Straße des Ruhms - Kate O'Hara - E-Book

Straße des Ruhms E-Book

Kate O'Hara

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Beschreibung

Teil 3 der großen Familien-Saga um die Familie Caldwell aus der spannendsten Epoche Hollywoods, Kalifornien: Hollywood, 1926. Der Tonfilm hat in Hollywood eine neue Ära eingeleitet: Millionen fließen in den Bau moderner Tonbühnen und Aufnahmestudios. Neue Karrieren werden geboren, während die beliebten Stummfilmstars von früher für immer von den Leinwänden verschwinden ... Auch für Harriet Caldwell und ihren Geliebten Frank Maynard steht eine Zeit des Umbruchs bevor. Harriet kämpft nach wie vor um die Kontrolle in der familieneigenen Reederei der Caldwells, während Frank die technische Erneuerung seines Studios anpeitscht und durch den Konkurrenzdruck immer öfter zum Alkohol greift. Doch die große Katastrophe folgt erst noch. Denn als Franks Geschäftspartner ihn entmachten wollen, steht für Frank plötzlich alles auf dem Spiel: sein Studio, sein Traum – und allem voran Harriet. Wird es Frank gelingen, seine große Liebe zurückzugewinnen? Im Zentrum des dritten Romans der Caldwell-Saga steht die ebenso glamouröse wie korrupte Filmindustrie von Hollywood während der turbulenten, späten Zwanzigerjahre, als die 'Talkies' beinahe über Nacht ihren Siegeszug antraten und dem Stummfilm sowie vielen seiner Stars den Todesstoß versetzten. Das faszinierende Porträt dieser Zeit und der 'Traumfabriken' von Hollywood verknüpft Kate O'Hara mit dem dramatischen Schicksal der Reederei-Familie Caldwell - und einer großen Liebesgeschichte.

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Seitenzahl: 922

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Kate O'Hara

Straße des Ruhms

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Hollywood, 1926. Der Tonfilm hat in Hollywood eine neue Ära eingeleitet. Neue Karrieren werden geboren, während die beliebten Stummfilmstars von früher für immer von den Leinwänden verschwinden … Mit aller Kraft kämpft Filmproduzent Frank Maynard gegen den wachsenden Konkurrenzdruck – während seine Geliebte Harriet Caldwell, eine inzwischen mit allen Wassern gewaschene Geschäftsfrau, die Kontrolle über die familieneigene Reederei zu verlieren droht. Es sind harte Zeiten, und vor allem für Frank steht plötzlich alles auf dem Spiel: sein Studio, sein Traum – und wieder einmal seine große Liebe …

Der dritte Teil der Caldwell-Saga, die von den Anfängen, vom Aufstieg und den wilden Zeiten Kaliforniens von San Francisco bis Hollywood erzählt.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Zweiter Teil

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

Dritter Teil

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

Vierter Teil

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

Epilog

Neujahr

Leseprobe »Für ewig und eine Nacht«

 

 

 

 

Für H.,

Love of My Life

 

 

 

 

»Hollywood ist ein Ort, wo sie dir tausend Dollar für einen Kuss bezahlen und fünfzig Cent für deine Seele.«

Marilyn Monroe

 

»Man muss dem Leben immer um mindestens einen Whiskey voraus sein.«

Humphrey Bogart

Erster Teil

1926

1

Wie flüssiges Silber glitzerte die Lagune im Licht der Mondsichel, die in den sternenübersäten Nachthimmel von Samoa aufstieg. Weit draußen brachen sich die Wellen am langen Bogen des Korallenriffs, das die Bucht vor Stürmen und Haien schützte. Die Gischt zog eine silbrig schäumende Linie über den Horizont. Zart wie Seide strich die warme Meeresbrise über den Strand und entlockte den Palmwedeln leises Rascheln und Raunen.

Für den jungen Seemann Gordon Sloan war es das süße Flüstern der Verlockung. Einer paradiesischen Verheißung, der er längst erlegen war. Sein Entschluss stand fest. Er würde hier auf der Insel bleiben und mit Hei’ura, dem zauberhaften Geschöpf, das ihm gerade den frisch tätowierten Rücken mit Kokosnussöl einrieb, ein neues Leben beginnen. Was kümmerte ihn der verdammte Heuervertrag mit Captain Whitehead? Die Dreimastbark Amelia Star, die mit schweren Sturmschäden im Hafen von Apia im Trockendock lag, hatte noch wochenlange Reparaturarbeiten vor sich, bevor der Alte wieder Segel setzen lassen konnte und die Fahrt nach Indien weiterging. Bis dahin hatten Hei’ura und er alles organisiert, damit er nicht von dem rabiaten Suchkommando erwischt wurde, das der Skipper in den Tagen vor dem Auslaufen mit Sicherheit losschickte, um seine Mannschaft vollständig an Bord zu bekommen.

Gordon Sloan lag nackt auf dem Tuch aus bunt bedrucktem Calico, das Hei’ura hinter dem Palmenhain ausgebreitet hatte. Durch das dünne Baumwollgewebe spürte er die Wärme, die der Sand den Tag über aufgenommen und gespeichert hatte. Aber das war nicht die Ursache für die Hitze, die ihm das Blut in den Unterleib trieb. Hei’ura wurde ihrem Namen mal wieder gerecht. In der Sprache der Samoaner hatte Hei’ura zwei Bedeutungen, nämlich sowohl »Krone aus Federn« als auch »Feuerkrone«. Und wie sehr seine junge Eroberung sich darauf verstand, mit ihren federzarten Händen in ihm das Feuer zu entfachen!

Er ertrug es nicht länger, ruhig liegen zu bleiben. Mit einem gequälten Stöhnen drehte er sich auf den Rücken und wollte sie auf sich ziehen. Sie war so nackt wie er. Quecksilbergleich floss das Mondlicht über ihren hinreißenden Körper, glitt wie eine zweite lebendige Haut über ihre Schultern und die herrlichen Brüste. Er wusste, dass sie bereit war für ihn.

»Warte, Tau-Tau«, flüsterte sie und stellte die Holzschale mit dem Kokosöl neben sich in den Sand.

Er lachte mit belegter Stimme. »Tau-Tau? Ist das mein neuer Name?« Ta-tau nannten die Samoaner das Stechen, das Tätowieren, und er hatte sich in den letzten Wochen Dutzende von polynesischen Tattoos stechen lassen. Selbst über seinen rasierten Schädel und sein Gesicht zogen sich heilige Symbole und Wellenmuster in blauschwarzer Farbe.

Hei’ura lächelte. »Tau-Tau kein guter Name?«, neckte sie ihn und setzte sich auf ihn.

Gordon stöhnte auf. Im selben Moment erlosch das geheimnisvolle Glitzern auf der Lagune. Die Myriaden Sterne auf dem tiefschwarzen Himmelstuch verblassten und verschwanden mit der Mondsichel hinter dunklen Wolken. Auch die Meeresbrise verlor schlagartig ihre Milde. Ein starker Wind kam auf, und plötzlich zogen Nebelschwaden über die Bucht, die alle tropische Schönheit verloren hatte und nun mit schroffen Ufern drohte. Regen setzte ein.

Verschwunden waren aber nicht nur die Palmen und der Strand, sondern auch Hei’ura. Er befand sich nicht auf Samoa, sondern auf dem schwankenden Deck der verfluchten Leviathan. Das nervöse Zischen und Raunen von anderthalb Dutzend Chinesen vermischte sich mit den rauen Flüchen und gedämpften Kommandos von Captain Caldwell und seiner Mannschaft. Zwei Chinesen glitt eine Kiste aus den Händen, und eine Flut von kostbarer Jade ergoss sich neben der Luke über die Planken. Fast augenblicklich brach wütendes Geschrei los. Die gellende Stimme des Skippers wurde übertönt von der seines jüngeren Bruders. Messer blitzten im Licht der Schiffslaterne, dann fiel der erste Revolverschuss, der dem Chef der chinesischen Sippe das halbe Gesicht wegriss und ihn tot zwischen seine Jadeschätze schleuderte.

Das Massaker begann.

Schüsse krachten in schneller Folge. Er vernahm die scharfen Detonationen eines Repetiergewehrs, aber er sah nichts mehr, war dem Gemetzel an Deck der Leviathan blind ausgeliefert. Er spürte, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete, und rollte sich wimmernd zusammen. Vor seinen Augen wogte klebrige Schwärze. Etwas floss über sein Gesicht, sickerte zwischen seine Lippen und kroch in seinen Mund.

Kroch?

Mit einer Mischung aus Würgen und ersticktem Aufschrei fuhr Tau-Tau aus seinem Albtraum hoch. Sein richtiger Name, Gordon Sloan, war selbst ihm schon seit Jahrzehnten fremd.

Etwas Krustiges lief über seine Zunge und knirschte, als er unwillkürlich zubiss, zwischen seinen Zähnen. Angewidert spuckte er aus. Und noch bevor der letzte Rest Schläfrigkeit von ihm gewichen war, wusste er, dass er auf eine verfluchte Kakerlake gebissen hatte.

»Teufel auch!«, stieß er hervor, griff nach seiner Beinprothese und suchte nach dem Ungeziefer, das er auf den Steinboden seiner Zelle im kalifornischen Staatsgefängnis San Quentin gespuckt hatte.

2

Bekleidet nur mit Franks Oberhemd, das zuzuknöpfen sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, stand Harriet Shaw am Fenster. Sie hatte die königsblauen Samtvorhänge nur schulterbreit aufgeschoben. Von der Suite hier oben im fünften Stockwerk des luxuriösen »Fairmont Hotel«, das sich auf dem Millionärshügel Nob Hill über das Häusergewimmel erhob und einen ganzen Straßenblock zwischen Mason und Powell Street einnahm, hatte man einen herrlichen Blick über die Stadt, den Hafen und die gewaltige San Francisco Bay. Die Sicht reichte bis hinüber nach Sausalito und zu den sanften dunkelgrünen Bergketten des Marin County auf der Nordseite der Bay. Zum Greifen nah lag der weite Bogen der Waterfront, der mit seinen zahllosen Piers von oben wie ein riesiger, an den Strand gespülter Tausendfüßler wirkte.

Es versprach ein klarer Morgen zu werden. Weit und breit keine Spur von den Nebelfeldern, die so häufig im Morgengrauen vom Pazifik herantrieben und sich im Nu über Stadt und Bay legten. Noch waren das Meer im Westen und die Landenge des Golden Gate mit ihren zerklüfteten Ufern in tiefe Dunkelheit getaucht. Der Dampfer, der gerade auf die enge Passage zuhielt, war nur anhand seiner Positionslichter und Schiffslaternen auszumachen, aber weiter im Osten fingen sich schon die ersten Sonnenstrahlen in den rechteckigen drachenblutroten Segeln zweier hochbordiger chinesischer Dschunken, die mit ihren Schleppnetzen nach Shrimps fischten. Eine Vielzahl winziger Lichtpunkte auf den dunklen, eiskalten Fluten nahm sich wie ein tanzender Schwarm Glühwürmer aus. Sie markierten die kleinen Fischerboote, die unweit von Little Italy aus der Fisherman’s Wharf ausliefen und in alle Himmelsrichtungen segelten. Besser zu erkennen waren die beiden gedrungenen Barkassen mit ihren kraftvollen Motoren und das schnittige, hell erleuchtete Lotsenboot, die Kurs auf den einlaufenden Überseefrachter nahmen und ihn an die ihm zugewiesene Landungsbrücke bugsieren würden.

Nichts davon nahm Harriet, die ihre Stirn gegen das kühle Fensterglas presste, wirklich wahr. Genauso wenig bewusst sah oder hörte sie die voll besetzte Cablecar, die unter lautem Rattern und Bimmeln den steilen Hügel erklomm und an der Kreuzung Sacramento und Powell Street einen ganzen Schwung Hotelbedienstete ausspuckte. Keine vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit Frank und sie einander in die Arme gefallen waren. Mit welcher Wildheit sie sich geliebt hatten!

Keine vierundzwanzig Stunden!

Im Schlafzimmer hinter ihr herrschte noch Dunkelheit. Frank schlief tief und fest. Schlaf hatte es für sie beide wenig gegeben. Sie hatten einfach nicht genug voneinander bekommen können, als hätten sie einander immer aufs Neue versichern wollen, dass sie tatsächlich wieder zueinandergefunden hatten und nun alles gut werde.

Aber wurde es das auch?

Noch wenige Tage zuvor war Harriet sich ihrer in allem so sicher gewesen. Wie fest sie davon überzeugt gewesen war, ihr Leben im Griff zu haben! Sie war doch nicht mehr das naive Mädchen, das sich Hals über Kopf in einen verwegenen Austernräuber und Abenteurer mit zerzaustem strohblonden Haar und umwerfenden hellblauen Augen verliebte, sondern Mutter eines neunzehnjährigen Sohns und eine gestandene Geschäftsfrau von mittlerweile einundvierzig Jahren!

Und nun das!

Was hatte sie getan? Wie war es möglich, dass sie der Versuchung einfach nicht hatte widerstehen können und gestern zu ihm ins Hotel gekommen war? Hatte sie denn völlig vergessen, was sie nach dem Erdbeben von 1906, dieser entsetzlichen Katastrophe in so vieler Hinsicht, zwei Jahrzehnte lang voneinander ferngehalten hatte? Sie lebten doch in völlig verschiedenen Welten, und das nicht allein geografisch gesehen. Frank hatte sich in Hollywood ein Leben aufgebaut und führte mit den von ihm selbst gegründeten Silver Screen Studios eines der großen Unternehmen der jungen Filmindustrie. Dagegen galt ihre Leidenschaft der Caldwell Shipping Company mit ihrer Flotte aus einunddreißig Frachtern unter Dampf und den vier verbliebenen Segelschiffen, allesamt stolze Dreimaster.

Aus dem Nichts hatte ihr verstorbener Vater Arthur die Schifffahrtslinie in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgebaut, angefangen mit dem schnittigen Schoner Sansibar. Schon als Kind hatte Harriet nichts lieber getan, als sich bei ihm im Hafenkontor aufzuhalten, mit einem Buch still in der Ecke zu sitzen und alles, was besprochen wurde, wie ein Schwamm in sich aufzusaugen. Der Vater hatte sie dann auch nach seinem Schlaganfall trotz aller familiären Widerstände nicht nur zu seiner rechten Hand gemacht, sondern testamentarisch zu seiner Nachfolgerin bestimmt. Sie hatte sich den väterlichen Respekt in langen, bitteren Jahren wahrlich hart erkämpft.

Onkel Henry aber, der achtzehn Jahre jüngere Bruder ihres Vaters und an der Firma mit einem Viertel beteiligt, hatte diese Entscheidung nicht akzeptiert. Er hatte auch nach dem Tod ihres Vaters gegen sie intrigiert und es mit seinen dreckigen Tricks tatsächlich geschafft, sie um die Anteilsmehrheit zu bringen und aus der Geschäftsleitung zu drängen. Aber was Onkel Henry und die Firmenleitung betraf, war noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Den Kampf um die Vorherrschaft über die Caldwell Shipping würde sie nicht aufgeben, ganz im Gegenteil. In wenigen Stunden würde sich zeigen, wie ihre Aussichten standen, Onkel Henry mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

Ihre Gedanken kehrten zu Frank und der Frage zurück, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Sie fand keine Antwort darauf, und doch verspürte sie, wie sie zu ihrer Verwunderung feststellte, nicht den Hauch von Reue, dass sie nun hier war. Hatte das Schicksal vielleicht einfach gewollt, dass es so kam?

Was auch immer sie bewogen hatte, es zu wagen, es fühlte sich trotz aller Einwände, die ihr Verstand vorbrachte, ganz wundervoll und unausweichlich richtig an. Und dafür war nicht allein der himmlische Sex verantwortlich.

Aber was kam auf sie zu? Welche Opfer würden sie bringen, nein, zu welchen Opfern würden sie bereit sein müssen, damit ihre Liebe über gelegentlichen wundervollen Sex hinaus eine Chance hatte?

Harriet fürchtete sich vor der Antwort. Nicht nur vor seiner, sondern auch vor der, die sie finden musste.

3

Durch das Gitter des handtuchschmalen Fensters hoch oben in der dicken Granitwand drang das fahle Licht des Vollmonds in die Zelle. Es reichte, um zu finden, wonach Tau-Tau suchte. Die Kakerlake, fast so groß wie sein Daumen, lag auf dem gepanzerten Rücken und lebte noch. Im nächsten Moment fuhr die konisch zulaufende Fußstange der Beinprothese auf sie nieder und zerquetschte sie.

Tau-Tau wischte die eklig schmierigen Überreste des Ungeziefers mit einem Zipfel seiner kratzigen Gefängnisdecke von der Spitze. Die Prothese, wie abgenutzt und primitiv sie mit ihren Lederbändern und rostigen Schnallen auch sein mochte, war ihm heilig. Und das hatte etwas zu bedeuten, denn er hatte es weder mit der Religion, noch neigte er zu sentimentalen Gefühlsaufwallungen. Den Glauben an einen barmherzigen Gott und menschliches Mitgefühl hatte ihm nicht erst San Quentin ausgetrieben. Das Verdienst gebührte einer ganzen Reihe von brutalen Skippern, Maschinisten und anderen Befehlshabern, die ihm schon viele Jahre zuvor mit der Faust, einem Tauende oder einer Klinge beigebracht hatten, welche Gesetze im Leben galten und welche unbedeutende Rolle er in diesem gnadenlosen Universum spielte. Da hätte es der vielen anderen Schicksalsschläge, die sein Leben seit der vergeblichen Flucht auf Samoa und der Auspeitschung damals an Deck der Amelia Star geprägt hatten, gar nicht bedurft. Seine Seele war vernarbt und sein Herz nicht mehr als ein alter Klumpen Fleisch, der immer mühsamer Blut durch den abgenutzten Körper pumpte.

Einem Menschen aber hatte er ewigen Dank geschworen, nämlich dem Zimmermann Mitchell Sumner. Der hatte damals nach dem Unfall auf der Josefine sein Bestes gegeben, damit er nicht zu einem Leben als hilfloser Krüppel verdammt war. Er hatte für die Prothese nicht zu einem beliebigen Stück Schiffsholz gegriffen, das buchstäblich ein Klotz am Bein gewesen wäre, sondern teures, aber leichtes Balsaholz verwendet, sogar ein Stück »quarter grain«, das aus der Mitte eines Balsastammes kam und damit die beste Qualität aufwies. Der Captain der Josefine hatte getobt, als er davon erfuhr, aber da war die Prothese schon fertig gewesen und er hatte nicht mehr dagegen tun können, als die Kosten von Tau-Taus restlicher Heuer abzuziehen.

Obendrein hatte Sumner ihm ein perfektes Versteck für Geld und andere Wertsachen geschenkt, indem er die beiden Hälften des Holzstücks ausgehöhlt hatte, bevor er sie gut miteinander verklebte und vernagelte, ein Gewinde in das untere Ende des Hohlkörpers drechselte und das viel dünnere kurze Endstück dort anschraubte. Dieses doppelte Geschenk hatte Tau-Tau ihm nie vergessen. Deshalb begab er sich an jedem Jahrestag seines Unfalls in eine Kirche, zündete für den alten Sumner, der als Ire immer einen Psalm oder sonstigen Bibelspruch auf den Lippen gehabt hatte, eine Kerze an und murmelte ein paar Worte des Dankes – wenn auch nie, ohne eine lästerliche Verwünschung für den Captain, den zehnmal verfluchten Schinder, hinzuzufügen. Selbst in den bittersten Zeiten, als er kaum ein paar Münzen in der Tasche gehabt hatte, war er seinem Schwur treu geblieben, indem er notfalls eine Kerze gestohlen hatte.

Nachdenklich zog Tau-Tau unter dem Strohsack, der ihm auf der Eisenpritsche als Matratze diente, eine verbeulte Blechdose hervor. Den einst bunten Aufdruck »Batavia Gold – The World’s Finest Tobacco« konnte längst nur noch erahnen, wer wusste, dass es ihn einmal gegeben hatte. Er drehte sich von den letzten Krümeln Tabak, die gut zur Hälfte mit Flocken aus getrocknetem Gras und Unkraut aus dem Gefängnishof versetzt waren, eine Zigarette, riss ein Streichholz an und sog den scharfen Rauch tief in die Lungen.

Er zögerte kurz und lauschte, ob sich ein Schließer auf dem Gang vor den Zellen herumtrieb, dann legte er sich die Prothese quer über die Oberschenkel und drehte das Fußstück heraus. Vorsichtig schüttelte er seinen geheimen Schatz aus dem Hohlraum. Doch nicht die zusammengerollten Geldscheine im Wert von neun Dollar waren das Kostbarste, was sich in der Prothese verbarg.

Nein, was sich nicht einmal mit dem Hundertfachen der paar Dollar aufwiegen ließ, die er trotz so mancher Versuchung all die Zeit nicht angerührt hatte, war die gut mit Kordel verschnürte Rolle aus Wachspapier, etwa so lang wie ein Zigarrenstumpen der billigen Sorte, aber nicht ganz so dick. Unter dem Wachspapier verbargen sich das Foto der Chinesin und der Ausriss aus der Napa Gazette mit dem Bild der frisch verheirateten Tochter von Captain Arthur Caldwell sowie die Notizen, die er auf Fetzen Papier gekritzelt hatte. All die Jahre hatte er seinen Schatz, seine schäbige Prothese, dieses geheime Versprechen auf eine goldene Zukunft, gehütet. Eine Zukunft, die begann, wenn er in wenigen Stunden aus dem Gefängnistor in die Freiheit schritt. Denn dies war der Tag, auf den er fünfzehn gottverfluchte Jahre in der Hölle von San Quentin gewartet hatte.

Würde George Gillmore, mit dem er fünf Jahre lang die Zelle geteilt hatte und der sich längst wieder seiner Freiheit erfreute, Wort halten und nachher mit allem zur Stelle sein? Hatte es etwas zu bedeuten, dass er am letzten Besuchstag nicht gekommen war? Diesem mausgesichtigen Frettchen war alles zuzutrauen.

Unruhe erfasste Tau-Tau, und sein Mund wurde trocken vor Beklemmung. Plötzlich fürchtete er, einen kapitalen Fehler gemacht zu haben, indem er das Frettchen in seinen Plan eingeweiht und zu seinem Komplizen gemacht hatte. Was, wenn der kriecherische Kerl es sich anders überlegt und beschlossen hatte, das Ding auf eigene Faust zu drehen? Konnte es sein, dass er eins und eins zusammengezählt und irgendwie herausgefunden hatte, dass Caldwell der Name war, den er ihm verschwiegen hatte?

Jetzt verfluchte Tau-Tau sich dafür, dass er Gillmore von Bobby Flake und Wilbur Burke erzählt hatte, die Zeugen des Massakers gewesen waren. Was, wenn Gillmore sich mit ihnen zusammengetan und die fette Kuh längst gemolken hatte?

Kalter Schweiß brach ihm aus, als ihn die Angst beschlich, einmal mehr in seinem elenden Leben auf das falsche Pferd gesetzt zu haben und nach fünfzehn gottverfluchten Jahren geduldigen Wartens und Planens in San Quentin doch wieder mit leeren Händen dazustehen.

4

Das Rascheln seidiger Bettwäsche holte Harriet aus ihren Gedanken. Sie lächelte und gab ein wohliges Seufzen von sich, als Frank sich Augenblicke später an ihren Rücken schmiegte und sie seinen nackten bettwarmen Körper spürte. Seine Händen glitten unter das Oberhemd, strichen zärtlich über ihren Bauch und kamen dann mit sanftem Druck auf ihren Brüsten zu ruhen. Sein Kopf senkte sich in ihre Halskuhle.

»Bist du schon lange wach?«

»Mhm, ja, schon eine Weile«, sagte sie und schmiegte ihre Wange an seine. Das leichte Kratzen der Bartstoppeln störte sie nicht. Von seinen Armen fest und doch zärtlich umschlungen zu sein und seine Haut zu spüren beruhigte sie. Es nahm der bangen Frage, ob eine gemeinsame Zukunft vielleicht bloß eine romantische Illusion war, viel von ihrer quälenden Kraft.

»Und? Worüber hast du nachgedacht?«, fragte er und küsste sie auf die Schulter.

»Ach, über dies und das«, murmelte sie vage.

Er lachte leise. »Und was genau ist dies und das?«

»Nun, etwa dass ich mittlerweile auf die Fünfzig zugehe …«

»Was redest du denn da? Du bist gerade einundvierzig geworden! Was soll denn ich mit meinen sechsundvierzig Jahren sagen?«, fiel er ihr lachend ins Wort. »Davon abgesehen können dir in Sachen Aussehen und Ausstrahlung noch nicht einmal halb so alte Frauen das Wasser reichen, und seien sie noch so attraktiv!« Und das war nicht übertrieben. Mit den rabenschwarzen, leicht bläulich schimmernden Haaren, die ihr, dem modischen Trend zum jungenhaften Bob zum Trotz, mit herrlicher Fülle auf die Schultern fielen, und den smaragdgrünen Augen hatte Harriet noch nichts von ihrem betörenden Zauber verloren. Und dasselbe galt für ihre Figur, für ihre gesamte Erscheinung.

Ihre Augen leuchteten auf, doch sie ging nicht auf seinen Protest ein, sondern fuhr eher nüchtern als wehmütig fort: »… und dass wir so entsetzlich viel Zeit verloren haben, Frank. Zwei volle Jahrzehnte genau genommen.«

Das traf Frank wie eine kalte Dusche, und seine Stimmung verdüsterte sich schlagartig. Er musste schlucken und sich fassen, bevor er antworten konnte. Und die Antwort fiel ihm nicht leicht. »Was allein meine Schuld ist. Ich hätte damals, als du mit deiner Mutter in Boston warst, nicht an deiner Liebe zweifeln dürfen, nur weil in den Monaten deiner Abwesenheit kein Brief mehr von dir eintraf«, erklärte er, so bitter es ihn auch ankam. »Und schon gar nicht hätte ich aus verletzter Liebe und gekränktem Stolz die alte Beziehung wieder aufnehmen und mich in diese unselige Ehe mit Florence stürzen dürfen. Damit habe ich es nur noch schlimmer gemacht. Für uns alle.«

Dass Florence, als das Erdbeben halb San Francisco in ein tagelanges Flammeninferno verwandelt und eine Trümmerwüste von fünfhundert zerstörten Häuserblocks hinterlassen hatte, hochschwanger beim Einsturz ihres Hauses auf der Octavia Street umgekommen und in der Stunde der Not allein gewesen war, weil er die Nacht heimlich mit Harriet verbracht hatte, das würde er sich sein Lebtag nicht verzeihen. Er fühlte sich für ihren Tod verantwortlich, und für ihn stand fest, dass es für sein Versagen keine Entschuldigung gab. Dieses Wissen hatte ihn seelisch aus der Bahn geworfen. Deshalb war er damals Hals über Kopf aus San Francisco geflüchtet und, getrieben von Scham und Schuldgefühlen, vier Jahre lang mit seinem alten Lieferwagen sowie einem Projektor und einem halben Dutzend kurzer Stummfilme ziel- und rastlos durch die Provinzstädte und Dörfer des amerikanischen Westens gezogen. Bis er an einem heißen Sommertag des Jahres 1910 am Fuß der Santa Monica Mountains in Hollywood, einem staubigen, verschlafenen 500-Seelen-Nest von Citrusfarmern, gestrandet war, in der Bar des »Hollywood Hotel« Vergil Hall kennengelernt hatte, den Kameramann einer kleinen Filmfirma, und spontan auf dessen verrücktes Angebot eingegangen war, für die Centurio Film Company aus Philadelphia zu arbeiten und sich ins Handwerk des Filmens einweisen zu lassen. Ach, wie er seinen alten Partner und Freund Vergil doch vermisste!

»Nein, ist es nicht«, widersprach Harriet ruhig und legte besänftigend ihre Hände auf seine, die noch immer ihre Brüste umschlossen. »Mich trifft nicht weniger Schuld, also quäl dich nicht länger mit diesen Selbstvorwürfen. Was bringt es, wenn wir unsere Versäumnisse und Fehler gegeneinander aufwiegen? Wir haben eine zweite Chance bekommen, nicht wahr?«

»Ja, das haben wir. Und wir werden sie nutzen!«

»Aber wie soll es weitergehen, Frank?«, fragte sie. »Mein Leben spielt hier in San Francisco, wo ich alle Hände voll zu tun habe, um mich gegen Onkel Henry zur Wehr zu setzen und die Kontrolle über die Reederei zurückzugewinnen.«

»Was dir bestimmt gelingen wird, vielleicht sogar schon heute, bei deinem Treffen mit den Anderson-Brüdern. Mit deren sechzehn Prozent hättest du wieder die Mehrheit in der Firma. Ich bin sicher, du schaffst es, dein Plan ist einfach zu gut. Sie müssten schon reichlich dumm sein, wenn sie nicht auf dein Angebot eingehen«, sagte Frank, während sein Blick einem Doppeldecker mit zitronengelbem Anstrich folgte. Das Flugzeug tauchte über dem Häusermeer nördlich von Nob Hill auf, flog eine Schleife über das Hafenviertel, drehte ab und entschwand in Richtung Oakland.

»Ja, darauf vertraue ich, aber das heißt noch lange nicht, dass sie auch wirklich an mich verkaufen«, erwiderte sie. »Oft genug habe ich Geschäfte, die angeblich in trockenen Tüchern waren, noch im letzten Moment platzen sehen. Und selbst wenn mir die Andersons ihre Anteile verkaufen, kann es für mich noch eine Zeit lang raues Wetter mit hohem Wellengang geben.«

Frank lachte trocken. »Damit beschreibst du genau das, was mich in Hollywood erwartet. Es wird ein verdammt harter Kampf, meine Partner davon zu überzeugen, dass die Stummfilmzeit auf ihr Ende zurast und die Zukunft den Talkies gehört.«

»Bist du dir dessen so sicher?«, fragte sie.

»Absolut! Sehen und Hören, Ton und Bild gehören einfach zusammen, Harriet. Die Pantomime der Schauspieler und die erklärenden Zwischentitel, die zum Verständnis der Handlung eingeblendet werden, sind bestenfalls Krücken. Sie widersprechen den menschlichen Sinnen und der natürlichen Form der Darstellung fundamental. Sonst würden ja wohl auch Theaterstücke stumm aufgeführt.«

»Also was ich in der letzten Zeit gesehen habe, hat mich doch sehr beeindruckt, besonders die Verfilmung von Elliots Roman, den man wohl nicht bewegender auf die Leinwand hätte bringen können«, sagte sie voller Stolz auf ihren »kleinen« Bruder, der mittlerweile zweiunddreißig war, sich als Romanautor einen Namen gemacht hatte und schon seit vielen Jahren in Paris lebte, wo seine sexuelle Veranlagung wenig Beachtung fand. Er fehlte ihr.

Unweigerlich musste sie an Ashley denken. Ihre Schwester, vierzehn Jahre jünger als sie, war vor vier Jahren nach Hollywood gegangen und hatte sich der Schauspielerei verschrieben. Nun ja, mit ihrer gertenschlanken Erscheinung, dem puppenhaften Gesicht und dem honigblonden Haar brachte sie zumindest die äußerlichen Voraussetzungen mit. Und an Ehrgeiz fehlte es ihr auch nicht. Dumm nur, dass sie versucht hatte, an ihre erste Rolle zu kommen, indem sie ausgerechnet Frank erpressen wollte. Sie hatte ihm alte Liebesbriefe präsentiert, die sie bei ihr, Harriet, gefunden und heimlich entwendet hatte. Das war böse ins Auge gegangen. Was nun ihre Talente als Schauspielerin betraf, so hatten sich diese in den drei, vier belanglosen Filmen, in denen sie in Nebenrollen mitgespielt hatte, als eher bescheiden erwiesen. Ganz abgesehen davon, dass Harriet für diese Slapsticks genannten Klamauk-Filme nichts übrighatte. Aber vielleicht war sie auch zu kritisch. Es gab leider so vieles, das ihre Schwester und sie trennte, und sich das einzugestehen war schmerzlich. Manchmal quälten sie Gewissensbisse, weil sie als die Ältere den Kontakt zu Ashley so vernachlässigt hatte. Es betrübte sie, dass sie sich mit ihr so wenig verstand und noch keinen Weg gefunden hatte, ein schwesterlich-herzliches Band zu ihr zu knüpfen. Allerdings war das wohl nicht allein ihre Schuld. Ashley machte es einem mit ihrer Arroganz und Großspurigkeit wahrlich nicht leicht. Ihre berechnende Art war einfach zu verletzend. Und wann hatte Ashley sich das letzte Mal bei ihr gemeldet? Nur wenn sie dringend Geld für ein Filmprojekt brauchte, erinnerte sie sich an ihre Schwester, die ihr mit erheblichen Summen aus der Klemme helfen konnte. In weiser Voraussicht hatte ihr Vater in seinem Testament festgelegt, dass Ashley erst mit Vollendung des siebenundzwanzigsten Lebensjahrs über den ihr vererbten zehnprozentigen Anteil an der Firma verfügen konnte. Das hatte sie nicht davon abgehalten, mit ihr, Harriet, einen Vorverkaufsvertrag abzuschließen und sich einen Vorschuss von vierhunderttausend Dollar auszahlen zu lassen. Harriet wünschte, sie hätte sich nicht dazu erweichen lassen, aber Ashley hatte sie derart angefleht und sich nicht gescheut, zu sticheln, sie, Harriet, sei »dank« Jordans frühem Tod ja nun eine der reichsten Frauen Kaliforniens, dass sie gar nicht anders gekonnt hatte, als nachzugeben.

»Hast du in letzter Zeit mal was von meiner Schwester gehört?«, fragte sie. »Oder bist ihr begegnet? Sie hat sich schon so lange nicht mehr gemeldet. Obwohl das ja nichts Neues ist.« In Gedanken fügte sie hinzu: und auch kein schlechtes Zeichen sein muss. Zumindest bedeutet Funkstille, dass sie nicht wieder Geld braucht! »Aber ich wüsste doch gern, wie es ihr geht.«

Frank zögerte. Begegnet war ihm Harriets Schwester in den letzten Monaten mehrfach, immer mit anderen Männern und meist ziemlich betrunken. Aber Letzteres traf ja wohl auf die Mehrzahl der Leute zu, die in Hollywood vor oder hinter der Kamera arbeiteten, ihn eingeschlossen. »Ich weiß nur, dass sie bei einem Projekt von Grand Horizon Pictures eingestiegen ist. Soll sich um einen historischen Kostümfilm handeln. Sie hat sich wohl mit einem erheblichen Beitrag an der Produktion beteiligt.«

Harriet verzog das Gesicht. »Nicht ganz ohne mein Zutun, ehrlich gesagt. Ich habe ihr einen Teil ihres Erbes auszahlen müssen. Hoffentlich hat sie da keinen Fehler begangen. Ist denn das Studio solide?«

»Grand Horizon Pictures? Na ja, gemeinhin produzieren sie solide Unterhaltungskost«, antwortete er diplomatisch. In Wirklichkeit gehörte die Firma zu den Filmproduzenten von Poverty Row, wie die abseits gelegenen und mies ausgestatteten Hinterhofstudios fern vom Sunset Boulevard und den anderen Filmzentren der Stadt abschätzig genannt wurden. Ein B-Movie für das Vorprogramm einer Vorstellung in der Provinz war schon das Höchste, was aus diesen Studios in die Kinos kam.

»Hat Ashley eine Chance, wenn der Tonfilm sich tatsächlich durchsetzt?«, fragte Harriet. »Sei ehrlich.«

Er zuckte die Achseln. »Wer kann das schon sagen? Nicht einmal bei meinen derzeitigen Stars würde ich die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie den Sprung in die neue Zeit schaffen. Was nun deine Schwester betrifft, so fürchte ich, dass ihre Begabung vielleicht nicht mit ihrem eigenen Anspruch mithalten kann. Und ihre Stimme … na ja …« Er ließ den Satz offen, schließlich kannte Harriet die etwas näselnde, snobistisch-träge Sprechmelodie ihrer Schwester.

Harriet gab einen schweren Seufzer von sich. »Vielleicht bleibt es ja doch beim Stummfilm.«

»O nein, das wird es nicht«, widersprach er mit Nachdruck. »Ich habe mich eingehend über die Produktion von Tonfilmen informiert. Und Warner Brothers sind nicht die Einzigen, die sich mit dieser neuen Technik beschäftigen. Nächstes Jahr bringen sie ›The Jazz Singer‹ heraus, und ich gehe jede Wette ein, dass die Menschen begeistert sein und mehr Filme dieser Art fordern werden.«

»Aber deine Geschäftspartner sehen das anders, wenn ich dich richtig verstanden habe«, sagte sie, löste sich sanft aus der Umarmung und drehte sich zu ihm um. Seine Locken, deren einstiges Weizenblond im Laufe der Jahre einen etwas dunkleren, goldbraunen Ton angenommen hatten, waren wild zerzaust, was ihm, zusammen mit der blassen sichelförmigen Narbe links auf der Stirn, etwas Verwegenes gab. Was jedoch nichts von seiner Strahlkraft verloren hatte, war das Blau seiner Augen, in dem man sich so leicht verlieren konnte.

Frank verzog das Gesicht. »Das ist leider wahr.«

»Das heißt, dass du nicht nur ein gutes Stück Überzeugungsarbeit vor dir hast, sondern danach auch schwer beschäftigt sein wirst, um deine Silver Screen Studios auf die neue Technik umzustellen.«

»Auch damit hast du den Nagel mitten auf den Kopf getroffen«, räumte er ein. Harriet hatte in zweifacher Hinsicht einen wunden Punkt berührt, und noch bevor er vom Thema ablenken konnte, formulierte sie auch schon die Frage, die sich aus alldem ergab.

»Wie also soll es mit uns weitergehen, wenn ich hier Gott weiß wie lange mit rauem Wetter zu kämpfen habe und du bis über beide Ohren mit der komplizierten und sicher teuren neuen Technik beschäftigt bist? Was bleibt dann noch für uns?« In ihrem Blick lag Beklommenheit, ja beinahe Angst.

Er lächelte gequält und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht, Harriet. Was ich jedoch weiß, ist, dass ich dich liebe und wir irgendwie einen Weg finden werden, diese schwierige Zeit zu überstehen. Und wir müssen natürlich Geduld miteinander haben.«

Einen langen Augenblick sah sie ihm forschend in die Augen, dann nickte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Ja, eine andere Wahl, als das Beste daraus zu machen, haben wir wohl nicht.«

»Und das werden wir, das verspreche ich dir.«

»Gut, aber was ist mit Adrian?«

»Was soll mit ihm sein? Hatten wir das nicht gestern schon besprochen?«, fragte er leicht irritiert zurück. Adrian war ihr gemeinsamer, mittlerweile neunzehnjähriger Sohn, von dessen Existenz er viele Jahre nichts gewusst hatte. Kurz nachdem er damals kopflos aus San Francisco geflohen war, hatte sie von ihrer Schwangerschaft erfahren. Jordan Shaw, ihr langjähriger Verehrer und Sohn eines Bankiers, hatte sie auf der Stelle geheiratet und damit einen Skandal im Hause Caldwell verhindert. Jordan war vor einigen Jahren an der Malaria gestorben, die er sich bei seinen oft Monate währenden archäologischen Ausgrabungen in Ägypten und anderen Ländern zugezogen hatte.

»Nun, ich weiß, dass Adrian sich mit dir ausgesöhnt hat und dass es ihm viel bedeutet zu wissen, wie sehr du in den letzten Jahren heimlich an seinem Leben Anteil genommen hast. Aber er hat Jordan abgöttisch geliebt, und Jordan ist noch keine vier Jahre tot. Das mit mir und dir könnte alte Wunden aufreißen«, sagte sie besorgt. »Wann also sagen wir es ihm?«

Frank zuckte die Achseln. »Der richtige Zeitpunkt wird sich ergeben. Lassen wir es auf uns zukommen, Harriet. Er ist ja kein Kind mehr.«

»Also behalten wir es noch eine Weile für uns, auch wenn es mir widerstrebt, vor meinem Sohn Heimlichkeiten dieser Art zu haben«, sagte sie und wechselte das Thema. »Sag, wie lange kannst du überhaupt bleiben?«

»Nur ein paar Tage«, antwortete er und versuchte, die bittere Wahrheit ins Scherzhafte zu ziehen, indem er fortfuhr: »Länger kann ich es im Augenblick nicht riskieren, den Brandherden, die auf meinem Studiogelände schwelen oder bald auszubrechen drohen, fernzubleiben.«

»Dann sollten wir die kostbare Zeit nutzen.«

»Für ein frühes Frühstück?«, fragte er neckend.

»Ich denke, das kann noch ein bisschen warten. Noch fehlt mir dafür der richtige Appetit.«

»Worauf hast du dann Appetit?«

Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln, während ihre Hand über seine Brust strich und abwärts wanderte. »Auf dasselbe wie du, wie ich spüre«, flüsterte sie und streifte sich mit der anderen Hand das Oberhemd von der Schulter.

Frank nahm ihr Gesicht in beide Hände und teilte ihre Lippen mit der Zunge. Ohne voneinander zu lassen, bewegten sie sich auf das zerwühlte Bett zu.

Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte, noch bevor sie auf das Laken sinken konnten. Ohne dass sich ihre Lippen voneinander lösten, schüttelte Harriet energisch den Kopf.

Frank war versucht, das Klingeln zu ignorieren, doch dann brach er den Kuss ab und schob sie sanft, aber doch nachdrücklich von sich. »Tut mir leid, mein Schatz, aber das muss etwas Wichtiges sein!«, stieß er hervor. »Nur drei Menschen wissen überhaupt, wo ich bin. Bitte entschuldige, aber den Anruf muss ich entgegennehmen.«

»Schon gut, wenn du es sagst«, seufzte sie, zog eine Grimasse und setzte sich auf die Bettkante. »Aber mach es kurz. Du willst doch nicht, dass mir der Appetit vergeht, oder?«

»Um Gottes willen, nein!«, versicherte er, gab ihr noch schnell einen Kuss und hob den Hörer mit dem massiven Messinggriff und den Ohr- und Sprechmuscheln aus elfenbeinfarbenem Porzellan aus der doppelten Gabel.

»Mr Maynard, Sir?«

»Ja, bitte?«

»Roswell hier, Sir, Ihr Nachtmanager. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich Sie zu dieser frühen Morgenstunde aus dem Schlaf hole«, begann der Mann unten an der Rezeption hörbar zerknirscht. »Aber ich habe hier einen Anrufer in der Leitung, Sir. Einen Anrufer aus Los Angeles, Sir. Der Herr ist sehr hartnäckig, gelinde ausgedrückt, er besteht darauf, unverzüglich mit Ihnen verbunden zu werden. All meine Versuche, ihm …«

»Wie ist der Name?«, fiel Frank ihm ins Wort und warf Harriet, als er die Enttäuschung in ihren Augen las, einen flehentlichen Blick zu.

»Es ist ein gewisser Mr Tony Russo, der Sie …«

Erneut ließ Frank den Nachtmanager nicht ausreden. »Stellen Sie ihn durch!« Tony Russo war seit Jahren der Chef seiner Presse-&-PR-Abteilung. Genau genommen war er eine Menge mehr als das. Er war der unersetzliche Feuerwehrmann der Silver Screen Studios, wenn es um Brandherde ging, die zwar nichts mit tatsächlichem Feuer zu tun hatten, aber eine ebenso verheerende Wirkung haben konnten. Tony Russo war sein »Fixer« und in der schillernden Branche der Fixer einer der Besten.

Harriet blieb noch einen Augenblick auf der Bettkante sitzen, dann stand sie auf und begab sich ins Bad. Der erotische Zauber war gebrochen. Angespannt wartete Frank auf die Verbindung – und Tonys Hiobsbotschaft. Denn dass ihn eine schlechte Nachricht erwartete, lag auf der Hand. Auf das Knacken in der Leitung folgte ein atmosphärisches Rauschen, Jaulen und Zirpen. Dann legte sich ein undefinierbarer Lärm über dieses störende an- und abschwellende Grundrauschen, das noch immer so viele Ferngespräche plagte. Er hörte Musik, Gelächter und wirres Stimmengewirr, es klang nach einer wilden Party.

»Tony? … Hallo, Tony?«

»Sind Sie dran, Boss? … Hören Sie mich?«

Nur schwach setzte sich die Stimme gegen die laute Geräuschkulisse und die statischen Störungen durch, aber es war unverkennbar Tony Russo. »Nicht sehr gut. Von wo um alles in der Welt rufen Sie an, Tony? Von einer aus dem Ruder laufenden Party?«

»… vorn im … Gate …«, klang es im gut fünfhundert Meilen entfernten »Fairmont« aus dem Hörer.

»Ich versteh kein Wort, Tony! Decken Sie die Sprechmuschel mit der Hand ab!«

Anstelle einer Antwort hörte Frank ein ausgiebiges Rascheln, das alle anderen Geräusche bis auf das Hintergrundrauschen übertönte, dann erscholl wieder Tony Russos Stimme, diesmal halbwegs verständlich. »Ich bin vorn im Schankraum vom ›Hell’s Gate‹, Boss. Tut mir leid wegen dem Lärm, aber hier feiert noch immer der harte Kern einer Flapper-Hochzeit, und es kümmert kein Schwein, dass ich ein wichtiges Telefongespräch führen muss. Und ’ne schalldichte Telefonzelle gibt’s in dem Schuppen nicht.«

»Sagen Sie bloß, Sie haben bis jetzt am Pokertisch gesessen!« Das »Hell’s Gate«, in dessen Hinterzimmer regelmäßig Pokerrunden für gut betuchte Spieler aus der Filmbranche stattfanden, war die bevorzugte Flüsterkneipe seines Fixers.

»Ich weiß, Boss. Ich sollte wissen, wann Feierabend ist, und mich nicht so selbstlos für die Firma aufreiben«, spottete Tony. »Aber Sie können mir später noch dafür danken, dass ich mir die Nacht mit einer Runde durch die bevorzugten Kneipen unserer Stars und Sternchen um die Ohren geschlagen habe und am Schluss hier gelandet bin.«

»Selbstlosigkeit ist zweifellos eine Ihrer hervorstechenden charakterlichen Stärken«, gab Frank zurück. »Aber nun rücken Sie schon damit heraus. Wo brennt es?«

»Es raschelt ordentlich im wilden Gebüsch von Eden, Boss.«

Ein freudloses Lächeln flog über Franks Lippen. In ihrer Branche, in der es von Zynikern nur so wimmelte, benutzten viele Eden als Synonym für Hollywood und die Filmindustrie. Wobei sie natürlich nicht das Paradies der Unschuld meinten, sondern das Eden nach dem Sündenfall.

»Und was genau tut sich in unserem sündhaften Eden?«

»Ein paar beutegierige Schlangen, die sich bislang versteckt gehalten haben, kriechen aus dem Gebüsch, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Und das Gift dieser Nattern gilt Ihnen, Boss!«

5

Der alte Schleppkahn, den nur noch der Rost und der hart gebackene Uferschlamm zusammenhielten, hatte schon im Jahr des Erdbebens in einer versandeten Bucht auf der Nordseite der San Francisco Bay seinen letzten Ruheplatz gefunden. Die schmale Pier, an der er lehnte wie ein Betrunkener mit schwerer Schlagseite, war halb eingebrochen, und ebenso brüchig waren die Taue, die den Kahn einst längsseits gehalten hatten.

Helles Morgenlicht fiel durch das nach Osten gehende Bullauge in der rissigen Wand des Wohnverschlags. Dieser Verschlag im Heck war das letzte von ehemals drei billigen Quartieren, in die der verrostete Schleppkahn für Kohle und Schotter vor zwanzig Jahren mit hastig zusammengezimmerten Brettern verwandelt worden war. Die beiden vorderen Hütten waren längst in sich zusammengefallen.

Der kalte Luftzug, der durch die Ritzen zwischen den Brettern drang, holte George Gillmore aus dem Schlaf. Er erwachte mit pelziger Zunge und pochenden Kopfschmerzen. Als er die Augen aufschlug, traf ihn der hereinflutende Sonnenschein wie Scheinwerferlicht. Fluchend kniff er die Augen zusammen und drehte sich zur Seite. Dabei stieß seine Hand auf ein weiches, warmes Hindernis.

Er stutzte, setzte sich auf und zerrte die dicke Flickendecke zur Seite. Beim Anblick des nackten knabenhaften Körpers auf seinem Matratzenlager blinzelte er verdutzt. Für einen Augenblick war sein Gehirn leer wie eine blank gewischte Tafel, dann kam, widerwillig wie ein stotternd anspringender Motor, die Erinnerung in Gang. Natürlich, er hatte sich mal wieder Shenmi ins Bett geholt. Wusste der Teufel, warum er immer wieder auf diese chinesische Hure verfiel. Gut, sie war jung und billig zu haben, für einen halben Dollar die Nacht, aber an weiblichen Reizen hatte sie nichts zu bieten. Sie war platt wie ein Bügelbrett mit zwei Erbsen drauf und konnte gut als Junge durchgehen. Aber er nahm sie ja auch nur von hinten oder ließ sich einen blasen, da konnte es ihm egal sein, ob sie Titten hatte oder nicht.

Trotzdem machte es ihn hinterher jedes Mal wütend, dass er von diesem Typ Nutte einfach nicht loskam. Und dann hieß sie auch noch Shenmi, was in der Sprache der Chinks angeblich »Geheimnis Gottes« bedeutete. Offenbar ein verdammt gut gehütetes Geheimnis, vielleicht das beste der Welt. Ach was, ein schlechter Witz!

Angewidert weckte George Gillmore sie mit einem Fußtritt. »Los, wach auf! Beweg deinen Arsch, hast du gehört? Raus mit dir! Nimm deinen Fummel und verschwinde!«

Ohne ein Wort des Protests sprang die junge Chinesin auf, zog sich an und hielt wortlos die Hand auf. »Halbes Dolla!«, sagte sie. Ihre Lippen lächelten, doch ihre dunklen Augen blickten hart und kalt.

Am liebsten hätte er sie von seinem Kahn gejagt, ohne zu bezahlen, aber das konnte er sich nicht erlauben. Das würde Ärger geben, und Ärger war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Chinese Cove, wo die Dschunken der chinesischen Shrimper ihren Ankerplatz hatten und die Hütten der Schlitzaugen sich auf Stelzen über dem Wasser erhoben, lag von seiner Unterkunft kaum mehr als einen Steinwurf entfernt. Tag und Nacht drang der Fischgestank aus der Siedlung durch die Ritzen seiner Bretterwände, aber dieser Ort war ein ideales Versteck und damals billig zu haben gewesen, zumal noch der windschiefe Schuppen neben der Pier im Preis inbegriffen gewesen war. Zurzeit verbarg er dort weder Hehlerware noch geschmuggelten illegalen Alkohol, sondern das gelb-grün lackierte Taxi, das er letzte Nacht in Oakland vom Autohof der Checker Cab Company gestohlen hatte.

»Ein halber Dollar! Schon mit ’nem Dime wärst du gut bezahlt. Ich sollte dich zum Teufel jagen«, knurrte er, griff aber zu seinem Geldbeutel und warf ihr einen halben Dollar zu, den sie in der Luft auffing. Fast ohne ein Geräusch huschte sie aus der Kabine und vom Kahn.

Gillmore bedachte sie noch mit einem halblauten Fluch, der eigentlich mehr ihm selbst galt als ihr. Den halben Dollar, so kläglich der Betrag auch war, hätte er bei der derzeitigen Ebbe in seinem Geldbeutel gar nicht ausgeben dürfen. Nur gut, dass er in den vergangenen Tagen schon alles besorgt hatte, was er für Tau-Tau benötigte.

Hastig zog er sich an, denn ihm war kalt. Dann fiel sein Blick auf die Flasche San Gabriel Brandy. Es war die letzte, die noch übrig war, und sie war für Tau-Tau gedacht. In dem Steinkrug daneben war billiger schwarzgebrannter Schnaps, etwas für wirklich bittere Notfälle, wenn er sich nichts halbwegs Ordentliches leisten konnte. Aber warum sollte Tau-Tau seinen ganzen Brandy bekommen? Zwei, drei kräftige Schlucke waren da schon noch für ihn selber drin. Die nahm er sich nun, um den ekligen Geschmack im Mund und die bohrenden Kopfschmerzen loszuwerden. Dann machte er sich daran, Kleinholz und Kohle im Kanonenofen aufzuschichten. Ein Blechbecher voll Kerosin sorgte dafür, dass das Feuer schnell brannte.

Er zog sich einen dreibeinigen Hocker heran, genehmigte sich einen weiteren Schluck aus der Flasche und rieb sich in dem Hitzeschwall, den der Kanonenofen ausstrahlte, die klammen Hände. Und erst dann wurde ihm wirklich bewusst, dass dies der Tag war, dem er seit anderthalb Jahren entgegenfieberte.

In ein paar Stunden wurde Tau-Tau entlassen. Der Mann, mit dem er fünf Jahre in San Quentin die Zelle geteilt und unter dessen Schutz er gestanden hatte. Die Erinnerung an den Preis, den er für diesen Schutz bezahlt hatte, verursachte ihm Übelkeit. Schnell spülte er den sauren Geschmack mit einem weiteren Schluck Brandy hinunter.

Gillmore zwang seine Gedanken weg von den hässlichen, nicht allein mit Tau-Tau verknüpften Bildern der Vergangenheit. Von den zweiunddreißig Jahren seines Lebens hatte er elf hinter Gittern verbracht. Mit siebzehn hatte er läppische siebenundachtzig Dollar unterschlagen, was das Ende seiner Buchhalterlehre und der Beginn einer erbärmlichen Laufbahn als Kleinkrimineller gewesen war. Auch als Scheckbetrüger hatte er versagt und dafür mit erneutem Einsitzen bezahlt. Und ebenso wenig war es ihm gelungen, als Einbrecher einen richtig fetten Coup zu landen und anständig Kasse zu machen. Ein verdammtes Hausmädchen hatte ihn nicht nur auf frischer Tat ertappt, sondern ihm auch, als er versucht hatte zu fliehen, mit einem Kerzenleuchter eins übergezogen. Der erfolglose Bruch hatte ihm die fünf Jahre in San Quentin eingebracht, aber mit Tau-Tau auch die Chance seines Lebens.

Ja, jetzt war seine Stunde gekommen. Am Nachmittag würde der alte Seemann die entscheidende Information, die er ihm bislang vorenthalten hatte, endlich herausrücken. Sie war der Schlüssel zu allem, zu Tausenden von Dollar. Diesen Schlüssel zum Reichtum würde er Tau-Tau entreißen!

6

Frank wurde bleich, und seine Hand krampfte sich um den Telefonhörer. Die Verbindung war noch immer durchzogen von dem ewigen Rauschen und Zirpen, aber zumindest legte sich der Partylärm im Hintergrund. »Sind Sie sich dessen ganz sicher, Tony?«, stieß er hervor. Zugleich wusste er, dass er sich die Frage hätte sparen können. Tony hörte buchstäblich das Gras wachsen. Zudem hätte er ihn nicht mitten aus seiner Pokerrunde heraus angerufen, wenn er seine Information nicht aus zuverlässiger Quelle erhalten hätte.

»Patterson hat’s mir gesteckt, Boss.«

»Der für den Los Angeles Examiner schreibt?« Das auflagenstarke Blatt gehörte zum Zeitungsimperium von Randolph Hearst, und Terence Patterson hatte im Examiner seine eigene Kolumne, jedoch nicht als Klatschreporter, sondern im Wirtschaftsteil. Er hatte mit seinen Insiderinformationen, die er zumeist geschickt in eine Frage kleidete oder als nicht bestätigtes Gerücht deklarierte, schon so manche Firma in finanzielle Bedrängnis gebracht, aber auch so mancher sich müde dahinschleppenden Aktie zu einem jähen Höhenflug verholfen.

»Genau der, Boss«, bestätigte Tony.

»Aber woher will er das wissen? Von Holbrook oder Kirkland bestimmt nicht, die verstehen sich aufs Dichthalten. Und Wells Fargo dürfte als unsere Hausbank ebenso wenig daran interessiert sein, dass jemand im Vorfeld Wind von dem Treffen bekommt, schon gar nicht ein Pressefritze wie Patterson.«

»Da ist schon was dran«, erwiderte Tony, »nur haben die drei Musketiere ihre Rechnung ohne Pattersons Schwägerin Joslyn gemacht. Die sitzt beim dicken Rutherford im Vorzimmer, hat Kirklands Anruf zu ihm durchgestellt und nicht gleich aufgelegt, sondern mitgehört. Die Bank ist mit den Film- und Öl-Leuten hier groß im Geschäft und schreibt fette schwarze Zahlen, aber eine Gehaltsaufbesserung hat die gute Joslyn seit Jahren nicht gesehen. Und da kommt wohl Patterson gelegentlich mit wohltätigem Beistand ins Spiel. Er hat ja ein üppiges Spesenkonto. Vielleicht sollten wir Mr Hearst bei Gelegenheit mit einer Grußkarte unseren Dank aussprechen.«

Frank war viel zu entsetzt, um auf die Bemerkung einzugehen. »Und woher haben Sie das alles? Sitzt Patterson vielleicht mit Ihnen am Pokertisch?«

»Ganz recht, Boss. Der Gute hatte heute, der Vorsehung sei Dank, eine wahre Pechsträhne. Wir haben ihm die Hosen ausgezogen. Da er seinen Platz aber nicht räumen wollte, hat er mir in einer Pinkelpause die Information verkauft, um im Spiel bleiben zu können. Billig hat er’s nicht gemacht, das will ich Ihnen gleich sagen, Boss.«

»Das interessiert mich jetzt nicht! Heben Sie sich die bittere Pille für später auf!«, fiel Frank ihm ins Wort. Der Schock war überwunden, seine ganze Konzentration galt allein der Frage, wie er der Gefahr begegnen sollte. »Die wollen sich also treffen. Wann und wo?«

»Im ›Plaza‹, und zwar schon heute Abend«, sagte Tony, war jedoch bei all den atmosphärischen Störungen kaum zu verstehen und musste sich auf Franks Nachfrage wiederholen. »Sie haben sich für halb sieben heute Abend im ›Russian Eagle‹ verabredet.«

»Verdammt!«

»Ja, da wird es dann noch gähnend leer sein. So mancher steigt in Hollywood ja um die Uhrzeit gerade erst aus dem Bett und überlegt, wo er sich die Nacht um die Ohren schlagen soll«, sagte Tony. »Rutherford hat wohl später im ›Los Angeles Country Club‹ noch eine Verpflichtung, da findet sich die Crème de la Crème der hiesigen Ölindustrie zu einem Wohltätigkeitsfest ein, Kirkland hat aber darauf bestanden, sich heute noch mit ihm und Holbrook zusammenzusetzen, weil er morgen wieder nach New York muss.«

»Verdammt!«, wiederholte Frank, ballte die Linke zur Faust und hämmerte sie gegen das dick gepolsterte Kopfteil des Bettes. Seine Geschäftspartner heckten etwas gegen ihn aus, und er saß hier fest. Mit der Eisenbahn würde er niemals rechtzeitig in Hollywood sein, ganz abgesehen davon, dass es direkt dort gar keinen Bahnhof gab. Man konnte erst in Downtown Los Angeles aussteigen, und dann war es mit dem Taxi noch ein gutes Stück bis hinauf nach Hollywood. Zudem hatte, wie ihm ein schneller Blick auf die Uhr verriet, der Frühzug nach Süden San Francisco schon vor zwanzig Minuten verlassen, und mit dem nächsten Zug, der gegen Mittag ging, würde er erst lange nach Einbruch der Dunkelheit in Los Angeles eintreffen. Er konnte versuchen, sich einen schnellen Wagen zu leihen, alles aus dem Motor herauszuholen, und darauf hoffen, dass er die fast sechshundert Meilen ohne Panne überstand. Was bei den unbefestigten und von Schlaglöchern übersäten Landstraßen jedoch einem Wunder gleichkäme. Abschnitte mit fester Asphaltdecke waren auf der staubigen Strecke bislang so selten wie Perlen in einer Austernbank. Aber selbst wenn er solch einen Höllenritt wundersamerweise heil überstand, blieb ungewiss, ob er es noch rechtzeitig ins »Plaza« schaffte.

»Hören Sie, Boss. Ich hab da so ein paar Ideen, wie ich den drei Musketieren in die Suppe spucken und dafür sorgen kann, dass heute aus dem Treffen nichts wird. Dann hätten Sie genug Zeit, um zurückzukommen und ihnen persönlich an den Kragen zu gehen.«

»Und was wären das für Ideen?«

»Zum Beispiel könnte es, kaum dass Rutherford sich in seinen Wagen gesetzt hat, einen bedauerlichen Unfall geben«, schlug Tony vor. »Das ließe sich schnell und problemlos inszenieren. Ich kenne ein paar arbeitslose Stuntmänner, die das sauber und ohne viel zu fragen hinkriegen. Am besten gleich mit zwei alten Schrottkisten, die Rutherfords Cadillac in die Zange nehmen und ihn schön lange festhalten. Nichts Spektakuläres, Boss, aber eine solide Sandwich-Karambolage mit ordentlichem Blechschaden und einem hitzigen Streit über die Schuldfrage. Bis die Polizei da für Ruhe und Durchblick gesorgt hat, könnte es für das Treffen im ›Plaza‹ wegen Rutherfords anderer wichtigen Verabredung zu spät sein. Das wäre eine Option. Ich könnte mir aber auch vorstellen …«

Eine Erinnerung regte sich in Frank, vor seinem inneren Auge stieg ein Bild auf, das ihm augenblicklich die rettende Idee eingab. »Warten Sie! Unternehmen Sie vorerst nichts!«, rief er. »Womöglich brauche ich in dieser Sache gar nicht auf Ihr Organisationstalent zurückzugreifen. Gehen Sie nach Hause und gönnen Sie sich ein paar Stunden Schlaf. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich weiß, ob ich die Sache in den Griff kriege, und wenn nicht, ist immer noch Zeit genug, um auf Ihren Vorschlag zurückzukommen.«

»Ganz wie Sie meinen, Boss.«

Frank legte auf, tippte zweimal auf die Gabel des Telefons und hatte die Telefonvermittlung des »Fairmont« am Apparat. »Bitte verbinden Sie mich mit Mr George Cutter von der Detektei Cutter Investigations. Er hat sowohl sein Büro als auch seine Wohnung auf der Market Street. Versuchen Sie es aber zuerst unter seiner privaten Nummer.«

»Sehr wohl, Mr Maynard.«

Frank hängte den Hörer ein und blickte zum Badezimmer hinüber. Die Tür war geschlossen, die Dusche lief. Kurz dachte er daran, zu Harriet zu gehen, aber falls Cutter den Anruf annahm, musste er ja doch gleich wieder ans Telefon. Deshalb ging er hinüber in den geräumigen Wohnbereich der Suite, zog die Vorhänge auf, goss sich an der Hausbar einen Whiskey ein, ordentliche zwei Fingerbreit hoch, und nahm einen kräftigen Schluck. Auf nüchternen Magen entfaltete der Drink buchstäblich schlagartig seine Wirkung. Himmel, nach dieser Hiobsbotschaft hatte er das gebraucht! Jetzt hing alles von Cutter ab. Wenn ihm einer helfen konnte, dann er. Auf den Ex-Pinkerton war Verlass. Er verstand sein Geschäft und pflegte ein weites und engmaschiges Netz nützlicher Verbindungen. Er war wie Tony Russo ein Fixer, wenn auch auf seine eigene Art. Gerade als Frank zu seinen Zigaretten greifen wollte, klingelte das Telefon auf dem altenglischen Sekretär.

»Ihr Gespräch mit Mr Cutter, Sir. Ich verbinde.«

»Danke.« Es knackte kurz, dann hatte er den Privatdetektiv in der Leitung. »Mr Cutter?«

»Was kann ich für Sie tun, Mr Maynard?« Cutter vergeudete auch nicht eine Sekunde mit Höflichkeitsfloskeln. Nichts ließ darauf schließen, dass er angesichts des frühmorgendlichen Anrufs überrascht oder gar verdrossen gewesen wäre.

Auch Frank hielt sich nicht mit langen Erklärungen auf. »Ich muss heute Abend um sechs in Hollywood sein. Können Sie jemanden auftreiben, der ein Flugzeug besitzt und mich rechtzeitig zu meinem Termin bringt? Die Kosten spielen keine Rolle.«

Cutters Antwort ließ einen Augenblick auf sich warten. Dann sagte er schlicht: »Das sollte zu machen sein.«

Frank atmete auf und räusperte sich, weil ihm das, was er jetzt zu sagen vorhatte, etwas peinlich war. Immerhin hatte er noch nie in einem Flugzeug gesessen, und wenn er sich auf diese zweifelhafte Art der Beförderung einließ, dann nur unter bestimmten Voraussetzungen. »Ich denke dabei aber nicht an diese fliegenden Bretterkisten aus dünnen Holzleisten und mit Stoff bespannten Flügeln, sondern an eine solide Maschine und einen erfahrenen Piloten.«

»Ich auch, Mr Maynard«, erwiderte Cutter trocken, ließ sich die Zimmernummer im »Fairmont« geben und versprach, ihm in einer guten halben Stunde mitzuteilen, was er hatte arrangieren können.

Frank nahm noch einen kräftigen Schluck Scotch, griff zu der grünen Schachtel mit seinen britischen Woodbine-Zigaretten und steckte sich eine an. Er mochte das leichte Schwindelgefühl, das ihn beim ersten tiefen Zug erfasste. Dass Cutter so sicher war, ihm eine solide Maschine und einen gestandenen Piloten organisieren zu können, dämpfte seine Wut. Diese sogenannten Partner konnten aushecken, so viel sie wollten – er war jedenfalls noch im Spiel!

Keine zwanzig Minuten später rief Cutter zurück. »In anderthalb Stunden sind Sie in der Luft, Mr Maynard«, sagte er schlicht. »Haben Sie was zum Mitschreiben zur Hand?«

»Ja, mit Kompliment des ›Fairmont‹«, sagte Frank aufgekratzt und setzte sich an den Sekretär.

»Ihr Pilot heißt Doug Collins, ein Mann mit mehr als tausend Flugstunden. Seine Maschine ist eine Junkers-Larsen mit geschlossener Kabine, ein Tiefdecker. Wird in Mineola, im Staat New York, gebaut und ist eines der wenigen Ganzmetallflugzeuge. Die Reisegeschwindigkeit liegt bei siebzig bis achtzig Meilen die Stunde, hängt aber natürlich von Wind und Wetter ab«, ratterte Cutter herunter. »Reichweite rund siebenhundert Meilen, eine Zwischenlandung zum Auftanken wird also nicht nötig sein, es sei denn, es herrscht starker Gegenwind. Collins erwartet Sie um neun draußen auf dem Mills Field.«

»Wo liegt das?«

»In San Mateo, direkt an der Bay, etwa dreizehn Meilen außerhalb der Stadt. Das Flugfeld wird gerade erst angelegt, noch ist da überwiegend Farmland. Die offizielle Eröffnung ist für Mitte nächsten Jahres angesetzt. Ich soll Ihnen sagen, dass der Start in Ermangelung einer gewalzten Rollbahn etwas holprig ausfallen dürfte.«

Frank verzog das Gesicht. »Wenn das das Schlimmste ist, was mir heute bevorsteht, will ich mich nicht beklagen«, sagte er, besprach noch kurz die Rechnung mit Cutter und legte den Hörer zurück auf die Gabel.

»Wie lange haben wir noch?«

Er wandte sich um. Harriet stand, in einen flauschigen weißen Bademantel gehüllt und die Haare noch nass, in der Tür zum Schlafzimmer. Wie lange lehnte sie schon da am Tührrahmen? Ihr Anblick versetzte ihm einen Stich, und die Wut auf seine Geschäftspartner kehrte mit ganzer Bitterkeit zurück.

Er sah sie flehentlich an. »Gerade genug Zeit, um unten zusammen einen Kaffee zu trinken. Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss um jeden Preis heute Abend in Hollywood sein. Da braut sich so etwas wie eine Palastrevolte zusammen«, unterrichtete er sie bedrückt. »Cutter hat ein Flugzeug und einen guten Piloten aufgetrieben, der mich noch rechtzeitig hinbringt. Um neun muss ich auf dem Flugfeld sein, dreizehn Meilen vor der Stadt.« Aber vorher musste er noch mit Tony die Lage besprechen.

Sie lächelte tapfer. »Ich bring dich.« Sie kam zu ihm, zog ihm die Zigarette aus dem Mundwinkel und nahm einen tiefen Zug, bevor sie ihm die Woodbine wieder zwischen die Lippen steckte. Kurz legte sie den Kopf in den Nacken und blies den Rauch zur reich mit Stuck verzierten Decke, dann sah sie ihn beklommen an. »Wird das jetzt immer so sein, Frank? Kurze flüchtige Treffen voller Leidenschaft und dazwischen lange Zeiten der Trennung? Wie eine heimliche Affäre?«

7

Der Pilot wackelte mit den Schwingen, flog mit röhrendem Motor tief über Harriet hinweg und legte die Junkers-Larsen in eine steile Rechtskurve. Noch einmal winkte Harriet dem Flugzeug nach, obwohl sie annahm, dass Frank sie hier unten auf dem grob planierten Feld nicht mehr sehen konnte. Wie ein riesiger Vogel mit silbernen Flügeln stieg die Maschine über der tiefblauen San Mateo Bay in den Himmel und entschwand nach Süden. Harriet wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, setzte sich in ihren Packard Phaeton und fuhr zurück nach San Francisco.

Zwanzig Minuten später erreichte sie die westlichen Außenbezirke und bog in die Vallejo Street ein. Die Straße durchschnitt die Stadt von West nach Ost und endete unten am Hafen an der gleichnamigen Pier, wo auch die Caldwell Shipping Company mit dem Kontor ihren angestammten Sitz hatte – beziehungsweise jahrzehntelang gehabt hatte und hoffentlich bald wieder haben würde. Harriets Mund verhärtete sich, als ihr Wagen den Russian Hill erklomm, wo Onkel Henry eine der stattlichen Stadtvillen bewohnte.

Energisch gab sie Gas, um das Viertel schnell hinter sich zu lassen. Einem spontanen Entschluss folgend bog sie kurz dahinter links ab und fuhr hinauf zum Telegraph Hill. Dort stieg sie aus, setzte sich auf das Reststück einer alten, kniehohen Mauer und steckte sich eine Zigarette an. Während ihrer Kindheit hatte hier, auf dem höchsten Punkt von San Francisco, der Semaphor gestanden, der aus schweren Balken gezimmerte Mast mit zwei beweglichen Signalarmen. An der Stellung dieser Arme hatten die Bewohner der Stadt, insbesondere aber die Kaufleute und Reeder ablesen können, welches Schiff gerade in die Bay einlief. Die Einführung der elektrischen Telegrafie hatte dem Hügel seine langjährige merkantile Bedeutung schließlich geraubt. Was sich der Telegraph Hill jedoch durch alle Zeitläufte bewahrt hatte, war, dass man von hier oben einen einzigartigen Blick über die Stadt hatte, die Meeresenge des Golden Gate und die flimmernde Weite der Bay eingeschlossen.

Es war töricht, dass Franks unverhoffte Abreise sie so getroffen hatte. Was war bloß in sie gefahren, dass sie so empfindlich reagiert hatte? Sie wusste doch, dass er von tausend Verpflichtungen in Atem gehalten wurde und jetzt auch noch um die Zukunft seiner Silver Screen Studios kämpfen musste. Er war nun mal kein reicher Privatier, wie ihr Mann es gewesen war. Der hatte sich seine Tage nach Lust und Laune einteilen können. Allerdings hatte ihn das nicht davon abgehalten, sich fast jedes Jahr über viele Monate fern von ihr seinen archäologischen Ausgrabungen zu widmen.

Nein, sie durfte jetzt nicht ungeduldig werden, und schon gar nicht durfte sie zu viel erwarten, wie groß die Sehnsucht auch war. Sie hatte zwanzig Jahre gewartet, auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst gewesen war oder es sich nicht hatte eingestehen wollen. Ihn zu drängen oder gar Ansprüche zu stellen, das konnte nur mit einer neuerlichen Enttäuschung enden.

Entschlossen, nicht noch einmal mehr vom Schicksal zu erwarten, als es zu geben bereit war, drückte sie die Zigarette aus. Bis zu ihrer Lunch-Verabredung mit den Anderson-Brüdern hatte sie noch reichlich Zeit, deshalb machte sie noch einen zweiten Umweg, der sie hinunter zum Hafen und zu ihrem Kontor brachte.

Harriet liebte den Hafen über alles, und das von Kindesbeinen an. Hier war sie aufgewachsen, mit dem Geruch von Teer und frischer Farbe, von Seetang, Werg und feuchtem Tauwerk, dem Geruch von Getreide, Kohle und exotischen Gewürzen, von Holz, vom Essen der Garküchen und Wirtshäuser und von vielem anderen mehr. Ebenso vertraut war sie mit den zahllosen Geräuschen eines Tag und Nacht pulsierenden Hafens, dem Surren von Flaschenzügen und Knarren und Ächzen von Schiffsmasten und Rahen, dem Schlagen von losen Tauen und Segeltuch und dem Gesang des Windes in der Takelage der Segler, dem Klang der Glasen schlagenden Schiffsglocken, dem Chor aus Sirenen und Nebelörnern, dem unablässigen Rattern dampfbetriebener Kräne, dem rhythmischen Klatschen der Schaufelräder, dem Rauschen der Bugwellen, dem Kreischen der Möwen und dem ewigen Wellenschlag. In dieser einzigartigen Welt hatte sie ihre Leidenschaft gefunden, ihre Berufung.