Stadt der Türme - Sandra Berger - E-Book

Stadt der Türme E-Book

Sandra Berger

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Beschreibung

Ihr 19. Geburtstag verändert Kiras gesamtes Leben. Nicht nur, dass sie genau an diesem Tag ihre einzige noch lebende Verwandte verliert, sondern auch, dass ihre einzige Überlebenschance darin besteht, der verhassten Garde beizutreten. Die Garde – die Menschen, die ihre Eltern auf dem Gewissen haben. Kira sieht in ihrem Unglück die Möglichkeit, sich endlich für ihre Familie zu rächen. Doch kann sie es als einfache Dienerin mit den besten Kämpfern der Stadt aufnehmen? Kira verwickelt sich in ein Spiel aus Macht, Intrigen und Liebe.

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Sandra Berger

Stadt der Türme

Die Garde

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Kapitel 1

Kiras Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust. Zitternd drückte sie sich in ihrem schlichten grauen Kleid gegen die Wand und versuchte, die beruhigende Frische des Morgens tief in ihre Lungen zu ziehen. Das Geräusch zweier Giganten, die sich bekämpften, löste in ihr eine altbekannte Angst aus. Es lag schon etliche Jahre zurück, doch sie sah vor ihrem inneren Auge jedes Mal, wie die mächtige Pranke in das Dach ihres Hauses schlug.

Die Nebelschwaden lösten sich allmählich auf und nahmen den leichten Schleier des Morgens mit. Bald wird hier alles unter einer weißen Schneedecke liegen, dachte Kira, als ihr Puls wieder unter Kontrolle war und der Blick über den kleinen Kräutergarten schweifte. Während die Adligen die letzten Sonnentage vor dem Wintereinbruch genossen, musste sie mit den anderen Dienern die Vorbereitungen für das große Festmahl erledigen. Kira hasste dieses halbjährliche Fest, an dem die gutsituierten Adligen im Überfluss aßen und tranken. Niemand von denen verlor auch nur einen Gedanken an die Armen in der Stadt, die von der Hand in den Mund lebten. Für sie waren Bettler nur Abschaum, und Abschaum wurde nicht beachtet.

 Kira nahm einen tiefen Atemzug und bückte sich zu den Kräutern zu ihren Füßen. Der liebliche Geruch von Basilikum drang in ihre Nase. Vorsichtig zupfte sie ein Blatt ab und verrieb es in ihren Fingern. Sie liebte das Aroma seines ätherischen Öles. Im Geheimen hatte sie einmal von diesem wundervollen Kraut probiert. Der unverwechselbare Geschmack hatte sie seit dem Tag nicht mehr losgelassen.

»Bist du immer noch nicht fertig?« Marianne – der Hausdrache, wie sie unter dem jüngeren Personal genannt wurde – stand in der Tür und warf ihr einen griesgrämigen Blick zu. »Nicht einmal die einfachste Aufgabe kannst du gewissenhaft ausführen!« Ihre Haare waren wie bei allen Dienern zu einem Dutt hochgesteckt. Doch im Gegensatz zu Kira trug sie an ihrem schlichten grauen Kleid schwarze Applikationen, welche sie als höhergestellte Haushälterin kennzeichnete.

Marianne schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ich habe es deiner Tante mehrmals gesagt; sie ist viel zu nett zu dir! Was du brauchst, ist eine härtere Hand! Wärst du meine Nichte, wäre ich nicht so gütig zu dir! Bei mir würdest du das lernen, was solche Mädchen wie du brauchen – Disziplin!« Kira blieb stumm, wie immer, wenn Marianne ihr vor Augen führen wollte, wie schlecht sie sich benahm. Dabei war es offensichtlich, dass der Hausdrache sie hasste. Was der Grund dafür war, wusste Kira allerdings nicht. Womöglich lag es daran, dass ihre Tante als gleichhohe Hausangestellte die Erlaubnis der Baronin erhielt, die verwaiste Nichte zu sich zu holen. Obschon das neun Jahre zurücklag, war ihr Marianne die ganze Zeit nur mit Argwohn gegenübergetreten.

»Du hast genau noch eine Minute, um deine Arbeit zu erledigen. Danach wirst du mit Mimi auf den Markt gehen, um die bereitstehenden Äpfel zu holen.« Ohne ein weiteres Wort drehte sich Marianne auf dem Absatz um und rauschte wieder ins Innere. Kira verzog grimmig das Gesicht, machte sich aber eilends daran, die Kräuter für die Köchin zu sammeln. Nicht, dass der Hausdrache auf die Idee kam, ihr wieder mal das Abendessen zu streichen. Mimi und sie waren Kandidaten dafür. Sie konnten sich noch so anstrengen - wenn Marianne einen schlechten Tag hatte, erfand sie einen x-beliebigen Grund und strich ihnen kurzerhand die Mahlzeit.

Die junge Madlen, welche von allen nur Mimi genannt wurde, war erst seit zwei Wochen im Haus der Baronin tätig. Mit ihren 12 Jahren erinnerte sie Kira an ihre Anfänge. Sie war etwas jünger gewesen, als sie das erste Mal dieses pompöse Haus betrat und keine Ahnung davon hatte, was es hieß, eine Dienerin zu sein. In den darauffolgenden Wochen musste sie lernen, wie man Adlige bediente, einen Hofknicks ausführte und sich möglichst unsichtbar machte. Obwohl sie, im Gegensatz zu Mimi, über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte, fand Marianne immer etwas zu kritisieren. Im Unterschied zu heute hatten ihr früher die Nörgeleien sehr zugesetzt und sie oft zum Weinen gebracht. Diesen Erniedrigungen wollte sie Mimi um keinen Preis aussetzen.

 

***

 

Der oberste Stadtvorsteher saß in einem schwarzen Anzug mit lilafarbigen Applikationen an einer langen mahagonifarbenen Tafel. Neben ihm saß eine wunderschöne langhaarige Frau, die ebenfalls mit einer edlen violetten Robe gekleidet war. Reste des eingenommenen Frühstücks standen noch auf dem Tisch, die gerade von zwei Dienerinnen leise und rasch abgeräumt wurden. Jeffrey, ein großgewachsener junger Mann im Alter von 23 Jahren, stand mit bebendem Oberkörper neben dem Tisch und taxierte seinen Vater wutentbrannt. Er besaß hohe Wangenknochen und kurze braune Haare, welche die Verwandtschaft zu seinem Gegenüber unmöglich ausschlossen. Jeffreys Kleidung war ebenfalls schwarz mit violetten, eingenähten Einsätzen, aber nicht so prunkvoll wie die seines Vaters. Wütend drückte er seine zu Fäusten geballten Hände so stark zusammen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Gesicht war vor Wut rot gefleckt.

Der oberste Stadtvorsteher grinste hämisch und musterte seinen Sohn mit einem abschätzigen Blick. »Du bist wirklich enttäuschend, Sohn!« Das letzte Wort betonte er besonders abwertend. Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Denkst du etwa, es würde deine Energie erhöhen, wenn du die Gefangenen aussaugst?« Die Frau neben ihm kicherte amüsiert. Jeffrey sah sie vernichtend an, was sie aber mit einem kalten, geringschätzigen Blick quittierte. »Du vergisst dabei etwas Schwerwiegendes!« Der Vater stand auf und ging langsam auf ihn zu. Er wirkte majestätisch und man konnte seinen hohen Status allein schon an seinen Gang erkennen.

»Die Gefangenen gehören mir und du vergreifst dich an meiner Ware!« Mit einer kurzen, schnellen Bewegung seiner Finger beförderte er Jeffrey an die dahinterliegende Mauer, wo er mit einem lauten Knall gegen die Wand prallte. Stöhnend rappelte er sich gleich darauf wieder hoch und warf seinem Erzeuger einen vernichtenden Blick zu. »Über Jahre hast du dich an ihnen bereichert«, sprach der Stadtvorsteher mit fester Stimme weiter und ging dabei durch den Raum. »Denkst du wirklich, ich wäre so dumm und hätte es nicht bemerkt?« Er sah zu seiner Frau hinüber. »Ich wollte dich dafür züchtigen, doch meine treue Gemahlin war da anderer Meinung.« Er lächelte boshaft. »Die Idee, aus dem Ganzen ein Spiel zu machen und zu schauen, was du mit meiner Ware anstellst, kam von deiner Mutter.«

»Stiefmutter!«, zischte Jeffrey schäumend vor Wut. Der Stadtvorsteher ging mit schnellen Schritten auf seinen Sohn zu und legte ihm seine starke Pranke ans Kinn. »Wage es nie wieder, mich zu unterbrechen! Wenn ich spreche, dann hast du gefälligst deinen Mund zu halten!« Er schrie laut und ließ seinen rasenden Zorn durch den Raum donnern, dass das Inventar erzitterte.

Jeffrey presste die Lippen zusammen und funkelte wutentbrannt seinen Vater an. Er stand kurz vor dem Explodieren.

»Ich weiß, du denkst, wenn du ihre Fähigkeiten raubst, würde es dich irgendwann stärker machen. Doch das wird nie geschehen!« Der Stadtvorsteher musterte ihn herablassend. »Ich muss zugeben, es bereitete mir all die Jahre eine perfide Freude, dieses Spiel zu beobachten. Zu sehen, wie du süchtig nach ihrer Energie wurdest und ungezügelt deiner Gier nachgabst. Du bist wie ein Junkie, der die nächste Dröhnung braucht.« Jeffreys Stiefmutter kicherte abfällig. »Aber nun ernsthaft, Jeffrey.« Sein Vater lächelte belustigt. »Bist du wirklich der Meinung, du könntest mit deren Kraft irgendwann stärker werden als dein alter Herr? Ist es das, was du damit bezweckst, indem du sie bis zum letzten Tropfen aussaugst?«

»Wer weiß?«, fauchte Jeffrey wütend zwischen zusammengepressten Zähnen.

Sein Vater schnalzte abwertend mit der Zunge. »Du willst ausgerechnet mir das Wasser reichen?« Er lachte kurz auf, machte dann aber eine erneute Bewegung mit den Fingern, worauf sich sein Sohn keuchend an die Kehle griff und nach Luft rang. »Du bist eine Null, Jeffrey! Du warst immer ein Nichtsnutz und wirst es immer bleiben! Du bist kein fähiger Hexer, sondern ein verwöhnter, größenwahnsinniger Junge, der nicht einmal seinem Vater gewachsen ist!« Er machte nochmals eine Bewegung, wodurch Jeffreys Gesicht rot anlief und er laut japste. »Diese Stadt braucht keinen jähzornigen Junkie wie dich!« Er trat näher zu seinem Sohn, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Also benimm dich, oder ich werde derjenige sein, der dich aussaugt!« Er machte eine erneute Bewegung mit den Fingern, wodurch sich sein Zauber auflöste.

Keuchend beugte sich Jeffrey vor, um neuen Sauerstoff in seine Lungen zu saugen.

»Mylady?« Der Stadtvorsteher streckte charmant die Hand nach seiner Gattin aus, die ihm entgegenkam und ihm ihre zarten Finger reichte. Er gab ihr einen galanten Handkuss und führte sie mit einem letzten, verächtlichen Blick auf seinen nach Luft japsenden Sohn aus dem Speisezimmer.

 

***

 

Mit einer großen Menge Kräutern trat Kira gehetzt in die moderne Küche. Im Ofen brutzelten bereits verschiedene Braten, die außerordentlich gut rochen, für das große Fest der Adligen. Gleichzeitig schälten am Tisch daneben die Küchenhilfen fleißig eine Kartoffel nach der anderen.

Kira missgönnte den Küchenmägden ihre Arbeit nicht. Gemüse für 200 Gäste zu rüsten war kein Zuckerschlecken. Zum Glück hatte sich ihre Tante vor neun Jahren dafür eingesetzt, dass sie beim Hauspersonal unterkam. Auch wenn putzen, Betten machen und servieren nicht wirklich zu ihren Lieblingstätigkeiten zählte, war es allemal besser, als wunde Finger vom Schälen zu kriegen.

Olga, eine untersetzte ältere Köchin, stand am Herd und überwachte die Küchenarbeiten. Auch wenn sie einen strengen Blick draufhatte, war sie die Freundlichkeit in Person. Im Gegensatz zum Hausdrachen schätzte Olga Kiras schnelle Auffassungsgabe und ihre genaue Arbeit.

»Man hat mir ausgerichtet, du seist diejenige, welche die Äpfel holt.«

Kira nickte. »Ja, genau.«

»Wenn du Mimi suchst, findest du sie bei deiner Tante im Ballsaal.« Die Köchin nahm die Kräuter entgegen, die ihr Kira überreichte. »Schau lieber zu, dass du dich beeilst. Sie hat heute schlechte Laune. Sonst streicht sie dir noch das Mittagessen.« Kira nickte zustimmend. »Sie hat es mir schon angedroht!« Olga rollte kopfschüttelnd mit den Augen. »An euch jungen Dingern ist ja jetzt schon kaum was dran!« Sie kniff ihr sanft in den Oberarmmuskel. »Wenn sie euch noch weitere Mahlzeiten streicht, fallt ihr noch ganz vom Fleisch!« Die Köchin schnaubte verächtlich.

Marianne stand in der Gunst von Olga ebenfalls ganz weit unten. Nur konnte sie ihr das nicht zeigen, ohne ihre Anstellung zu verlieren. »Los, ab nach oben! Sonst macht sie ihre Drohung wirklich noch wahr.« Sie steckte Kira augenzwinkernd heimlich eine Möhre zu.

»Danke.« Die junge Dienerin lächelte und huschte schleunigst aus der Küche, wobei sie sich hungrig das Stück Gemüse in den Mund stopfte.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang Kira die Treppe hinauf ins Erdgeschoss. Oben angekommen strich sie sich ihr graues Dienstkleid glatt, kontrollierte ihren Dutt, neigte den Kopf leicht zum Boden und ging mit leisen, gezielten Schritten den Flur entlang zum Ballsaal. Die erste Regel, die sie als Dienerin lernte, war, in den Räumlichkeiten der Herrschaften unsichtbar zu sein. Nicht, dass das tatsächlich nötig war. Die Adligen beachteten ohnehin nur ihresgleichen. Personen, die der untersten Kette angehörten – damit waren alle Diener und Küchenhelfer gemeint – wurden keines Blickes gewürdigt.

Leider aber war es beim Baron anders. Er hatte trotz allem von ihr Notiz genommen und warf ihr seit geraumer Zeit im Verborgenen immer wieder lüsterne Blicke zu. Zum Glück blieb das bei Kiras Tante nicht unbemerkt. Um ihre Nichte davor zu schützen, eine Bettgespielin zu werden, hatte sie Kira Aufgaben zugeteilt, die sie nicht mit ihm alleine ließ. Wenn beide Herrschaften anwesend waren, würdigte der Baron sie keines Blickes. Die Angst, vor seiner Frau auf frischer Tat ertappt zu werden, war offenbar zu groß.

Momentan hatte sie zum Glück nichts zu befürchten. Wenn das halbjährliche Fest anstand, hielten sich die Herrschaften den ganzen Tag über in ihren Gemächern auf, um sich für den Abend herauszuputzen. Wozu man dafür allerdings einen geschlagenen Tag brauchte, verstand Kira nicht ganz. Eine der anderen Mägde hatte ihr erzählt, dass sich die Baronin an Festtagen eine Wellnessbehandlung nach der anderen gönnte, um möglichst frisch und jung auszusehen. Nach Kiras Meinung war das jedoch vergeudete Zeit. Den überheblichen Gesichtsausdruck und die stets zusammengepressten Lippen verliehen ihrer Herrin nicht gerade ein jugendliches Aussehen.

Kira beherrschte sich allerdings, ihre Meinung laut auszusprechen. So etwas zu sagen, führte zur augenblicklichen Kündigung; doch niemand wollte auf der Straße landen und eine Obdachlose werden.

 

Der Ballsaal, der bei Festlichkeiten zum Speisesaal umgewandelt wurde, befand sich auf der Südseite des Hauses und besaß mehrere große, gebogene Kastenstockfenster, damit möglichst viel Sonnenlicht eindrang. Kostbare Wandbehänge bedeckten die Wände, während sich goldverzierte Tische, einer nach dem anderen, der Länge nach aufreihten. Mimi und zwei weitere Dienerinnen rieben mit einem weichen Tuch jedes einzelne Glas nach. Da jeder Gast mindestens drei davon bekommen würde, mussten sie 600 Gläser auf Hochglanz polieren.

Kira verzog kurz den Mund, als sie über die gedeckten Tische schaute. Nein, ihre Kolleginnen waren wirklich nicht zu beneiden.

Als sie über den hochpolierten Parkettboden schritt, sah ihre Tante auf und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. Bevor sie sich ihrer Nichte zuwandte, rückte diese allerdings noch mit kritischem Blick einen Stuhl in die korrekte Position.

»Wir haben uns heute ja noch gar nicht gesehen.« Sie nahm Kira in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute zu deinem 19. Geburtstag, Kira.«

»Danke. Fühlt sich aber genau gleich an wie mit 18.«

Ihre Tante lächelte. »Du Glückliche! In meinem Alter wäre ich froh, wenn mir nicht mit jedem Jahr mehr auf dem Buckel die Knochen schmerzten.«

»Das liegt nicht am Alter, sondern daran, dass du zu viel arbeitest!«

Ihre Tante betrachtete sie müde. »Ja, da hast du leider recht.« Sie senkte die Stimme. »Aber wie du weißt, muss ich diese Stelle behalten. Ich muss dich beschützen; egal, wie hart es hier ist.«

Kira fühlte sich wie immer schuldig, wenn sie das sagte. Ihre Tante sah es als Pflicht an, alles Mögliche zu tun, um sie zu beschützen. Sie hatte ihrer verstorbenen Schwester versprochen, dass niemand je erfuhr, dass ihre Nichte ein Mensch mit besonderen Fähigkeiten war. Insgeheim wünschte sich Kira aber nichts sehnlicher, als einfach normal zu sein. Dann hätte ihre Tante die Stelle bei den Baronen schon längst aufgeben können und sich eine leichtere Arbeit gesucht. Doch das Risiko und die Angst, dass an einer anderen Stelle jemand ihre besonderen Fähigkeiten entdeckte und sie den Gardisten auslieferte, war einfach zu groß.

»Unser Leben wäre viel leichter, wenn ich normal wäre«, flüsterte Kira bekümmert und trat näher, damit die Dienerinnen ihre Unterhaltung nicht mitkriegten. Die Tante strich ihr zärtlich über die Wange. »Du bist, was du bist, Kira. Alles hat einen Grund. Wir können ihn noch nicht sehen, doch irgendwann wirst du ihn erkennen.« Sie lächelte. »Deine Eltern wären sehr stolz, wenn sie sehen könnten, was für eine wundervolle junge Frau aus dir geworden ist.«

Kira fühlte tiefe Wehmut und den altbekannten Zorn in sich, wenn sie an ihre verstorbenen Eltern dachte – sie hatte sie viel zu früh verloren!

»Kann ich dir denn eigentlich irgendwie helfen? Ich nehme nicht an, dass du gekommen bist, um die Gläser zu polieren.«

Kira schüttelte hastig den Kopf. »Glaube mir, ich beneide keine Einzige von denen!« Sie schaute kurz zu den anderen hinüber. »Ich muss mit Mimi Äpfel auf dem Markt holen.«

Ein Anflug von Angst huschte über das Gesicht ihrer Tante. Sie mochte es nicht, wenn ihre Nichte das Haus verließ, um Besorgungen zu erledigen. Sie fürchtete jedes Mal, auf der Straße könnte jemand erkennen, wie besonders Kira war. Sie hatte schon Schwester und Schwager verloren - sie wollte nicht auch noch ihre letzte Angehörige verlieren.

»Ich kann nicht fassen, dass dich Marianne schon wieder auf einen Botengang schickt! Ich werde mit ihr sprechen müssen!«

»Du weißt doch, dass das nichts nützt«, widersprach Kira. »Was Besorgungen angeht, kann der Hausdrache über uns alle verfügen, wie sie will! Wenn du dich da einmischst, dann streicht sie mir aus Wut nur wieder die Mahlzeiten.«

»Das ist auch so eine Sache, die einfach nicht geht!«, entgegnete ihre Tante erzürnt.

»Egal, was du tust – du kannst es nicht ändern. Die Küche ist nun mal nicht dein, sondern ihr Aufgabengebiet.« Kira legte ihre Hand auf die ihrer Tante. »Und zudem würdest du mir meine einzige Freude nehmen, die ich habe. Du weißt, dass ich Zeit außerhalb dieses Hauses brauche. Ohne sie würde ich innerlich sterben!«

Ihr Gegenüber nahm einen tiefen Atemzug und nickte ernst. »Ich weiß.«

»Keine Angst, ich werde mich unauffällig bewegen, so wie du es mir beigebracht hast. Niemand wird mich auch nur eines Blickes würdigen.«

Die Tante gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn. »Ich möchte nur, dass du auf dich achtgibst.« Kira nickte. »Das werde ich.«

Ihre Tante schenkte ihr ein zärtliches Lächeln, bevor sie sich zu den Dienerinnen wandte. »Mimi!« Ein junges blondes Mädchen mit Engelsgesicht beendete beim Klang ihres Namens sofort ihre Arbeit und eilte herbei. »Du gehst mit Kira auf den Markt, um Äpfel zu holen.« Mimis Augen leuchteten. »Natürlich.« Sie warf Kira einen vielsagenden Blick zu und verzog den Mund zu einem Lächeln. Kira grinste ebenfalls, denn sie wusste genau, was ihre junge Freundin dachte: Endlich konnten sie wieder mal ihr Spiel spielen!

Kapitel 2

Der oberste Stadtvorsteher saß hinter seinem mächtigen, mit Mahagoniholz verzierten, dunklen Schreibtisch und tippte mit seinem Kugelschreiber auf ein leeres Blatt Papier. Er starrte dabei gedankenversunken auf die Tischplatte. Davor stand stumm ein in Dunkelblau gekleideter, junger Mann. Seine großen dunklen Augen ruhten ununterbrochen auf dem Stadtvorsteher. Sein Gesicht wirkte ruhig und zeigte keinerlei Gefühlsregung. Lediglich an seinen malmenden Kieferknochen konnte man seine innere Anspannung erkennen.

»Ich weiß nicht, was ich mit euch tun soll«, erklärte der Stadtvorsteher mit seiner tiefen Stimme, als er zum Anführer der Gardisten hinübersah. »Keine einzige Person in den letzten drei Wochen! Das ist enttäuschend! Sehr enttäuschend!«

»Da habt ihr bestimmt recht, oberster Stadtvorsteher«, versuchte der junge Mann zu erklären. »Aber bedenkt bitte, wir haben erst kürzlich unseren Freund verloren.«

»Willst du damit sagen, dass das eure Arbeit beeinträchtigt?«

Der Gardist presste kurz verärgert die Lippen zusammen, bevor er mit ruhiger Stimme antwortete. »So etwas ist vollkommen normal.«

»Ach ja?« Sein Vorgesetzter musterte ihn mit einem abschätzigen Blick und stand langsam auf. Mit majestätischen Schritten ging er auf den Gardisten zu und blieb vor ihm stehen. »Eure Aufgabe besteht darin, meine Stadt von Menschen mit besonderen Fähigkeiten zu säubern. Mich interessiert es nicht, ob einer von euch erst kürzlich gestorben ist. Der frühe Tod ist das Risiko eures Berufes – und das wisst ihr ganz genau! Oder irre ich mich, Daniel?« Der Gardist schüttelte wortlos den Kopf, wobei er die Kiefer noch stärker zusammenpresste. Der Stadtvorsteher taxierte ihn mit seinen kalten Augen. »Ich führe und schütze diese Stadt – meine Stadt! Und ich akzeptiere nicht, dass ihr eure Arbeit wegen einem lächerlichen Todesfall vernachlässigt!«

Daniels Brustkorb hob und senkte sich immer schneller. Seine Mundwinkel zuckten vor Wut, was er aber zu unterdrücken versuchte. Zornig hielt er seinen Blick starr auf den leeren Sitz gerichtet.

»Bring mir endlich das, was ich will! Denke daran, du und deine Familie«, er sprach die beiden letzten Worte mit einer tiefen Abschätzigkeit aus, »werden dadurch davor verschont, in der Gosse zu landen und zu verhungern.« Er tigerte wie ein hungriger Löwe um Daniel herum. »Bringst du mir aber nicht endlich das, was ich schon lange begehre ...«, er packte den Anführer grob am Kinn und drehte ihm den Kopf, damit der Gardist gezwungen war, ihn anzusehen, »... werde ich euch eures Amtes entheben und euch der Gosse überlassen! Jeden Einzelnen von euch!«

 

***

 

Madlen strahlte über beide Ohren, als sie mit Kira den Dienstboteneingang ansteuerte. Sie liebte es genauso wie ihre Freundin, durch die Straßen zu ziehen, um Stände, Waren und Menschen zu betrachten. Jedes noch so kleine Detail war für die beiden jungen Frauen wie ein bescheidenes Geschenk.

»Los, beeil dich!« Kira trieb Mimi zur Eile an, als sie durch die Gänge eilten. Sie wollte möglichst schnell das Haus verlassen, bevor sie Marianne über den Weg liefen. Wegen des Gesprächs mit ihrer Tante hatten sie schon viel zu viel Zeit verloren.

Als Kira dabei war, die Klinke des Dienstboteneinganges hinunterzudrücken, spürte sie eine knochige Hand auf ihrer Schulter. Sie kannte diesen eisigen Griff und ahnte Böses. Zermürbt biss die junge Dienerin die Kiefer zusammen und drehte sich langsam zu Marianne um. Jedes Mal, wenn sie die Hand des Hausdrachens spürte, hatte sie das Gefühl, ihre herablassende Art würde nach ihrem Herz trachten, um es mit ihrer Kälte zu erdrücken.

Mimis Blick glitt ängstlich zwischen den beiden Frauen hin und her. Als ihr Marianne allerdings einen vernichtenden Blick zuwarf, senkte sie demütig die Lider und starrte betrübt auf den Boden.

»Ich hoffe für dich, dass es nicht nach dem aussieht, was ich denke«, sagte die Haushälterin überheblich. Nach was sieht es denn aus?, hätte Kira am liebsten zynisch geantwortet, unterließ es aber. Sie wollte nicht schon wieder auf eine Mahlzeit verzichten. »Wir sind auf dem Weg zum Markt.«

Marianne reckte das Kinn in die Höhe und musterte Kira abschätzig. Man konnte es ihr ansehen; sie genoss es förmlich, sie zu schelten. »Ich hatte dir eine einfache Aufgabe erteilt. Dem Anschein nach ist sie allerdings viel zu schwierig für dich. Aber was habe ich auch von einer verwaisten Göre wie dir erwartet!« Kira biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat. »Du bist Abschaum und gehörst in meinen Augen nicht in dieses edle Haus! Du und deine Tante sind lästiges Gesindel!«

Mimi presste unwohl ihre Hände aneinander. Ihre Freundin hingegen straffte ihre Schultern und warf Marianne einen wütenden Blick zu.

»Dein Schneckentempo kostet dich das Abendessen.« Kiras Augen loderten vor Zorn. »Und dich ebenso, Mimi.« Erschrocken sah Madlen mit offenstehendem Mund auf. Selbstgefällig quittierte der Hausdrachen ihren geschockten Ausdruck mit einem fiesen Lächeln. »Mimi kann nichts dafür!«, fauchte Kira außer sich. Marianne hob erzürnt eine Augenbraue. »Hüte deine spitze Zunge Kira. Oder willst du meine Anordnung etwa in Frage stellen?«

»Ihr wurde doch bereits wegen dem Missgeschick gestern das heutige Mittagessen gestrichen. Sie kann doch nicht fast den ganzen Tag hungern!«

»Ach, nicht?« Der Hausdrache lächelte spöttisch. »Dann wirst du bestimmt nichts dagegen haben, ihre Strafe zu übernehmen!« Mimi sah entsetzt zu Kira, die immer wütender ihre Vorgesetzte anfunkelte. »Für dich gibt es erst wieder morgen etwas zu essen! Und wenn du nicht noch weitere Mahlzeiten auslassen willst, dann geht ihr jetzt schnellstens zum Markt!«

Kira kochte vor Wut. Zornig presste sie ihre bebenden Lippen aufeinander. Sie hätte alles dafür gegeben in diesem Moment auszuholen und Marianne die Faust in den Magen zu rammen. Doch sie wusste, dass diese Handlung zur augenblicklichen Kündigung führen würde; und das konnte sie sich nicht erlauben.

 »Lass uns gehen, Mimi«, zischte sie zerknirscht. Mit zu Fäusten geballten Händen drehte sich Kira um und riss zornig die Tür auf. Sie musste hier raus, oder sie würde augenblicklich platzen!

 

***

 

Henriette, eine dünne, 33-jährige Frau mit einem zierlichen Gesicht und kinnlangen, braunen Haaren, saß auf Jeffreys Bett und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift. Das Zimmer besaß große, helle, lichtdurchflutete Fenster und in ein helles Blau getauchte Wände. Die pompöse Einrichtung ließ darauf schließen, dass jemand Wohlhabendes in diesem Raum hauste. Neben dem Bett waren auch Schrank und Schreibtisch aus edlem Holz, welches mit Blattgold verziert war.

Henriette schaute verblüfft auf, als Jeffrey frustriert ins Zimmer kam und die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss warf.

»Alles in Ordnung?«

»Sehe ich so aus?«, fauchte er mit heiserer Stimme und strich sich über den schmerzenden Hals.

»Hat er dich wieder malträtiert?« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Dein Vater ist ein egozentrischer, kalter Mann! Ich hasse ihn!«

Jeffrey ließ sich zornig in einen Sessel neben dem Bett plumpsen. »Was willst du überhaupt hier? Du weißt, ich mag es nicht, wenn du ungefragt in meinem Zimmer herumsitzt.«

Die Seherin ließ den kleinen Rüffel unbeachtet und erhob sich mit einem süffisanten Lächeln. »Ich bringe gute Nachrichten!« Sie ging zu ihm hinüber.

»Ach ja?«, konterte er sarkastisch. »Bringst du meinen verfluchten Vater um? Das ist nämlich das Einzige, was mir momentan durch den Kopf schießt.«

»Nicht ICH werde ihn töten, mein Lieber, sondern bald du!« Sie grinste geheimnistuerisch und kniete neben den Sessel, damit sie mit ihm auf Augenhöhe war. »Es ist so weit!«, flüsterte sie verschwörerisch. »Heute ist ihr 19. Geburtstag und ihre Macht erwacht endlich!«

Jeffrey richtete sich ruckartig kerzengerade auf. »Es ist so weit?«

»Ja.« Sie lächelte. »Bald beginnt dein neues Leben!«

Freudig begann er zu lachen und nahm sie in den Arm. »Und du bist dir ganz sicher?« Sie nickte. »Ja, hundertprozentig!«

Er lachte erneut und lehnte sich zurück in den Sessel, wobei er gedankenversunken an die gegenüberliegende Wand starrte. »Ich werde ihn vernichten. Ihn und meine verfluchte Stiefmutter!« Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Ich sehe es schon vor mir, wie sie mir zu Füßen kriechen und betteln, dass ich sie am Leben lasse. Doch das tue ich nicht! Ich werde ihnen zusehen, wie sie erbärmlich um ihr Leben kämpfen und langsam an ihrem eigenen verfluchten Blut ersticken!« Er lachte boshaft, wandte sich aber mit einem angespannten Ausdruck abrupt zu der Seherin. »Hast du dich um die Tante gekümmert?«

»Ja. Eine Vertraute hat ihr unbemerkt das Gift in ein Getränk geträufelt.«

»Und du bist dir sicher, dass Kira es mit ihren Fähigkeiten nicht bemerkt?«

»Keine Angst. Dieses Gift ist etwas ganz Außergewöhnliches. Nicht einmal sie ist in der Lage, es zu erkennen!« Die Seherin lächelte hämisch. »Glaube mir, Kira hat keine Ahnung, was auf sie zukommt.«

Jeffrey rieb sich die Hände. »Sehr gut! Wenn die Tante erst mal beseitigt ist, fällt sie, wie in deinen Visionen, in ein tiefes Loch!« Er grinste. »Ihre Trauer wird sie direkt in unsere Arme führen – und in ihr Verderben!«

Er packte die Seherin und drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. »Dann lass uns den Köder auf den Weg schicken!«

Kapitel 3

Eine Weile lang gingen die beiden Freundinnen wortlos nebeneinander her. Die Wut, die Kira jedes Mal verspürte, wenn sie von Marianne erniedrigt wurde, ließ sich langsam nicht mehr unterdrücken. Schließlich war heute ihr Geburtstag, aber das interessierte natürlich niemanden! Wie auch! Diener durften keine Geburtstage feiern; sie hatten jeden Tag hart zu schuften. Während die adligen Kuchen aßen und Dutzende Geschenke erhielten, wurde den einfachen Angestellten dieser Luxus missgönnt.

In solchen Momenten wünschte sich Kira die Vergangenheit zurück, als sie mit ihren Eltern noch glücklich vereint war. Damals war die Welt noch in Ordnung. Sie war stets beschützt durch Mutter und Vater gewesen, es wurde Geburtstag gefeiert und Menschen mit besonderen Fähigkeiten wurden noch nicht gejagt. Letzteres änderte sich kurz Zeit später, als die Garde nicht mehr zum Schutz der Stadt, sondern für die Jagd auf ihresgleichen abkommandiert wurde. Niemand von ihnen war mehr sicher und alle fürchteten, verraten und ausgeliefert zu werden.

Eine Mutter als Heilerin und einen Seher als Vater zu haben, war äußerst schlecht; es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand sie verriet. Doch das größte Geheimnis barg Kira selbst und sie durfte auf keinen Fall Aufsehen erregen.

Sie war nicht nur ein Mensch mit besonderen Fähigkeiten, sondern eine Unique. Eine Person, welche die Talente beider Eltern mit in die Wiege gelegt bekommen hatte - was sie noch kostbarer machte als alle anderen.

Sie war nicht die einzige Unique in der Stadt gewesen, doch mittlerweile waren die meisten ihrer Art tot. Verraten durch ihresgleichen, um sich an ihnen zu bereichern und eine große Auslieferungsbelohnung zu kassieren.

Kira wusste, dass sie stärkere Kräfte besaß als normale Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Da sie allerdings nie die Gelegenheit bekam zu erlernen, wie man sie einsetzt, konnte sie auch nicht ihr gesamtes Potential entfalten. Es schlummerte immer noch wie ein stiller Vulkan in ihrem Innern.

Außer den Eltern und der Tante wusste keiner, wer sie wirklich war. Zu ihrem Schutz wurde ihr als Kind lediglich die Kunst des Heilens gelehrt und sie nach außen als Mensch ohne besondere Gabe bezeichnet. Dass Eltern mit seherischen oder heilenden Talenten ein Kind bekamen, das keinerlei magische Fähigkeiten besaß, kam immer wieder vor. Wieso, wusste allerdings niemand. Wahrscheinlich war es eine Laune der Natur – so wie die seltenen Uniques.

 

Die Stadt war wie immer erfüllt von Bediensteten, Händlern und Reisenden, die sich durch die engen, kopfsteingepflasterten Straßen drängten. Obwohl es langsam Richtung Winter ging, waren die Stände für diese Jahreszeit noch gut besucht. In den nächsten Wochen würde sich das jedoch ändern. Dann begaben sich die Händler in ihre Winterquartiere und die Stadt der Türme glich einem fast menschenleeren Ort.

Kira reckte den Kopf in die Höhe, um hinauf zu den Türmen der Stadt zu sehen. Sie liebte diesen Ort. Auch wenn sie mit ihren Eltern als einfache Bauern außerhalb der Stadtmauer aufwuchs, hatte sie ihre Mutter bei verschiedenen Heiler-Aufträgen ins Innere begleitet. Schon als kleines Kind war sie fasziniert von den insgesamt 15 bis zu 54 Meter hohen Türmen, den kopfsteingepflasterten Straßen, den engen Gassen und den mächtigen Hausfassaden aus Sandstein.

Sie war noch nie auf einem Turm gewesen; das stand ausschließlich den besseren Klassen zu. In ihren Träumen stellte sie sich aber vor, wie es wäre, von einem Turm über die Stadt in die Ferne zu sehen. Der Ausblick war bestimmt zauberhaft!

Kira erkannte einen kleinen Stand, auf dem verschiedene Säckchen mit Kräutern lagen. Er gehörte Louise, einer begnadeten 60-jährigen Kräuterhändlerin mit langen, grauen Haaren. Wie für Händler typisch, trug sie hellblaue Kleidung. Sie war eine gute Freundin von Kiras Tante und besaß die Fähigkeit, auch noch an den hektischsten Tagen ein freundliches Lächeln auf das Gesicht zu zaubern. Da sie eine reisende Händlerin war, befand sie sich nur alle paar Monate in der Stadt. Das war äußerst schade, da Kira sie sehr mochte.

»Hallo Kira!« Ein lückenhaftes Lächeln und liebevolle, aber vom Alter gezeichnete Augen strahlten sie an. Wie immer steuerte Kira ihren Stand an. Auch wenn im Hinterkopf Mariannes Stimme bereits über die Zeitverzögerung schimpfte, ließ sie es sich nicht nehmen, ein paar Worte mit Louise zu wechseln. »Wieder unterwegs zum Markt?«

»Ja, wir holen Äpfel.«

»Äpfel?« Die Händlerin krauste die Stirn. »So junge Mädchen wie ihr solltet nicht so schwere Körbe herumtragen!« Sie schüttelte unzufrieden den Kopf.

»Wir müssen leider schon wieder weiter«, sagte Kira bedauernd. »Wir sind jetzt schon zu spät und unsere Vorgesetzte hat heute schlechte Laune ... du weißt schon ...« Kira verzog missmutig das Gesicht.

»Natürlich, geht ruhig! Ich möchte euch nicht aufhalten.« Louise strich der Dienerin liebevoll über den Arm. »Grüße deine Tante von mir, ja? Ich werde in mein Winterquartier gehen und besuche sie im Frühling wieder.«

»Ich werde es ihr ausrichten! Gute Reise!« Kira winkte zum Abschied und bog gefolgt von Mimi um die Ecke.

 

Eine Zeit lang sagte keine von beiden etwas, bis Kira die Stille durchbrach. »Du bist so ruhig.« Sie sah zu Madlen hinüber. »Bist du sauer wegen dem Hausdrachen?«

»Sie ist eine doofe Kuh! Jemand sollte ihr mal das Essen streichen, dann wüsste sie, wie es ist, Hunger zu haben!«, schimpfte Mimi leise.

»Ich habe eine Idee, um dich aufzumuntern.« Kira warf ihrer jungen Freundin einen vielsagenden Blick zu. »Spielen wir?« Mimis Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Eigentlich war die Frage vollkommen überflüssig. Es war Tradition von ihnen, ihr Spiel auf dem Weg zum Markt zu spielen. Das würde auch eine Standpauke von Marianne nicht verhindern.

Kira lächelte wissend. Um die schweren Botengänge etwas leichter zu gestalten, hatte sie irgendwann begonnen, allen Menschen, die ihr begegneten, einen eigenen Namen zu geben. Als Mimi einmal von Marianne derb gezüchtigt wurde und vor Schmerzen nur noch weinte, hatte sie ihr das Spiel gezeigt. Fortan spielten sie es bei jedem Botengang.

»Ich zuerst, in Ordnung?« Mimis Augen leuchteten vor Begeisterung. Kira grinste und nickte einwilligend.

Musternd schweifte Madlens Blick von einer Person zur anderen. »Ich wähle ...«, sie krauste grübelnd die Stirn. »Hm ... ah, da! Das Mädchen im purpurnen Kleid und dem blauen Haarband. Was denkst du, wie heißt sie?«

Purpur – das hieß, ihre Freundin hatte eine Adlige ausgewählt. Der Status der Bürger war ganz einfach an der Farbe ihrer Kleidung zu erkennen. Purpur stand für Adlige, Orange für Bessergestellte, helles Blau für Händler, Grün ursprünglich für Heiler, was aber nicht mehr getragen wurde, braun für Bauern und grau für Diener. Kombiniert wurden sie mit kleineren, farbigen Applikationen, um etwas Abwechslung in die Kleidung zu bringen.

Kira suchte in den Leuten nach der besagten Person und wurde ein paar Meter vor ihnen fündig. Das Mädchen lief neben ihrer Mutter und reckte den Kopf hochnäsig in die Höhe. Skeptisch musterte Kira sie von oben bis unten. Sie mochte die Aufgeblasenheit der Adligen nicht. Es wirkte für sie so oberflächlich und kalt. »Ich würde sagen ...«, sie überlegte kurz, »das ist eine Adelheid.«

Mimi prustete laut heraus. »Adelheid? In welchem Jahrhundert lebst du denn?« Kira kicherte. »So arrogant, wie sie tut, muss sie einfach eine Adelheid sein. Verstehst du den Wink? Adel-heid.«

»Klar doch, ich bin ja nicht blöd!« Mimi grinste.

Kira ahmte das junge Mädchen nach, in dem sie hochnäsig die Nase zum Himmel reckte und beim Gehen betont mit den Hüften hin und her wackelte. Mimi kicherte. »Du wirkst eher wie ein Hofnarr als eine Adlige.«

»Vielleicht sind ja alle Adligen auch nur verkleidete Narren!« Mimi hob belustigt die Augenbrauen. »Ja klar! Aber jetzt du!«

»In Ordnung!« Kira rieb erfreut die Handflächen aneinander und sah sich suchend um. »Ich wähle ...« Ihr Blick blieb bei einem Stand in der Nähe hängen. »Den Gewürzhändler mit dem hellblauen Sakko.« Mimi grinste. »Das ist einfach! Das ist ein Karl!« Sie reckte stolz ihr Kinn. »Hättest nicht gedacht, dass ich so schnell bin, nicht?«

»Bist du sicher, dass er ein Karl ist? Ich glaube eher Herr Schiefnase würde besser zu ihm passen«, flüsterte Kira, als sie am Stand vorbeigingen und erkannten, dass er eine völlig schiefe Nase besaß. Mimi grinste. »Wo du recht hast, hast du recht.«

»Gut, jetzt wieder ich! Und ich wähle ...« Irritiert krauste Madlen die Stirn. »Äh ... was ist denn das? Ich habe noch nie jemanden mit einem grünen Kleid gesehen.«

Kiras Blick schnellte augenblicklich in dieselbe Richtung wie Mimi. Ihr Herz raste. Eine Heilerin? Und das innerhalb der Stadt? So etwas war doch nicht möglich!

»Weißt du, was diese Farbe zu bedeuten hat? Ich jedenfalls nicht.«

Kira konnte es kaum glauben. Ihre Mutter hatte früher immer solche Kleider getragen. Doch das war in einer Zeit, in dem besondere Menschen noch nicht gejagt wurden. Heute war es reinster Selbstmord, so etwas zu tragen. Wusste diese Frau das denn nicht?

Die Frauen und Männer, an denen sie vorbeiging, warfen der Heilerin einen überraschten Blick zu oder wichen beinahe erschrocken zurück. Die Frau in Grün fiel nicht nur Kira auf, sondern fast jedem auf der Straße. War der Frau wirklich nicht bewusst, was sie da tat? Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Garde rief, um sie abzuführen!

Kiras Herz klopfte ihr bis zum Hals und ihr Körper pumpte Adrenalin in ihre Adern. Sie dachte an ihre Tante und an das, was sie ihr versprochen hatte. Aber sie konnte nicht anders; sie musste die Frau warnen!

 

Die Heilerin verließ die Straße, die zum Marktplatz führte und bog in eine Gasse. Kira blieb stehen und schaute ihr nach. Ihr Herz hämmerte immer noch wie wild. Sie zögerte. Sollte sie ihr wirklich nachgehen? Laut Gesetz war es ihr verboten, mit einer Person mit besonderen Fähigkeiten zu sprechen, ganz zu schweigen ihr zu helfen. Man machte sich strafbar und wurde in den Kerker innerhalb der Türme gesperrt. Auf der anderen Seite war die Frau eine von ihnen – eine Geächtete wie sie. Sie konnte sie nicht einfach dem Schicksal überlassen. Irgendwas musste sie doch tun!

»Kennst du sie, dass du ihr so nachsiehst?«, fragte Mimi, die verständnislos zwischen ihrer Freundin und der Heilerin hin und her sah.

»Geh du schon mal zum Händler, ich muss noch etwas erledigen«, erwiderte Kira leise und stieß die junge Dienerin an, Richtung Markt zu gehen. Sie hingegen wandte sich von der Straße ab und trat in die enge Gasse, in welcher die Heilerin verschwunden war.

Kira spürte, wie ihr weiteres Adrenalin durch den Körper schoss. Wenn ihre Tante erfuhr, was sie gerade zu tun gedachte, würde sie alles daransetzen, dass sie nie wieder einen Botengang erledigen durfte. Daher musste sie möglichst schnell und vor allem unauffällig handeln.

Kalter Schweiß rann ihr über den Rücken, als sie der Heilerin mit hastigen Schritten folgte. Sie wollte sich nicht ausdenken, was geschah, wenn man sie ebenfalls schnappte.

Das einzig Gute daran, ein Unique zu sein, war, dass sie von fast niemandem durchschaut wurde. Seher oder Heiler konnten von Hexern erkannt werden. Uniques allerdings besaßen einen eigenen Schutz, der nur von äußerst begabten Sehern in ihren Visionen durchdringbar war. Für alle anderen sah sie wie ein ganz normaler Mensch aus.

Die Gasse, in die Kira der Heilerin folgte, war menschenleer, dreckig und es roch nach Erbrochenem. Normalerweise betrat sie nie einen der Durchgänge, auch wenn es eine Abkürzung war. Die Ungewissheit, wer sich alles im Schutz der düsteren engen Gassen verkroch, hielt sie davon ab.

Der Atem der Dienerin beschleunigte sich. Sie war nur noch wenige Schritte von der Heilerin entfernt. Sie musste die Frau nur noch einholen, bevor sie wieder auf die Straße hinaustrat. Ihr etwas zuzurufen, traute sich Kira nicht. Sie wollte nicht, dass jemand auf sie beide aufmerksam wurde. Die einzige Möglichkeit, die sie hatte, bestand darin, sie auf den nächsten Metern einzuholen.

Der Klang von zwei Giganten, die sich gegenseitig prügelten, was in der Luft wie ein Donnergrollen klang, hallte plötzlich von den Mauern der Gasse wider. Kira keuchte erschrocken auf und blieb augenblicklich stehen.

Um sich von ihrer Panik nicht überwältigen zu lassen, stützte sie sich an der schmutzigen Wand ab und schloss die Lider. Die junge Dienerin zitterte am ganzen Körper, wobei ihr Herz wie ein Schnellzug raste. Der Klang von streitenden Hünen ging ihr jedes Mal durch Mark und Bein.

Alte Erinnerungen drangen wie Bilder eines Filmes durch die geschlossenen Augen. An ihrem alten Wohnort außerhalb der Stadtmauern verirrten sich eines Tages zwei Giganten. Sie waren so im Streit gefangen, dass sie nicht einmal bemerkten, dass sie sich nicht mehr innerhalb des Waldes befanden. Als einer von ihnen mit seiner riesigen Pranke ausholte, streifte er das Dach ihres Hauses. Kira saß damals im Wohnzimmer und konnte die Hünen durchs Fenster sehen. Ihre Mutter presste ihr die Hand auf den Mund, um sie daran zu hindern zu schreien und dadurch die Aufmerksamkeit der Streithähne auf sich zu ziehen.

Die Mauern ihres Hauses zitterten und das Dach sackte knarrend auf einer Seite ein Stück tiefer. Kira kriegte panische Angst und klammerte sich zitternd an ihre Mutter, bis die Hünen wieder grunzend in den Tiefen des Waldes verschwanden. Der Schock, unter dem sie damals stand, war aber nicht überwunden. Er holte sie jedes Mal wieder ein, wenn sie streitende Giganten hörte.

Das schiefe Dach ihres Hauses wurde von ihrem Vater so repariert, dass es nicht einzustürzen drohte. Es aber wieder aufzurichten, konnten sie sich als arme Bauern nicht leisten. Und so wurde ihre Mutter fortan „Heilerin vom schiefen Haus“ genannt.

 

Keuchend öffnete Kira ihre Lider und torkelte noch leicht benommen, mit von Schweiß benetzten Händen, der Heilerin hinterher. Sie musste sich zusammenreißen, sonst verlor sie sie!

Der Abstand war nun wieder größer. Die junge Dienerin folgte ihr, so schnell sie konnte. Nur noch einige Meter, und die Frau würde auf die Straße treten. Wenn Kira sie nicht bald erreichte, müsste sie sie wohl oder übel ihrem Schicksal überlassen. Sie durfte nicht in Gefahr geraten, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Plötzlich keuchte die Heilerin erschrocken auf, als ein Messer durch die Luft zischte und sie am Oberarm streifte. Ein feines Rinnsal Blut floss aus der entstandenen Wunde. Gleichzeitig wurde Kira derb zur Seite gestoßen und prallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Erschrocken riss sie entsetzt die Augen auf, als sie keine Sekunde später das kalte Metall einer Klinge an ihrem Hals spürte. Verängstigt hielt sie den Atem an und starrte in zwei dunkelbraune, fast schwarze Augen, die sie prüfend musterten.

Ein Gemisch aus Wut und Panik ergriff ihr Herz in Sekundenschnelle. Sie hätte es wissen müssen! Eine Frau, die in grüner Heilerkleidung durch die Straßen ging, konnte von der Garde nicht übersehen werden!

»Halt still!«, zischte der Gardist vor ihr. Kira traute sich nicht, sich zu bewegen und starrte ihn aus geweiteten Augen wie gelähmt an. Sie war sich nicht sicher, aber sie hätte schwören können, dass ganz kurz ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht huschte, bevor er wieder eine undurchdringliche, ernste Miene aufsetzte.

Die junge Dienerin musterte ihr Gegenüber ebenfalls. Seine schwarzen, aufgestellten Haare hatten die gleiche dunkle Farbe wie die Augen. Zudem besaß er hohe Wangenknochen und lange Wimpern, was ihn äußerst attraktiv machte. Aber da war etwas an ihm, was Kira irritierte – sein Geruch. Er roch nach einer Pflanze, die sie aus dem Garten ihrer Eltern kannte und geliebt hatte – Tigergras.

Wie für seinesgleichen üblich, trug der Gardist eine dunkelblaue Montur. Um seine Hüfte hatte er einen ledernen Gurt geschnallt, an denen mehrere Messer hingen. Ein Schwert lag in einem Holster an seinem Rücken befestigt.

Kiras Schreck löste sich allmählich und machte Platz für das, was sie für seinesgleichen schon über Jahre empfand; unausgesprochenen tiefen Hass! Feindselig funkelte sie ihn an. Der jahrelange Groll auf die Garde loderte in ihrem Innern wie ein unbändiges Feuer. Sie hatten ihre Eltern auf dem Gewissen, und sie schwor damals, dass sie sich eines Tages für diese Tat an ihnen rächen würde!

Die junge Dienerin hatte sich in ihren wildesten Gedanken vorgestellt, wie sie den Gardisten mit ihren eigenen Waffen mehrmals in den Bauch stach, bis dieser tiefe Schmerz und die innere Leere, die sie seit Jahren begleiteten, endlich nachließen.

Kira biss verbittert die Kiefer aufeinander, bis es schmerzte. Sie war den Mördern ihrer Eltern noch nie so nah gekommen – sie müsste nur ihre Hand ausstrecken und sie könnte ihn berühren! Doch es war ihr in ihrer jetzigen Situation unmöglich, sich an ihnen zu rächen!

Zornig funkelte sie den Gardisten weiterhin an. Sie bemerkte, wie ihr Hass im Innern anschwoll. Doch gleichzeitig verspürte sie so viel Angst wie noch nie zuvor, erkannt und wie ihre Eltern getötet zu werden.

»Gibt es etwas Bescheuerteres, als in einem grünen Heilerkleid durch die Straßen zu gehen?« Eine 22-jährige Frau mit zum Pferdeschwanz gebundenen, rotbraunen Haaren kam mit der Heilerin im Schlepptau näher. Ihre Handgelenke waren mit einem speziellen Tau fachmännisch zusammengebunden.

Kira äugte, ohne den Kopf zu bewegen, zu der Heilerin hinüber. Zu ihrem Erstaunen war die Frau keineswegs verängstigt. Sie stand ohne einen Funken Angst neben der Gardistin und stierte unentwegt zu der jungen Dienerin. Ihre Augen strahlten etwas Stolzes und Waches aus, so, als wäre sie äußerst zufrieden mit dieser Situation. Ganz im Gegenteil zu Kira. Sie fühlte sich wie ein Ping-Pong-Ball, der heftig zwischen Angst und Hass hin- und hergeschleudert wurde, ohne einmal stehen zu bleiben.

»Gehört sie dazu?«, fragte die Gardistin und musterte Kira aus verengten Augen.

»Als ob ich mich mit menschlichem Gesindel abgeben würde!«, fauchte die Heilerin überheblich und warf Kira einen verächtlichen Blick zu.

»Du scheinst eine spitze Zunge zu haben! Aber deine Blasiertheit wird dir nichts nützen! Da kannst du Gift drauf nehmen!«

Der Gardist, der unentwegt die junge Dienerin taxierte, löste die Klinge von ihrem Hals, behielt aber das Messer in der Nähe, um es ihr, wenn nötig, wieder an die Kehle zu drücken. Ungewollt atmete Kira erleichtert auf. Der junge Mann musterte sie, als könnte er mit seinem Blick direkt in ihr Inneres sehen. »Wieso hast du die Abkürzung durch die Gasse genommen?« Seine Stimme war ruhig, aber bestimmt.

Die junge Dienerin antwortete nicht, sondern presste lediglich die Lippen zusammen. Ihr Mund war staubtrocken und sie befürchtete, wenn sie ihn aufmachte, würde daraus eine Tirade hasserfüllter Beleidigungen kommen.

 Gib dich nicht preis! Wir brauchen dich! Kira zuckte zusammen, getraute sich aber nicht, zu der Heilerin hinüber zu sehen. Hatte sie wirklich die Stimme dieser Frau in ihrem Schädel gehört?

Kira fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Das hieße aber, dass sie keine Heilerin war, sondern eine Hexe! Denn nur Hexen war es möglich, mit Menschen mit besonderen Fähigkeiten telepathisch zu kommunizieren. Wieso sie allerdings in Heilerkleidern umherlief, war ihr schleierhaft. Irgendwie gab das nicht wirklich einen Sinn. Was hatte die Frau zu dieser eigenartigen Tat getrieben? Und wieso sprach sie überhaupt mit ihr?

Kira lief kalter Angstschweiß den Rücken hinunter, als sie realisierte, was die Frau ihr in ihren Gedanken vorhin zugeflüstert hatte: Gib dich nicht preis! Wir brauchen dich!

In ihrer Kehle entstand ein mächtiger Kloß und sie fühlte, wie die Angst in ihr hochkroch. Die Hexe wusste, dass sie ein Mensch mit besonderen Fähigkeiten war!

 

»Mein Bruder hat dich was gefragt!«, knurrte die Gardistin laut und drückte Kira ihr eigenes Messer an die Kehle.

»Lass dass, Vero!«, zischte der Junge und nahm ihr die Waffe gereizt ab. Sie warf ihm darauf einen missbilligenden Blick zu.

»Also, wieso nahmst du den Weg durch die Gasse?«, fragte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Kira zu. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihnen für eine Lüge auftischen sollte. »Ich bin ein Dienstmädchen ...«, begann sie befangen.

»Was du nicht sagst!« Vero zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Das sehen wir auch!«

Der Gardist warf seiner Schwester erneut einen mahnenden Blick zu.

»Ich wollte die Abkürzung nehmen, weil es schneller ist.« Die Lüge ging der jungen Dienerin einfacher von den Lippen als gedacht. Den Gardisten schien sie aber damit nicht zu überzeugen, denn er musterte sie immer noch mit diesem Blick, als könnte er in ihre Seele schauen.

»Wenn ich zu spät komme, schilt mich meine Herrin.« Das hingegen war nicht gelogen. Sie musste unbedingt so schnell wie möglich zu Mimi auf den Markt und sie musste schleunigst von der Garde weg! Bevor ihr Hass sie übermannte und sie sich nicht mehr unter Kontrolle hatte und wirklich noch versuchte, ihn zu töten. Was sie natürlich in Anbetracht dessen, dass sie im Gegensatz zu ihrem Gegenüber keine Waffe besaß, nicht wirklich schaffen würde. Sie würde sich nur selbst ins Verderben führen.

Der Junge mit den langen Wimpern musterte sie ein letztes Mal ausgiebig und trat daraufhin einen Schritt zurück.

»Was soll das, Daniel!«, warf seine Schwester pikiert ein. »Du lässt sie laufen?«

»Sie ist sauber«, erwiderte er ruhig, wobei er Kira nicht aus den Augen ließ.

»Du nimmst ihr die Geschichte ab? Die lügt doch! Sie hat einen roten Kopf, schwitzt auf der Stirn und schaut dich an, als wollte sie dir gleich den Hals umdrehen!« Seine Schwester schüttelte verärgert den Kopf.

»Sie ist nur eine Dienstmagd, die Angst hat; mehr nicht.« Er machte eine Kopfbewegung zur Straße hin. »Geh!«

Kira ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie musste so schnell wie möglich weg von den Gardisten, weg von dem Hass, der sie von innen auffraß, und weg von dem Schmerz und der Trauer, welche die beiden mit ihrer Anwesenheit hervorbrachten.

Hastig wandte sie sich ab, um die Gasse entlang zu gehen. Als sie sich an der Hexe vorbeischlängelte, hielt sie bewusst den Blick zum Boden gerichtet. Sie wollte den Gardisten nicht einen weiteren Grund geben, sie zurückzuhalten, weil sie doch noch glaubten, sie würden zusammengehören.

Das hinderte aber die Hexe nicht daran, ein letztes Mal in ihren Kopf einzudringen. Komm morgen früh um 8 Uhr zum Turm des Teufels. Es geht um deine Eltern!

Als der zweite Satz in ihrem Kopf erklang, hielt Kira erschrocken kurz inne. Ihre Eltern? Ihr Herz schlug augenblicklich doppelt so schnell und sie hatte das Gefühl, ihre Knie würden in den nächsten Sekunden nachgeben. Zittrig versuchte sie, dem Drang zu widerstehen, in das Gesicht der Hexe zu schauen. Ihr Verstand schaltete sich zum Glück rechtzeitig ein, und sie besann sich, dass es klüger wäre, nicht darauf zu reagieren und einfach so schnell wie möglich abzuhauen.

Mit eiligen Schritten trat Kira aus der schmutzigen Gasse und bog um die Ecke. An der nächsten Mauer lehnte sie sich aufgewühlt gegen die kühle Sandsteinwand und schloss ihre Augen. Mit tiefen Atemzügen versuchte sie, ihre innere Anspannung wieder zu lösen. Sie zitterte. Ob es vor Angst oder Wut oder gar beides war, wusste sie nicht. Sie hörte immer und immer wieder die Stimme der Hexe, die in ihrem Kopf nachhallte. Komm morgen früh um 8 Uhr zum Turm des Teufels. Es geht um deine Eltern!

Die junge Dienerin hielt sich den brummenden Schädel, als sie langsam die Straße entlangging. Sie fühlte sich benommen, so als hätte sie zu viel Alkohol im Blut. Sie konnte die eigenartige Situation von eben einfach nicht verstehen. Woher wusste die Hexe, dass sie besondere Fähigkeiten besaß und ihre Worte verstand? Und vor allem, was hatten ihre verstorbenen Eltern mit der Sache zu tun?

 

Nachdem Kira einigermaßen imstande war, gerade und ohne umzufallen zu gehen, war sie fast die gesamte Strecke zum Markt gerannt. Dadurch, dass sie durch die Gasse gegangen war, musste sie einen Umweg laufen.

Keuchend und erschöpft, kam sie endlich zum Stand des Fruchthändlers. Schweiß rann ihr trotz Kälte unter dem grauen Kleid am Körper hinunter. Ihre Kehle brannte und war vollkommen ausgetrocknet. Was hätte sie jetzt für ein Glas Wasser gegeben.

Mimi warf ihr einen stutzigen Blick zu. »Wo warst du?«, fragte sie flüsternd, als sie ihr einen schweren Korb Äpfel in die Hand drückte. »Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich!«

»Ich hatte was zu erledigen.«

»Was denn?«

»Nicht so wichtig«, erwiderte Kira keuchend und schenkte dem Händler, der sie stirnrunzelnd musterte, ein Lächeln. »Lass uns besser gehen, wir sind spät dran.«

»Das musst du nicht mir sagen!« Mimi stemmte ihren prall mit Äpfeln gefüllten Korb hoch und stapfte davon.

Die junge Freundin war eingeschnappt, und das war ihr auch nicht zu verübeln. Kira konnte ihr allerdings unmöglich erzählen, was vorgefallen war, ohne zu riskieren, dass jemand davon erfuhr. Kriegte ihre Tante zu Ohren, dass sie einer Hexe in eine Gasse gefolgt und dazu noch von der Garde kontrolliert worden war, gäbe es mächtigen Ärger. Dazu würde ihre Tante alles in Bewegung setzen, dass sie wahrscheinlich nie wieder auf den Markt durfte, egal ob sich das für Kira wie ein Todesstoß anfühlte. Sie wollte ihre Nichte um jeden Preis schützen – wenn es sein musste, sogar vor sich selbst! Doch für Kira war jede einzelne Minute, die sie außerhalb des Herrenhauses und nicht unter Mariannes ständiger Beobachtung verbrachte, lebensnotwenig. Erst auf den Straßen der Stadt spürte sie so etwas wie Freiheit. Innerhalb des Hauses fühlte sie sich immer wie eine Gefangene, deren Fesseln so fest um ihren Brustkorb geschnürt waren, dass sie kaum Luft bekam.

Kapitel 4

Der Weg zurück machte den Anschein, doppelt so lang zu sein, was wahrscheinlich an ihrer schweren Last lag. Kurz nachdem sie den Markt verließen, ließ sich es Kira nicht nehmen, einen Apfel zu entwenden und ihn geschickt, ohne großes Aufsehen, einem Obdachlosen zuzustecken. Das war ihr regelmäßiges Ritual, wenn sie Obst oder Gemüse von einem Händler holen musste. Auch wenn sie mit dieser Tat ein gefährliches Vorhaben einging, konnte es die junge Dienerin einfach nicht lassen, den Ärmsten der Armen etwas Essbares zu geben, während ihre Herrschaften davon im Überfluss besaßen.

Kira kam es aber nie in den Sinn, sich selbst etwas zu nehmen. Auch wenn sie nicht viel zu Essen kriegte; die Menschen auf der Straße brauchten es nötiger.

Mimi war die Einzige, die von ihren Taten wusste. Auch wenn der jungen Freundin jedes Mal eine tiefe Beklemmung überkam, wenn sie zusah, wie Kira etwas von einem Korb entwendete; im Geheimen bewunderte Madlen sie für ihre Stärke, sich trotz Risiko für andere einzusetzen.

 

Mimi hatte seit dem Markt kein Wort mehr gesprochen. Kira wusste aber, dass sich das spätestens am nächsten Tag wieder legte. Sie konnten sich beide einfach nicht lange böse sein. Obwohl sie einen großen Altersunterschied hatten, verstanden sie sich wirklich gut. Sie waren in den letzten zwei Wochen irgendwas zwischen Freundinnen und Schwestern geworden.

Mimi stöhnte und stellte kurz den Korb auf den Boden, um sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn zu streichen. Kira fand den Korb schon schwer, wie musste es dann erst ihrer jungen Freundin gehen?