Für ewig und eine Nacht - Kate O'Hara - E-Book
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Für ewig und eine Nacht E-Book

Kate O'Hara

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Beschreibung

Eine Liebe gegen alle Widerstände & Amerikas schillerndstes Zeitalter Kate O'Haras opulenter historischer Roman »Für ewig und eine Nacht« erzählt von einer unverbrüchlichen Liebe, gebeutelt von den Stürmen der 20er-, 30er-, und 40-er Jahre in den USA. Philadelphia, 1926: Während Jazz-Musik aus mondänen Nachtclubs perlt, kontrollieren Mafia-Clans die Straßen. Dank der Prohibition verspricht der Alkohol-Schmuggel unermesslichen Reichtum. Als der junge Henry Ellwood der Kellnerin Alison McLean begegnet, die von einer Karriere als Sängerin träumt, schlägt sie wie ein Meteor in sein Leben ein. Die beiden schwören sich ewige Liebe – doch das Schicksal selbst scheint gegen ihre Verbindung zu sein: Henry trifft eine fatale Entscheidung, die ihn zwingt, für die Mafia zu arbeiten. Währenddessen wird Alison auf Betreiben ihres Vaters auf eine abgelegene Farm verschleppt, die sie nicht verlassen darf, will sie Henrys Leben nicht riskieren … Dramatisch, glamourös und hochspannend erzählt Kate O'Hara von einer Liebe, die selbst dem Schicksal trotzt, und lässt dabei die Triumphe und Tragödien einer bewegten Epoche lebendig werden. Entdecken Sie auch Kate O'Haras historische Familiensaga »Die Caldwell-Saga«: - Stadt der Träume (San Franzisco um 1900) - Tal der Illusionen (Kalifornien, um 1910) - Straße des Ruhms (Hollywood, 20er-Jahre)   

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Seitenzahl: 859

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Kate O’Hara

Für ewig und eine Nacht

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eine Liebe gegen alle Widerstände in Amerikas schillernstem Zeitalter

 

Philadelphia, 1926: Während Jazzmusik aus mondänen Nachtclubs perlt, kontrollieren Mafiaclans die Straßen. Dank der Prohibition verspricht der Alkoholschmuggel unermesslichen Reichtum. Als der junge Henry der Kellnerin Alison begegnet, die von einer Karriere als Sängerin träumt, schwören sich die beiden ewige Liebe – doch das Schicksal scheint gegen ihre Verbindung zu sein: Henry gerät in die Fänge der Mafia, Alison wird auf Betreiben ihres Vaters auf eine Farm verschleppt. Sollte sie zu fliehen versuchen, droht Henry der Tod …

Inhaltsübersicht

Widmung

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Zweiter Teil

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Dritter Teil

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

 

 

 

 

Für Helga

In Liebe

Für ewig und eine Nacht!

Erster Teil

1926–1931

1

Bei den ersten Stiefelschritten sprang die Angst sie an, noch bevor sie richtig wach war. Ihr Schlaf war seit Jahren leicht und unruhig, und selten hatte sie einen Traum, der sich nicht in einen Albtraum verwandelte. Dagegen half auch nicht der weiße Salbei, von dem Mom schwor, dass er die bösen Träume vertrieb, wenn man vor dem Schlafengehen ein paar getrocknete Blätter über einer Kerze abbrannte. Mom half es ja auch nicht. Oder glaubte sie vielleicht, bei den dünnen Wänden seien ihr ersticktes Schluchzen und die beschwörenden Gebete nicht zu hören? Wie oft folgte bis tief in die Nacht ein schmerzensreicher Rosenkranz auf den anderen! Aber wie sollte es auch anders sein, glich ihr Leben doch einem zermürbenden Pendeln zwischen Not und Überfluss, zwischen Schmerz und trügerischem Frieden. Selbst in den besten Zeiten waren sie doch immer nur eine Pechsträhne am Spieltisch vom Sturz in die Mittellosigkeit entfernt. Und dann begann wieder die demütigende Wanderschaft zum Pfandleiher Charles Doggerty.

Alison McLean fuhr im Bett auf, presste das Ohr an die Wand und lauschte mit angehaltenem Atem. Sie kannte ihr Mietshaus in der Lockhart Street von South Philadelphia, sie wusste genau, wie sich die Schritte eines jeden Bewohners anhörten. Ja, es war er, der da im Morgengrauen zu ihnen in den fünften Stock heraufstieg. Ihr Herz begann zu rasen, und eine Klammer legte sich um ihre Brust, drückte ihr die Luft ab. Manchmal erriet sie schon an der Art, wie er die Stufen nahm, in welcher Stimmung er nach Hause kam. Schleppte er sich müde nach oben, war es schlecht gelaufen. Dann war er meist auch noch betrunken und in gefährlich übler Laune. Nahm er die Treppen jedoch flott, immer gleich zwei Stufen auf einmal, dann konnten Mom, ihr kleiner Bruder Colin und sie aufatmen und sich zumindest für kurze Zeit auf halbwegs häuslichen Frieden sowie bezahlte Rechnungen einstellen.

Diesmal vermochte Alison nicht herauszuhören, ob die Schritte Erlösung oder Not und Schmerzen ankündigten, und damit blieb die angsterfüllte Ungewissheit, ob sie erneut eine Zeit der Schläge, der Tränen und der hilflosen Beschwörungen vor sich hatten, bis sich das Blatt irgendwann wieder wendete.

Über eine Woche hatte ihr Vater sich nicht zu Hause blicken lassen. Nicht, dass daran etwas ungewöhnlich gewesen wäre, in solchen Zeiten tauchte er nicht einmal zum Wechseln der Kleider bei ihnen auf. In den teuren Hotels wurde einem die Wäsche über Nacht gewaschen und der Anzug wurde aufgebügelt. Selbst auf den exklusiven Riverboats mit ihren illegalen Spielcasinos gab es diesen Luxus. Und wenn Rusty, wie ihr Vater James wegen seines rotbraunen Haarschopfes und der buschigen, rostfarbenen Augenbrauen von seinen Kumpanen genannt wurde, am Pokertisch saß, hörte für ihn – James »Rusty« McLean – alles andere auf zu existieren. Dann vergaß er völlig, dass er Frau und Kinder hatte, dass die Miete längst fällig war und ihr Lebensmittelhändler sie nicht mehr anschreiben ließ.

Einmal mehr verfluchte Alison den Tag, an dem ihr Vater dem Spielfieber verfallen war und seine gute Anstellung bei der Delaware Home & Life-Versicherung aufgegeben hatte, um fortan als Berufsspieler sein Glück zu machen. Er hatte in der Abteilung für Statistische Erhebungen und Risikokalkulation gearbeitet und einen anständigen Lohn nach Hause gebracht. Das Leben war nicht großartig gewesen, aber doch alles in allem gut, auch wenn in ihrem Vater spürbar die Unzufriedenheit gegärt hatte und sein Jähzorn auch damals schon regelmäßig aufgeflammt war. Gute drei Jahre lag der Tag zurück, an dem er zum Entsetzen der Mutter gekündigt hatte, weil er glaubte, mit seinen Kenntnissen in Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnung am Spieltisch ein reicher Mann werden zu können. Damit hatte das Unglück begonnen.

Ihre Zimmertür öffnete sich einen Spalt, und eine Gestalt huschte durch das erste graue Tageslicht, das durch das Hoffenster in ihre Kammer fiel. Es war ihr fünf Jahre jüngerer Bruder Colin. Der Sechsjährige schlüpfte zu ihr unter die Bettdecke und schmiegte sich schutzsuchend an sie. Wie ein Ball rollte sich sein schmächtiger, von Asthma geplagter Körper in ihren Armen zusammen.

»Vater kommt!« Seine dünne Stimme zitterte.

»Ja«, sagte Alison angespannt, und während sie auf die Schritte im Treppenhaus lauschte, drückte sie ihren Bruder an sich. Zu ihrer Erleichterung registrierte sie, dass er sich nicht eingenässt hatte.

»Komm, lass uns mit Gott sprechen, Elli!«

Alison verdrehte die Augen. Seit einiger Zeit benutzte ihre Mutter diese Redewendung, wenn sie Gebete meinte, und natürlich hatte sich ihr kleiner Bruder diesen Unfug gleich zu eigen gemacht. »Was soll das bringen?«

»Bitte!«, flehte er. »Manchmal hilft es wirklich!«

»Ja, wenn er gewonnen hat«, erwiderte sie sarkastisch.

»Lieber Gott, lass ihn wenigstens nicht betrunken sein!«, flüsterte Colin inständig.

Ja, wenigstens das, Gott!, dachte Alison und strich ihm übers Haar.

Augenblicke später platzte ihr Vater in die Wohnung. Sie hörten, dass er die Tür zum elterlichen Schlafzimmer aufstieß und ihrer Mutter etwas zurief. Etwas knallte, es klang wie ein Schuss, gefolgt von Rustys dröhnendem Gelächter.

»Vater klingt gut gelaunt!«, rief Colin erlöst.

»Ja, hört sich so an«, sagte Alison.

»Siehst du, es hat geholfen!« Colin boxte sie triumphierend in die Seite. »Gott hat uns doch gehört!«

»Aber meist stellt er sich taub.«

Der Vater kam zu ihnen ins Zimmer. Seine kräftige, hochgewachsene Gestalt, gekleidet in einen dunkelbraunen Dreiteiler, füllte den Türrahmen aus. James »Rusty« McLean ging stets wie aus dem Ei gepellt. Seine Anzüge, Krawatten, Hüte und Schuhe waren ausnahmslos von guter Qualität und farblich aufeinander abgestimmt. Seine Garderobe war in ihrem Haushalt das Einzige, das tabu war und nie den Weg zum Pfandleiher antrat, selbst in Zeiten bitterster Not nicht. Denn ein gut gekleideter Mann habe immer Kredit, vergaß er nie zu erwähnen, wenn es wieder mal am Allernötigsten fehlte.

»Los, raus aus dem Bett, ihr Schlafmützen!«, rief er aufgekratzt, den hellbraunen Fedora keck in den Nacken geschoben und das stolze Strahlen des Gewinners auf dem kantigen Gesicht. Seine rotbraunen Koteletten liefen zwei Finger breit bis zum Kiefer hinunter, um sich dann zur Kinnspitze hin zu fast bleistiftdünnen Bartstrichen zu verjüngen, was seine eckige Kinnpartie noch betonte. Er hielt eine Champagnerflasche in der Hand. Die Prohibition hatte er vom ersten Tag an ignoriert, womit er sich in Gesellschaft aller vernünftigen Leute befand, wie er gern sagte, wenn die Mutter die Hände rang und ihn einmal mehr vergebens beschwor, doch um Gottes willen keinen Alkohol nach Hause zu bringen.

Die Flüsterkneipen, deren Zahl in Philadelphia und anderswo im Land die der einst regulären Kneipen und Bars bei Weitem überstieg, gaben ihm recht. Das angeblich »noble Experiment« der Temperenzler von der Anti-Saloon-Liga, Amerika per Gesetz trockenzulegen, war vom ersten Tag an grandios gescheitert. Es wurde weiter getrunken, und zwar mehr denn je. Das Verbot hatte nur dazu geführt, dass die Schmugglerbanden und Gangstersyndikate, die das illegale Alkoholgeschäft kontrollierten, astronomische Profite machten und die Korruption unter den Staatsdienern, insbesondere unter Polizisten, Staatsanwälten und Richtern, eine wahre Blütezeit erlebte.

Rusty schwenkte die Flasche. »Na los, hoch mit euch! Wir machen einen Ausflug! Der Tag ist wie geschaffen dazu.«

Mit leuchtenden Augen strampelte Colin sich frei und sprang aus dem Bett. Er himmelte seinen Vater ebenso sehr an, wie er ihn fürchtete. »Und wohin geht es?«

»Lass dich überraschen! Also beeilt euch. Ich will gleich los.«

Alison sah kurz zu ihrer Mutter, Emily, die hinter dem Vater im Flur erschienen war. Auf ihrem bleichen, ausgezehrten Gesicht lag ein Ausdruck unsagbarer Erlösung. Alison beobachtete, wie die Mutter kurz die Augen schloss, sich stumm bekreuzigte und das goldene Medaillon mit der Jungfrau Maria, das sie an einer Kette um den Hals trug, gegen die Lippen presste.

Man sah Emily McLean noch immer an, dass sie einmal eine attraktive Frau gewesen war. Was man ihr dagegen nicht ansah, war ihr tatsächliches Alter. Sie war lange vor der Zeit gealtert. Wer sie nicht kannte, hielt sie nicht für Anfang dreißig, sondern schätzte sie auf zehn, fünfzehn Jahre älter. Das kam von den viel zu früh erschienenen grauen Strähnen in ihrem einst goldblonden Haar sowie den dunklen Schatten unter den Augen und den tiefen Falten um den Mund. Grau, verhuscht und geschlagen, das war ihre Mutter.

Das mit dem unverzüglichen Aufbruch erwies sich als illusorisch. Natürlich brauchte es seine Zeit, bis Emily sich für den Ausflug angezogen und zurechtgemacht hatte, und dann mussten auch noch Butterbrote geschmiert und Kaffee gekocht werden, denn mit leerem Magen wollte selbst der Vater nicht aufbrechen. Die Champagnerflasche leerte er, unter Emilys missbilligenden Blicken, allein, aber dann ging es endlich los.

»Du warst lange weg, Vater. Hattest du beim Pokern diesmal eine besonders große Glückssträhne?«, fragte Colin eifrig. Er hielt sich im Treppenhaus nahe am Vater, so als wollte er so viel wie möglich von dessen guter Laune aufsaugen, vielleicht sogar einige kostbare Momente flüchtiger väterlicher Liebe erhaschen.

Rusty blieb kurz auf dem Absatz im dritten Stock stehen und drehte sich lachend zu ihm um. »Mit Glück hat Seven Card Stud-Poker nicht viel zu tun, Junge.«

»Womit dann, wenn es doch ein Glücksspiel ist?«

»Mit Mathematik und mit dem hier«, prahlte Rusty und tippte sich an die Stirn, »mit Scharfsinn und der Fähigkeit, im Kopf zu behalten, welche Karten schon im Spiel sind, welche noch im Deck stecken und welche Wahrscheinlichkeiten sich daraus ergeben. Die Möglichkeiten für einen Flop, einen Turn oder einen River muss man blitzschnell ausrechnen können. Pokern ist eine hohe Kunst mathematischer Strategie, das lass dir gesagt sein.«

Alison hörte, wie die Mutter vor ihr leise seufzte.

»Aber wenn das Pokern gar kein Glücksspiel ist, warum verlierst du dann so oft?«, wandte Colin unschuldig ein.

»Lass es gut sein, Schatz«, fiel die Mutter ihm alarmiert ins Wort, legte ihm die Hand auf die Schulter und zog ihn vom Vater weg. Gleichzeitig wechselte sie das Thema, indem sie fragte, ob sie nun bald in eine bessere Wohngegend ziehen könnten. Mit dem Wunsch, dem Arbeiterviertel von Southwark nahe am Delaware River zu entrinnen und in eine Wohnung in einem der besseren Bezirke im Nordwesten der Stadt zu wechseln, lag sie Rusty, sehr zu seinem Unmut, schon seit Langem in den Ohren.

Doch der Vater war an diesem Morgen derart bester Laune, dass er auf die Frage nicht einmal mit einem Anflug von Gereiztheit reagierte. »Warum sollten wir? Wir haben hier doch alles, was wir brauchen. Ich weiß wirklich nicht, was du gegen unsere Wohnung und das Viertel hast, Emily.«

»Der Dreck und Gestank des Hafens mit all seinen Fabriken sind nur ein paar Häuserblocks entfernt, und auf der anderen Seite ist es bis zum Gewimmel von Little Italy auch nicht viel weiter«, beklagte sich Emily. »Ganz zu schweigen davon, dass eine Anstalt wie das Moyamensing-Gefängnis alles andere als ein Gütezeichen für das Viertel ist.«

»Ach, du mit deiner alten Leier! Ich finde, wir wohnen genau richtig, und deshalb werden wir hier auch bleiben. Also hör mit dem Gejammer auf«, sagte er, und sein nun doch scharfer Ton ließ keinen Zweifel daran, dass sie gut beraten war, das Thema fallen zu lassen.

Wie nicht anders zu erwarten war, ließ Emily resigniert die Schultern hängen, presste die Lippen zusammen und sank in das unterwürfige Schweigen, das Rusty sie mit seinen Schlägen gelehrt hatte.

Unter fröhlichem Pfeifen stieß Rusty kurz darauf die Haustür auf und trat hinaus in den sonnigen Maimorgen. Zum ungläubigen Staunen seiner Frau und der Kinder steuerte er auf ein kanariengelbes viertüriges Automobil zu, das gleich hinter dem Feuerhydranten vor ihrem Mietshaus geparkt stand. Es war ein Wagen mit ausnehmend eleganten Linien, nussbraunen Trittblechen und schwungvollen Kotflügeln in derselben Lackierung sowie suppentellergroßen, verchromten Scheinwerfern. Und zu alledem war es auch noch ein Cabrio mit zurückgeklapptem Verdeck. Das Leder der Sitze hatte dieselbe buttergelbe Farbe wie die Karosserie.

»Na, was sagt ihr? Das ist ein Studebaker Big Six! Der Schlitten hat sage und schreibe einundachtzig PS und sogar einen automatischen Starter. Da braucht man sich nicht mehr mit einer Kurbel abzumühen, um den Motor anzuschmeißen«, verkündete Rusty mit stolzgeschwellter Brust und genoss die Bewunderung seiner Familie. Seine Eitelkeit war sprichwörtlich, und nichts liebte er mehr, als sich vor den Nachbarn in Szene zu setzen, den Gentleman zu geben und in seinen feinen Anzügen herumzustolzieren. »Habe ich einem feisten Banker abgenommen, der schon dachte, mich mit seinen drei Königen bei den Eiern zu haben.«

Emily sog scharf die Luft ein. »Rusty, du wirst gewöhnlich«, sagte sie, aber ohne jeden Nachdruck, als wüsste sie längst um die Vergeblichkeit ihrer Ermahnungen. »Pass bitte auf, wie du vor den Kindern redest!«

»Schon gut, Sankt Emily«, spottete Rusty, der mit Religion und Kirche nichts am Hut hatte. »Du musst eben ein paar Rosenkränze mehr für mein Seelenheil beten.«

Colin war indessen völlig aus dem Häuschen und lief aufgeregt um den Studebaker herum. »Wohin fahren wir, Dad?«

»Nach Atlantic City!«, verkündete Rusty und sonnte sich in den teils bewundernden, teils neidischen Blicken der Anwohner und Passanten, die sich auf dem Weg zur Arbeit befanden oder gerade ihre Geschäfte öffneten. Selbst Anna Wozniak, die mit ihrem kleinwüchsigen Mann Stanislaw schräg gegenüber vom Mietshaus der McLeans ein bescheidenes Musikaliengeschäft betrieb, trat vor die Tür ihres Ladens, um einen Blick auf das prächtige Automobil zu werfen. Dabei schaute sie kurz zu Alison und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Alison trieb sich oft bei ihr im Laden herum, besonders wenn neue Schellackplatten mit den aktuellen Radiohits eingetroffen waren und Anna sie auf dem Grammofon an der offenen Ladentür abspielte. Alison war bei den kinderlosen Wozniaks immer gern gesehen. »Wir machen uns auf dem Boardwalk einen tollen Tag!«

Der Vater hielt Wort. Auf dem Boardwalk und den weit ins Meer hinausreichenden Piers mit all den Verkaufsständen, Schaubuden und zahllosen anderen Möglichkeiten, sich zu vergnügen, sei es auf der Achterbahn, dem Karussell oder am Schießstand, zeigte sich Rusty von seiner großzügigsten Seite. Er hatte die Spendierhosen an und schälte mit der großspurigen Geste eines Mannes, der finanziell aus dem Vollen schöpft und das auch jeden wissen lassen will, so manchen Dollarschein von seiner dicken Geldrolle.

Es war ein perfekter Tag, der reinste Himmel auf Erden, wie Colin selig seufzte. Auch Alison genoss jede Minute des Ausflugs, vielleicht sogar noch mehr als ihr Bruder, der sich mit ungebrochener kindlicher Naivität der Illusion hingab, dass diesmal von nun an alles gut sein würde. Alison dagegen hatte das zermürbende Wechselbad von väterlicher Sanftmut und brutaler Tyrannei schon zu oft erlebt, um noch falsche Hoffnungen zu hegen. Nicht für einen Augenblick kam sie auf die Idee, dass die gute Laune des Vaters und der damit einhergehende häusliche Frieden, der bestenfalls eine Art Waffenstillstand war, von Dauer sein könnte. Und wenn ihre Mutter sich unbeobachtet fühlte und den Schleier bemühter Fröhlichkeit und Unbeschwertheit für einen Moment sinken ließ, las Alison dasselbe Wissen auch in ihren Augen. Sie alle würden für diesen perfekten, friedvollen Tag bezahlen, früher oder später.

Und genauso war es.

Keine drei Wochen nach dem Ausflug wechselte der Studebaker schon wieder den Besitzer. Das Blatt an den Spieltischen hatte sich gewendet. Eine Zeit lang hielt Rusty sich noch in den noblen Clubs und Hotels, wo mit hohen Einsätzen gespielt wurde, doch seine Pechsträhne nahm kein Ende, und als ihm dort das letzte Geld zerrann, musste er wieder zurück an die schmierigen Tische einfacher Flüsterkneipen und mieser, verräucherter Hinterzimmer, wo schon lausige zwei, drei Dollar im Pot den Spielern einen fiebrig-gierigen Glanz in die Augen trieben. Rusty hasste es, sich dort mit dem wenigen Geld, das die beim Pfandleiher versetzten Wertgegenstände einbrachten, mühsam die Mittel zusammenspielen zu müssen, die er für eine Rückkehr an die Tische mit den fetten Einsätzen brauchte. Manchmal wollte es ihm monatelang nicht gelingen, sich weit genug aus dem Verliererloch zu kämpfen. Und je tiefer er in Schulden versank und sein Versagen mit billigem Fusel zu ertränken versuchte, desto mehr Prügel setzte es zu Hause. Es war in jenem Sommer, dass Alison sich zum ersten Mal bei dem schrecklichen Gedanken ertappte, sie wünschte, ihr Vater wäre tot.

2

Er irrte durch ein Labyrinth von Krankensälen, die von unruhig flackernden Lampen nur schwach beleuchtet wurden und sich schier endlos verzweigten. Sein Herz raste, mühsam rang er nach Luft. Die Angst würgte ihn wie eine Klammer, die sich um seine Kehle gelegt hatte und sich immer mehr zuzog. Er musste sie finden! Dann würde alles gut werden. Er durfte nur nicht zu spät kommen. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er sah, wie die letzten feinen Körner durch den engen Hals der Sanduhr rieselten. Wenn er sie nicht fand, gab es keine Rettung mehr für sie, für keinen von ihnen!

Aber je schneller er lief, desto länger zogen sich die Gänge und Säle, die mit Feldbetten vollgestellt waren. Reglos und stumm lagen die Kranken auf den Pritschen. Alle trugen sie weiße Kleidung, nein, sie waren mit weißen Bandagen umwickelt, was sie wie Mumien aussehen ließen. Waren sie vielleicht alle schon tot? Ihre Gesichter waren starr wie Totenmasken. Die Krankenschwestern, die ihm begegneten, hatten zugenähte Lippen und Gesichter ohne Augen. Nur tiefe schwarze Höhlen blickten ihn an, während die Frauen auf sein Flehen hin wortlos in den nächsten und wieder nächsten Krankensaal wiesen. Bis plötzlich eine von ihnen die Hand nach seinem Gesicht ausstreckte. Die Hand war eiskalt.

Henry Ellwood schrie, erwachte und riss die Augen auf. Noch ganz unter dem Eindruck der schrecklichen Traumbilder blinzelte er in das Licht der nackten Glühbirne an der schimmelbefallenen Decke.

»Hattest du wieder diesen Albtraum?«

»Ja, den mit den Krankensälen und augenlosen Gesichtern«, murmelte er, rieb sich die Augen und richtete sich im Bett auf. Da erst bemerkte er, dass sein Vater in seinem grauen Straßenanzug und mit dem Regenmantel über dem Arm vor ihm stand. Gerade zwängte er seine linke Hand, an der zwei Finger fehlten und die restlichen versteift waren, in seinen schwarzen Handschuh. Im Sommer versteckte er die verkrüppelte Linke unter einer Bandage.

Winston Ellwood zuckte die Achseln und seufzte. »Wir können uns unsere Träume nun mal nicht aussuchen, was auch für vieles andere im Leben gilt«, sagte er lakonisch. »Also lern lieber, damit zu leben. Und jetzt steh auf, Junge.«

Henry schaute zum Fenster, das durch den knapp bemessenen, fadenscheinigen Vorhang nicht ganz verdeckt war. Hinter dem breiten Spalt lag noch immer nächtliche Dunkelheit, getränkt von beständigem Regen, den der Wind vom nahen Hudson River gegen die Scheibe fegte.

»Musst du denn schon los, Dad?«, fragte er irritiert und schwang sich aus dem alten Eisenbett. Unwillkürlich suchte sein Blick den Schreibmaschinenkoffer, mit dem der Vater täglich als Handlungsreisender für die Reliance Typewriter Company von Tür zu Tür zog, mit ähnlich enttäuschendem Erfolg wie zuvor als Vertreter für Haushaltsgeräte. »Es ist doch noch dunkel.«

Winston Ellwood schüttelte den Kopf. »Ich gehe heute nicht auf Tour. Es bringt nichts. Mit der Reliance komme ich auf keinen grünen Zweig. Deshalb verschwinden wir von hier«, erklärte er mit einem Schulterzucken, mied Henrys Blick und rückte mit sichtlicher Scham die schwarze Hornbrille zurecht, die sein schmales Gesicht noch blasser und verhärmter aussehen ließ, als es auch so schon war.

Plötzlich fühlte Henry sich noch eine Spur elender als gerade eben kurz nach dem Erwachen, denn er wusste, was die Worte bedeuteten – für sie beide. Sein Blick glitt über die hagere Gestalt seines Vaters, der den Anzug längst nicht mehr richtig ausfüllte. Er hat die hängenden Schultern eines Postboten und das verhärmte Gesicht eines Lastenträgers, ging es ihm durch den Kopf. Sofort schämte er sich des Gedankens, aber er wurde ihn nicht los.

»Wasch dir das Gesicht und zieh dich an. Aber beeil dich, damit wir so schnell wie möglich aus dem Haus und zum Bahnhof kommen. Wir suchen uns eine vielversprechendere Gegend als Hoboken. Und für dich ist die Schule ja sowieso überall gleich.«

Henry hatte da ganz andere Erfahrungen gemacht, ging jedoch nicht darauf ein. Wozu auch? Es hätte nichts daran geändert, dass die Sache entschieden war. Seit Mutters Tod vor viereinhalb Jahren hatten sie schon drei Mal den Wohnort gewechselt. Erst von der Bronx nach Queens, dann hatten sie eine Zeit lang in Brooklyn gewohnt, und erst vor zehn Monaten waren sie hier in Hoboken gelandet. Jedes Mal hatte der Wechsel, was die Qualität ihrer Unterkunft anging, einen Abstieg mit sich gebracht. Bei den letzten beiden Wohnungswechseln, die so wie jetzt im Schutz der Nacht stattgefunden hatten, war nicht nur der bescheidene Rest ihrer Möbel, sondern auch einiges an Mietschulden und unbezahlten Lebensmittelrechnungen zurückgeblieben. Anders als die Bücher aus der Stadtbibliothek, die der Vater nicht zurückgebracht, sondern am neuen Wohnort zu Geld gemacht hatte. Das gedruckte Wort war die Leidenschaft seines Vaters, der noch vor drei Jahren stolz auf seine Arbeit als Linotype-Schriftsetzer in einer New Yorker Verlagsdruckerei gewesen war. Bis er an jenem bitterkalten Februarmorgen im vereisten Hof der Druckerei gestürzt und mit der linken Hand unter die Stahlräder eines mit Papierrollen beladenen Lieferwagens geraten war.

»Aber Hoboken sollte doch ein neuer Anfang sein.«

»Nicht alle Blütenträume reifen«, sagte Winston Ellwood lapidar. »So geht es nun mal zu im Leben. Jeder Anfang ist immer gleich auch ein Ende, merk dir das. Und jetzt mach schon!«

Henry schickte sich in das Unabwendbare. »Und wo soll es diesmal hingehen?«, fragte er und fuhr in seine Hose.

»Syracuse, ich habe da einen guten Job in Aussicht. Ich erzähl dir später mehr«, sagte Winston ausweichend. »Sieh du erst einmal zu, dass du in deine Klamotten kommst.«

»Syracuse?« Henry sah den Vater bestürzt an. »Aber das ist doch schrecklich weit von New York entfernt! Was ist mit Moms Grab? Wer wird sich darum kümmern, wenn wir so weit weg sind?«

»Dafür wird sich schon eine Lösung finden.«

»Aber wir können es dann gar nicht mehr besuchen!«

Wieder zuckte Winston Ellwood mit den Schultern, und sein Gesicht war ausdruckslos. »Auf das Grab und den Besuch dort kommt es nicht an, Junge. Deine Mutter lebt in unseren Herzen und Gedanken, und da gehört sie auch hin. In dem Grab liegt nichts von dem, was sie im Leben ausgemacht hat. Tot sind die Toten erst, wenn sich keiner mehr ihrer erinnert. Und jetzt mach ein bisschen zu. Ich will hier ohne großes Geschrei raus.«

»Aber können wir denn nicht irgendwo in der Nähe …«

»Vergiss es, Henry«, fiel der Vater ihm ins Wort, jedoch ohne jede Schärfe. Aus seiner Stimme klang vielmehr eine schicksalsergebene Müdigkeit. »Nimm es dir nicht so zu Herzen, mein Junge«, sagte er und fuhr ihm unbeholfen über den Kopf. Für Gesten der Zuneigung fehlten ihm der Wille und die innere emotionale Kraft. Ein Mann machte das, was ihn beschäftigte, gefälligst mit sich aus, insbesondere wenn das Schicksal ihm bittere Nackenschläge erteilte. Für Trost und Zärtlichkeit war das weibliche Geschlecht zuständig. »Hör zu: Das Leben ist nur ein vorübergehender Zustand.«

Henry zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich?«

»Ja, tatsächlich. Und noch was, Junge: Der Mensch ist von Natur aus heimatlos, lass dir das gesagt sein und gewöhn dich besser früh an den Gedanken. Er wird dich vor Illusionen schützen und vor so manch bitterer Enttäuschung bewahren!«

Henry nickte stumm, auch wenn er mit diesen Ratschlägen nichts anfangen konnte. Was hatte das mit ihrer beschämenden Flucht nach Syracuse und mit Moms Grab zu tun, das sie nun im Stich ließen? Er hatte nicht die Kraft zu protestieren. Was hätte es auch gebracht? So blieb nur stumme Bitterkeit. Er konnte doch nicht immer nur verlieren, oder? Denn ihm fiel nichts ein, das ihm kostbar gewesen war und das er nicht über kurz oder lang verloren hätte.

Es war noch nicht halb fünf, als sie das Treppenhaus hinunterschlichen. Als Winston unten die Haustür öffnete, trieb der Wind ihm Regen ins Gesicht. »Kein Sommer ist lang genug, um den Winter vergessen zu machen, heißt es bei den Inuit«, sagte er und schlug den Kragen seines Regenmantels hoch. »Da ist wohl was dran.«

Henry schwieg und tat es ihm gleich. Dann traten sie mit ihren kläglichen Habseligkeiten hinaus in die kalte, regentriefende Oktobernacht. Erst Stunden später im Zug, als ein grauhaariger Fahrgast in ihrem unbeheizten Abteil dritter Klasse die Morgenausgabe des Hoboken Herald aufschlug und Henrys Blick auf das Datum fiel, wurde ihm bewusst, dass es der Morgen seines vierzehnten Geburtstags war.

3

In den Straßen dampfte der nasse Asphalt, als wollte er Blasen werfen. Das Gewitter war zu schnell über Philadelphia hinweggezogen, als dass der kurze Regenschauer die drückende Hitze hätte brechen können. Es war kurz vor drei, als Emily vom Pfandleiher zurückkam. Rusty saß im Unterhemd am Küchentisch, ungewaschen und unrasiert. Einen Bleistift in der Hand, eine Zigarette im Mundwinkel, studierte er die Wettzeitung. Er war noch nicht lange auf. Vor zwei Uhr kam er selten aus den Federn. Alison hatte ihm Kaffee aufgebrüht, den er mit einem Schuss Brandy aus seinem Silberflakon »gewürzt« hatte. Schweiß perlte auf seiner Stirn, auch die behaarte Brust glänzte schweißnass. Als Emily in die Küche kam und er die Wettzeitung auf den Tisch warf, fiel Asche von der Zigarette auf das durchgeschwitzte Unterhemd.

»Diese verdammte Hitze, und dabei ist es noch nicht einmal August«, knurrte er und streckte die Hand nach dem Geld aus.

Emilys Hand zitterte leicht, als sie ihm das dünne Bündel Scheine sowie einen halben Silberdollar aushändigte.

Alison stand am Herd und schälte Kartoffeln, Colin spielte unten im Hof mit Nachbarskindern. Und es war gut, dass er nicht oben bei ihnen war. Sie hatte das beklemmende Gefühl, dass sich etwas Hässliches zusammenbraute. Der bange Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter war unübersehbar. Aber warum? Der peinliche Gang zum Pfandleiher gehörte doch längst zu ihrem Alltag. Zwar hatte der Vater darauf bestanden, dass sie sich ohne Begleitung in das Geschäft am Jefferson Square begab, aber dieser Umstand war, soweit Alison wusste, das Einzige, was an diesem Tag von der normalen Routine abwich.

Eigentlich hätten Colin und sie die Mutter zur Pfandleihe begleiten müssen, zumindest einer von ihnen. Das war Moms eiserne Regel. Angeblich zeigten sich Charles Doggerty und seine kratzbürstige Frau Heather großzügiger, wenn sie mit ihren Kindern im Geschäft stand. Und von der Überzeugung rückte sie auch nicht ab, obwohl die beiden nicht einen Cent mehr herausrückten, und einen besseren monatlichen Zins räumten sie ihr schon gar nicht ein. Alison ahnte, dass etwas ganz anderes, beschämend Dunkles der Grund war, warum ihre Mutter unter keinen Umständen mit Doggerty allein im Geschäft sein wollte. Sie hatte den Tag nie vergessen, an dem Emily völlig aufgelöst vom Pfandleiher zurückgekommen war, sich im Schlafzimmer das mit feuchten Flecken beschmutzte Kleid samt Unterwäsche vom Leib gerissen und sich schluchzend im Badezimmer eingeschlossen hatte.

»Was soll ich damit?«, blaffte Rusty, als Emily ihm auch die Pfandscheine hinhielt. »Die Zettel gut aufzubewahren ist ja wohl deine Sache. Also sieh gefälligst zu, dass …« Er stutzte, brach mitten im Satz ab und zählte die Geldscheine noch einmal durch. Dann polterte er los: »Was zum Teufel ist das hier? Bloß dreiundfünfzig Dollar? Die Summe stimmt doch vorne und hinten nicht! Vierundachtzig müssten es sein, mindestens! Hat er irgendwas nicht angenommen?«

»Nein, aber mehr hat er mir für die Sachen nicht gegeben, Rusty«, brachte Emily gequält hervor. »Mehr … mehr war beim besten Willen nicht drin, das hat er geschworen.«

Rusty hieb mit der Faust auf den Tisch. »Dieser verlogene Hund! Allein für die Perlenkette und das Silber sind fünfzig Dollar fällig!«, stieß er erbost hervor. »Er kennt doch unser Zeug in- und auswendig. Fünfzig Prozent vom Wert, das habe ich so mit ihm ausgemacht. Na, dem werde ich gleich gehörig aufs Dach steigen!«

»Das kannst du nicht!«

Rusty schnaubte abfällig. »Pah, das werden wir doch mal sehen!«

»Ich … ich war nicht bei Doggerty«, sagte Emily mit zittriger Stimme.

Ungläubig sah Rusty sie an. »Was redest du da?«

Emilys Blick flackerte. »Doggerty nimmt unverschämte fünfundzwanzig Prozent Zinsen pro Monat«, stieß sie hastig hervor. »Das sind gottlose Wucherzinsen, die wir doch nicht bezahlen müssen, wenn wir anderswo mit fünfzehn Prozent davonkommen. Und deshalb … deshalb bin ich diesmal zu Cranshaw gegangen, der oben am Lafayette-Friedhof …«

Alison wurde ganz elend zumute. Sie ließ das Schälmesser und die Kartoffel in die Spüle fallen. Gleich! Gleich würde es Schläge setzen. Sie war sich dessen so sicher, wie sie wusste, dass ihr gleich übel werden würde.

»Hast du noch alle Tassen im Schrank?«, schnitt Rusty seiner Frau das Wort ab und sprang hoch, sodass der Stuhl hinter ihm zu Boden polterte. Zornesröte flammte auf seinem stoppelbärtigen Gesicht auf wie ein hässlicher Hautbrand. »Du dumme, einfältige Kuh!«, schrie er außer sich vor Wut, schlug sie mit der flachen Hand rechts und links ins Gesicht und trieb sie mit seinen Schlägen vor sich her, während er brüllte: »Ich gebe ein Dreck darauf, dass Doggerty fünfundzwanzig Prozent berechnet und Cranshaw nur fünfzehn. Scheißegal ist mir das, hörst du? Dafür gibt mir Doggerty nicht nur ein Drittel, sondern den halben Wert von allem, was ich ihm bringe.«

Emily wich zurück, riss die Hände vors Gesicht und taumelte gegen die Anrichte. »Rusty, bitte nicht! Nicht ins Gesicht! Ich wollte doch nur …«

»Ich gebe einen Fliegenschiss auf das, was du wolltest, du dämliche Ziege!«, fauchte er und dachte gar nicht daran, von ihr abzulassen. »Wenn ich bei den feinen Hotelrunden wieder einsteigen will, brauche ich so viel frisches Kapital wie möglich. Kannst du das nicht in deinem Schädel behalten, oder ist da nur Platz für deine dämlichen Rosenkranzgebete? Die Scheißzinsen für Doggerty hole ich mir am Spieltisch, wenn es wieder rundläuft. Wann kapierst du das endlich? Und wo soll ich das Geld für die drei Wochen Luxusleben am Saratoga Lake hernehmen?«

»Aber von mir aus müssen wir doch gar nicht …«, setzte Emily mit kläglicher Stimme an.

»Und ob wir müssen!«, donnerte Rusty.

Natürlich!, fuhr es Alison durch den Kopf. Mitte August will er wieder mit uns nach Saratoga, den Verwandten in Connecticut drei Wochen lang traute Familienharmonie vorgaukeln!

Die Wochen in einem gemieteten Blockhaus am Ufer des Lake Saratoga hoch oben im Norden von New York waren Tradition in der Familie, zumindest beharrte der Vater darauf, unter allen Umständen. Notfalls musste das Geld von einem Kredithai kommen, denn auf keinen Fall wollte er absagen und seinem Bruder George gestehen müssen, dass er sich den Urlaub nicht leisten konnte, dass er als Berufsspieler nicht so erfolgreich war, wie er sich stets in Gegenwart des sieben Jahre älteren Bruders und dessen Familie gab. Wie sehr hatte der Vater vor zwei Jahren gehofft, in dem Studebaker des Bankers anreisen und damit angeben zu können. Onkel George betrieb nämlich in Rochester, im Staat New York, eine gut gehende Automobilwerkstatt. Er und Tante Georgina hatten zwei Kinder, den mittlerweile sechzehnjährigen Bryan, der ein rechter Langeweiler war, und Regina, die in Alisons Alter war und mit der sie sich gut verstand. Alles in allem waren die Wochen am See ein richtiges Highlight im Jahr – nicht zuletzt, weil der Vater sich in der Zeit weder betrank noch handgreiflich wurde. Perfekt verbarg er vor der Verwandtschaft, was für ein übler Tyrann und Schläger er in Wirklichkeit war.

»Und wie kannst du dich erdreisten, von wir zu reden?«, fuhr Rusty mit schneidender Stimme fort. »Ich verdiene hier das verdammte Geld, ich zahle die Rechnungen, allein ich sorge dafür, dass ihr ein Dach über dem Kopf, gut zu essen und Klamotten am Leib habt! Und ich entscheide, was du zu wem trägst, hast du das begriffen?« Und wieder schlug er zu.

Alison packte ihren Vater am Gürtel und versuchte, ihn von der Mutter wegzuzerren. »Hör auf!«, schrie sie mit Tränen in den Augen. »Hör auf, Mom zu schlagen!«

Der Vater ließ von der Mutter ab, fuhr zu ihr herum und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. »Was fällt dir ein?«, herrschte er sie an. »Du hast dich nicht einzumischen, wenn ich deiner Mutter den Kopf zurechtrücke und sie daran erinnere, dass sie zu tun hat, was ich ihr auftrage, verdammt noch mal! Hier wird getan, was ich sage, damit das klar ist. Und das gilt auch für dich!«

Die Genugtuung, dass sie vor Schmerz aufschrie oder gar in Tränen ausbrach, gönnte Alison ihm nicht. Mit zusammengepressten Lippen hielt sie sich die Wange, die wie Feuer brannte. Nicht weniger flammend vor unbändiger Wut war der Blick, mit dem sie ihren Vater bedachte. Sie verachtete und verabscheute ihn aus tiefster Seele, und das war ein viel größerer Schmerz, als er ihr mit seinen Schlägen hätte zufügen können, denn dieser Schmerz verließ sie auch dann nicht, wenn er sich friedfertig gab.

Rusty drehte sich zurück zu Emily, der Tränen über das Gesicht liefen. »Du gehst sofort zu Doggerty und versetzt Ring und Kette!«, befahl er und griff grob nach ihrer goldenen Halskette mit dem Medaillon. Er wusste, dass sie mehr darunter litt, diesen ihren kostbarsten Schatz zum Pfandleiher tragen und den Schutz der Heiligen Jungfrau für Gott weiß wie lange entbehren zu müssen, als sie unter noch so vielen Schlägen gelitten hätte. »Und wage bloß nicht, auch nur ein Widerwort von dir zu geben!« Damit schleuderte er ihr den Anhänger ins tränennasse Gesicht.

Emily sackte förmlich in sich zusammen. Schluchzend und wie ein geprügelter Hund schlich sie aus der Küche, wobei sie das goldene Medaillon gegen ihre Lippen presste. Sie brauchte ihre Tochter nicht zu rufen. Alison wusste auch so, was sie zu tun hatte.

Colin begegnete ihnen unten im Hausflur. Als er das übel zugerichtete Gesicht der Mutter unter dem Glockenhut sah, den sie zum Schutz aufgesetzt hatte, schloss er sich ihnen sofort an. »Hat er dir sehr wehgetan?«, fragte er mit gequälter Miene. Dabei nahm er ihre Hand und drückte sie gegen seine Wange, als gäbe es keinen größeren Trost für seine Mutter als diese liebevolle und doch so hilflose Geste.

»Was glaubst du?«, fragte Alison grimmig zurück. »Wie ein Berserker ist er auf Mom losgegangen. Ich wünschte, er wäre tot!«

»Um Gottes willen, du versündigst dich!«, rief Emily und bekreuzigte sich hastig. »Du darfst so etwas Entsetzliches noch nicht einmal denken!«

»Ach, und Vater versündigt sich nicht?«

»Er hat es nicht so gemeint, Alison.«

»So? Wie meint er es dann, wenn er dich und uns grün und blau prügelt?«, stieß Alison empört hervor und ballte ohnmächtig die Fäuste. Sie war jetzt wütender auf ihre Mutter als auf ihren Vater.

»Euer Vater ist kein schlechter Mensch, auch wenn ihm die Hand manchmal schmerzhaft locker sitzt. Hinterher tut es ihm immer leid. Ihr dürft nicht so hart über ihn urteilen. Außerdem war es meine Schuld, dass er so wütend geworden ist. Doch, Alison, ich habe die Schläge verdient! Ich hätte nicht zu Cranshaw gehen dürfen. Euer Vater hat nun mal ein hitziges Temperament, aber er ist das Oberhaupt der Familie, wir müssen ihm gehorchen, und er tut sein Bestes, damit es uns gut geht.«

»Und weil es uns so blendend geht, müssen wir alle naselang zu Doggerty und bei Ferguson anschreiben lassen!«, höhnte Alison.

»Euer Vater ist jedenfalls kein Herumtreiber, er lässt seine Familie nicht sitzen wie so viele andere Männer. Wir sind ihm Gehorsam schuldig«, beharrte Emily erneut. »So steht es auch in der Bibel geschrieben, und wer sind wir, dass wir Gottes Gebote in Zweifel ziehen dürften? Jeder hat sein Kreuz zu tragen, Alison, und wir Frauen tragen aufgrund der Ursünde ein ganz besonders schweres. Das ist uns nun mal so vorbestimmt.«

Alison hasste es, wenn ihre Mutter sich so unterwürfig gab. Das machte sie rasend vor Wut. »Wusste gar nicht, dass die Bibel so große Stücke auf brutale Schläger hält«, stieß sie zornig hervor. »Ich dachte immer, es geht Jesus um Barmherzigkeit und diesen Liebe-deinen-Nächsten-Quark. Da muss ich wohl einige Stellen verpasst haben.«

Emily reagierte nicht mit einem scharfen Tadel, wie Alison erwartet hatte, sondern warf ihr einen nachsichtigen Blick zu und tätschelte ihr die Schulter. »Ach, Kind, du wirst noch so viel im Leben lernen müssen. Wir kennen ja alle bloß unser eigenes Leid.«

4

Statt wie üblich erst am frühen Morgen holte Rustys Gepolter im Treppenhaus Alison schon kurz vor Mitternacht aus dem Schlaf, was ein Vorzeichen heraufziehenden Unheils war. Mit blutunterlaufenen Augen sackte er, eine halb volle Flasche Whiskey in der Hand, in seinen angestammten Lehnstuhl am Küchentisch, zerrte sich mit der freien Hand die Krawatte vom Hals, als bekäme er kaum noch Luft, und knöpfte seine Weste auf. Er sah mitgenommen aus wie lange nicht mehr. Schlaff und bleich wie ein nasser Sack Zement hing er im Stuhl.

»Mach mir Rührei mit gebratenem Speck! Und bring mir Butter und Weißbrot!«, befahl er Emily, die gleich beim Knallen der Haustür aus dem Bett gesprungen war und sich ihren Morgenmantel übergeworfen hatte. Und Alison, die ihrer Mutter augenblicklich gefolgt war, um notfalls eingreifen und das Schlimmste verhindern zu können, wies er an: »Du sieh zu, dass Kaffee auf den Tisch kommt!«

Die ersten Schläge setzte es, als dem Vater das Rührei nicht genug gesalzen war und Alison der Salzstreuer, nach dem der Vater verlangte, aus der Hand glitt. Der Schraubverschluss sprang auf, und das Salz ergoss sich über den Tisch.

»Kannst du denn nicht aufpassen, du Trampel?«, herrschte er sie an und ohrfeigte sie hart. Sein goldener Siegelring, der angeblich das Wappen der McLeans trug, hinterließ einen blutigen Kratzer über ihrem rechten Jochbein. »Weißt du denn nicht, dass du damit Unglück heraufbeschwörst?«

Wut und Schmerz waren in dieser Nacht stärker als die Selbstbeherrschung, die die Mutter ihr durch jahrelange Ermahnungen und Beschwörungen anerzogen hatte. »Ich dachte, Poker hätte nichts mit Glück zu tun, sondern mit Mathematik und Scharfsinn! Damit hat’s wohl mal wieder nicht gereicht!«, schleuderte sie ihm voller Verachtung entgegen.

Das brachte das Fass zum Überlaufen. »Was fällt dir ein? Du dummes Blag hältst dich wohl für besonders klug, was?«, brüllte er und sprang so jäh auf, dass er mit dem Arm den Rest Weißbrot und das Brotmesser vom Tisch fegte. Fast hätte es auch die mittlerweile fast leere Flasche Whiskey erwischt. »Dir werde ich den nötigen Benimm schon noch einbläuen, verlass dich drauf!«

Als Rusty wie von Sinnen auf Alison einprügelte, ging die Mutter dazwischen, was ihr nicht gut bekam. Bis zu diesem Punkt unterschied sich die Szene in der Küche nicht allzu sehr von unzähligen anderen derartigen Begebenheiten in der Wohnung der McLeans – doch dann stürzte mit einer entsetzlichen Mischung aus schrillem Kreischen und kurzatmigem Japsen plötzlich Colin herein und trommelte mit seinen kleinen Fäusten auf den Vater ein. Als das nichts half, sprang er ihn an und klammerte sich wie ein Affe an Arm und Bein.

Rusty wollte seinen Sohn abschütteln wie eine lästige Fliege, aber Colin blieb mit aller Kraft an ihm hängen. Und dann spürte der Vater etwas Feuchtes an Hand und Bein. Angeekelt verzog er das Gesicht, und sofort war es vorbei mit der gewissen Nachsicht, die er dem Neunjährigen gewöhnlich entgegenbrachte. »Lässt du wohl los, du verdammter Bettnässer? Du versaust mir noch den Anzug mit deiner Pisse!«, brüllte er und stieß ihn mit aller Kraft von sich.

Wie eine Puppe flog Colin durch die Küche. Dass sein Sturz auf die Dielenbretter glimpflich verlief und er nicht mit dem Kopf gegen den Herd prallte, verdankte er allein dem im Weg stehenden Wäschekorb. Als er ihn mit sich riss, zog er sich an dem rauen Korbgeflecht einen langen blutigen Kratzer auf der Stirn zu. Wimmernd blieb er zwischen den verstreuten schmutzigen Wäschestücken liegen.

»Mein Gott, was hast du getan?«, schrie Emily entsetzt. »Hast du denn kein bisschen Barmherzigkeit in dir?«

Voller Angst, er könnte sich etwas gebrochen haben, stürzten Alison und Emily zu Colin. Selbst Rusty schien erschrocken zu sein. Er ließ die Arme sinken und stand mit offenem Mund da. Vergessen war, dass er seiner Tochter eine gehörige Tracht Prügel verpassen und ihr für alle Zeiten die frechen Widerworte hatte austreiben wollen. Für einen Moment zeigte sich sogar Sorge, ja fast Bedauern auf seinem Gesicht, doch als Colin sich in den Armen von Mutter und Schwester weinend aufrichtete und klar war, dass er sich nichts gebrochen, sondern nur einen Kratzer auf der Stirn davongetragen hatte, war es mit seiner Anteilnahme auch schon wieder vorbei.

»Soll er doch verdammt noch mal besser aufpassen, wo er hinfällt!«, blaffte er. »Was mischt er sich auch ein und hängt sich wie eine verdammte Klette an mich? Und dann auch noch in seinem vollgepissten Schlafanzug! Das wird ihm hoffentlich eine Lehre sein, nicht die Hand gegen seinen Vater zu erheben.« Er hob den Lehnstuhl auf, setzte sich wieder und stocherte mit der Gabel im Rührei herum. »Und jetzt verschwindet! Geht mir aus den Augen, damit ich endlich in Ruhe essen kann. Jetzt habt ihr auch noch dafür gesorgt, dass mein Essen kalt geworden ist, besten Dank!« Er griff zur Whiskeyflasche. »Ach, geht doch zum Teufel!«

Emily half Alison noch, Colins durchnässtes Bett neu zu beziehen und ihm einen trockenen Schlafanzug herauszulegen. »Er braucht ein Dampfbad«, sagte sie, als Colin in seinem trockenen Schlafanzug wie ein Häufchen Elend auf dem Bett saß. Sein Atem ging flach und angestrengt, und ihm liefen Tränen über das Gesicht. Er schämte sich, weil er wieder einmal ins Bett gemacht hatte.

»Ich mach das schon, Mom«, sagte Alison, die wusste, was ihre Mutter hören wollte. »Geh du nur wieder ins Bett. Es ist schon spät.«

»Danke, mein Kind. Du bist eine gute Tochter und Schwester«, sagte Emily ebenso schuldbewusst wie erleichtert, dass sie es wieder einmal ihr überlassen konnte, sich um Colin zu kümmern und dafür zu sorgen, dass er wieder in den Schlaf fand. Sie selbst zog sich ins Schlafzimmer zurück, um das billige Grablicht anzuzünden, das vor einer Ikone der Muttergottes auf ihrem Nachttisch stand, und mit tränenerstickter Stimme einen Rosenkranz nach dem anderen zu beten.

Alison machte ihrem Bruder ein Dampfbad mit Fenchel und Ingwer, und als Colin wieder besser Luft bekam und mit ruhigem Atem im Bett lag, bat er: »Singst du mir noch etwas vor?«

»Ach, Colin, weißt du denn nicht, wie spät es ist?«

»Auf noch ein bisschen später kommt es doch auch nicht mehr an, oder? Nur ein bisschen!«, bettelte er und sah sie mit seinen großen dunklen Augen, die einen Stein hätten erweichen können, flehentlich an. »Du kannst so schön singen und kennst doch auch die neuesten Radiohits.«

»Ach was, so weit ist es mit meinem Singen gar nicht her!«

»Doch, ist es!«

Sie seufzte und gab nach, denn wenn sie etwas auf der Welt liebte, dann waren das ihr Bruder und das Singen. »Also gut, du Nervtöter! Was willst du denn hören?«

»Das mit dem blauen Himmel!«

Alison lächelte belustigt. »Du meinst My Blue Heaven? Aber das ist doch kein neuer Hit, damit ist Gene Austin doch schon vor zwei Jahren auf Platz eins gelandet.« Der Song gehörte auch zu ihren Lieblingen. Es hieß, der crooner, der Schnulzensänger, habe allein über fünf Millionen Schellackplatten von seinem Hit verkauft.

Colin nickte eifrig, kuschelte sich ins Bett und blickte erwartungsvoll zu ihr auf. Und Alison begann leise zu singen, während sie seine kleine Hand hielt: »Day is ending, birds are wending … Back to the shelter of each little nest they love … Nightshades falling, lovers calling … What makes the world go round? Nothing but love … When whippoorwills call … And evening is nigh … I hurry to my Blue Heaven … I turn to the right … A little white light … Will lead you to my Blue Heaven.«

Schon nach der zweiten Strophe war Colin eingeschlafen. Behutsam löste Alison ihre Hand von seiner, zog die Bettdecke zurecht und löschte die kleine Tischlampe. Lautlos schloss sie die Tür hinter sich. Sie war todmüde und wollte schon nach nebenan in ihre Kammer gehen, als sie sah, dass in der Küche noch Licht brannte. Also wartete eine letzte Aufgabe auf sie!

Sie ging den Flur hinunter und blieb in der Tür zur Küche erschrocken stehen. Sie war fest davon ausgegangen, dass sich der Vater längst wieder aus der Wohnung geschlichen hatte, aber dem war nicht so. Er saß zusammengesunken und mit herabhängenden Armen im Lehnstuhl. Sein Mund stand halb offen, die Augen waren geschlossen. Ein Speichelfaden rann ihm aus dem rechten Mundwinkel. Er schien tief und fest zu schlafen. Die Whiskeyflasche war leer.

Alisons Blick fiel auf das Brotmesser. Es lag noch immer unter dem Küchentisch. Sie bückte sich und hob es auf. Als sie sich aufrichtete, fuhr sie unwillkürlich mit dem Daumen über die Klinge, die scharf war wie ein Rasiermesser.

Plötzlich erfüllte sie ein unbändiger Hass auf den Vater. Und wenn es tausendmal eine Todsünde war, sich den Tod des eigenen Vaters zu wünschen, sie konnte nicht dagegen an! Mit dem Messer in der Hand trat sie zu ihm an den Stuhl. Ihr Herz raste, schlug ihr wie ein dicker pochender Kloß im Hals, und ihre Hand zitterte, als sie die geriffelte Klinge an den Hals des Vaters legte.

Ein halb mitleidiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, noch bevor er gelassen die Augen aufschlug und sie ohne einen Funken von Erschrecken oder gar Angst anblickte. Die kalte Klinge an seiner Kehle schien ihn nicht im Mindesten zu beunruhigen. »Was soll das werden?«, fragte er spöttisch. »Glaubst du wirklich, du hast das Zeug zum Vatermord?«

Alison stand wie erstarrt, und ihr Hirn mit all seinen Gedanken und Empfindungen schien ähnlich eingefroren. Das Einzige, was sie spürte, waren der Hass und der Wunsch nach blutiger Vergeltung für all das Leid und Elend. Es war so überwältigend, dass es sie fast zerriss.

»Nein, hast du nicht, Töchterlein«, fuhr er gelangweilt, ja fast enttäuscht fort, nahm ihr das Messer aus der kraftlosen Hand und warf es achtlos auf den Tisch. »Dafür fehlt es dir an Kaltblütigkeit und der nötigen Skrupellosigkeit. In dir steckt eben kein echter McLean, übrigens in keinem von euch. Und jetzt geh schlafen. Ich muss nachdenken, wie es weitergehen soll.« Damit verschränkte er die Arme vor der Brust und schloss die Augen wieder.

Alison fühlte sich gedemütigt wie nie zuvor. Rasend vor Scham und Wut, dass sie den Vater nicht einmal zu Tode erschrecken konnte, schlich sie aus der Küche und stand plötzlich vor ihrer Mutter, die im Dunkel des Flurs wartete.

Emily sah sie einen langen Moment schweigend an, dann wandte sie sich ebenso stumm ab und verschwand im Schlafzimmer. Alison starrte ihr mit einem inneren Frösteln nach. Sie hatte das beklemmende Gefühl, dass in dem langen, stummen Blick ihrer Mutter bittere Enttäuschung, ja sogar der Vorwurf gelegen hatte, sie habe versagt.

5

Schweigend kämpften sie sich mit ihrem Gepäck in den fünften Stock, stolperten im Halbdunkel die knarrenden Stufen hinauf. Durch die schmutzigen, handtuchschmalen Fenster fiel kaum Licht in das Treppenhaus. Man hätte meinen können, der Abend sei angebrochen und das letzte Tageslicht befinde sich auf dem Rückzug, dabei war erst früher Nachmittag. Es roch nach Katzenpisse, Kohlsuppe, Bohnerwachs und kaltem Zigarettenrauch. Aber es hing noch ein anderer Geruch in der muffigen Luft, und Henry wusste, was ihm da in die Nase stieg. Es war der unverwechselbare Geruch der Verwahrlosung, der Gestank von Armut und Hoffnungslosigkeit, der in den Mietskasernen dieser Art überall im Land derselbe war.

»Okay, das hätten wir, Junge. Gar nicht so schlimm wie gedacht. Aber immerhin …«, gab sein Vater sich aufgekratzt, als sie endlich ganz oben angekommen waren. Dabei japste er ordentlich nach Luft. Und nachdem er Koffer und Reisetasche vor der Tür ihrer neuen Bleibe abgesetzt hatte, ließ er sich auffallend viel Zeit damit, die Schlüssel hervorzuholen und aufzusperren.

In der Wohnung war es noch dunkler als im Treppenhaus. Henry tastete neben der Tür über die Wand, suchte den Lichtschalter, fand ihn und drehte ihn über die innere Sperre hinweg. Doch es blieb stockdunkel. »Fängt ja gut an«, murmelte er.

»Warte, wir haben gleich Licht. Hier gibt’s einen Gasautomaten wie in Albany, und der Schalter da an der Tür ist ein Fernzünder. Aber damit der funktioniert, muss ich erst einen Quarter in den Automaten einwerfen, sonst öffnet sich das Ventil nicht«, sagte Winston und riss ein Streichholz an.

Er suchte an der Wand nach dem klobigen roten Kasten mit der Gasuhr, die erst zu laufen begann und Gas in die Leitungen der Wohnung strömen ließ, nachdem man eine 25-Cent-Münze in den Schlitz geworfen hatte. Je nachdem, wie sparsam man mit Licht, Heizung und Kochstelle umging, hatte man dann für ein paar Tage Gas. Und alle paar Monate kam der Mann von der Gasanstalt, prüfte die Plomben der Gasuhr und leerte den stählernen Geldkasten.

»Der muss gleich hier in der Nähe sein, links vom Herd, hat der Hausmeister gesagt. Ah, da ist er ja. So, gleich haben wir’s, Junge!« Ein Vierteldollar schepperte gedämpft in dem Kasten, der hohl und gänzlich leer klang. »So, jetzt kannst du den Fernzünder betätigen.«

Henry drehte den Schalter, doch kaum war das klägliche Gaslicht an der Decke aufgeflammt, wünschte er fast, es wäre dunkel geblieben. Dann hätte er sich zumindest einbilden können, dass ihre neue Unterkunft nicht mit einem weiteren Abstieg einherging. Das war natürlich ein dummer Gedanke, immerhin war er siebzehn und kein kleines Kind mehr, das sich solchen Torheiten hingeben konnte. Zumal er gewusst hatte, dass ihn genau das hier erwartete. Sie hatten sich ja nicht aus dem knapp fünfzig Kilometer entfernten Trenton in New Jersey davongestohlen und sich über die Grenze nach Philadelphia in Pennsylvania abgesetzt, weil es ihnen gut gegangen war und sie Lust auf einen Tapetenwechsel gehabt hatten.

Aber diesmal konnte er seinem Vater noch nicht einmal einen Vorwurf machen. Noch bis vor einem halben Jahr hatte Winston einen erträglichen Verdienst nach Hause gebracht, der ihnen ein bescheidenes, aber doch schuldenfreies Auskommen ermöglicht hatte. Das war nach den Hungerjahren mit all den beschämenden Mietschulden und unbeglichenen Rechnungen in Hoboken sowie Syracuse, Albany und Scranton wahrhaftig ein großer Fortschritt gewesen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war es für Winston richtig gut gelaufen. Die Entscheidung, als Vertreter für einen wissenschaftlichen Verlag zu arbeiten und mit einem Lexikon sowie dem ersten Band einer achtbändigen Enzyklopädie von Haus zu Haus zu ziehen, hatte sich als goldrichtig erwiesen, konnte er doch ausreichend Kunden vom bleibenden Wert einer solchen Anschaffung mit zwölf Monatsraten überzeugen. Alles in allem waren es verhältnismäßig gute Zeiten gewesen. Er, Henry, hatte sogar auf der Schule bleiben und hoffen können, mit achtzehn einen richtigen Highschool-Abschluss zu machen. Bis dann aus heiterem Himmel der Absturz in die erneute Mittellosigkeit gekommen war. Es war erst ein halbes Jahr her, dass im Oktober 1929 der Börsencrash eine weltweite Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit ausgelöst hatte, aber Henry kamen die Monate vor wie eine Ewigkeit.

»Na, was sagst du?«, fragte Winston aufgekratzt, zerrte den Vorhang aus braunem Sackleinen vom Fenster, das auf einen dunklen Hinterhof ging, und machte eine vage Geste in den Raum hinein. »Ist doch ganz annehmbar, oder?«

Henry ließ den Blick durch ihre neue Unterkunft schweifen, und das war schnell getan, weil es nicht viel zu überblicken gab. Der Raum war Küche, Wohnzimmer und zumindest für einen von ihnen auch Schlafplatz in einem. Es gab links vom Hoffenster eine Kochnische mit einem alten Herd, einem rostigen Waschbecken und einem fleckigen, halb blinden Spiegel. Des Weiteren bestand die Einrichtung aus einem verschrammten Küchentisch mit drei Stühlen, einem Wandschrank, dessen Türen sich nicht mehr richtig schließen ließen, einem durchgesessenen Sofa mit fadenscheinigem braunen Bezug, das unter dem Fenster stand, und einer zweiten Nische auf der rechten Seite mit einer Schlafpritsche. Ein Fetzen Sackleinen diente auch hier als Vorhang. Die Tapeten mit ihrem längst verblassten Rankenmuster waren narbig, die Zimmerdecke zeigte ein verschlungenes Muster aus Wasserflecken. Das Klo befand sich draußen auf halber Treppe.

»Auf jeden Fall sehr übersichtlich«, sagte Henry trocken und probierte das Sofa aus. Die ausgeleierten Sprungfedern piksten und quietschten wie ein Nest voll frisch geschlüpfter Vögel.

»Nun ja«, erwiderte Winston und kratzte sich verlegen am Kinn. »Aber immerhin hast du ein Zimmer für dich. Mir reicht die Pritsche da in der Nische.«

Das eigene Zimmer erwies sich als eine bessere Abstellkammer, in die man mit Müh und Not ein schmales eisernes Bettgestell gezwängt hatte. Für einen Kleiderschrank und einen Tisch hatte der Platz gefehlt. Eine Reihe dicker, nur halb eingeschlagener Nägel diente zum Aufhängen von Kleidung. Es gab noch einen dreibeinigen Schemel, und an der Wand gegenüber dem Bett konnte man ein armlanges und halb so breites Brett hochklappen, das als Schreibtisch oder Ablagefläche diente. Wenigstens hatte das Zimmer ein Fenster, auch wenn es ebenso auf den dunklen, schmalen Hinterhof hinausging wie das andere. Das Mietshaus auf der anderen Hofseite war in viel besserem Zustand und offensichtlich neueren Datums; es schien ihm so nahe, dass er im ersten Augenblick glaubte, es glattweg berühren zu können, wenn er sich nur weit hinauslehnte und die Hand ausstreckte. Das war natürlich Unfug, aber mehr als fünfzehn, zwanzig Meter konnten es bis zu jenem Nachbarsfenster, das seinem genau gegenüberlag, weit offen stand und eine Gardine mit Rosenmuster sehen ließ, nicht sein. Die Gardine blähte sich leicht und lautlos im wechselnden Wind, als würde dahinter ein unsichtbarer Riese atmen. Unten im Hof sah er zwei Teppichstangen, einen windschiefen Bretterschuppen und einen Baum, der in dieser lichtarmen Steinödnis nicht nur beharrlich am Leben festhielt, sondern wundersamerweise ein dichtes grünes Blätterkleid trug.

Als Henry zu seinem Vater zurückkehrte, stand dieser vor dem rostigen Spülbecken und starrte in den halb blinden Spiegel. »Weißt du, was das Tragische am Älterwerden ist?«

»Nein, was?«

»Dass man es als Letzter merkt, wenn es einen erwischt.«

»Jung zu sterben ist auch keine Alternative.«

Winston ging nicht darauf ein. Wahrscheinlich hatte er auch gar nicht hingehört. »Weißt du, was das Alter ist?«, fragte er stattdessen und drehte sich zu ihm um.

»Ich denke, du wirst es mir gleich erklären.«

»Die Sammlung verpasster Möglichkeiten, schwindender Fähigkeiten, zahlloser Enttäuschungen und nicht wiedergutzumachender Verletzungen. Vor allem aber eine Ödnis der Einsamkeit, und das Leben ist …«

»… nur ein vorübergehender Zustand«, beendete Henry den Satz für ihn und hatte Mühe, keine genervte Miene zu machen. Wie oft hatte er diesen Spruch nicht schon gehört! »Ich weiß, das ist allmählich bei mir hängen geblieben.«

»Ja, vorübergehend ist es auch, zweifellos«, versicherte Winston, nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit seiner Krawatte. Nicht einmal auf einen weißen Kragen hatte er verzichtet, ganz nach der Devise »Der erste Eindruck zählt«. Und während er die Brille putzte, fuhr er unbeirrt fort: »Aber wenn man es recht bedenkt, ist das Leben wie ein leiser Ton, der angeschlagen wird, für eine lächerlich kurze Zeitspanne im Raum schwebt und schließlich unbeachtet im tosenden Lärm der Welt verklingt. Ja, das Leben ist vorbei, bevor man es ganz erfassen kann.« Er nickte mit schwermütiger Miene, um dann hinzuzufügen: »Aber immerhin …« Wie üblich ließ er den Satz offen, und es blieb unklar, was er mit diesem »Aber immerhin« hatte anschließen wollen.

Das wunderte Henry schon längst nicht mehr. Die Absonderlichkeiten seines Vaters hatten in den letzten Jahren merklich zugenommen, auch diese kurzen Selbstgespräche. Vor allem hatte er sich angewöhnt, rätselhafte Bemerkungen zu machen, die in keinerlei Zusammenhang mit dem vorher Gesagten standen. Bemerkungen wie aus dem Nichts gegriffen, wie dunkle Geistesblitze. Und dieses vage, sich auf nichts wirklich beziehende »Aber immerhin …« war zu einer regelrechten Manie geworden.

Mit einem Mal drängte es Henry, an die frische Luft zu kommen. Er musste raus aus dieser armseligen Enge. Und abgesehen davon war er nicht in der Stimmung, noch mehr pseudophilosophische Ergüsse über sich ergehen zu lassen. Sein Koffer lief ihm nicht weg, den konnte er auch später noch auspacken. Nicht, dass es viel auszupacken gegeben hätte.

Er fuhr wieder in seine abgewetzte Jacke und griff nach der Ballonkappe aus in Würde gealtertem kastanienbraunen Leder, seinem teuersten und liebsten Kleidungsstück. »Ich mach mal eine Runde durchs Viertel und sehe mich um.«

»Tu das, Junge. Kannst mir gleich eine Packung von meinem Tabak mitbringen. Und halt die Augen offen, ob sich irgendwo eine Gelegenheit für dich bietet«, trug Winston ihm auf. »Wir könnten ein Zubrot gut gebrauchen. Tut mir leid, dass es mit der Schule nichts mehr ist, aber so sind die Zeiten nun mal.« Und dann kam es wieder, das Unvermeidliche: »Aber immerhin …«

»Klar, die haben hier bestimmt auf mich gewartet«, erwiderte Henry, aber schon in der Tür und so leise, dass der Vater es vermutlich nicht gehört hatte.

6

Unter einem fahlgrauen Aprilhimmel, der baldigen Regen anzudrohen schien, streifte Henry durch die umliegende Gegend, aber viel gab es da nicht zu entdecken. Das Viertel, in das sie gezogen waren, unterschied sich nicht sonderlich von dem, das sie in Trenton hinter sich gelassen hatten. Hier wie da reihten sich in langen Straßenzügen triste Mietshäuser für Arbeiter und kleine Angestellte aneinander, lehnten sich mit bröckelndem Putz, rissiger Fassade und schiefen Schornsteinen aneinander wie alte, graue Männer, die sich nur in der Gemeinschaft aufrecht halten können. Überall Flachdächer mit rostigen Wassertanks auf stählernen Stelzen. Hier und da spross Unkraut aus verbeulten Dachrinnen. An manchen Mietskasernen führte eine eiserne Feuerleiter seitlich an der Hauswand bis ganz nach oben. In den trüb erleuchteten Fenstern sah man Frauen in Kittelschürze und Männer im Unterhemd. Irgendwo plärrte ein Radio und schickte die Klänge eines Swingorchesters auf die Straße, ein Stück weiter die Straße hinunter hörte man aus einem offenen Fenster im zweiten Stockwerk die erregte Stimme eines Sportreporters, der ein Baseballspiel kommentierte. Und wie in Trenton, Albany oder Syracuse spielten auch hier Kinder mit Glasmurmeln, malten mit Kreide die Felder von Himmel und Hölle auf den Gehweg oder hatten sich zum Schlagball getroffen. Ein paar Knirpse tauschten abgegriffene Sammelkarten.

Auch die Geschäfte, an denen Henry vorbeikam, boten nicht mehr als das, was eine Kundschaft mit sehr bescheidener Kaufkraft zum täglichen Leben benötigte. Die einzige Ausnahme bildete die Musikalienhandlung Wozniak & Wozniak auf der Lockhart Street, die parallel zur Fremont Street verlief, wo sie nun in der Dachwohnung untergekommen waren. Der schwungvollen Aufschrift auf dem großen Schaufenster nach konnte man hier neben Noten, Schallplatten und Grammofonen nicht nur allerlei Musikinstrumente kaufen, sondern sie auch tage- oder gar stundenweise mieten.

Henry unternahm einen Abstecher hinunter an die Waterfront. Keine fünf Häuserblocks von der Fremont Street entfernt erstreckte sich nach Norden und Süden hin der scheinbar endlose Bogen aus Werftanlagen, Hunderten von Anlegebrücken, Silos, Lagerhallen und Fabriken sowie Verladestationen der Eisenbahngesellschaften. Nicht von ungefähr nannte man Philadelphia auch die »Werkbank Amerikas«, das galt selbst in der Wirtschaftskrise noch. In dem lärmenden Gewimmel stieß er überall auf Gruppen arbeitssuchender Tagelöhner. Männer, die an den Straßenecken standen, als müssten sie die Wände der Häuser festhalten. Viele abgerissene Gestalten, denen die Verzweiflung ins graue, eingefallene Gesicht geschrieben stand. Jeder hoffte, vielleicht doch noch für ein, zwei Stunden Arbeit zu finden und zumindest einen halben Dollar nach Hause zu bringen.