Stalin und der Apparat - Fritz B. Simon - E-Book

Stalin und der Apparat E-Book

Fritz B. Simon

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Beschreibung

Das Wiederentstehen autoritärer Gesellschaften lässt die Frage aufkommen, welche Bedeutung die Persönlichkeit von Politikern wie Putin, Orban oder Trump für diese Entwicklung hat. Die allgemeinere Frage dahinter lautet: Passen sich soziale Systeme eher psychischen Strukturen an, oder ist es umgekehrt? Fritz B. Simon studiert ein lehrreiches Beispiel: Stalin und die Sowjetunion. Sein Buch verbindet drei thematische Stränge: die Lebensgeschichte Stalins in ihrem historischen Kontext; die Dynamik der zum jeweiligen Zeitpunkt für ihn relevanten sozialen Systeme; und die psychische Entwicklung Stalins zur beschriebenen Zeit. Für die Analyse der sozialen Systeme, deren Mitglied Stalin war – von der Familie bis zum Staat –, zieht Simon Konzepte der Familienforschung und der soziologischen Systemtheorie heran. Die Analyse von Stalins psychischer Entwicklung ruht auf psychoanalytischen Konzepten. Dieser methodische Doppelzugang deckt eine Koevolution auf, die zu einer schrecklichen Diktatur mit einem der grausamsten Diktatoren der Weltgeschichte führte. Stalin und die UdSSR erweisen sich dabei als Lehrstück, das einen sehr erhellenden Blick auf die Gegenwart eröffnet.

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Systemische Horizonte – Theorie der Praxis

Herausgeber: Bernhard Pörksen

»Irritation ist kostbar.«

Niklas Luhmann

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode – mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.

In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.

Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaftan der Universität Tübingen

Fritz B. Simon

Stalin und der Apparat

Die Organisation der Diktaturund die Psyche des Diktators

2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Horizonte«

hrsg. von Bernhard Pörksen

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: linkes Bild: © Gaeneric / Wikimedia Commons, CC

rechtes Bild: Shanti Hesse / shutterstock.com

Redaktion: Vera Kalusche

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0489-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8439-3 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Tel. + 49 6221 6438 - 0 • Fax + 49 6221 6438 - 22

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Inhalt

Vorbemerkung

1Theoretische Grundlagen

Die Undurchschaubarkeit der Psyche

Organisation als Apparat

2Historischer Kontext

Das zaristische Imperium

Die Geheimpolizei / Der Apparat

Gesellschaft und Kultur in Stalins Georgien

Kulturelle und staatliche Muster

3Kindheit und Jugend Stalins (1878–1899)

Die Herkunftsfamilie

Familiendynamik der Dshugaschwilis

Jossebs frühe psychische Entwicklung

Die Schule

Die autoritäre Struktur der Schule

Sosos Beziehung zu Peers und Schule

Die Geschichte Kobas

Das Priesterseminar

Die totale Institution

Vom gläubigen Christen zum Revolutionär

4Die vorrevolutionäre Zeit (1899–1917)

Im Untergrund

Die Gründung der Partei

Der Berufsrevolutionär

Iskra und die »Iskra-Männer«

Die Strukturierung der Partei

Strategisches Publizieren

Verbannungen / Gefängnis

Autodidakt und subdepressiver Müßiggänger

Kobas Privatleben

Merkmale der Paarbeziehungen Kobas

Kobas Überlebensstrategien

Selbstkontrolle

5Revolution(en) und Bürgerkrieg (1917–1920)

Februar- und Oktoberrevolution

Staat und Partei

Der Bürgerkrieg

Chaos-Muster

Argwöhnische Vorsicht

Ein Apparat, genannt »Tscheka«

Der Machtgewinn der Tscheka

Stalin in Zarizyn

Kommunikation in der Partei

Private Kommunikation: Stalins zweite Ehe

6Der Weg zur Macht (1921–1927)

Die Partei

Die Macht des Generalsekretariats

Im Politbüro

GPU / OGPU

In der Großfamilie

7Willkürherrschaft / Terror (1928–1941)

Entkulakisierung

Die Macht des Funktionärs

Das Maschinenmodell der Gesellschaft

Industrialisierung

Die Geheimpolizei als Machtmittel

Der Personenkult

Narzisstische Bedürftigkeit?

Das Narrativ des geliebten Führers

Die »Säuberungen«

NKWD oder: Die Organisation des Terrors

Das Ende der Großfamilie

Innerfamiliäre Asymmetrien

8Der »Große Vaterländische Krieg« (1941–1945)

Der Kontrollverlust

Die Beziehung zu Hitler

Die Beziehung zum Generalstab

Entscheidungsfindung in der Gruppe

Das NKWD im Krieg

9Vater und Söhne

Jakow

Wassilij

Artjom

Vater-Sohn-Identifikation und Nähe-Distanz-Regelung

10Nachkriegszeit / Kalter Krieg (1945–1953)

Teheran, Jalta, Potsdam

Die letzten Jahre Stalins

Weltpolitik

11Koevolution: Stalins psychische Strukturen und ihre sozialen Umwelten

Familie / Soso

Schule / Soso

Priesterseminar / Koba

Untergrund, Gefängnis, Verbannung / Koba

Paarbeziehungen, Familie / Josseb

Staat, Partei / Stalin

Politbüro, ZK / Stalin

Geheimpolizei / Stalin

Das sowjetische Volk / Stalin

Die Großen Drei / Stalin

12Putin – Das Erbe Stalins

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Der Apparat und Putin

Ausblick

Literatur

Über den Autor

»Stalin riss die Macht an sich, nicht aufgrund persönlicher Leistungen,sondern mit Hilfe eines unpersönlichen Apparats. Und es war nicht er,der diesen Apparat geschaffen, sondern der Apparat hatte ihn geschaffen.«

Leo Trotzki (1940, S. 12)

Vorbemerkung

Produzieren Diktatoren Diktaturen oder produzieren Diktaturen Diktatoren? Das Zitat Trotzkis gibt, bezogen auf Stalin, eine (mögliche) Antwort. Dieser Frage sollte sich das Projekt widmen, aus dem der vorliegende Text hervorgegangen ist. Um sie zu beantworten, stehen ja viele Beispiele zur Verfügung. Stalin bot sich dabei als geeignetes Studienobjekt an, da in seinem Fall sehr viel Material – sowohl über ihn als Person und sein Verhalten wie auch über die Entwicklung der Sowjetunion und ihre politischen Strukturen – verfügbar ist. Neben Adolf Hitler und Nazi-Deutschland dürften Stalin und das Sowjetsystem diejenigen Diktatoren / Diktaturen sein, über die am meisten geschrieben wurde: Biografien, Studien, Analysen, Erlebnisberichte von Zeitzeugen, Dokumentationen, Romane usw.

Bei der Beschäftigung mit Stalin, seinem Lebenslauf, dem Studium Dutzender Biografien zeigten sich Ähnlichkeiten der Verhaltensmuster von Stalin und Putin. Es wäre interessant, sie zu vergleichen, so eine erste Idee. Dennoch wurde von einem ausführlichen Vergleich, wie ihn etwa Allan Bullok1 zwischen Hitler und Stalin vorgenommen hat, Abstand genommen. Das Beispiel Stalins allein ist so signifikant, dass jeder Leser selbst die Bezüge zu Putin (und anderen autoritären Herrschern) herstellen kann. Allerdings muss bei der Übertragung dessen, was für Stalin gilt, auf andere Diktatoren der russische kulturelle Kontext berücksichtigt werden. Denn es gibt eine Jahrhunderte währende Tradition autoritärer Herrschaft in Russland, die den Hintergrund von Stalins Aufstieg und Terror bildete und im Russland der Gegenwart ihre Fortsetzung findet.

Das Interesse der folgenden Studie gilt, systemtheoretisch formuliert, der Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen psychischen Systemen und sozialen Systemen (d. h. ihrer Kopplung) am Beispiel eines Gewaltherrschers: An Stalin wird untersucht, welchen Einfluss die psychischen Strukturen und die Psychodynamik eines Menschen auf die Strukturen und Dynamiken der sozialen Systeme haben, an denen er teilnimmt; und umgekehrt wird der Frage nachgegangen, welche psychischen Folgen konkrete soziale Strukturen und Dynamiken auf einen bestimmten Menschen – hier Stalin – haben können. Dazu wird der Lebensweg Stalins nachgezeichnet und versucht – soweit Informationen dazu verfügbar sind – die Muster der Interaktion und Kommunikation der sozialen Systeme, die Stalins soziale Umwelten bildeten (die Herkunftsfamilie, die Schule, die Partei, Partnerschaften, das Politbüro usw.), zu beschreiben und seine Reaktionen darauf zu analysieren. Darüber hinaus ist der Blick auf Muster der russischen Kultur und Geschichte gerichtet, die den Aufstieg Stalins zu erklären helfen. Sie haben ihren Ursprung ja nicht erst in der Oktoberrevolution von 1917, sondern reichen weit ins Zarenreich zurück.

Das Instrumentarium, mit dessen Hilfe versucht wird, sich der skizzierten Henne-Ei-Frage anzunähern, liefert – bezogen auf die untersuchten sozialen Systeme – die neuere soziologische Systemtheorie, wie sie federführend von Niklas Luhmann2 entwickelt wurde. Bezogen auf das psychische System Stalins wird auf psychoanalytische Modelle zurückgegriffen, soweit die Logik ihrer Konstruktionen mit systemtheoretischen Prämissen kompatibel ist, d. h. vor allem die sogenannte Selbstpsychologie und Narzissmustheorie.3 Dabei soll aber die Theoriediskussion auf ein Minimum reduziert werden, um auch dem Nicht-Systemtheoretiker und Nicht-Psychoanalytiker den Zugang zum Thema offenzuhalten.

Einige Hinweise zum Aufbau des Textes. Es sind mehrere thematische Stränge miteinander verflochten:

1.die Beschreibung geschichtlicher Ereignisse und Prozesse folgt der Chronologie der Biografie Stalins4

2.auf der Metaebene erfolgt eine Analyse der Dynamik und Muster der Kommunikation innerhalb konkreter sozialer Systeme, an denen Stalin teilnahm – sei es in privaten Beziehungen oder Organisationen bzw. der Öffentlichkeit

3.parallel dazu werden – wiederum auf der Metaebene – Hypothesen zur Psychodynamik Stalins entwickelt, die in der Lage sind, sein Verhalten in den beschriebenen historischen Situationen zu erklären.

Diese drei Stränge sind miteinander verflochten, wobei die Darstellungen der Historie an Punkten, die aus systemtheoretischer oder psychoanalytischer Sicht erklärungsbedürftig erscheinen, unterbrochen und durch analytische Einschübe ergänzt wird. Bei all dem steht die Frage im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wie diese Dynamiken miteinander verschränkt sind, wie die Kopplung von sozialen und psychischen Dynamiken zu verstehen oder zu erklären ist.

Anzumerken bleibt noch, dass die Schreibweise der jeweils erwähnten Protagonisten in den vielfältigen zitierten Quellen unterschiedlich ist. Dies ist der Transkription von kyrillischen in lateinische Buchstaben zuzuschreiben. Im folgenden Text finden sich daher – wenn Originaltexte zitiert werden – verschiedene Schreibweisen. So wird Stalin mit den Vornamen Jossip, Josef, Jossep, Iosif o. Ä. tituliert; sein ursprünglicher Nachname wird mal Dshugaschweli, ein anderes Mal Dschugaschweli, Djugashvili oder Jugashvili geschrieben; sein Sohn Jakow heißt manchmal auch Jakob, Yakov oder Jascha; und seine zweite Frau wird einmal Nadeschda, dann wieder Nadja genannt usw. Der Kontext stellt aber jeweils unmissverständlich klar, wer gemeint ist.

1Bullok 1991.

2Luhmann 1984, 1997, 2000.

3Jacobson 1964; Kohut 1977.

4Zur Skizze von Stalins Lebenslauf ist auf etwa zwei Dutzend Stalin-Biografien zurückgegriffen worden; sie überschneiden sich inhaltlich zwangsläufig – manchmal in einer Weise, dass Plagiatsjäger ihre Freude daran hätten. Die vorgenommene Selektion ist der von mir vorgenommenen Fokussierung auf das hier behandelte Thema geschuldet.

1Theoretische Grundlagen

Die Undurchschaubarkeit der Psyche

Um die Wechselbeziehungen zwischen den psychischen Strukturen (psychisches System) eines Individuums (Stalin) mit sozialen Systemen zu untersuchen, ist zunächst eine Klärung des systemtheoretischen Modells notwendig (denn es gibt unterschiedliche). Im vorliegenden Zusammenhang werden sowohl psychische als auch soziale Systeme als autopoietische Systeme5 verstanden. Damit ist ein Typus selbstorganisierter Systeme gemeint, die sich durch ihre eigenen internen Prozesse als Einheit bilden und von irgendwelchen Umwelten abgrenzen. Psychische Systeme sind charakterisiert durch Operationen des Bewusstseins, d. h. des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Entscheidens usw., und soziale Systeme bilden und erhalten ihre Strukturen durch Kommunikationen.6

Soziale Systeme sind daher als Kommunikationssysteme konzeptualisiert, und sie lassen sich durch die spezifischen Muster der Kommunikation – die Spielregeln der Kommunikation und Interaktion – charakterisieren und unterscheiden. So wird in Familien üblicherweise anders kommuniziert als in Organisationen, und in der Öffentlichkeit anders als im privaten Umfeld. Die Einzelheiten der verwendeten systemtheoretisch-soziologischen Modelle werden dort eingeführt, wo sie für das Verständnis der diskutierten Inhalte notwendig sind.

Projekte wie das vorliegende haben ein prinzipielles Problem (das sie mit der Psychologie als Wissenschaft teilen): Die Psyche eines Menschen ist in ihrer Dynamik nicht direkt von außen beobachtbar. Wie sollen unter diesen Umständen objektivierbare, d. h. interpersonell überprüfbare Aussagen gemacht werden? Diese Problematik schränkt zwangsläufig auch den Geltungsanspruch der psychologischen Aussagen der vorliegenden Untersuchung ein. Was über Struktur der Persönlichkeit und die Psychodynamik Stalins gesagt wird, sind lediglich Hypothesen. Sie können im besten Fall aufgrund ihrer (mal größeren, mal geringeren) Plausibilität Geltung beanspruchen. Und hier sei schon einmal auf die Warnung eines der frühesten Biografen Stalins, Boris Souvarine, hingewiesen: »Die sogenannten Psychoanalytiker, die vorgeben, große historische Ereignisse durch die Pubertätskrise eines späteren großen Mannes erklären zu können, laufen Gefahr, in einem solchen Fall nichts zu finden, woran sie ihre Talente üben können.«7 Allerdings schrieb er das als überzeugter Marxist in einer Zeit vor den großen Stalin’schen Säuberungen, vor dem Hitler-Stalin-Pakt und in einer Zeit, als die Psychoanalyse noch nicht die hier verwendeten theoretischen Modelle entwickelt hatte.

Im Folgenden wird – trotz nicht ganz von der Hand zu weisender Bedenken – auf psychoanalytische Konzepte zurückgegriffen, weil ihr Vorzug vor vielen anderen psychologischen Ansätzen darin besteht, dass durch das Hintercouchverfahren und die geforderten freien Assoziationen dem Analytiker ein sonst nicht zugänglicher Blick auf die Logik psychischer Prozesse ermöglicht wird. In der Alltagskommunikation ist solch ein Zugang kaum möglich, da alles frank und frei auszusprechen, was man im aktuellen Moment denkt und fühlt, den etablierten Regeln des zivilisierten Umgangs miteinander zuwiderlaufen würde. Doch gerade das ist in der Analyse möglich. Und das macht die psychoanalytische Methode zu einem einzigartigen Forschungssetting. Deshalb sind die Beschreibungen psychodynamischer Prozesse, die von der Psychoanalyse geliefert werden, und die Analyse ihrer impliziten Logik auch aus einer systemtheoretischen Perspektive von besonderem Wert (aber nicht unbedingt die in der Literatur zu findenden Erklärungen).

Aus solch einer psychoanalytisch-systemtheoretischen Perspektive können Hypothesen über die Psychodynamik des Protagonisten formuliert werden, die mit der Logik sinnverarbeitender, selbstorganisierter Systeme kompatibel sind.

Diese Hypothesen sind immer nur aus dem Verhalten ableitbar. Was Stalin betrifft, besteht allein die Möglichkeit, das in Berichten von Zeitzeugen und in Biografien beschriebene Verhalten in dieser Weise zu nutzen.

Auch die verwendeten psychoanalytischen Konzepte werden jeweils dort und dann dargestellt und diskutiert, wenn dies vom zu analysierenden Sachverhalt her geboten erscheint.

Organisation als Apparat

Wie der zu Beginn zitierte Satz von Trotzki beispielhaft zeigt, wurden Organisationen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts meist nach dem Modell mechanischer Maschinen konzipiert. Das gilt, nebenbei bemerkt, auch für die Psyche, wenn Sigmund Freud (und er dürfte nicht der Einzige gewesen sein) vom »psychischen Apparat« spricht. Doch für unser Thema ist dies nicht von Interesse, sondern allein die Vorstellung von Organisationen als Maschinen – ein üblicher Topos in der Fachsprache der zu Beginn des vorigen Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen steckenden Soziologie wie auch in der Umgangssprache. Diese Metaphorik bestimmte, wie über Organisationen gedacht wurde. Exemplarisch dafür steht hier Max Weber, von dem folgende Definition stammt, in der er auch die Beziehung zwischen Führern und Organisationen anspricht:

»Die durch Vergesellschaftung hergestellten spezifischen Vorkehrungen der Herrschaft aber bestehen, allgemein gesprochen, darin: dass ein an Gehorsam gegenüber den Befehlen von F ü h r e r n gewöhnter, durch Beteiligung an der Herrschaft und deren Vorteilen an ihrem Bestehen persönlich m i ti n t e r e s s i e r t e rKreis von Personen sich dauernd zur Verfügung hält und sich in die Ausübung derjenigen Befehls- und Zwangsgewalten teilt, welche der Erhaltung der Herrschaft dienen (›Organisationen‹). Den oder die Führer, welche die von ihnen beanspruchte und tatsächlich ausgeübte Befehlsgewalt nicht von einer Uebertragung durch andere Führer ableiten, wollen wir ›Herren‹ nennen, die in der erwähnten Art zu ihrer speziellen Verfügung sich stellenden Personen deren ›Apparat‹.«8

Auch in dieser Definition ist im Prinzip impliziert, dass die Beteiligten die Möglichkeiten hätten, sich anders zu verhalten, das heißt, dass ihr Verhalten als Mitglieder des »Apparats« kontingent ist. Dennoch hat sich die mechanische Metaphorik lange Zeit erhalten. Und dies gilt auch und ganz besonders für das nachrevolutionäre Russland bzw. die Sowjetunion. Der »Apparatschik« war auch im deutschen Sprachgebrauch lange Zeit ein Begriff, den jeder kannte. Doch diese Metaphorik gibt Rätsel auf, wenn man – wie die neuere soziologische Systemtheorie – davon ausgeht, dass jedes menschliche Individuum autonom seine Entscheidungen trifft und sich immer auch anders verhalten könnte, als ihm befohlen wurde (um bei der Weber’schen Formulierung zu bleiben).

Antworten auf diese Frage liefert die Organisationstheorie bzw. ihre systemtheoretische Variante. Sie geht von der Autonomie des Individuums aus und sieht Organisationen als soziale Systeme mit spezifischen Spielregeln der Kommunikation und Interaktion. Wer Mitglied einer Organisation wird, akzeptiert bestimmte Regeln als Prämissen seiner eigenen – immer noch autonomen, innengesteuerten – Entscheidungen (sog. »Entscheidungsprämissen«9). Funktion dieser Prämissen ist es, angesichts der Tatsache, dass die Zukunft nicht vorhersehbar ist, aber trotzdem gehandelt werden muss, die Unsicherheit jedes Einzelnen zu beseitigen und ihm eine Entscheidungsgrundlage zu vermitteln (in der Organisationsforschung »Unsicherheitsabsorption«10 genannt).

Wenn man die Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens daraufhin untersucht, an welchen Prämissen die Mitglieder ihre Entscheidungen orientieren, dann werden die Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Systemen, z. B. Organisationen und Familien, fassbar.11 Da der Aufstieg Stalins immer an seine Mitgliedschaft in Organisationen gebunden und – wie Trotzki ja nicht ohne Grund bemerkt – durch sie bestimmt war, wird in der Analyse eine der Fokussierungen auf die jeweils relevanten Entscheidungsprämissen gerichtet sein. Sie werden im Einzelnen dort definiert, wo es für die Analyse relevant erscheint.

5Maturana u. Varela 1979; Luhmann 1984, S. 297.

6Luhmann 1988; Simon 2022, S. 398 ff.

7Souvarine 1935, S. 29.

8Weber 1921 / 22, S. 549.

9Luhmann 2000a, S. 222 ff.

10Ebd., S. 225.

11So orientiert sich, zum Beispiel, das Handeln eines Familienmitglieds in der Regel an Personen, ihrem körperlichen und psychischen Zustand bzw. den unterstellten Bedürfnissen der Familienmitglieder. Ein Richter als Mitglied des Rechtssystems, um ein Gegenbeispiel zu nennen, wird sich an bestimmten Verfahrensregeln (Programmen) orientieren, die seine Entscheidungsfreiheit und Willkür einschränken.

2Historischer Kontext

Das zaristische Imperium

Kulturen sind soziale Systeme, deren Spielregeln sich nur langsam ändern. Sie können mit Sprachen verglichen werden, deren Grammatiken sich auch nur langsam verändern.12 Ihre Strukturen bilden daher – wie die der Muttersprache – einen unbewussten Rahmen für die psychische Entwicklung des Einzelnen, dem sich niemand entziehen kann, der in einer speziellen Kultur sozialisiert wurde. Einen relevanten Faktor für die individuelle psychische Entwicklung und Psychodynamik bilden die jeweils aktuellen politischen Strukturen und Ereignisse der Lebenswelt von Familien wie Organisationen.

Im Blick auf Stalin heißt dies, dass er und sein Verhalten in den kulturellen Kontext zunächst des Zarenreichs, später dann der Sowjetunion gestellt werden müssen, um verstehbar und erklärbar zu werden. Und das gilt ebenso für die Entwicklung der jeweiligen sozialen Strukturen, seien es Familien und Paarbeziehungen oder staatliche Organe, Parteien usw. Im Folgenden soll daher die Geschichte des zaristischen Imperiums kurz skizziert werden, um eine Idee von den Charakteristika der politischen Bühne zu vermitteln, auf der Stalin agierte. Das Interesse gilt dabei langdauernden kulturellen und staatlichen Mustern.13

Für die Etablierung autoritärer Herrschaftsformen und die Gründung des russischen Großreichs hat Ivan IV., Großfürst von Moskau, eine besondere Rolle gespielt. Daher erscheint es sinnvoll, den historischen Rückblick bei ihm beginnen zu lassen.

Ivan war zu seiner Zeit, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, einer von vielen Großfürsten im Territorium des späteren Zarenreichs. Er ließ sich 1547 im Alter von 16 Jahren zum Zaren von Russland krönen. Damit beendete er eine Phase des Machtvakuums, in der die Hocharistokratie in Machtkämpfe miteinander verwickelt war und de facto anarchische Zustände herrschten. Ivan IV. setzte den Machtkämpfen ein Ende und etablierte als Autokrat eine neue Ordnung. Den bis dahin herrschenden Bojaren, ihrer Macht und ihrer Gerichtsbarkeit setzte er einen von ihm abhängigen Dienstadel sowie ein Beamtentum in Moskau entgegen.14 Eine der strukturellen Konsequenzen auf staatlicher Ebene war die »Zentralisierung der Verwaltung und Unifizierung der Verwalteten«15.

Mit der Übernahme der Macht durch die Osmanen in Konstantinopel hatte sich auch das Verhältnis von orthodoxer Kirche und Staat in Russland verändert. In Konstantinopel gab es keinen christlichen Kaiser mehr, aber in Moskau. So wurde aus der byzantinisch-orthodoxen die autonome russisch-orthodoxe Kirche. Und Ivan begründete seinen Anspruch auf die Kaiserkrone sowohl mit der »spirituellen Abstammung« von Byzanz als auch aufgrund des

»territorialen Vermächtnisses von Dschingis Khan. Der Titel ›Zar‹ wurde für beide Herrscher verwendet – den byzantinischen basileios ebenso wie den Khan der Goldenen Horde –, und so vermischten sich die beiden miteinander«16.

Diese Vermischung sollte für die weitere Geschichte der Zaren bis ins 19. Jahrhundert erhalten bleiben und die Beziehung von Kirche und Staat bestimmen. Der Zar verkörperte Gott auf Erden, sodass der Widerstand gegen ihn zur Ketzerei wurde.17

Neben den russischen Kaiser trat nun ein eigener russischer Patriarch, der den in Byzanz, das nach Einnahme durch die Osmanen an Bedeutung verloren hatte, ersetzte.

»Erst dann war die zerstörte Ordnung wiederhergestellt, erst dann konnte auch das byzantinische Staat-Kirche-Verhältnis genau wiederholt werden. Dieser gewissermaßen weltkirchliche und welthistorische Aspekt drängte also die russische Kirche auf die Seite der Autokratie des Moskauer Großfürsten, machte sie zur Fürsprecherin der byzantinischen Erbschaft – nicht nur kirchlich, sondern auch politisch – und ließ sie am Entstehen der neuen, imperialen Moskauer Staatsideologie maßgeblich mitwirken.«18

Dass Ivan bei seinen Aktionen Rücksicht auf nichts und niemanden nahm und auf willkürliche Gewaltanwendung setzte, führte zu seinem Beinamen »der Schreckliche«. Diese Qualifizierung konnte er natürlich nicht dadurch erlangen, dass er allein und mit eigener Kraft Schreckliches tat. Er brauchte dazu eine Organisation, die in seinem Namen tätig wurde und Schrecken verbreitete. So war er möglicherweise der Erste (diese Priorität scheint historisch nicht geklärt), der sich eine Truppe zulegte, deren Zweck genau dies war: die »Opritschniki«. Sie war

»eine dem Zaren persönlich und unmittelbar zur Verfügung stehende Spezialtruppe, deren Aufgabe in der physischen Liquidierung der Verräter und in der Terrorisierung der gesamten Hocharistokratie bestand. Da alle in der Erfüllung dieser Aufgabe verübten Verbrechen straffrei blieben, wurde ›Oprirtschina‹ sehr bald mit dem Begriff eines hemmungslosen, blutigen Terrors identisch«19.

Die Opritschniki können als Vorläufer der Geheimpolizeien und Terrortruppen – der Apparate – aller nachfolgenden russischen Herrscher betrachtet werden.

Ein anderer eine Tradition begründender Aspekt der Politik Ivans IV. war das »Sammeln« von Territorien in der Umgebung des Russischen Reichs. Es begann mit der Eroberung von Kazan – der Beendigung der Mongolenherrschaft –, setzte sich fort mit der Unterwerfung anderer Ethnien und der Territorien, auf denen sie siedelten oder sich als Nomaden bewegten. Verbunden damit war eine systematische Russifizierung, d. h. die Besiedlung durch Russen, die Verbreitung der russisch-orthodoxen Kirche und die Forcierung des Gebrauchs der russischen Sprache.

Ein Aspekt der Herrschaft Ivans IV., der sich unter seinen Nachfolgern fortsetzte, ist, die Identifizierung des Staats mit dem Zaren hervorzuheben. Während in Westeuropa inzwischen sich langsam »das Konzept eines abstrakten Staates als Gegengewicht zum König entwickelte«, geschah dies »nicht in Russland, wo Zar und Staat als eins betrachtet werden – vereint im Körper eines einzigen sterblichen Wesens, das als Mensch und Herrscher ein Werkzeug Gottes war«20.

Nach Ivans Tod kam es beim Kampf um die Macht zunächst zum Bürgerkrieg. Als faktischer Regent setzte sich Boris Godunow durch, der sich den Opritschniki angeschlossen hatte.21 Unter den Zaren, die Ivan IV. folgten, ist Boris Godunow wegen der langfristigen sozialen Folgen seines Handelns von besonderer Bedeutung. In den Jahren 1601 und 1602 traf er Entscheidungen, welche die Freiheit der Bauern betrafen:

»Im ganzen lief die Entwicklung unaufhaltsam auf die rechtlich unauflösbare Bindung des Bauern an das von ihm bearbeitete, dem Grundherren gehörende Land […] zu. Diese Bindung lieferte den Bauern dem Grundherrn aus und musste in der Praxis zur Leibeigenschaft werden.«22

Diese feste Kopplung der Bauern an das Land bzw. einen Grundherrn kam auch der zentralistischen Verwaltung und Bürokratie zugute, die so die Bevölkerung in überschaubaren Einheiten kontrollieren konnte.

In den Jahrhunderten nach der Krönung Ivans IV. zum Zaren wechselten immer wieder chaotische Phasen des Interregnums, der Anarchie und der Kriege mit Nachbarn, mit autokratischen Phasen der rigiden staatlichen Unterdrückung und Ordnung ab.

Mit Peter »dem Großen« kam es zur Öffnung Russlands zum Westen. Peter wurde am 9. Juni 1672 geboren und starb am 8. Februar 1725. Er versuchte Russland zu modernisieren, indem er sich an Westeuropa orientierte. Dies traf nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Widerstand im Land. Es gab starke Kräfte, die einen Sonderweg für Russland forderten. Bereits unter seinen Vorgängern war es, vor allem aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem katholischen Polen, zur Ost-West-Unterscheidung bzw. der Frage der kulturellen Ausrichtung gekommen:

»Russland war seit langem auf dem Weg nach Europa. Allenthalben und je länger, desto mehr war Neues eingedrungen und hatte Altes zu verdrängen begonnen. Trotzdem bedeutet Peter der Große in der Geschichte Russlands eine Umwälzung, eine Revolution, und vielleicht mehr noch als in der Geschichte im russischen Geschichtsbewusstsein. An der Gestalt des großen Zaren entzündeten und schieden sich die Geister in allen folgenden Generationen.«23

Peter führte etliche Kriege – den längsten und in seinen Folgen wichtigsten gegen Schweden –, und er setzte das »Territorien-Sammeln« seiner Vorgänger fort, indem er z. B. Estland und Livland in sein Reich annektierte. Er war an westlicher Technik interessiert, baute (teilweise eigenhändig) Schiffe und eine Flotte – womit er neue Horizonte für seine expansiven Ambitionen eröffnete. Da es ihm nicht gelang, dauerhaft gegen die Osmanen einen Zugang zum Schwarzen Meer zu erhalten, fokussierte er seine Aufmerksamkeit auf die Ostsee. Dort errichtete er seine neue Hauptstadt, Petersburg.

»Der Gewinn an Territorien und europäischem Ansehen war Motiv und Ergebnis zugleich von drei Jahrzehnten außenpolitischer und militärischer Anstrengungen. Diese Anstrengungen zogen einen umfassenden inneren Wandel nach sich, der schon bei den Zeitgenossen, von allem imperialen Glanz abgesehen, den Eindruck eines veränderten Russland entstehen ließ. Was unter Peter neu entstand, hat Staat und Gesellschaft des modernen Russland unverwischbar geprägt.«24

Die Reformen Peters änderten nicht die stratifizierte Struktur der russischen Gesellschaft. Weiterhin »gab es einen privilegierten Adel, ein entrechtetes Bauerntum und eine relativ unbedeutende Stadtbevölkerung«25. Für den Adel gab es weiter die militärische Dienstpflicht mit 15 Jahren, aber nun dienten die Adligen als Offiziere. Dazu mussten sie eine basale Bildung erwerben –

»Lesen, Schreiben und Elementarkenntnisse der Mathematik – waren die zwischen dem zehnten und fünfzehnten Lebensjahr zu erwerbende Voraussetzung nicht nur für den Offiziersstand, sondern auch für die Eheschließung«26.

Außerdem wurden die Erbgesetze so geändert, dass jeweils nur ein Erbe den ungeteilten und unteilbaren Grundbesitz erbte. Ziel war, die Zersplitterung des Eigentums zu vermeiden und einen ökonomisch potenten Adelsstand als Stütze des Staats zu bewahren. Ein Gesetz, das allerdings später wieder aufgehoben wurde, weil es auf zu viel Widerstand stieß.

Was wichtig war für die Beziehung zum Adel und die Funktion des Militärs, ist die Einführung einer Art Leistungsprinzips innerhalb des Militärs: Auch nichtadlige Offiziere konnten aufsteigen, und wenn sie einen bestimmten Rang erworben hatten, wurden sie nobilitiert.

Die Lage der breiten Masse von Bauern, speziell ihr Verhältnis zu den Grundherren, blieb unter Peter mehr oder weniger unverändert.

Unter dem Einfluss westeuropäischer Experten führte Peter eine Verwaltungsreform durch. Er richtete oberste Verwaltungs- und Justizbehörden ein, schuf Fachministerien … Verbunden mit der gesteigerten Zentralisierung der Verwaltung war aber auch ein Aufblühen der Korruption:

»Die Wurzel der Korruption lag ja eben zum guten Teil im zentralistischen Verwaltungssystem, das den Beamten durch zu große Machtbefugnisse ständig in Versuchung führte; dem war niemals dadurch abzuhelfen, dass man neue Beamte mit noch größerer Macht einsetzte, wenn auch die Kontrollapparate vorübergehend Erfolge erzielen mochten.«27

Mit Peters Herrschaft war ein Wandel im Staatsverständnis verbunden. Bis dahin war

»das Konzept des Staates […] untrennbar mit der Person des Zaren […] verbunden, der Russland als seinen persönlichen Besitz regierte. […] Peter war der erste Zar, der sich den Staat als unpersönlichen Apparat vorstellte, dessen Zweck es war, dem öffentlichen Wohl oder Gemeinwesen zu dienen«28.

All diese Reformen waren leitend für die weitere Entwicklung Russlands. Sie wurden von Peters häufig wechselnden Nachfolgern nicht infrage gestellt. Hervorzuheben ist hier Katharina »die Große« (1729–1796). Sie war wohl die Gebildetste unter ihnen und hatte sich jahrelang mit aufklärerischer Lektüre beschäftigt. Ob dies eine Auswirkung auf ihr Regierungshandeln hatte, ist nicht eindeutig zu beantworten:

»Es ist eine umstrittene Frage, wieweit Katharina in ihrem politischen Handeln durch die politischen Theorien der Aufklärung wirklich bestimmt war. Häufig wird der ›liberale‹ Beginn ihres Regierens zum ›reaktionären‹ Ende in Gegensatz gebracht. Zum Teil liegt da eine Verwechslung von rationalem Aufklärungsdenken und liberal-humanitärem Streben vor. Der Ratio im Dienste des Staates, der Macht, des Prestiges, ist Katharina niemals untreu geworden, aber ebensowenig duldete sie ein Überwuchern der politischen Wirklichkeit durch die politische Theorie.«29

Katharina sorgte für eine vorsichtige Dezentralisierung der Verwaltung in kleineren Gouvernements, startete eine Schulreform und scheiterte an einer Rechtsreform. Was sie nicht infrage stellte, sondern lediglich anders begründete, war die Autokratie. An die Stelle einer theologischen Rechtfertigung trat eine funktionelle Begründung ihrer Alleinherrschaft: Ein großes Land wie Russland bedürfe der Möglichkeit schneller Entscheidungen.

Aus systemtheoretischer Sicht ist nicht zu bezweifeln, dass Autokratie schnelle Entscheidungen ermöglicht. Allerdings wird diese Schnelligkeit damit bezahlt, dass die Qualität der Entscheidungen darunter leiden kann bzw. leidet. Denn die Intelligenz der Entscheidung ist an die Intelligenz des oder der einzelnen Entscheider gebunden. Ein Kommunikationsprozess, in den Personen mit unterschiedlichen Kompetenzen, Sichtweisen und Erfahrungen einbezogen sind, kann weit intelligentere Entscheidungen hervorbringen. Doch dies ist ein Manko aller autoritären Systeme, heute wie zu Katharinas Zeiten. Diese Konsequenz wurde – wenig verwunderlich – übersehen, als Katharina den Titel »die Große, weiseste Mutter des Vaterlands« erhielt.30

Die Rechte der Gutsherren über die Bauern waren unter Katharina nahezu unbegrenzt, was letztlich zu Bauernaufständen führte, in denen die Aufständischen grausam Rache nahmen. Spätestens dies brachte die »Bauernfrage« in den Fokus der politischen Aufmerksamkeit. Das Problem war, dass jede Verbesserung der Situation der Bauern zur Verschlechterung der Situation des Adels führte. Und dessen Macht war weit größer als die Einflussmöglichkeiten der Bauern – auch wenn ihre potenziellen Aufstände als dauerhafte Bedrohung wirkten.

Doch diese Aufstände waren merkwürdigerweise nie gegen den Zaren gerichtet. Tucker, der versucht, die Mentalität der vorrevolutionären Russen zu ergründen, schildert sie folgendermaßen:

»Die Jahrhunderte zaristischer Autokratie und der amtlich geförderte Herrscher-Kult hatte weiten Teilen der Bevölkerung, speziell den Bauern, eine monarchistische Mentalität eingeflößt; […] ›Ohne den Zar ist das Land verwitwet; ohne den Zar ist das Volk verwaist.‹ So fand die Legende des Batiushka Zar (Vater Zar) ihren Ausdruck in einem Sprichwort. Eine Reihe anderer, alter russischer Redewendungen zeigt dasselbe Denken auf etwas andere Art: ›Das wissen nur Gott und der Zar.‹ ›Über alles haben Gott und der Herrscher die Macht.‹ ›Durch Gott und den Zar ist Russland stark.‹ Es ist klar, dass die politische Treue des russischen Bauern keiner abstrakten Institution, dem Staat, galt, sondern dem Herrscher als Person. Autokratie zusammen mit orthodoxem Christentum schien ihm Teil der natürlichen Ordnung der Dinge, was auf einer höheren nationalen Ebene dem vertrauten patriarchalen Autoritarismus des Dorflebens entsprach.«31

Gesellschaftliche Veränderungen wurden daher vom Zaren erwartet, dem guten und vermeintlich fürsorglichen Vater. Aufstände richteten sich so gut wie nie gegen ihn, auch wenn er die in ihn gesetzten Hoffnungen regelmäßig enttäuschte.

Das 19. Jahrhundert, in dem Stalin geboren wurde (1878 oder 1879), begann unter Alexander I. mit einer Vielzahl von Kriegen in unterschiedlichen und wechselnden Koalitionen und Bündnissen. Es fand seinen Höhepunkt mit dem Aufmarsch Napoleons vor Moskau – eine Erfahrung, die im kollektiven Gedächtnis Russlands deutliche Spuren hinterließ:

»Angriff und Scheitern der Grande Armée im Sommer und Herbst des Jahres 1812 sind als ›vaterländischer Krieg‹ für jeden Russen Höhepunkt des patriotischen Geschichtsbewusstseins […].«32

Die Bauernfrage war nur eines der gesellschaftlichen Probleme des Zarenreichs, die im 19. Jahrhundert zum Sprießen einer Vielzahl revolutionärer, anarchistischer, nihilistischer, sozialrevolutionärer Gruppen führten. Die russische Literatur – die Romane Dostojewskijs sind dafür beispielhaft – legt Zeugnis von der zunehmenden Auflösung der alten sozialen und spirituellen Ordnung und der Suche nach einer neuen Ordnung ab. Attentate und Terrorakte waren an der Tagesordnung. Die Erwartung, dass der gute Autokrat für den notwendigen Wandel – die »Revolution von oben« als Aktion »Russischer Jakobiner« – sorgen würde, war aufgegeben worden. Nicht mehr von einer einzelnen Person wurde die Veränderung erhofft, sondern von revolutionären Organisationen.33

Unter den vielen Aktivisten und Theoretikern der Veränderung oder Revolution gehören Michail Alexandrowitsch Bakunin und Alexander Iwanowitsch Herzen zu den Bekanntesten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts fand dann auch der Marxismus Anhänger unter den vielfältigen Splittergruppen.

Auch in Russland hatte die industrielle Revolution begonnen, aber die Bauern bildeten noch die große Mehrheit der Bevölkerung. Es war noch nicht wie in Westeuropa, vor allem in England, wo Marx und Engels die Entwicklung des Kapitalismus studierten, zur Formierung eines Proletariats gekommen.

Doch die in Schichten geordnete Gesellschaft wurde gestresst, Veränderungen lagen in der Luft, in unterschiedlichen Teilen des Landes kam es zu Aufständen. Im Dezember 1825 verweigerten Offiziere der Garde den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I. und forderten – ohne Erfolg – eine Konstitution (»Dekabristen-Aufstand«). Als Reaktion darauf und aus Angst vor einer möglichen Revolution verschärfte Nikolaus die Kontrolle der Bevölkerung durch die Gründung einer speziellen Staatsschutz-Abteilung.

Ideen, die aus dem Westen kamen, wurden als gefährlich angesehen, sodass versucht wurde, die Herrschaft des Imperiums auf drei originär russische geistige Grundlagen zu gründen: das Christentum in Form der russischen Orthodoxie, die Autokratie und den Patriotismus.34 Doch wie so oft, wenn versucht wird kulturelle Entwicklungen zu steuern, blieben diese Bemühungen ohne Erfolg. Eine ideologische Auseinandersetzung blieb dauerhaft virulent: der Konflikt zwischen einem »Panslavismus«, d. h. einem von Russland dominierten eigenen Weg, Gesellschaft zu strukturieren, und der Aufklärung im Sinne des westlichen Europas.

Für die Regierung unter Zar Alexander II., der von 1855 bis 1881 herrschte, wurde die Bauernfrage zum immer brennenderen Problem. Nach der demütigenden Niederlage im Krimkrieg war die Zeit für Reformen gekommen (generell scheinen demütigende Niederlagen in Kriegen eine positive Wirkung auf die Reformfreudigkeit von Staaten zu haben).

Die Regierung versuchte, die zunehmenden Unruhen im Land durch die Abschaffung der Leibeigenschaft zu beschwichtigen (1861). Dies geschah nicht, um »den« Bauern etwas Gutes zu tun, sondern aus ökonomischen Gründen. Da die Grundbesitzer zur Versorgung ihrer Leibeigenen verpflichtet waren, wurden sie aufgrund des »Menschenüberschusses«35in die Verschuldung getrieben. Da mit der Abschaffung der Leibeigenschaft keine Verteilung der bis dahin von den nun befreiten Bauern bewirtschafteten Ländereien verbunden war, kann diese Reform nur sehr begrenzt als Verbesserung der Lebensbedingungen für die Betroffenen bewertet werden.

Dies waren – grob skizziert – die gesellschaftlichen Bedingungen, in die Stalin hineingeboren wurde. Georgien, das Land, in dem er geboren wurde und seine Kindheit wie Jugend verbrachte, war Anfang des 19. Jahrhunderts von Russland annektiert worden (der Osten 1801, der Westen erst 1860). Die übliche Russifizierung hatte auch hier große Fortschritte gemacht. So war z. B. der Patriarch der georgischorthodoxen Kirche durch einen Metropoliten der russisch-orthodoxen Kirche ersetzt worden. Die Verwaltung wurde in die Hand von Russen gelegt, und die Spuren der alten georgischen Kultur, die älter war als die russische und über eine eigene Schrift verfügte, wurden, wie so oft in der Weltgeschichte, durch die Kultur von Eroberern überdeckt. Denn Georgien hatte eine lange Reihe von Unterwerfungen durch fremde Armeen und die Konfrontation mit deren Kulturen hinter sich: Mongolen, Perser, Türken – und nun Russen.36

Dennoch können Historiker charakteristische Merkmale der georgischen Kultur beschreiben: Die Georgier seien Kämpfer, die Waffen lieben, mutig und stets bemüht persönlichen Ruhm zu erlangen, bereit sich für ihr Vaterland zu opfern. Sie seien gastfreundlich Fremden gegenüber, und wenn sie zusammenkommen, hätten sie Freude am gemeinsamen Amüsement. Dabei seien sie großzügig, hätten nicht das Bedürfnis, Besitz anzuhäufen, seien intelligent, reaktionsschnell, lernbegierig, auf sich selbst zentriert. Sie würden sich merken, wer ihnen Gutes oder Böses angetan hat, und es im Positiven wie Negativen exakt heimzahlen. Ihre Stimmung könne sich von einem Moment zum anderen von gut zu schlecht verändern. Sie seien dickköpfig, ehrgeizig, könnten schmeicheln, seien aber auch leicht beleidigt …37

Die Oberschicht in Georgien wurde jetzt von Russen gebildet. Ein Aufstieg in der Gesellschaft war nur innerhalb des Militärs oder in der orthodoxen Kirche möglich. Ansonsten gab es strenge und nicht durchlässige Grenzen zwischen den Schichten. Trotz zunehmender Industrialisierung war Russland noch überwiegend ein Agrarland. Der Weg in die funktionell differenzierte Gesellschaft38, wie in Westeuropa schon weit fortgeschritten, dauerte noch lang.

Die Geheimpolizei / Der Apparat

Ein interessanter Aspekt beim Studium der Historie der russischen Geheimpolizei ist, dass ihre Tätigkeit zur Zeit der Sowjetunion jedermann bewusst war und auch heute noch viel davon gesprochen wird, aber relativ wenig Forschung zu diesem Thema zu finden ist. Für die Wissenschaft hat die russische Geheimpolizei ihr Attribut »geheim« damit zumindest nicht Lügen gestraft. Analoges gilt für die Geschichte der Geheimpolizei als Institution, die ja nicht erst in der Sowjetunion erfunden wurde, sondern historische Vorläufer hatte.

An erster Stelle ist hier, wie bereits erwähnt, die Opritschina zu nennen, die Spezialtruppe Iwans des Schrecklichen, die seinem Befehl direkt unterstellt war und ihm blinden Gehorsam geschworen hatte. »Die Masse stellte der niedrige Dienstadel, aber auch ausländische Abenteurer fanden in nicht geringer Zahl Aufnahme.«39 Die Opritschina wurde zu ihrer Zeit zwar nicht als Geheimpolizei bezeichnet, hatte aber dieselben Funktionen wie später die Geheimpolizeien anderer Zaren, und sie wurde zum Staat im Staat.

Auch der große Reformer, Peter der Große, wollte nicht auf die Macht verzichten, die eine Geheimpolizei verleiht und sichert. Er stellte nicht die autoritäre und despotische Struktur seines Staates infrage, sondern setzte neue Standards für deren künftiges Bestehen: »Er war es, der die erste politische Polizei schuf, die Zensur einführte und Personalausweise ausgeben ließ, um die Russen daran zu hindern, ihren ständigen Wohnsitz ohne besondere Erlaubnis zu verlassen.«40

Unter Nikolaus I. wurde die staatliche Kontrolle verschärft und zum Polizeistaat systematisiert:

»Den Ruf eines ›Polizeiregimes‹ erhielt die Regierung Nikolaus’ I. nicht nur ihres im allgemeinen betont autokratischen und fortschrittsfeindlichen Charakters wegen. Zwar hat Nikolaus die Polizei für Russland nicht etwa erst erfunden – es gab in dieser Hinsicht eine sehr ansehnliche Tradition –, aber er hat unter dem Eindruck des Dekabristenaufstands der russischen Polizei eine neue Organisation gegeben und neue Aufträge erteilt. Das geschah durch die Bildung einer neuen, der berüchtigten dritten Abteilung Seiner Majestät höchsteigener Kanzlei und durch die Schaffung des Gendarmeriekorps als einer besonderen ständigen Polizeitruppe (Ukas vom 25. Juni 1826).«41

Diese »dritte Abteilung« wurde zur geheimen Staatspolizei, zur »Gedanken- und Gesinnungspolizei«42. Sie bildete die Vorgängerorganisation der berüchtigten, von Zar Alexander III. 1881 gegründeten Geheimpolizei »Ochrana«43.

Gesellschaft und Kultur in Stalins Georgien

Das Zarenreich befand sich als Feudalsystem wie andere europäische Monarchien seit einiger Zeit im Niedergang. In Transkaukasien bestand aber zum Teil auch noch eine Stammesorganisation,44 das heißt, hier fehlten im Vergleich zur westeuropäischen Moderne mit ihrer beginnenden Industrialisierung noch mehrere Schritte der gesellschaftlichen Evolution. Der russische Staat war ein Vielvölkerstaat, und die kaukasischen Randgebiete wie Georgien hatten eine andere Kultur und Sprache, die aufgrund der unterschiedlichen Besetzungen durch Türken, Perser, Russen zum einen islamisch-orientalische, zum anderen christlich-europäische Merkmale zeigten. Die Oberschicht in Georgien wurde von den nur insgesamt 10 % Russen der Gesamtbevölkerung gebildet. Die Randgebiete wurden alle systematisch russifiziert, wobei die herrschenden Russen die örtliche Bevölkerung und Sprache unterdrückten. Isaac Deutscher spricht von den »Narben der Sklaverei«, die ihre seelischen und gesellschaftlichen Spuren hinterlassen hatten:

»Die unverhüllte Abhängigkeit des Menschen vom Menschen, eine rücksichtslose und unverschleierte soziale Klassenschichtung, primitive Formen der Gewaltanwendung und der Mangel an Achtung vor der Würde des Menschen waren für das Leben im Kaukasus kennzeichnend, wie es sich aus der Leibeigenschaft heraus entwickelt hatte.«45

Die Politik der Zentralregierung war in ihrer Wirkung widersprüchlich: Auf der einen Seite wurde versucht, die Weiterentwicklung der Gesellschaft zu behindern, da sich ein gegenüber Russland unterentwickeltes Gebiet leichter beherrschen ließ. Auf der anderen Seite wurden russische Oppositionelle und Intellektuelle, Terroristen, politische Gefangene unterschiedlicher Couleur nicht nur nach Sibirien, sondern auch in den Kaukasus verbannt, sodass sie ihr systemkritisches Gedankengut relativ ungehindert verbreiten konnten.

Die Herkunftsfamilie Stalins bestand mütterlicher- wie väterlicherseits aus Bauern, die erst kürzlich aus der Leibeigenschaft entlassen worden waren. Die Leibeigenschaft, die über Jahrhunderte das Leben der Familien bestimmte, sorgte dafür, dass die individuelle Freiheit extrem beschränkt war. Der Einzelne gehörte zum Inventar des Grunds und Bodens, den er beackerte. Und mit dem Land, an das er gebunden war, konnte er zum Objekt von Kauf und Verkauf durch seine Herrschaft werden. Dieser an den Boden gekoppelten Unfreiheit stand die Sicherheit für Leib und Leben gegenüber, die durch den Feudalherrn gewährleistet wurde. Das heißt, dass eine asymmetrische Beziehung zu den Grundherren, in deren Abhängigkeit die Bauern lebten, als selbstverständlich erlebt wurde und – mit großer Wahrscheinlichkeit – die psychische Entwicklung der Einzelnen, die »monarchistische Mentalität« bestimmte. Diese unhinterfragten, autoritären Machtbeziehungen waren dann auch innerfamiliär zu beobachten.

Die mit der Abschaffung der Leibeigenschaft verbundene Freiheit (sie erfolgte in Georgien drei Jahre nach dem übrigen Russischen Reich) war nicht viel wert, da sie – ähnlich wie bei der Befreiung der Sklaven in den USA – nicht mit einer hinreichenden Übertragung des Eigentums an Land verbunden war. Das zuvor beackerte Land erhielten sie nur zur Hälfte,46 was zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig war.

Im Kaukasus wurden unterschiedliche Sprachen gesprochen. Aus psychologischer wie kommunikationstheoretischer Sicht ist es von Bedeutung, in welcher Sprache ein Mensch primär sozialisiert wird. Stalins Muttersprache war Georgisch, seine Eltern sprachen nach übereinstimmenden Berichten kein Russisch.47

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, als Stalin geboren wurde und Kindheit und Jugend erlebte, wurde das Russische Reich von umstürzlerischen Bewegungen erschüttert. Verschiedene nationalistische und sozialrevolutionäre Gruppen zeigten ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo durch Attentate auf Amtsträger. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reduzierte sich deren Zahl zwar, blieb aber noch beträchtlich:

»Von Januar – Juni 1906 wurden in Russland trotzdem noch 494 politische Morde verübt. […] gibt für das gesamte Jahr 1906 seitens der Kampfeinheiten der ›Sozialrevolutionäre‹ 4.742 Anschläge mit 738 Toten und 972 Verletzten an. Für 1907 sind seine Zahlen noch exorbitanter, nämlich 4.126 Tote und 4.552 Verletzte infolge von Terroranschlägen in Russland. Darunter befanden sich nicht wie heute meistens Zivilisten, sondern Minister und Gouverneure, Generäle und Offiziere, Bürgermeister und Beamte sowie einfache Soldaten, Polizisten und Gendarmen.«48

Kulturelle und staatliche Muster

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können einige Muster beschrieben werden, die im Verlauf der Geschichte kontinuierlich die Organisation des russischen Staats leiteten und vielleicht auch als Merkmale der russischen Kultur in der Zeit vor der Oktoberrevolution 1917 zu verstehen sind:

1.Der Staat hat eine autoritäre, streng hierarchische Struktur, an deren Spitze ein Autokrat steht, der eine uneingeschränkte Willkürherrschaft ausüben kann (nicht muss, denn diese Möglichkeit nutzten die verschiedenen Zaren in unterschiedlichem Maße).

2.Die Macht des Autokraten / der Autokratie beruht zum einen auf Repression, d. h. auf der brutalen Anwendung von Gewalt bzw. der Drohung mit Gewalt, zum anderen auf der Verehrung des Herrschers als Person, der trotz der erlebten Gewalt positiv als »strenger Vater« bewertet wird.

3.Angst wird als zentrales Disziplinierungsinstrument der Bevölkerung verwendet, was von ihr mit demonstrierter Unterwürfigkeit und Denunziation beantwortet wird. Dies dürfte analog zur Angst vor dem christlich-jüdischen Gott funktioniert haben.

4.Die Autokraten stützen ihre Macht auf ihnen gegenüber loyale Truppen und (Geheim-)Polizeikräfte. Deren Aktivitäten sind keinen rechtlichen Einschränkungen unterworfen und sie können daher auch ungehemmt Terror und Zwang ausüben. Der Verschleiß von Menschenleben erscheint dabei als kein Problem.

5.Verwaltungsreformen und der Aufbau mächtiger bürokratischer Apparate dienen nicht der Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse, sondern der Optimierung des Machterhalts (des Zaren wie des hohen Adels). Sie führen in der Regel zu einer Steigerung der Zentralisierung der Verwaltung, zur Steigerung der Kontrolle, der Zensur und der Einschränkung individueller Freiheiten.

6.Neben der staatlichen Hierarchie existiert eine kirchliche Hierarchie. Sie ist der staatlichen Macht untergeordnet und liefert ihr ideologische Legitimation, Hilfsdienste und Unterstützung. Die Beziehung zwischen der Bevölkerung und dem Zaren ist analog der Beziehung zu Gott strukturiert.

7.Die Phasen der rigiden staatlichen – despotisch gesicherten – Ordnung wechseln ab mit Phasen der vorübergehenden Auflösung dieser Ordnung, des Chaos, der Unsicherheit, Unordnung und Machtkämpfe. Sie charakterisieren das Interregnum zwischen jeweils mächtigen und rücksichtslosen Herrschern. Die Phasen der Unsicherheit werden durch die Erneuerung einer rigiden, gewaltgestützten Ordnung beendet.

8.Die kollektive Selbstdefinition beruht zu einem beträchtlichen Teil auf der Abgrenzung gegenüber dem sogenannten Westen. Allerdings ist diese Beziehung ambivalent: Der Attraktion durch den Westen und seine technisch-ökonomischen Fortschritte steht die Ablehnung des dort praktizierten Individualismus entgegen.

9.Es wird eine Vielzahl von Kriegen geführt (die nicht alle auf die Initiative des Zaren zurückzuführen sind). Die meisten dienen der »Sammlung« von Territorien, d. h. der Ausweitung des zaristischen Machtbereichs, nicht so sehr ökonomischen Zwecken. Eroberte Territorien werden konsequent russifiziert und in die stratifizierte Ordnung Russlands eingeordnet.

10. Zur Integration der Bevölkerung dient die Propagierung eines russischen bzw. slawophilen Patriotismus. Der damit verbundene und betonte Unterschied zu Westeuropa inszeniert sich unter anderem im Gegensatz zwischen Katholizismus und Orthodoxie.

Aus einer systemtheoretischen Perspektive sind diese Aspekte des kulturellen Musters zusammenhängend, da sie sich gegenseitig bedingen. Wenn man den Staat als Organisation oder Netzwerk von Organisationen betrachtet, so erscheinen spezifische Entscheidungsprämissen charakteristisch für die Steuerung des Verhaltens von Herrschern und Beherrschten.

An erster Stelle ist hier die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf Personen zu nennen. Die Person des Zaren – sein mitgeteilter oder vermuteter, durch Gott legitimierter Wille – fungiert als Entscheidungsprämisse für die Aktionen der Regierung und ihrer Mitglieder. Unter »Entscheidungsprämisse« wird in der soziologischen Systemtheorie verstanden, dass ein autonomes Individuum seine Entscheidungen nicht willkürlich trifft, sondern an einer oder mehreren Vorannahmen orientiert. So können etwa Personen als Entscheidungsprämissen fungieren, wenn man sich an dem Bild, das man von einem Menschen hat, orientiert und ihn beispielsweise nicht kränken will, weil man ihn für verletzlich hält, oder seinen Anordnungen folgt, weil man ihn als streng oder gar rachsüchtig kennengelernt hat.49

Personen dienen nicht nur in Organisationen, sondern auch in anderen sozialen Kontexten als Entscheidungsprämissen. Dieses Prinzip durchzieht die Gesellschaft: Der Leibeigene orientiert sein Verhalten an der Person des Gutsherrn, Kinder in der Familie an den Personen von Vater und Mutter usw.

Ein zweiter, für unsere Fragestellung relevanter Typus von Entscheidungsprämisse besteht in den formalen und informalen Strukturen einer Organisation, die sich in selektiven Kommunikationswegen manifestieren: Wer hat wem was zu sagen? Wer hat wem Bericht zu erstatten? Wer erzählt wem welchen Klatsch? Wer intrigiert mit wem gegen wen oder für was? Usw.

Was im Vergleich zu anderen Staaten im Zarenreich wenig entwickelt schien, waren staatliche Programme, d. h. festgelegte Verfahrensweisen (z. B. die eines unabhängigen Rechtssystems), durch welche die Macht von Hierarchen hätte relativiert werden können. Solche festgelegten Verfahrensweisen waren zwar bei der orthodoxen Kirche zu finden, aber sie stützten die weltliche Macht und stellten sie nicht infrage. Die Struktur des autoritären Staats verfügte über keine Mechanismen, welche die Macht von Hierarchen limitierten, weder durch eine Konstitution und ein Rechtssystem mit entsprechenden Institutionen noch durch eine freie Presse.

Ein weiterer relevanter Typus von Entscheidungsprämisse50, die Kultur, unterschied sich in den unterschiedlichen Landesteilen des zaristischen Herrschaftsbereichs. Doch wie am Beispiel der georgischen Kultur zu beobachten war, führte die Russifizierung mit der Besetzung aller wichtigen Ämter und Machtpositionen zumindest auf staatlicher Ebene zu deren Entwertung und Relativierung. Sie dürfte aber im privaten, familiären Bereich – und damit für die primäre Sozialisation der Kinder – weiterhin leitend gewesen sein, zumal dann, wenn die dort gesprochene Sprache (Muttersprache) nicht Russisch war, sondern wie im Falle Stalins Georgisch.

12Vgl. Hall 1956, S. 99 ff.

13Diese Skizze folgt, soweit nicht anderweitig vermerkt, der Darstellung der Russischen Geschichte von Stökl 1962.

14Stökl 1962, S. 216 f.

15Ebd., S. 232.

16Figes 2022, S. 77 f.

17Ebd., S. 87.

18Stökl 1962, S. 219.

19Ebd., S. 252.

20Figes 2022, S. 87.

21Ebd., S. 116.

22Stökl 1962, S. 264.

23Ebd., S. 331.

24Ebd., S. 365.

25Ebd., S. 368.

26Ebd., S. 368.

27Ebd., S. 377.

28Figes 2022, S. 157.

29Stökl 1962, S. 400.

30Ebd., S. 403.

31Tucker 1973, S. 3 f. (Übers. v. F. B. S.).

32Stökl 1962, S. 448.

33Vgl. Tucker 1973, S. 9 ff.

34Vgl. Stökl 1962, S. 483 f.

35Ebd., S. 486.

36Vgl. Tucker 1973, S. 66 f.

37Zit. n. Tucker 1973, S. 64.

38Luhmann 1997, S. 131 f., 613.

39Stökl 1962, S. 252.

40Smith 1976, S. 329.

41Stökl 1962, S. 480.

42Ebd., S. 481; vgl. Diges 2022, S. 193.

43Verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Ochrana [11.10.2022].

44Deutscher 1946/1966, S. 30; siehe dazu auch sehr aufschlussreich Tolstois Sammlung von Erzählungen (publiziert zwischen 1852 und 1912) Krieg im Kaukasus, 2018.

45Deutscher 1946/1966, S. 33.

46Ebd., S. 32.

47Vgl. Trotzki 1940, S. 39.

48Schmidt 2019a, S. 71, Fußnote.

49Zu Entscheidungsprämissen als Mittel der Steuerung von Verhalten und Etablierung bzw. Sicherung von Interaktions- und Kommunikationsmustern siehe ausführlich Luhmann 2000a, S. 222 ff.; Simon 2022, S. 863.

50Vgl. Baecker 2000, S. 105; Luhmann 2000a, S. 240.

3Kindheit und Jugend Stalins (1878–1899)