Tal der Illusionen - Kate O'Hara - E-Book

Tal der Illusionen E-Book

Kate O'Hara

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Teil 2 der großen Familien-Saga um die Reederei-Familie Caldwell aus der spannendsten Epoche Kaliforniens: Ein verschlafenes, staubig-heißes Nest in den Hügeln Kaliforniens wird 1911 als idealer Ort für die Produktion billiger "nickel movies" entdeckt. Der Name des Kaffs: Hollywood … Der zweite Teil der opulenten Caldwell-Saga erzählt die Geschichte der Reederei-Familie weiter. Im Mittelpunkt steht neben Harriet Caldwell auch ihr Geliebter, Frank Maynard, der aus einfachsten Verhältnissen stammt. Als einer der Ersten hat Frank den richtigen Riecher für Hollywood und steigt in der noch jungen Film-Industrie schnell zum Studio-Boss auf. Doch ist es ihm der wirtschaftliche Erfolg wirklich wert, seine Liebe zu Harriet zu opfern? Im zweiten Teil ihrer Familien-Saga, »Tal der Illusionen«, verknüpft Kate O'Hara das dramatische Schicksal der Reederei-Familie Caldwell im Kalifornien der Jahre 1898 bis 1926 mit dem Aufstieg Hollywoods zum Zentrum der Film-Industrie. Die große Liebe zwischen Harriet Caldwell und Frank Maynard wird auf eine harte Probe gestellt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 653

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kate O’Hara

Tal der Illusionen

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Kalifornien, Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein verschlafenes, staubig-heißes Nest im Hügelland bei Los Angeles wird 1911 als idealer Ort für die Produktion billiger Stummfilme entdeckt. Der Name des Örtchens: Hollywood … Im zweiten Teil ihrer Familiensaga verknüpft Kate O’Hara das dramatische Schicksal der Reederfamilie Caldwell mit dem Aufstieg Hollywoods zum Zentrum der Filmindustrie. Als einer der Ersten hat Frank Maynard, der aus einfachsten Verhältnissen stammt und den eine schwierige Liebe mit der Reederstochter Harriet Caldwell verbindet, den richtigen Riecher. Schnell steigt er in der noch jungen Welt des Kinos zum Studioboss auf – doch ist es ihm der Erfolg wirklich wert, sein persönliches Glück und seine Liebe zu opfern? Der zweite Teil der Caldwell-Saga, die von den Anfängen Kaliforniens von San Francisco bis Hollywood erzählt, vom Schicksal einer reichen Reederfamilie und einer großen Liebe.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. KapitelZweiter Teil33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. KapitelEpilog
[home]

Für Daphne, Kate, Sally, Moira,

Emily und Lena, meine großen Heldinnen,

die immer einen besonderen Platz

in meinem Herzen haben werden.

[home]

»Hollywood ist wunderbar!

Wer etwas anderes behauptet,

ist entweder verrückt oder nüchtern.«

 

Raymond Chandler, 1941

[home]

Prolog

Juni 1910

Der Santa Ana wehte seit den Morgenstunden, fegte von den kahlen San Fernando Mountains herab ins Tal. Der heiße Wind, der einem die Kehle austrocknete, kam aus der roten Mojave-Wüste. Er wirbelte Staub auf und trieb Steppenläufer aus totem Gesträuch vor sich her. Die Landschaft war karg, der Baumbestand spärlich. Hier und da behaupteten sich ein paar Sykomoren und Zypressen, und vereinzelt ragten Agaven und fast mannshohe Kakteen aus dem verdorrten Gras. Ansonsten wuchs hier nur Chaparral. Flecken dieser niedrigen Hartlaubgehölze überzogen die sonnengebackene graubraune Erde mit einem dornigen Flickenteppich.

Schweiß rann Frank Maynard von der Stirn in die Augen, und er blinzelte ins grelle Mittagslicht. Klatschnass klebte ihm das sonnengebleichte Haar am Kopf. Es war ähnlich stumpf, zottelig und von Staub bedeckt wie das Gras. Dasselbe galt für den dunkelblonden Vollbart, den er sich seit einigen Monaten stehen ließ, weil ihm egal war, wie er aussah. Er sehnte sich nach einem eiskalten Drink. Wobei er sich mittlerweile auch mit einem großen Schluck Wasser zufriedengegeben hätte. Aber seine verbeulte Feldflasche hatte er längst geleert, und das schon vor einer guten Stunde. Seitdem war er auf keine noch so kleine Ortschaft gestoßen, wo er hätte haltmachen und seinen Durst stillen können. Nichts als diese öde Landschaft, in der sich alle paar Meilen abseits der Straße die bescheidenen Wohn- und Wirtschaftsgebäude einer armseligen Farm oder Ranch unter dem hohen Himmel duckten.

Die Luft über der Straße flirrte glasig. Obwohl, von einer Straße konnte eigentlich keine Rede sein. Bestenfalls handelte es sich um eine sandige Piste, um Fahrspuren von Pferdegespannen und wohl auch einigen Automobilen, die so etwas wie eine Wegmarkierung in den gebackenen Dreck dieser gottverlassenen Landschaft gegraben hatten. Zahlreiche Schlaglöcher, Querrillen und steinige Abschnitte machten die Fahrt zu einer mühsamen Rüttelpartie, die nicht nur ihm auf dem harten Sitz zusetzte, sondern auch seinem schwarzen Maxwell-Lieferwagen, dem er in den vergangenen vier Jahren und sechs Wochen viele Tausend Meilen Strapazen zugemutet hatte. Und das ließ der Wagen ihn in letzter Zeit mit häufigen Pannen spüren.

Die Piste stieg an, führte hinauf zu einer kahlen, von Canyons zerfurchten Bergkette. Er passierte ein verwittertes Holzschild am rechten Pistenrand. Es trug den kaum noch lesbaren Hinweis Cahuenga Pass 7 Meilen. Und für den ganz Begriffsstutzigen wies ein verblasster Pfeil auf die Berge, zu denen hin die Piste anstieg. Als gäbe es an dieser Stelle eine Kreuzung mit noch anderen Pisten!

Frank schaltete herunter. Zumindest versuchte er es. Aber das Getriebe verweigerte ihm ähnlich störrisch den Dienst wie am Morgen. Es krachte und knirschte, als wolle es ihm losgebrochene Zahnräder um die Ohren schleudern. Das aufheulende Kreischen ging ihm durch Mark und Bein.

»Verdammt, nicht schon wieder!«, fluchte er. Mit Motorschaden hier im Nirgendwo liegen zu bleiben, und das auch noch an seinem dreißigsten Geburtstag, hatte ihm gerade noch gefehlt!

Er trat mehrmals die schwergängige Kupplung, ruckte am Schaltknüppel und hämmerte den Gang schließlich ins Getriebe. Aber der Motor klang alles andere als gesund, und plötzlich war eine trockene Kehle Franks geringste Sorge. Im ersten Gang kroch er hinauf in die Berge. Kein Gefährt kam ihm entgegen, keines zeigte sich hinter ihm, nirgendwo eine Menschenseele.

Na wunderbar! Mein erster Tag in Kalifornien, und die Karre droht unter mir zu verrecken!, dachte er grimmig. So hatte er sich seine Rückkehr nicht vorgestellt. Was hatte ihn bloß dazu getrieben, wieder nach Westen zu ziehen?

Seit er San Francisco verlassen hatte, lebte Frank Maynard in seinem Lieferwagen. Er hatte sich eine herunterklappbare Pritsche in den Frachtraum bauen lassen, besaß einen Klappstuhl, eine Petroleumlampe, einen Spirituskocher sowie eine Pfanne, einen Wasserkessel und zwei Töpfe. Dazu kamen ein wenig Besteck und zwei Eimer zum Wasserholen und Waschen. Das war im Großen und Ganzen sein Hausrat.

Auf seinen ziellosen Wanderungen war er bis hoch nach Wyoming und in die Dakotas gekommen, lange hatte er sich auch in Colorado, New Mexico und Arizona aufgehalten. Die großen Städte hatte er konsequent gemieden, selbst um die kleinen hatte er einen Bogen gemacht, oder er war, ohne anzuhalten, durchgefahren. Er begnügte sich mit den Provinznestern, in die noch kein Nickelodeon den Siegeszug des Stummfilms getragen hatte, und davon gab es zu seinem Glück landauf, landab noch unzählige. Ihm reichte ein ans Stromnetz angeschlossenes Wirtshaus, die Versammlungshalle des örtlichen Leichenbestatters oder der Gemeindesaal, um seine alten Filme zu zeigen. Meist war die Neugier größer als die Abneigung gegen Fremde. Und wenn sich auf diese Weise auch kein Vermögen verdienen ließ, so kam im Laufe der Jahre bei seiner asketischen Lebensweise doch einiges zusammen. Abgesehen von den ersten anderthalb Jahren, in denen er versucht hatte, den unerträglichen Schmerz und die Schuld im Alkohol zu ertränken. Gerade noch rechtzeitig hatte er begriffen, dass die Erlösung nicht in der Selbstzerstörung lag. Es waren bittere Jahre gewesen, aber er hatte eingesehen, dass er lernen musste, mit der Schuld und mit dem Schmerz zu leben. Der Weg zu dieser Erkenntnis war steinig gewesen, und die Mühsal, Tag für Tag danach zu handeln, war noch längst nicht vorbei.

Aber es gab Fortschritte. Mittlerweile konnte eine ganze Woche verstreichen, ohne dass er von grässlichen Albträumen heimgesucht wurde und er schweißnass aus dem Schlaf auffuhr, vor seinem geistigen Auge das Bild, wie Florence, die er nie hätte heiraten dürfen, in seinen Armen verblutete – und mit ihr das ungeborene Kind starb. Das war ihm während der ersten Jahre fast jede Nacht widerfahren. Er wusste, dass die Schuld ihn sein Leben lang begleiten würde, mal erdrückend, mal weniger quälend. Gnädiges Vergessen würde es jedenfalls nicht geben. Und das galt auch für Harriet, die Liebe seines Lebens, die er so sträflich verspielt hatte. Wie hätte er die Liebe zu ihr auch vergessen können? Das war, als wollte man sich einreden, man könne vergessen, dass man einen Arm oder das Augenlicht verloren hatte.

Als der Wagen plötzlich beschleunigte und der Motor in dem viel zu niedrigen Gang aufheulte, schreckte Frank aus seinen Gedanken auf. Er war über den Cahuenga Pass hinweg, und es ging auf der anderen Seite der Bergkette hinab in ein weites Tal. Wenige Meilen voraus zeichnete sich eine Ansammlung weit verstreuter Häuser ab, und sogar zwei bescheidene Kirchturmspitzen machte er aus.

Er versuchte, einen höheren Gang einzulegen, doch ohne Erfolg. Das Getriebe widersetzte sich allen Schaltversuchen, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als im ersten Gang weiterzufahren und zu hoffen, dass die Bremsen nicht versagten. Es roch gefährlich nach verbrannten Bremsklötzen, als er endlich in die Ortschaft rollte. Auch der Kühler schien kurz davor, ihm den Dienst aufzukündigen, quollen doch schon Schwaden von Wasserdampf unter der Haube hervor.

Endlose Zitrus- und Orangenhaine sowie andere Obstplantagen reihten sich aneinander. Einige bescheidene, eher vernachlässigt wirkende Farmbetriebe lagen staubig in der Mittagssonne. Hier und da tauchte auch ein halbwegs ansehnliches Wohnhaus auf, aber sie lagen verstreut wie ein willkürlich hingeworfener Haufen Bauklötze.

Auffallend waren die vielen Pfeffer- und Feigenbäume zu beiden Seiten der sandigen Straße, die in den Ort führte. Sogar ein paar Palmen mit müde herabhängenden Wedeln entdeckte er. Im Großen und Ganzen machte die Ortschaft einen ähnlich verschlafenen und trostlosen Eindruck wie zahllose andere Ansiedlungen, deren Gründer einst eine großartige Zukunft vorhergesehen hatten, nur um mit den Jahren zu der Erkenntnis zu gelangen, dass sie einer Illusion aufgesessen waren und die Zukunft sich andernorts niedergelassen hatte.

Zu seiner großen Erleichterung entdeckte er kurz hinter dem Ortseingang eine Tankstelle. Genau genommen handelte es sich um eine einsame Zapfsäule vor einem Wellblechschuppen, der sichtlich neueren Datums war. Er stand im Schatten eines großen scheunenartigen Gebäudes aus verwittertem Holz, dessen Wände eine unübersehbare Neigung in Richtung des hier vorherrschenden Windes vorwiesen. Über dem Doppeltor der Scheune stand in gerade noch entzifferbarer weißer Schrift: McGregor’s Livery Stable, und darunter, in frischer Farbe, der Zusatz: & Automobile Garage.

»Vielleicht gibt es ja doch einen gnädigen Gott!«, murmelte Frank dankbar und lenkte den qualmenden Lieferwagen vor den Wellblechschuppen. Das weit offen stehende Tor gab den Blick auf einen Ford mit aufgeklappter Motorhaube frei. Davor stand ein Mann, mit dem Rücken zur Straße, und beugte sich über die Maschine. Indessen gab Franks Maxwell ein letztes Kreischen von sich und erstarb, als wüsste der Motor, dass er sich nicht weiter zu quälen brauchte.

Frank stieß einen schweren Seufzer aus, hievte sich mit steifen Gliedern aus der Fahrerkabine und schob sich den staubigen schwarzen Filzhut in den Nacken.

Der Mann, eine schlaksige Erscheinung in einem ölverschmierten dunkelblauen Overall, unter dem die nackte Brust hervorschaute, trat von dem Ford zurück und kam ohne Eile aus dem Schuppen ins Freie. Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab und warf einen interessierten Blick auf den noch immer qualmenden und nach verbrannten Bremsklötzen stinkenden Lieferwagen. Er hatte krauses, dunkelrotes Haar, und sein Gesicht, in dem aufmerksame Augen lagen, war gesprenkelt von einem Meer von Sommersprossen.

Frank schätzte ihn auf höchstens Anfang zwanzig. Links war in die Overall-Brust der Name Scott McGregor eingestickt, wenn auch nicht gerade von geübter Hand. Die unterschiedlich großen Buchstaben und die leicht schiefe Anordnung derselben legten die Vermutung nahe, dass er selbst zu Nadel und Faden gegriffen hatte. Was keineswegs gegen ihn sprach, wie Frank fand.

»Klingt schwer nach ’nem letzten Röcheln, Mister«, sagte er spöttisch, aber mit einem fröhlichen Blitzen in den Augen, als freue er sich schon darauf, dem Maxwell neues Leben einzuhauchen. Er stopfte den Öllappen in seine Gesäßtasche und holte einen Tabaksbeutel hervor.

Frank nickte. »Ich fürchte, das Getriebe ist endgültig hin, von den Bremsklötzen ganz zu schweigen. Und der Kühler dürfte zum letzten Mal geschweißt worden sein. Kriegen Sie das wieder hin, Mr McGregor? Verstehen Sie genug von diesen Benzinmotoren?« Er klopfte auf die heiße Haube seines Maxwell.

»So viel wie mein Vater von Pferden und Hufeisen, und darin macht ihm auch heute noch keiner was vor«, gab Scott McGregor zurück, deutete mit dem Kopf in Richtung der Scheune und öffnete den Tabaksbeutel. Hier bahnte sich ein gutes Geschäft an, und das ließ sich am besten bei einer Zigarette bereden.

»Das freut mich zu hören«, sagte Frank und stellte sich dem jungen Mann vor.

»Wird aber ’ne Weile dauern, wenn das Getriebe rausmuss und Sie auch noch ’nen neuen Kühler brauchen, Mr Maynard. Da muss ich erst mal sehen, welche Teile ich brauche, und die dann ordern. Und von selbst setzt sich das alles auch nicht zusammen. Also mit ’ner Woche werden Sie mindestens rechnen müssen.«

Frank seufzte. »Ist mir schon klar. Also gut, dann machen Sie mal. Brauchen Sie eine Anzahlung?«

Scott schüttelte den Kopf. »Wagen und Schlüssel reichen mir.«

»Gut, dann hoffe ich, Sie können bald loslegen.« Frank schaute sich suchend um. »Und wo finde ich hier eine anständige Unterkunft?«

»Wir haben ein richtig feines Hotel, wenn Sie über das nötige Kleingeld verfügen«, sagte Scott McGregor. »Ist gar nicht weit von hier. Nur die Straße runter bis zur Kreuzung da unten am Hydranten«, er deutete die Landstraße hinunter, »und dann ein Stück nach rechts. Da sehen Sie es schon.«

Franks Gesicht hellte sich auf. »Das ist die erste gute Nachricht des Tages!«, sagte er und beschloss spontan, sich erst gar nicht nach einer preiswerteren Unterkunft zu erkundigen. Wann hatte er sich das letzte Mal den Luxus eines Hotelbetts erlaubt? Das war eine halbe Ewigkeit her. Auch war die Aussicht auf eine gut sortierte Hotelbar, in der eiskalte Drinks serviert wurden, viel zu verlockend, als dass er dieser Versuchung hätte widerstehen können.

Er legte ein paar frische Hemden, Wäsche und was er sonst brauchte, in die bauchige Reisetasche aus abgewetztem Rindsleder. Auch seine wichtigsten Filmdosen packte er ein. Dann zog er den Holzkoffer mit der Pathé-Kamera, seinem wertvollsten Besitz, unter der Pritsche hervor und machte sich auf den Weg zum Hotel.

Doch dann blieb er noch einmal stehen. »Was ich Sie noch fragen wollte«, sagte er und drehte sich zu dem Mechaniker um. »Wie heißt eigentlich dieses …« Das Wort »Kaff« konnte er sich gerade noch verkneifen. »… äh, dieses Dorf?«

Scott grinste breit. »Dorf? Mann, wir haben hier bald siebenhundert Einwohner! Wenn wir weiter so stürmisch wachsen, sind wir im nächsten – spätestens im übernächsten – Jahrtausend ’ne richtige Metropole!«, verkündete er selbstironisch.

Frank lachte. »Und wie heißt diese zukünftige Metropole?«

Scott zog ein Streichholz hervor, riss es am Leder seines Stiefels an und zündete sich die Selbstgedrehte an. »Haben Sie nicht die vielen prächtigen Holly trees gesehen, die Stechpalmen, die hier überall wachsen?«, fragte er paffend. »Die haben nämlich unserem Ort seinen Namen gegeben.«

Frank runzelte die Stirn, versuchte, sich zu erinnern, schaute sich um. »Holly trees?« Er schüttelte den Kopf. »Bisher habe ich keinen einzigen zu Gesicht bekommen.«

Scott McGregor nickte mit einem schiefen Grinsen. »Werden Sie auch nicht. Trotzdem haben unsere weitblickenden Gründungsväter den Ort danach benannt!«, rief er ihm zu und schnippte das Streichholz in den Dreck des Vorplatzes. »Sie sind im wunderschönen Hollywood gestrandet, Mr Maynard!«

Die staubige Landstraße, die sich Cahuenga Boulevard nannte und ins Zentrum von Hollywood führte, zog sich. Frank fragte sich, was die Verwaltung der Ortschaft bewogen haben mochte, diese von Schlaglöchern übersäte Sandpiste Boulevard zu nennen. Er kam an immer neuen Zitrusanpflanzungen vorbei, dazwischen fanden sich, von der Straße zurückgesetzt, einige weiß gestrichene Farmhäuser mit bescheidenen Nebengebäuden, doch die Zahl der hauswandgroßen Reklametafeln mit einer saftigen Orange und dem Firmenlogo von Sunkist sowie der Werbeschilder der California Fruit Growers Exchange, die sich weithin sichtbar entlang der Landstraße erhoben, überstieg die der Wohnhäuser bei Weitem.

Niemand begegnete ihm, kein Fahrzeug zeigte sich auf dem Boulevard, noch konnte er auf einer der Anpflanzungen Arbeiter entdecken. Abgesehen von dem müden, lustlosen Kläffen zweier Hunde gab es keinerlei Anzeichen von Leben, und selbst das Kläffen erstarb schnell wieder, als sei es in der Mittagshitze die Mühe nicht wert. Was immer es an menschlichem Leben in dieser Ortschaft gab, es musste in einen tiefen Siesta-Schlaf gefallen sein.

Allmählich wurden ihm die Arme lahm, und er begann zu bezweifeln, dass es hier ein Hotel gab, das diese Bezeichnung auch nur ansatzweise verdiente. Vermutlich hatte dieser Scott McGregor eine vollkommen andere Vorstellung von einem »feinen« Hotel als er. Ähnlich den Stadtvätern, die ja offensichtlich auch ihre eigene Definition eines Boulevards besaßen.

So richtete er sich auf eine schäbige Absteige ein, wie er sie im Laufe der letzten Jahre viel zu häufig gesehen hatte, und das besserte seine Laune keineswegs. Endlich kam er an die Kreuzung mit dem Hydranten, wo er rechts in den Hollywood Boulevard abbiegen musste. Ein Stück weiter unten an der Straße, die von Pfefferbäumen mit fein gefiederten Blättern und roten Beeren gesäumt war, stieß er schließlich auf das Hotel. Abrupt blieb er im spärlichen Schatten eines der Bäume stehen, setzte Reisetasche und Kamerakoffer ab und meinte, seinen Augen nicht zu trauen.

»Heilige Makrele!«

Das Hollywood Hotel nahm zwischen der Highland und der Orchid Avenue – beide genauso ungepflasterte Dreckpisten wie die sogenannten Boulevards – einen ganzen Häuserblock ein und bot gut und gern hundert oder mehr Gästen ein zweifellos komfortables Unterkommen. Das Haus im spanischen Kolonialstil hatte drei Stockwerke und war reichlich mit Balkonen, Erkern und Türmchen bestückt. Rot-weiß gestreifte Markisen warfen Schatten über alle Fenster, Türen und Balkone. Schatten boten auch die breiten Veranden unter den weit vorgezogenen Vordächern, die mit bauchigen Steinkübeln voll rot blühender Geranien geschmückt waren. Eine gepflegte Gartenanlage mit saftig grünem Rasen und blühenden Beeten umgab die lang gestreckte Anlage.

Mit einem leisen Auflachen nahm Frank den Hut vom Kopf, zog sein kariertes Taschentuch hervor und wischte sich über das verschwitzte Gesicht. Es war ihm ein Rätsel, wie dieses verschlafene Nest zu solch einem Hotel kam, das ihm erschien wie ein weißer Elefant inmitten einer Herde von staubbedeckten Rindviechern. Fast noch mehr wunderte ihn, dass es offenbar in Betrieb war; in der halbrunden Auffahrt standen mehrere Kutschen und Einspänner sowie drei Automobile.

Er zerbrach sich nicht lange den Kopf darüber. Was kümmerte es ihn? Später sollte er erfahren, dass ein reicher Bauunternehmer namens H.J. Whitley das Hollywood Hotel1902 als Countryclub errichtet hatte, um Kaufinteressenten aus dem nahen Los Angeles anzulocken, das mit seinem Ölboom und wirtschaftlichen Aufschwung Menschen aus allen Teilen des Landes anzog. Frank genügte es zu wissen, dass er für ein paar Tage eine Unterkunft mit allen Annehmlichkeiten eines gehobenen Hotels genießen konnte. Die hatte er sich verdient, und nötig waren sie allemal. Er brauchte dringend ein ausgiebiges Bad, eine ordentliche Rasur und ein paar gut gekühlte Drinks, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Die Lobby, mit großformartigen dunkelroten mexikanischen Fliesen ausgelegt und einem sanft plätschernden Springbrunnen in der mosaikverzierten Mitte, lag unter einer hohen, weiß gekalkten Balkendecke und war herrlich kühl.

Frank schrieb sich ins Gästebuch ein, ohne nach dem Zimmerpreis zu fragen. »Ich werde ein paar Tage bleiben«, teilte er dem unverhohlen argwöhnisch blickenden Angestellten an der Rezeption mit, einem distinguierten Mann mit grau meliertem Haar und einem perfekt sitzenden schwarzen Anzug. »Wie viele es werden, hängt davon ab, wie schnell Mr McGregor mein Automobil reparieren kann.« Und weil er wusste, dass er nicht gerade das Bild eines betuchten Geschäftsmannes abgab, legte er zehn Dollar auf den Tresen. »Ich denke, das dürfte vorerst als A-conto-Zahlung genügen. Teilen Sie mir rechtzeitig mit, wenn ein weiterer Vorschuss fällig ist.«

Beim Anblick der beiden Fünfdollarnoten setzte der Mann sofort ein verbindliches Lächeln auf, was Frank nicht wunderte, schätzte er doch, dass der Betrag mindestens vier Übernachtungen abdeckte.

»Selbstverständlich! Aber das wäre nicht nötig gewesen, Mr Maynard«, versicherte der Empfangschef, griff aber dennoch rasch nach dem Geld. Er stellte schwungvoll eine Quittung aus und reichte Frank einen Zimmerschlüssel. »Juan wird sich um Ihr Gepäck kümmern und Sie auf Ihr Zimmer führen, wenn Sie erlauben.« Dabei winkte er einen halbwüchsigen Hoteldiener in schmucker Livree herbei.

»Danke, aber ich möchte erst in die Bar, und um den Koffer kümmere ich mich selbst«, wehrte Frank ab, als der junge Bursche ihm die Holzkiste mit der Kamera abnehmen wollte, drückte ihm aber die Reisetasche sowie einen Dime Trinkgeld in die Hand, was ein strahlendes Lächeln auf das Gesicht des Jungen zauberte.

Es ging Frank nicht nur um die Pathé, obwohl sie allein schon einen Wert von gut tausend Dollar darstellte, sondern er hatte in den Hohlräumen unter dem Filz der Passform auch mehrere Rollen mit sauer ersparten Geldscheinen versteckt. Deshalb dachte er nicht daran, den zerkratzten Holzkasten aus den Augen zu lassen.

Der junge Mann wies ihm, bevor er die Reisetasche auf sein Zimmer brachte, den Weg zur Bar. Beschwingt und in Vorfreude auf ein kaltes Bier schlenderte Frank den Gang hinunter. Aus dem Speisesaal drangen das Klirren von Besteck und Geschirr sowie gedämpfte Stimmen; Frank warf im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick hinein. Mindestens ein halbes Dutzend Tische war besetzt. Aus der Bar kam ihm eine Gruppe von Männern mittleren Alters entgegen. Ihre gediegene, aber ländlich konservative Kleidung und die breitkrempigen Hüte in ihren Händen ließen vermuten, dass es sich um wohlhabende Geschäftsleute aus der Umgebung handelte, vermutlich Großrancher oder -farmer. Die Männer verschwanden im Speisesaal.

Die Bar, die im Stil einer gehobenen Bodega gehalten war, schien so gut wie leer. Nur zwei Männer saßen hinten am Tresen, der eine pummelig, mit rosigem Milchgesicht und nicht älter als Anfang zwanzig, der andere eher Ende dreißig, Anfang vierzig, breitschultrig und von kräftiger Statur. Während das Milchgesicht in einem schlecht sitzenden grauen Straßenanzug von der Stange und einem kragenlosen Hemd steckte, trug der Ältere einen modischen, wenn auch verknitterten Anzug aus sandfarbenem Leinen und ein mokkabraunes Hemd mit Stehkragen. Sein dunkles Haar war raspelkurz geschnitten und sah aus wie eine borstendicke Schuhbürste. Das Gesicht mit seinen scharf konturierten Zügen, dem buschigen Schnurrbart und der knochigen Nase wirkte wie aus Holz geschnitzt, ohne jedoch unsympathisch zu sein. Das lag vermutlich an dem jugendlich lebhaften Blick, der hinter den großen Gläsern einer Hornbrille aus den Tiefen seiner Augen blitzte. Neben ihm auf der Theke standen ein Martiniglas, in dessen trügerisch klarer Flüssigkeit eine Olive schwamm, sowie ein silberner Shaker, an dessen eisgekühlter Oberfläche Wassertropfen herabperlten.

Der Mollige hatte ein halb leeres Glas Orangensaft vor sich stehen. Er hielt Bleistift und Notizblock in den Händen und notierte, was der Ältere ihm diktierte. Als Frank eintrat, verstummte der Ältere mitten im Satz.

Frank nickte den beiden höflich zu, stellte die Holzkiste neben die Fußstange aus blank poliertem Messing und schob sich auf einen der lederbezogenen Barhocker, wobei er darauf achtete, mehrere Plätze Abstand zu halten. Er wollte nicht aufdringlich erscheinen, zumal die beiden Geschäftliches zu besprechen schienen. Der lange Blick, den der Ältere auf den Kamerakoffer richtete, entging ihm, denn da hatte er sich schon dem Barkeeper zugewandt und ein Bier bestellt. »Das kälteste, das Sie haben!«

»Kein Problem, Sir. Wir kriegen zweimal täglich mehrere Blöcke Eis geliefert«, erklärte stolz der dunkelhaarige Barkeeper, der wie der Hoteldiener Juan zweifellos mexikanischer Abstammung war.

Frank griff zu seinen Woodbines und steckte sich eine an. Er konnte den ersten Schluck kaltes Bier kaum erwarten. Indessen nahmen die beiden Männer fünf Barhocker weiter ihre Unterhaltung wieder auf.

»Was genau soll denn nun in dem Telegramm stehen, Vergil?«, fragte das Milchgesicht und klopfte ungeduldig mit dem Bleistift auf seinen Schreibblock.

»Das fragst du noch, wo wir heute Morgen fast drei Stunden durch die Gegend gefahren sind?«, gab der Ältere mit der auffälligen Hornbrille spöttisch zurück. »Hast du denn keine Augen im Kopf?«

»Na ja …«, kam es etwas hilflos vom Milchgesicht.

»Herrgott, sei doch nicht so begriffsstutzig! Das ist das reinste Paradies! Hier liegt das Geld doch förmlich auf der Straße!«, erklärte Vergil enthusiastisch, griff zu seinem Glas, schlürfte die Olive zusammen mit einem guten Schluck Martini und fuhr kauend fort: »Teil Drexler mit, dass er Kuba und Florida vergessen kann, weil wir Eldorado gefunden haben.«

Frank schüttelte den Kopf. Dieses staubige Nest und ein Paradies? Er fragte sich, ob dieser Mann wohl zu jenen skurrilen Einheimischen gehörte, die eine löchrige Sandpiste für einen Boulevard hielten und einen Ort nach einer Baumart benannten, die es dort weit und breit nicht gab. Dann kam das Bier in einem hohen, dickwandigen Glas, und es war kalt und köstlich und rann ihm durch die trockene Kehle wie der Trunk aus einem Jungbrunnen. Jetzt war er mit sich und der Welt versöhnt. Aber er wusste, dass dieser himmlische Zustand nicht von Dauer sein würde. Dafür schnürte ihn das Geflecht aus Schuld, Schmerz und Scham noch immer zu sehr ein, und es war fraglich, ob er sich je daraus würde befreien können. Zumal er diese Erlösung nicht verdient hatte.

Indessen machte sich das Milchgesicht Notizen.

»Warte! Mach aus Eldorado besser Walhalla«, korrigierte sich der Fremde namens Vergil. »Das ist vermutlich mehr nach dem Geschmack dieses Wagnerverrückten.«

»Walhalla? Aber ist das nicht mehr so ein Palast der Götter und Ort für gefallene Krieger und so?«, wandte das Milchgesicht ein.

»Und wennschon! Ist doch egal, was genau dahintersteckt«, wischte Vergil den Einwand beiseite. »Walhalla steht für was Besonderes, und darum geht’s, okay? Drexler wird schon kapieren, was gemeint ist!«

Milchgesicht zuckte die Achseln. »Okay, also Walhalla. Was noch?«

»Natürlich, dass er unverzüglich den Rest der Crew und am besten auch unser zweites Team auf den Weg schicken soll. Er soll in Philadelphia die Zelte abbrechen, aber so unauffällig wie möglich«, diktierte Vergil. »Und er soll das Geld für die alte Kaschemme möglichst schnell anweisen, sonst kommt uns noch ein anderer zuvor, und der Deal platzt. Vergiss bloß nicht, das richtige Büro der Western Union in Los Angeles zu nennen! Da gibt es jetzt nämlich mehrere!«

»Schon notiert, Vergil.«

Dieser nickte und kippte den Rest Martini hinunter. »Und wenn du schon mal in Los Angeles bist, kannst du dich auch gleich darum kümmern, dass Colin und Lester aus dem County Jail kommen. Jetzt dürften sie ja wohl ausgenüchtert sein.« Er zückte eine dicke Geldrolle, schälte mehrere Scheine davon ab und schob sie dem Milchgesicht über den Tresen. »Das dürfte für die Kaution reichen. Den Rest gibst du Lester. Es ist sein noch ausstehender Wochenlohn; seine Kaution habe ich davon abgezogen. Lass dir eine Quittung geben. Und sag ihm, dass er sich zum Teufel scheren soll. Bei mir soll er sich jedenfalls nicht wieder blicken lassen. Diesmal ist es mir ernst. Colin nehme ich mir später vor. So, und jetzt mach dich auf den Weg, Skinny!«

Frank grinste, als er hörte, wie dieser Vergil seinen wohlgenährten Mitarbeiter nannte.

»Ich brauche noch die Schlüssel für den Packard«, sagte der, während er Notizblock und Bleistift wegsteckte.

»Geht nicht, den Wagen brauche ich selbst noch«, erwiderte Vergil, während er nach dem silbernen Shaker griff und sich Martini nachgoss. Es rann jedoch nur ein kläglicher Rest aus dem silbernen Gefäß ins Glas.

»Aber wie soll ich dann nach Los Angeles kommen?«

»Natürlich mit dem Trolley!«, sagte Vergil ungerührt. »Und wenn ich mich recht erinnere, befindet sich die Haltestelle der Los Angeles Pacific Railroad drüben auf dem Sunset Boulevard, also nur ein Stück die Highland Avenue runter!«

»Aber mit der Straßenbahn sind es gute zwei Stunden bis nach Los Angeles!«, protestierte Skinny Milchgesicht.

Vergil zuckte die Achseln. »Kauf dir eine Zeitung oder meinetwegen auch zwei, und genieß die Fahrt ins Valley«, spottete er.

»Könnten wir denn nicht zusammen …«, versuchte Skinny, ihn noch einmal umzustimmen.

Diesmal fiel Vergil ihm ins Wort. »Vergiss es! Es bleibt dabei, du nimmst die Elektrische! Ich wüsste nämlich nicht, was du heute außer diesen beiden Botengängen zu erledigen hättest. Und wenn ich mich nicht täusche, zahle ich dir nicht satte dreißig Dollar die Woche, damit du mit meinem Packard durch die Gegend gondelst und dir eine schöne Zeit machst, sondern damit du mir möglichst viel Arbeit abnimmst – und zwar vor allem die lästige. Und jetzt zieh endlich ab!«

Mit mürrischer Miene rutschte Skinny vom Barhocker, leerte sein Glas Saft auf einen Zug und verließ, leise vor sich hin maulend, die Hotelbar.

Frank widmete sich wieder seinem kühlen Bier und seiner Zigarette und versank zwangsläufig in trüben Gedanken. Es gab so viele Fragen, die ihn beschäftigten und auf die er langsam eine Antwort finden musste.

Augenblicke später riss ihn eine Stimme, die vom Ende des Tresens kam, aus seinen Grübeleien.

»Was dagegen, dass ich Ihnen Gesellschaft leiste, Kollege?«

Verblüfft blickte Frank zu Vergil hinüber. »Kollege?«

»Kommen Sie, Sie sind doch einer von uns«, sagte Vergil mit breitem Grinsen, griff sich Martiniglas und Shaker und kam zu ihm herüber.

Frank verstand nicht, was der Fremde meinte, und hob in einem Ausdruck des Unverständnisses die Brauen. »In welcher Hinsicht, wenn ich fragen darf?«

»Nun, Sie gehören doch wie ich zu den Unabhängigen, nicht wahr?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und dazu zwinkerte Vergil ihm verschwörerisch zu, als teilten sie ein Geheimnis.

»Unabhängigkeit trifft meinen derzeitigen Status recht gut, das ist schon wahr«, erwiderte Frank mit einem Anflug von Selbstironie. Genau betrachtet war Unabhängigkeit das Motto seines Lebens, seit er mit vierzehn seinem gewalttätigen Vater davongelaufen, auf einen Güterzug nach San Francisco gesprungen und in der Bay unter die Austernräuber gegangen war. Drei Jahre hatte er mit seinem Freund Lenny dieses ebenso freie wie gefährlich rechtlose Leben geführt und Nacht für Nacht Kopf und Kragen riskiert. Eine wilde Freiheit, die schließlich ihr jähes Ende gefunden hatte, als ihr Boot eines Nachts in Flammen aufgegangen war und sie den Flinten ihrer Verfolger nur um Haaresbreite hatten entkommen können. So hart ihn der Verlust der Sloop und des abenteuerlichen Lebens damals auch getroffen hatte, so dankbar war er dem Schicksal im Nachhinein dafür, dass er so noch rechtzeitig den Absprung geschafft hatte und zu einer rechtschaffenen Arbeit gezwungen worden war. Andernfalls hätte sich sein Weg nicht mit dem des fahrenden Filmvorführers Ezra Silverman gekreuzt und verbunden, und Gott allein wusste, wie sein Leben dann verlaufen wäre!

»Das dachte ich mir doch!«

»Steht mir das auf der Stirn geschrieben?«, fragte Frank, dem mittlerweile dämmerte, worauf sein Gegenüber hinauswollte.

Vergil lachte. »Nein, aber da unten!« Er deutete mit dem leeren Martiniglas in der Hand auf den Kamerakoffer. Auf der Vorderseite prangte eine ovale Messingplakette mit dem eingeprägten Schriftzug Société Pathé Frères – Paris. »Die Pathé ist gut, aber bei den Leuten vom Syndikat ist sie verpönt wie jede aus Europa oder sonst woher importierte Filmkamera. Keiner von Edisons Feiglingen dreht mit einer, die vom Syndikat nicht lizenziert ist.«

Frank erwiderte das Lachen, wenn auch mit einem bitteren Unterton. »Da sagen Sie was Wahres!« Er hatte am eigenen Leib erfahren, was einem von den Schlägertruppen des Syndikats blühte, wenn man nicht bereit war, an Edisons Patentgesellschaft, die auch Trust genannt wurde, zu zahlen. Die Frau seines Mentors und Freundes Ezra Silverman, mochte er in Frieden ruhen, hatte dafür, dass er sich dem erpresserischen Diktat nicht hatte beugen wollen, sogar mit ihrem Leben bezahlt.

Thomas Edison, der in seinem Laboratorium außerhalb von New York an die zweihundert Techniker beschäftigte, hatte in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Kinematografie erfunden. Genau genommen hatte sein Chefingenieur William Dickson die Grundlagen der Filmtechnik entwickelt. Edison hatte zunächst wenig davon gehalten und sich geweigert, die Patente auch in Europa anzumelden. Die dafür nötigen hundertfünfzig Dollar Gebühren schienen ihm verschwendet.

Als er jedoch merkte, wie verrückt die Leute nach den flackernden Kurzfilmen waren, änderte er seine Meinung, gründete eine Patentgesellschaft, den Trust, und beanspruchte das Monopol am Filmgeschäft. Er erhob saftige Lizenzgebühren auf Kameras, den Rohfilm, Kopien und Projektoren. Sogar für das Recht, in einem Nickelodeon Filme vorzuführen, die wiederum hinsichtlich ihrer Länge und anderer Besonderheiten seinem Monopol unterworfen waren, verlangte er Lizenzgebühren. Wer sich als unabhängiger Filmproduzent, Verleiher oder Nickelodeon-Besitzer den Knebelverträgen widersetzte und sich auf dem Schwarzmarkt importierten Rohfilm sowie Kameras und Projektoren verschaffte, den verfolgte die Motion Picture Patents Company mit unerbittlicher Härte. Auf Klagen und ähnliche Einschüchterungsversuche folgte schnell rohe Gewalt. Das Syndikat, wie Edisons Patentgesellschaft von den meisten Unabhängigen genannt wurde, ließ die Studios der Unabhängigen ausspionieren und schickte ihnen Überfallkommandos auf den Hals. Mit Baseballschlägern zerlegten diese Trupps nicht lizenzierte Kinos und Studios und prügelten nicht selten auch auf Filmcrews und Schauspieler ein.

Frank drückte seine Zigarette aus und schob den Kamerakoffer zur Seite, damit er Vergil nicht im Weg war. »Kompliment, Sie haben ein scharfes Auge.«

»Was wohl eine der wenigen Voraussetzungen für einen Kameramann ist. Na ja, genau genommen bin ich auch Studioleiter, Gag-Schreiber und Kulissenschieber, wie das bei einer kleinen Filmgesellschaft eben so ist«, sagte Vergil, stellte Glas und Shaker ab und streckte die Hand aus. »Vergil Hall von der Centurio Film Company. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mister …«

»Frank Maynard.« Frank ergriff die Hand.

Vergil Hall setzte sich neben ihn. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen, Mr Maynard?«

Frank zögerte. Sein Glas war fast leer, aber sein Magen ebenso.

Vergil Hall nahm das Zögern als Ermunterung. »Kommen Sie, trinken Sie noch einen mit mir! Man trifft hier draußen nicht alle Tage einen Kollegen. Und ich sage immer, dass ich das wenige, das ich esse, ebenso gut auch trinken kann«, scherzte er und gab dem Barkeeper einen Wink. »Alvaro, mach dem Gentleman hier ein Bier und für mich noch mal das Gleiche.«

Der Barkeeper nickte und machte sich an die Arbeit.

Vergil Hall wandte sich wieder seinem vermeintlichen Kollegen zu. »Sind Sie hier aus der Gegend, Mr Maynard?«

Frank, der gerade sein Glas leerte, hätte sich fast verschluckt. »Gott bewahre! Sehe ich etwa wie ein Landei aus?«

Vergils Blick wanderte von Franks rissigen Stiefeln über seine dunkelblaue Hose aus derbem Drillich und das verschwitzte, grob karierte Baumwollhemd von der Sorte, wie man sie in jedem x-beliebigen Farmladen fand, blieb kurz an dem zerzausten, eingestaubten Vollbart hängen und glitt über das gebräunte Gesicht mit den hellblauen Augen, zu dem hellen Strich einer Narbe über der linken Braue und hinauf zu der weizenblonden Mähne, die von der Sonne ausgebleicht war.

»Nun, wenn ich ehrlich sein soll, geht von Ihnen schon ein gewisser …«, er stockte kurz und fuhr dann mit breitem Grinsen fort: »… nun ja, rustikaler Charme aus. Nur die Woodbines passen nicht recht dazu.« Er wies auf die grüne Zigarettenschachtel. »Nicht sehr wahrscheinlich, dass die Leute hier diese teuren britischen Dinger rauchen.«

»Ihnen entgeht aber auch nichts, oder?«, sagte Frank mit einem anerkennenden Lachen. »Nein, ich komme aus der Gegend von San Francisco und bin eingefleischter Kalifornier, wenn auch in letzter Zeit mit wenig Kontakt zu Wäschereien und Barbieren. Was ich aber definitiv in den nächsten Tagen zu ändern gedenke.« Dabei fuhr er sich über den Bart. Es wurde wirklich Zeit, dass dieses wilde Gestrüpp unter einem Rasiermesser fiel.

»So, Sie kommen aus der Gegend von San Francisco, interessant. Und was hat Sie ins wunderschöne Hollywood verschlagen?«

»Ein kaputtes Getriebe, ruinierte Bremsklötze und ein löchriger Kühler. Hatte Glück, dass ich es noch über den Cahuenga Pass geschafft habe«, antwortete Frank. »Nun bin ich hier wohl für eine geschlagene Woche gestrandet, wenn nicht für länger.«

»Das ist natürlich Pech – und ein kostspieliges wohl noch dazu«, sagte Vergil mitfühlend.

»Ja, das steht zu befürchten.«

Die Drinks kamen, und sie stießen kurz an.

Frank nahm einen guten Schluck und wischte sich den Schaum vom Mund. »Erlauben Sie, dass ich jetzt Ihnen eine Frage stelle?«

»Nur zu, schießen Sie los.«

»Als Sie vorhin mit Ihrem Assistenten geredet haben, konnte ich nicht umhin, einiges mitzubekommen, ohne dass ich …«

Vergil winkte lässig ab. »Da war nichts, was unter dem Siegel der Verschwiegenheit hätte laufen sollen. Schon gar nicht, wo auch Sie ein Unabhängiger sind. Also, was wollen Sie wissen?«

»Vor allem, was Sie dazu bewogen hat, diese gottverlassene Gegend als Paradies zu bezeichnen.« Frank griff zu seinen Woodbines. »Ich meine, das könnte auch gut und gern das Ende der Welt sein – abgesehen davon, dass in dem Drecknest ein derart feudales Hotel steht.«

Vergil lachte. »Aber gerade das ist doch für uns unabhängige Filmproduzenten das Paradiesische an diesem Ort! Hollywood ist das ideale Nirgendwo, und es ist so weit wie nur möglich entfernt von der Ostküste, wo sich das Geschäft konzentriert und Edisons Syndikat sein Netz aus Spionen und Schlägern ausgeworfen hat!«, erwiderte Vergil enthusiastisch, um dann ein grimmiges Schnauben folgen zu lassen. »Haben Sie schon mal an der Ostküste gearbeitet?«

Frank schüttelte den Kopf. »Bin über den Westen noch nicht hinausgekommen und habe auch kein Verlangen danach.«

»Dann will ich Ihnen mal erzählen, wie unser Studio in Philadelphia aussieht! Wie ein verdammter Hochsicherheitstrakt, mit Ausweiskontrollen, mehrfach verriegelten Türen und anderen Sicherungsmaßnahmen, und dazu nach außen aufwendig getarnt!« Er hieb mit der Faust auf die Theke, dass Gläser und Shaker tanzten und klirrten. »Das alles, um uns vor den Spionen und Schlägertrupps des Syndikats zu schützen, ein Riesenaufwand, auch finanziell! Aber selbst das hilft nicht immer. Richtig gefährlich wird es, und da sage ich Ihnen sicher nichts Neues, wenn wir Außenaufnahmen machen wollen. Wir können ja nicht jeden verdammten Film im Studio drehen! Was man da tun muss, um das Team zu tarnen und die Ausrüstung zu schützen! Aber ich kann nicht jede Außenszene durch ein Loch in einer verdammten Riesentonne, einer Kiste, einem Kleiderschrank oder sonst einer Tarnung drehen, die man unauffällig auf einem Fuhrwerk oder sonst wie platziert. Das geht auf Dauer einfach nicht.«

»Das heißt also, Sie wollen Ihr Studio in Philadelphia aufgeben und von nun an hier im Westen drehen?«, folgerte Frank mit wachsendem Interesse.

»Worauf Sie Gift nehmen können!« Die hellen Augen hinter den Gläsern der großen Brille funkelten begeistert. »Sehen Sie sich doch mal hier in der Gegend um! Da haben Sie alles, was Sie brauchen! Eine unglaublich abwechslungsreiche Landschaft, die es einem erlaubt, die unterschiedlichsten Arten von Filmen zu produzieren. In den Bergen und Canyons können wir Western und Abenteuerstorys machen, in den Wüsten lassen wir orientalische Geschichten und Märchen à la 1001 Nacht spielen, die nahen Strände sind ideal für romantische Stoffe und Piratenstücke. Außerdem gibt es jede Menge zerfallene spanische Missionsgebäude und Ruinen, mit denen man eine Menge anfangen kann, die kostspielige Kulissen ersetzen und im Film auch noch tausendmal besser rüberkommen. Und dann das fantastische Wetter! Hier können wir quasi das ganze verdammte Jahr über drehen!« Er klang so aufgeregt, als hätte er im Lotto den Hauptpreis gewonnen, und war in seiner Begeisterung kaum zu bremsen; es sprudelte nur so aus ihm hervor. »Südkalifornien hat im Schnitt gut und gern dreihundertzwanzig Sonnentage im Jahr. Dagegen kommt man in Philadelphia, Chicago und anderswo im Osten bestenfalls auf zweihundert sonnige Tage, und selbst an denen hat man nur wenige Stunden lang wirklich gutes Licht zum Drehen. Da helfen dann auch diese neuartigen Kohlebogenscheinwerfer nicht viel. Ganz abgesehen davon, dass die schweren Dinger verdammt teuer und aufwendig zu warten sind. Ohne einen guten Elektriker und ein fettes Budget geht da gar nichts. Und all das fällt hier weitgehend weg, weil es an Licht unter diesem Himmel wahrlich nicht mangelt! Na, begreifen Sie jetzt, warum ich von Paradies gesprochen habe?« Er strahlte über das ganze Gesicht und warf sich die Olive in den Mund.

Frank machte eine überraschte Miene. »Ich muss zugeben, dass ich Hollywood und die Umgebung aus dieser Perspektive nicht gesehen habe. Was Sie da sagen, leuchtet mir ein.«

»Außerdem sind wir hier weit außerhalb der Reichweite des Syndikates«, fuhr Vergil, von seinem zweiten Martini sichtlich beschwingt, schwungvoll fort. »Und bis die Blutsauger an der Ostküste den Braten gerochen haben und merken, dass sich immer mehr Filmproduzenten hierhin verdrücken, wird es zu spät sein. Sie werden weder den Exodus nach Westen aufhalten noch selbst hier Fuß fassen können. Zudem hoffe ich, dass die Anti-Trust-Klagen gegen Edisons Patentgesellschaft dann endlich zugunsten von uns unabhängigen Filmproduzenten entschieden worden sind.«

Frank runzelte die Stirn. »Das ist zu hoffen. Aber was macht Sie so sicher, dass es zu diesem Exodus kommt?«

Genüsslich schlürfte Vergil seinen Martini. »Ich wünschte, ich könnte für mich in Anspruch nehmen, Hollywood und das Gebiet rund um die Santa Monica Mountains als idealen Drehort entdeckt zu haben.«

»Wem gebührt dieser Lorbeer dann?«

»Ich denke, unserem Kollegen William Selig von der Polyscope Film Company in Chicago. Der hat schon letztes Jahr mit seiner Crew hier in der Gegend einen Streifen abgedreht. Und er hat sich drüben in Edendale, das ist ein ähnliches Kaff im Nordwesten von Los Angeles, sogar schon ein Studio eingerichtet. Nichts Großes, aber immerhin. Außerdem ist da noch dieser clevere Deutsche, Carl Laemmle von der Universal. Der führt seit Jahren mit seinem Filmverleih vor Gericht erbittert Krieg gegen das Syndikat und ist neuerdings auch unter die Filmproduzenten gegangen. Wie ich gehört habe, hat er schon seine Scouts hier ins Valley geschickt, um die Lage für ein Filmstudio zu peilen.« Mit fragendem Blick deutete er auf die Schachtel Woodbines und bediente sich, sobald Frank sie ihm zuschob. »Ich sage Ihnen, hier ist was Großes im Busch. Ich rieche das förmlich. Über kurz oder lang wird sich in Hollywood und Umgebung eine ganze Reihe von Filmstudios angesiedelt haben. Und die Centurio wird zu den Ersten zählen!«

»Na, dann wünsche ich Ihnen, dass es auch wirklich so kommt, wie Sie es sich erhoffen«, sagte Frank und ließ den letzten kühlen Schluck Bier durch seine Kehle rinnen. Er spürte die Wirkung des Alkohols. Es wurde höchste Zeit, dass er zur Abwechslung mal feste Nahrung zu sich nahm. Der Duft, den er im Vorbeigehen wahrgenommen hatte, war recht verlockend gewesen.

»Und was ist mit Ihnen, Frank?«

»Was soll mit mir sein?«

»Haben Sie nicht Lust, hier gleich von Anfang an mitzumischen?«

Verblüffung malte sich auf Franks Gesicht. »Als was soll ich denn hier mitmischen?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Kommen Sie zur Centurio! Ich biete Ihnen einen Job in meiner Filmcrew an. Ich brauche dringend einen zweiten Kameramann. Sie haben ja vermutlich mitbekommen, dass zwei meiner Leute im County Jail von Los Angeles in der Ausnüchterungszelle sitzen.«

Frank schmunzelte darüber, dass Vergil ihn für einen Kameramann hielt, und nickte. »Ja, und Ihr Assistent, dieser mollige Skinny«, bei dem Namen lachte er unwillkürlich, »ist jetzt mit der Kaution auf dem Weg zu ihnen.«

Vergil zuckte die Achseln. »Das mit dem Skinny ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Das brachte er schon mit, als er zu mir kam. Aber wer mit Nachnamen Skinner heißt, der hat den Spitznamen Skinny nun mal beizeiten weg.«

»Ja, das ist wohl fast so was wie ein Naturgesetz«, pflichtete Frank ihm bei.

Vergil machte eine ungeduldige Geste. »Zurück zu meinen Leuten Colin und Lester«, nahm er den Faden wieder auf. »Die beiden haben gestern Abend sturzbetrunken eine Kneipenschlägerei vom Zaun gebrochen. Haben sich mit Arbeitern von einem Bohrtrupp auf den Ölfeldern unten im Valley angelegt. Ist ihnen nicht gut bekommen.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.«

»Aber egal. Jedenfalls war einer von den beiden, Lester, bislang mein zweiter Kameramann. Eigentlich ein fähiger Bursche an der Kurbel, aber leider auch aufbrausend und noch dazu einer, der an der Flasche hängt.«

»Eine explosive Mischung.«

Vergil nickte grimmig. »Der Kerl hat mir schon so manchen Drehplan vermasselt, weil er zu betrunken war oder in sonst welchen Schwierigkeiten steckte. Ich habe ihn oft genug gewarnt, dass ich ihn rausschmeiße, wenn er sich nicht endlich zusammenreißt. Hat offenbar nichts gefruchtet. Jetzt bin ich fertig mit ihm, das haben Sie ja gehört.« Er beugte sich vor. »Also, was ist, steigen Sie bei mir ein? Ich zahle Ihnen einen guten Wochenlohn!«

»Ihr Angebot ehrt mich, aber da liegt wohl ein Irrtum vor. Ich verstehe nichts vom Filmen, also von den Dreharbeiten und der Handhabung einer Kamera«, eröffnete Frank ihm.

Vergil machte ein ungläubiges Gesicht. »Aber die Pathé …«

»Habe ich von meinem Mentor und seligen Partner geerbt. Wir haben so etwas wie ein mobiles Nickelodeon betrieben, sind rund um die San Francisco Bay von Ort zu Ort gereist und haben in Schuppen, Zelten und anderen improvisierten Vorführräumen unsere Streifen gezeigt. Seit Ezra tot ist, betreibe ich diesen Wanderzirkus allein.« Er verschwieg, dass er nach Ezras Tod in San Francisco innerhalb kurzer Zeit drei gut gehende Nickelodeons eröffnet und ein viertes, fast fertig renoviertes Lichtspielhaus besessen hatte. Wie er auch unerwähnt ließ, dass er im April vor vier Jahren bei dem schweren Erdbeben und der darauffolgenden Feuerhölle innerhalb weniger Stunden alles verloren hatte. Nicht allein seine Kinos, sondern sehr viel mehr, etwas unvergleichlich Kostbares, das sich auch durch noch so harte Arbeit nicht ersetzen ließ. Über diesen unersetzlichen Verlust wollte er schon gar nicht reden. »Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen – ich glaube, ich muss unbedingt etwas essen.«

»Warten Sie! Es macht nichts, dass Sie keine Dreherfahrung haben!«, sagte Vergil schnell und gestand: »Ich brauche ja nicht nur einen zweiten Kameramann, sondern auch eine zweite Kamera! Denn die, mit der Lester gearbeitet hat, gehört ihm. Also, ich nehme Sie auch ohne Erfahrung, okay?«

»Wie bitte? Soll das ein Witz sein?«

»Ganz und gar nicht! Mein Gott, das bisschen Wissen und Technik, das Sie für einen Dreh brauchen, bringe ich Ihnen im Handumdrehen bei!«, versicherte Vergil. »Die einzig wirklich unverzichtbaren Voraussetzungen sind eine ruhige Hand und dass man gleichmäßig kurbeln kann. Was ist, haben Sie eine ruhige Hand?«

Frank zuckte die Achseln. »Ich denke schon.«

»Lassen Sie mal sehen. Hier, nehmen Sie die Streichholzschachtel! Die klemmen Sie sich zwischen Zeigefinger und kleinen Finger, und dann strecken Sie den Arm und die Hand aus!«

Frank lachte. Der Mann meinte es tatsächlich ernst. »Sie sind ja verrückt«, sagte er, folgte jedoch der Aufforderung.

»Na also!«, rief Vergil triumphierend. »Nicht das leiseste Zittern, ruhig wie die Hand eines Toten! Und das nach zwei großen Bieren! Sie sind engagiert, Frank!«

»Nun mal ganz langsam!« Frank hob abwehrend die Hände, doch insgeheim erwärmte er sich immer mehr für Vergils überraschendes Angebot. Seit vier Jahren zog er rastlos von Ort zu Ort. Anfangs war diese Rastlosigkeit ein Segen gewesen, weil sie ihn auch physisch stark beansprucht und ihm geholfen hatte, nachts Schlaf zu finden. Aber gegen das, was ihn tief in Herz und Seele quälte, war körperliche Erschöpfung auf Dauer kein Heilmittel. Er hatte längst eingesehen, dass er nicht vor Schuld, Schmerz und Scham flüchten konnte, indem er möglichst viele Meilen zwischen sich und San Francisco brachte, einsam durchs Land zog und nirgendwo länger blieb als ein, zwei Tage. Er war müde, physisch und seelisch, und das ziellose Herumziehen leid. Was er brauchte, war eine Aufgabe, die ihn forderte, eine Perspektive. Und die bot Vergil ihm. Warum also nicht?

»Was ist, warum zögern Sie? Haben Sie nicht selbst gesagt, Sie sind hier erst mal gestrandet? Und es klang nicht so, als hätten Sie für die nähere Zukunft Verpflichtungen und feste Pläne, oder irre ich mich da?«

»Das ist schon richtig«, räumte Frank ein. Zu verlieren hatte er in der Tat nichts, und das machte die Sache umso verlockender.

»Was vergeben Sie sich dann? Nehmen Sie mein Angebot an, und finden Sie heraus, ob Ihnen die Arbeit hinter der Kamera gefällt. Wenn der Dreh nicht Ihr Ding ist, lassen Sie es eben wieder sein und kehren zu dem zurück, was Sie bisher gemacht haben«, redete Vergil ihm gut zu. »Finanziell wird es Ihr Schaden ganz sicher nicht sein!«

Eine unerklärliche Aufregung packte Frank, und er steckte sich eine Zigarette an, um die Nervosität zu bekämpfen. »Und was genau heißt das?«

Die lebhaften hellen Augen hinter den Gläsern der Hornbrille leuchteten siegessicher. Vergil wusste, dass er einen zweiten Kameramann für seine Crew gewonnen hatte. Jetzt ging es nur noch um die Details. »Endlich stellen Sie die richtigen Fragen! Ich zahle Ihnen fünfzig Dollar die Woche! Dazu kommen Spesen.«

Fünfzig Dollar die Woche! Das war mehr, als ein gewöhnlicher Arbeiter im Monat nach Hause brachte. Vor allem war es mehr als das Doppelte von dem, was ihm im Schnitt in einer Woche Tingeln über die Dörfer in die Eintrittskasse geklimpert war. Daher hatte er alle Mühe, sich die freudige Überraschung nicht anmerken zu lassen. Er brachte sogar eine unentschlossene Miene zustande, als klinge das Angebot wenig verlockend.

»Außerdem können Sie die erste Zeit bei uns in der Taverne schlafen«, fügte Vergil seinem Angebot noch schnell einen geldwerten Bonus hinzu. »Da ist über dem alten Schankraum noch eine Kammer frei.«

»Was für eine Taverne?«

Vergil lachte stolz. »Eine Kneipe als Filmstudio, das hat doch was, oder? Liegt unten an der Ecke Grover Street und Sunset Boulevard und nennt sich Blondeau Tavern. Ich habe sie für die Centurio angemietet. Der Laden ist schon länger geschlossen, weil es an Kundschaft fehlte, die Küche unter aller Sau oder das Bier sauer war. Wer weiß, vielleicht auch alles auf einmal? Aber als Produktionsbüro ist die leer stehende Taverne erst einmal ausreichend«, versicherte er. »Die Schuppen auf dem großen Hinterhof lassen sich kinderleicht in ein Studio verwandeln, und zwar ohne dass wir wie im Osten sündhaft teure Glasdächer bauen müssen, um unten genug Licht zu haben, aber vor Wind und Wetter geschützt zu sein! Jetzt schlagen Sie schon ein, Frank!«

Frank ließ einen langen Moment verstreichen, dann antwortete er: »Sagen wir, sechzig die Woche. Immerhin bringe ich meine eigene Kamera mit.«

»Hören Sie, bei allem, was recht ist, aber fünfzig …«, setzte Vergil zu einem Einwand an.

»… waren Ihr erstes Angebot. Was bedeutet, dass da ganz bestimmt noch Luft nach oben ist«, fiel Frank ihm ins Wort. »Ich bin sicher, dass Sie Lester mehr als fünfzig gezahlt haben.«

Vergil kniff die Augen zusammen und gab sich einen grimmigen Anschein. »Mann, sind Sie sicher, dass Sie nicht heimlich auf der Lohnliste des Syndikats stehen, das nun auf diese Weise versucht, uns Unabhängige zu ruinieren?«

»Sechzig, und ich bin Ihr zweiter Kameramann!«, beharrte Frank und streckte ihm die Hand hin. »Einverstanden?«

»Sie sind ein harter Hund, Frank Maynard! Das ist reine Erpressung! Aber das kriegen Sie zurück! Ich werde dafür sorgen, dass Sie sich die Finger an der Kurbel wund drehen!«, erwiderte er mit gespieltem Ingrimm und schlug lachend ein. »Okay, sechzig, abgemacht!«

Plötzlich fühlte Frank sich mehr als nur beschwipst. Ein leichter Schwindel packte ihn, und in seiner Magengrube meldete sich ein ekelhaft flaues Gefühl. Er hatte einen Job als Kameramann angenommen. Er und Kameramann! Verrückt! Absolut verrückt! Was zum Teufel hatte ihn geritten? Das konnte doch nur als Blamage enden, als völliger Reinfall, oder?

[home]

Erster Teil

1911–1914

1

Es war noch früh am Morgen, doch die ersten Strahlen der Septembersonne glitten schon über die sanft gewellten Bergzüge des Napa Valley, wo ausgedehnte Weinberge, dunkle Eichenwälder und verschlafene Dörfer die beschauliche Landschaft entlang des Napa River bestimmten. San Francisco auf der anderen Seite der riesigen offenen Bay schien von hier nicht nur wenige Dutzend Meilen, sondern eine ganze Welt entfernt.

Behutsam, um seine Frau nicht zu wecken, richtete Jordan Shaw sich im Bett auf. Harriet schlief tief und fest. Auf Seven Oaks, dem vierzehn Hektar großen Landgut seiner verwitweten Tante Agnes Whittaker, war es noch still. Sieben alte Lebenseichen mit knorrigem Stamm und weitverzweigtem Geäst hatten dem Gut seinen Namen gegeben. Wie Wächter, die in der Sommerhitze auch noch wohltuenden Schatten spendeten, umstanden die alten Bäume mit ihren ausladenden Kronen das geräumige Haus, das mit seinen Sprossenfenstern, den flaschengrünen Schlagläden und der umlaufenden Terrasse unter einem weit vorgezogenen Dach auf einer Anhöhe thronte.

Doch die morgendliche Stille würde nicht mehr lange währen, das wusste Jordan. Schon bald würde der alte Chang mit seiner munter schwatzenden Sippe, allesamt erfahrene Traubenpflücker, die Allee heraufkommen und oben in den ausgedehnten Weinbergen die Arbeit wieder aufnehmen. Anders als die meisten anderen Farmer und Gutsbesitzer verpflichtete Tante Agnes zur Erntezeit keine Wanderarbeiter. Sie drückte auch nicht schamlos den Lohn, wie es so viele taten, weil die herumziehenden Arbeiter arme Schlucker waren, so gut wie rechtlos und leicht um ihren gerechten Lohn zu betrügen. Sie zahlte einen fairen Preis, auch wenn er ihren Profit schmälerte. Und immer ließ sie Chang und seine Sippe unten aus dem Dorf kommen, so wie es schon ihr Mann Geoffrey gehalten hatte. Auch war über ihre Lippen noch nie das verächtliche Chinks oder Schlitzaugen gekommen, mit dem so viele Bewohner des Landes die Chinesen zu bezeichnen pflegten.

Ein Lichtstrahl stahl sich durch die Ritzen der Jalousien, wanderte über das Bett und fiel auf Harriets schwarze Haarpracht, deren Flut sich über das Kopfkissen ergoss. Es war, als scheine das Licht auf gesponnene Seide. Harriet lag, ihm halb zugewandt, auf der Seite. Die Bettdecke, die sie im Schlaf zurückgeschoben hatte, reichte ihr nur bis zur Hüfte.

Voller Liebe und Begehren sah Jordan sie an. Zärtlich strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Wie jung und gertenschlank sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren war, so gar nicht wie die Mutter eines bald fünfjährigen Sohnes! Er selbst war fast zehn Jahre älter, und manchmal fürchtete er, dass zwischen ihnen mehr lag als nur diese zehn Jahre. Noch immer erschien es ihm manchmal wie ein Traum, dass sie seit fünf Jahren seine Frau war. Ob sie wohl wusste, wie viel sie ihm bedeutete und welches Glück sie ihm jeden Tag schenkte? Sein Leben hätte er gegeben für sie und Adrian, ihren Sohn!

Jordan beugte sich zu ihr und streichelte liebevoll ihr Gesicht, zog mit der Fingerspitze die Linien ihrer vollen Lippen nach, die leicht offen standen. Harriet seufzte leise und regte sich, ohne jedoch die Augen zu öffnen. Deren leuchtende tiefgrüne Farbe erinnerte ihn immer an kostbare Smaragde. Oder an die atemberaubende Halskette aus chinesischer Kaiserjade, die ihr Vater, der Reeder Arthur Caldwell, ihr zur Hochzeit geschenkt hatte.

Seine Hand glitt an ihrem Hals hinunter, legte sich auf ihre rechte Brust und liebkoste sie durch den dünnen Musselin des Nachthemdes hindurch. Einen Augenblick lang fürchtete er, Harriet würde sich von ihm wegdrehen, die Decke hochziehen und sich einrollen, doch sie streckte sich nur ein wenig. Träge und wohlig wie eine schläfrige Katze, aber in seinen Augen mit erregender Anmut.

Mutiger geworden, zog er die Schleife auf, löste das Seidenband aus seinen Schlaufen und küsste die köstliche nackte Haut, die er Stück für Stück freilegte.

Harriet schlug die Augen auf. »Ach, Jordan …«, sagte sie mit noch schläfriger Schwere.

Seine Lippen lösten sich von ihrer Brustspitze. »Soll ich aufhören?«

Sie lachte leise. »Nein, du Dummkopf«, murmelte sie und fuhr ihm durchs Haar.

Er setzte seine Zärtlichkeiten fort, streifte ihr das Nachthemd ab und liebkoste sie mit Händen und Lippen. Als sie ihn schließlich auf sich zog und er in sie eindrang, war sie mehr als bereit. Sie schlang die Beine um ihn und nahm ihn tief in sich auf.

Er suchte ihre Zungenspitze mit der seinen. Einen Augenblick lang verharrte er reglos, genoss die feuchte Glut, die ihn umschloss, und das Wissen, mit ihr verschmolzen zu sein, so innig vereint, wie zwei Menschen es nur sein konnten. Dann erst folgte er dem Drang, sich in ihr zu reiben.

Harriet nahm seinen Rhythmus auf und schob ihm ihren Schoß entgegen. Es steigerte seine Erregung, dass sie seine Lust teilte. Er hörte ihren schneller werdenden Atem und das leise Stöhnen, das sich ihrer Kehle entrang, als seine Stöße heftiger wurden. Er wartete darauf, dass ein Zittern durch ihren Körper ging, dass sie sich unter ihm aufbäumte und nach Atem rang.

Endlich überwältigte es Harriet, und dann kam es auch ihm, und noch während er sich lustvoll in ihr ergoss, flehte er einmal mehr in Gedanken: Schenk uns noch ein Kind, Gott! Mach, dass sie noch einmal schwanger wird und Adrian eine Schwester oder einen Bruder bekommt! Dann küsste er sie noch einmal auf den Mund und drehte sich mit ihr auf die Seite, um sie nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken.

»Ach, Harriet«, seufzte er und strich ihr übers Gesicht. »Ich wünsche mir so sehr …«

Schnell legte sie ihm den Finger auf die Lippen. »Bitte sag jetzt nichts«, flüsterte sie. »Mach es nicht kaputt. Lass uns einfach noch einen Augenblick so liegen.« Sie wusste nur zu gut, was er sich wünschte, und nur zu gern hätte sie ihm diesen Wunsch erfüllt. Aber das ließ sich nun mal nicht erzwingen.

»Es war so schön. Entschuldige, dass ich fast wieder davon angefangen hätte«, flüsterte er reuig.

Von draußen drangen Stimmen zu ihnen ins Zimmer.

»Chang und sein Familienclan«, sagte Harriet leise. »Man könnte sie glatt für einen aufgeregten Gänseschwarm halten.«

Jordan lachte. »Ja, aber fleißigere Pflücker als seine Leute findest du nirgends im Napa Valley«, sagte er und spürte, wie sein Mannesstolz schrumpfte und unweigerlich aus ihr herausglitt.

Harriet war mit ihren Gedanken schon wieder woanders. »Sag, wann willst du heute nach Sausalito zurück?«, fragte sie. »Ich muss wissen, wann ich mit dem Packen beginnen muss.« Sie hatten das verlängerte Labor-Day-Wochenende bei Tante Agnes verbracht. Eigentlich drängte es sie nicht, in das kleine Haus oberhalb des Hafens zurückzukehren. Aber ihr Vater, Arthur Caldwell, Reeder und Mehrheitseigner der Caldwell Shipping Company, brauchte sie am Donnerstag in seinem Kontor in San Francisco.

Was ihr Haus in Sausalito betraf, so war es nur eine Notunterkunft, eine Übergangslösung. Jordan und sie hatten dennoch allen Grund, dankbar zu sein, dass sie nach dem fürchterlichen Erdbeben und der noch entsetzlicheren viertägigen Feuersbrunst dort ein solides Dach über dem Kopf gefunden hatten. Die Katastrophe im April 1906 hatte in San Francisco mehr als fünfhundert Häuserblocks in Schutt und Asche gelegt, mehrere Tausend Menschen das Leben gekostet und eine gute Viertelmillion Einwohner zu Obdachlosen gemacht. Auch Jordans Junggesellenwohnung war den Feuersbrünsten zum Opfer gefallen. Und das neue Haus am Nob Hill, dessen Planung und Bau er gleich nach der Rückkehr von ihrer fast einjährigen Hochzeitsreise durch Europa und den Vorderen Orient in Angriff genommen hatte, wurde wohl erst Ende des Jahres fertig.

»Nach dem Mittag sollten wir los«, sagte Jordan. »Auch wenn Agnes wieder versuchen wird, uns noch bis zum Nachmittag festzuhalten. Am liebsten würde sie Adrian ja ganz bei sich behalten.«

Sein Vaterstolz berührte sie tief, und sie erwiderte sein Strahlen mit einem Lächeln. »Kannst du es ihr verdenken, dass sie so an ihm hängt?«

Die Ehe von Agnes und Geoffrey Whittaker war zum Leidwesen beider kinderlos geblieben. Schon zu Geoffreys Lebzeiten hatte Jordan bei ihnen die Stellung des Sohnes eingenommen, der ihnen versagt geblieben war, und deshalb bezeichnete Tante Agnes Adrian auch unverblümt als ihr Enkelkind.

»Natürlich nicht, Schatz.« Er gab ihr einen letzten Kuss und schwang sich aus dem Bett. »Ich geh schon mal ins Bad. Bleib ruhig noch etwas liegen, es ist ja noch früh.« Er verschwand, und Augenblicke später begann das Wasser zu rauschen.

2

Harriet hörte, wie Jordan im Bad eine beschwingte Melodie summte, und die lustvolle Leichtigkeit der frühen Morgenstunde wich von ihr. Jäh traten an ihre Stelle Traurigkeit und Schuldgefühle.

Gewiss, sie hatte den Sex mit ihm genossen, wie eigentlich fast immer in ihrer fünfjährigen Ehe. Jordan war zärtlich, zweifellos ein Liebhaber mit Erfahrung und stets darauf bedacht, dass sie nicht zu kurz kam. Aber Wollust zu empfinden war noch lange nicht gleichbedeutend mit jener überwältigenden Erfüllung und seelischen wie körperlichen Sattheit, die sie in den Armen von Frank erfahren hatte. Die zu erfahren, setzte eine gegenseitige Hingabe voraus, die weit über das rein Körperliche hinausging.

Sie fühlte sich von Jordan uneingeschränkt geliebt und litt darunter, dass sie seine Liebe zwar mit tiefer Zuneigung und gesundem sexuellen Appetit erwidern konnte, nicht jedoch mit jener hingebungsvollen Liebe, die er eigentlich verdiente.

Jordan hatte ihre Ehre und den guten Ruf ihrer Familie gerettet, den drohenden Skandal verhindert und Adrian davor bewahrt, als Bastard das Licht der Welt zu erblicken und für den Rest seines Lebens mit diesem Makel geschlagen zu sein. Der Junge war vom ersten Tag seines Lebens an sein geliebter Sohn gewesen, und sein Vaterstolz war unübertroffen. Niemand wusste, dass er nicht der leibliche Vater war.

Ja, Jordan hatte die Scherben ihres Lebens aufgesammelt und mit unendlicher Liebe wieder zusammengesetzt. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein. Die feinen Risse, die zurückgeblieben waren, sah niemand. Manchmal war selbst sie sich ihrer für lange Zeit nicht bewusst, doch dann und wann geschah es, so wie jetzt, dass sich diese Bruchstellen unverhofft bemerkbar machten, und dann drangen Melancholie und Verlorenheit durch die feinen Risse in ihr Herz und ihr Bewusstsein.

Sie wünschte, sie könnte sich nach so vielen Jahren endlich von Reue und Scham lossagen, aber ihr Gewissen ließ es nicht zu. Sie hatte versucht, Trost im Glauben zu finden, doch es war ihr nicht gelungen. Gott war für sie mehr denn je ein Labyrinth, für das es keine Karte gab.