanken und die Frage, die ihr auf der Zunge lag, aber nicht über die Lippen kam, zu erraten, denn er lachte trocken und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht von deiner Mutter, Gott bewahre! Sie hat eigens einen Hausdiener eingestellt, einen tüchtigen Mann, wie mir scheint, der auch etwas von Sprachtherapie nach so einem Schlag verstehen soll. Aber der Gute hat einen harten Job, um den ich ihn nicht beneide. Du kennst ja deinen Vater. Wenn er etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, dann ist das, von anderen abhängig zu sein. Und Jähzorn ist ihm auch nicht gerade fremd. Diese Fähigkeit hat er jedenfalls nicht verloren!«

»Wie … kommt meine Mutter mit der Situation klar?«, fragte sie beklommen, um sich vorbereiten zu können auf das, was sie zu Hause erwartete.

»Deine Mutter?« Er verzog das Gesicht. »Die trägt noch immer ausschließlich Witwenschwarz. Vorsorglich, könnte man sagen, wenn man ihr Böses wollte und es nicht besser wüsste«, sagte er bissig. »Entschuldige, aber bei aller verständlichen Trauer um ihren Goldjungen: Jonathan ist jetzt bald fünf Jahre tot! Da ist es wohl langsam an der Zeit, die Trauerkleidung abzulegen und sich auf seine anderen Pflichten zu besinnen.«

Was Harriet sofort an ihren kleinen Bruder denken ließ. »Wie hält sich Elliot?«

Henry zuckte die Achseln. »Der macht wie immer alles mit sich selber aus. Na ja, wer grundsätzlich übersehen wird, sich nie beklagt und nichts erwartet, kann wenigstens auch nicht enttäuscht werden.«

Die scheinbar gefühllosen Worte versetzten ihr einen Stich. Aber so zynisch die Bemerkung auch klang, sie beschrieb doch bestürzend treffend, welche Rolle ihr kleiner Bruder in der Familie spielte und schon immer gespielt hatte: die des stillen, verträumten Kindes, das immer im Schlagschatten der älteren Geschwister stand, nie Probleme machte und nie den geringsten Versuch unternahm, auf sich aufmerksam zu machen oder sich irgendwie in Szene zu setzen. Es war, als befinde Elliot sich nicht mit ihnen auf der Bühne, auf der sich das bewegte Familienleben abspielte, sondern sitze verloren unten im Zuschauerraum und verfolge das Geschehen auf der Bühne des Lebens schweigend. Aber das durfte nicht so bleiben!

Indes wuchs vor ihnen das Hauptgebäude der Fähranleger von San Francisco in den Himmel. Der Terminal lag am Ende der Market Street, mitten im Bogen der Waterfront. Täglich liefen die Flotten qualmender Fährdampfer von mehr als einem Dutzend Unternehmen die Landungsbrücken an, und viele der Raddampfer hatten hier ihre Heimatpier. Aus dem fast zweihundert Yards langen Gebäude ragte in der Mitte über dem Eingangstor ein Uhrenturm auf wie ein südländischer Campanile. Tatsächlich war er dem Giralda-Turm der Kathedrale von Sevilla nachempfunden.

»Und was macht meine kleine Schwester?«

»Ashley? Schwer zu sagen. Die ist mit ihren vier Jahren wohl noch zu klein, um richtig zu verstehen, was eurem Vater widerfahren ist und welche Konsequenzen das für euch alle hat. Aber um Ashley würde ich mir die geringsten Sorgen machen. Die Kleine weiß, was sie will, und sie weiß sich zu behaupten. Enttäuscht also weiterhin alle Erwartungen.« Er zog an seiner Zigarette und warf ihr einen Blick zu, der dem beißenden Sarkasmus seiner Worte entsprach. »Ich glaube, deine Mutter wünschte, sie würde mehr nach Elliot kommen – wo der Nachzügler sich schon nicht als neuer Goldjunge entpuppt hat.«

»Onkel Henry, wie kannst du so etwas sagen? Ich weiß, du liebst es, bissige Bemerkungen zu machen, aber das geht wirklich zu weit!«, entgegnete Harriet, wenn auch ohne Nachdruck. Denn ganz so falsch lag ihr Onkel mit seiner Einschätzung nicht. Die Mutter hatte fest mit einem weiteren Sohn gerechnet, und dementsprechend groß war die Enttäuschung, ja Verbitterung gewesen, dass es »nur« ein weiteres Mädchen geworden war.

»Wirklich?«, fragte er trocken. »Mit fast vierzig noch einmal ein Kind zu bekommen war deiner Mutter schon peinlich genug, das kannst du mir glauben. Darüber haben die Leute sich schon ordentlich das Maul zerrissen. Aber wenn der Nachzügler ein kraftstrotzender, in die Welt stürmender Junge wie Jonathan gewesen wäre, hätte sie die konsternierten Blicke und das Getuschel gewiss leichter ertragen.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg, während die Amador ihre Geschwindigkeit drosselte und die Besatzung unten Vorkehrungen für das Anlegemanöver traf.

»Egal, es ist, wie es ist«, sagte Onkel Henry in einem Ton, als sei er des Themas überdrüssig, und schnippte die Kippe ins Hafenbecken. »Für uns alle wird sich jetzt vieles ändern, und wir müssen den bitteren Tatsachen ins Auge sehen. Insbesondere ist es jetzt wichtig, dass die Firma durch die Handlungsunfähigkeit deines Vaters keinen Schaden nimmt und die Geschäfte ungestört weitergehen. Vor allem, weil unsere Flotte dringend modernisiert werden muss. Mit den Raddampfern ist kein großer Profit mehr zu machen, die hätten wir schon vor Jahren abstoßen müssen. Auch wird es höchste Zeit, die Zahl unserer Segelschiffe zu reduzieren und auf Frachter mit Maschinenkraft umzusteigen. Aber all das soll dich nicht beunruhigen, mein Kind.« Er tätschelte ihren Arm. »Ich werde die Leitung der Firma übernehmen und mich um alles kümmern. Nicht, dass ich mich in diesen schwierigen Zeiten darum reiße, aber es wird mir nun mal nichts anderes übrig bleiben.« Noch einmal tätschelte er sie und lächelte sie an.

Harriet aber war sich nicht sicher, ob dieses Lächeln sie aufmuntern sollte, ja, ob es überhaupt ihr galt. Flüchtig zog sie die Möglichkeit in Betracht, dass sein Lächeln vielleicht einen völlig anderen, sehr eigennützigen Grund hatte, doch diesen unschönen Gedanken schob sie sofort beiseite. Der Moment der Irritation verflog und machte wieder der bangen Frage Platz, was sie wohl zu Hause erwartete.

3

Frank Maynard und Lenny Gabrelli saßen im »Cobweb Palace«, rauchten selbst gedrehte Zigaretten aus billigem mexikanischem Tabak und feierten ihr Wiedersehen nach über zweieinhalb Jahren bei scharfem Mescal. Sie schwelgten in Erinnerungen an die Zeit, als sie noch mit ihrer Sloop Bay Runner nachts auf Austernraub gegangen waren.

Abe Warners Taverne, seit Jahrzehnten von der Waterfront nicht mehr wegzudenken, hatte einmal anders geheißen, doch an den einstigen Namen erinnerte sich längst keiner mehr. Abe war ein abergläubischer Mann. Er hegte die feste Überzeugung, dass es großes Unglück brachte, eine Spinne zu töten. Dementsprechend dicht hingen die Spinnweben zwischen den rußgeschwärzten Deckenbalken, und in den Ecken spannten sich riesige Netze, wahre Wunderwerke silbriger Fallenstellerei. Niemand wagte nach einer der Spinnen zu schlagen oder auch nur einen alten, staubbedeckten Faden wegzuwischen. Beim alten Abe gab es nämlich nicht nur die beste Muschelsuppe der Stadt, sondern das »Cobweb Palace« fungierte auch als Nachrichtenbörse. Wer in keiner Gewerkschaft war, hinterließ hier Nachrichten für Freunde, die keinen festen Wohnsitz hatten. Auf diese Weise hatten auch Frank Maynard und Lenny Gabrelli einander wiedergefunden. Lenny hatte sich nach dem Verlust ihres Bootes überstürzt aus dem Staub gemacht, hatte erst eine Saison in Alaska bei einem Lachsfischer gearbeitet und war dann zwei Jahre auf einem britischen Getreideclipper auf der Australien-England-Route gesegelt. Dass er nach San Francisco zurückgekehrt war, hatte Frank erst einige Tage zuvor von Abe erfahren.

»Weißt du noch, wie dieser Kerl da in der Bucht aus dem Boot gesprungen und auf uns zugestürzt ist?« Lenny kippte seinen Mescal hinunter und gab der Bedienung ein Zeichen, ihnen nachzuschenken. »Mann, der hatte ’ne Faust wie ’ne Abrissbirne!«

»Mir hätte es schon gereicht, mit einem in Zeitungspapier gewickelten Bleirohr eins übergezogen zu bekommen. Aber du hast recht, der hätte es nicht mit herausgeschlagenen Zähnen und gebrochenen Rippen gut sein lassen«, sagte Frank und nickte. »Der hatte blanke Mordlust in den Augen.«

Zu ihrem Glück war der Kerl im weichen Ufersand gestolpert und beim Sturz mit dem Kopf auf ein baumstammdickes Stück Treibholz geschlagen. Er war benommen liegen geblieben, und seine nachstürmenden Gefährten hatten sich erst vergewissert, dass er nicht ernstlich verletzt war, bevor sie ihnen nachgesetzt hatten. Die paar Sekunden hatten Lenny und ihm gottlob gereicht, um ins Ufergebüsch zu flüchten und sich im Schutz der Dunkelheit in Sicherheit zu bringen.

Es war immer riskant gewesen, sich in meist mondlosen Nächten oder bei dichtem Nebel an die Austernbänke anzuschleichen, in dicken Stiefeln durch höllisch scharfkantige Muscheln zu waten, die Jutesäcke hastig mit Austern zu füllen und wieder zu verschwinden. Mehrmals in den drei Jahren ihrer Raubzüge waren sie den lauernden Wachen und den Schrotflinten ihrer Verfolger nur knapp entkommen. In jugendlicher Überheblichkeit hatten sie nicht wahrhaben wollen, dass die Falle früher oder später zuschnappen würde. Irgendwann endete auch die längste Glückssträhne. Obwohl, selbst auf ihrer letzten Raubtour war das Glück noch ein gutes Stück auf ihrer Seite gewesen. Denn dass sie in der Nacht, als die Bay Runner in Flammen aufging, mit heiler Haut davongekommen waren, grenzte schon an ein kleines Wunder. Was auch für die Tatsache galt, dass sie den Rest der Schulden, die sie für das Boot gemacht hatten, zwei Monate vorher beglichen hatten.

Verrückt, welche Risiken sie eingegangen waren! Aber was hätte er anderes tun sollen, damals, als er mit vierzehn im Hafen von San Francisco vom Güterzug gesprungen war und nicht gewusst hatte, wie es mit ihm weitergehen sollte? Immerhin hatte er hundertdreißig Dollar in der Tasche – und das Glück gehabt, auf Lenny zu stoßen. Der hatte die Bay Runner aufgetrieben, aber selbst für eine so betagte, schon wurmstichige Sloop hatte sein Geld nicht gereicht. So hatte Lenny sich bei einem Kredithai, den er aus seinem Viertel in Little Italy kannte, hundertfünfzig zusätzliche Dollar geliehen, und sie waren mit der Bay Runner unter die Austernpiraten gegangen. Denn mit ehrlicher Arbeit hätten sie den Kredit bei den Wucherzinsen im Leben nicht rechtzeitig abbezahlt.

»Irgendwann habe ich wieder ein Boot«, sagte Frank in wehmütiger Erinnerung an ihre wilden Jahre auf der Bay. Wie frei sie sich damals trotz aller Not und Gefahr gefühlt hatten – und tatsächlich gewesen waren! »Dann aber mit allem Drum und Dran, mit richtiger Kajüte und so.«

»Ah, da geht die Sonne auf!«, rief Lenny mit fröhlichem Augenzwinkern, als die Bedienung mit der Flasche kam und schwungvoll ihre Gläser auffüllte. Er angelte sich das braune Reispapier und drehte ihnen zwei neue Zigaretten.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Frank, als der Vorrat an gemeinsamen Erinnerungen erschöpft war. »Heuerst du bald wieder an?«