Stalins Alpinisten - Cédric Gras - E-Book

Stalins Alpinisten E-Book

Cédric Gras

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  • Herausgeber: Tyrolia
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Vom glorreichen Aufstieg und tragischen Niedergang der Brüder Abalakow Ein preisgekröntes Berghelden-Schicksal im Roten Zeitalter der UdSSR Wie kam es, dass Stalin die gefeierten Alpinisten, die in seinem Namen den Marxismus bis auf die höchsten Gipfel tragen sollten, verhaften und verschwinden ließ? Seit der preisgekrönte französische Journalist Cédric Gras vom Los der Brüder Abalakow erfahren hatte, ließ ihn diese Frage nicht mehr los. Er beschloss, den Spuren ihres Lebens nachzugehen. Witali und Jewgeni Abalakow unternehmen zahlreiche Expeditionen im Kaukasus sowie im zentralasiatischen Pamir und Tian Shan. Dort besteigen sie in den 1930er Jahren im Namen des Systems die Siebentausender Pik Stalin und Pik Lenin sowie den Khan Tengri – und werden als Helden bejubelt. Bald wendet sich das Blatt: 1938 wird Witali Abalakow Opfer des Großen Terrors und der Säuberungen. Er überlebt und kehrt in die Berge zurück. Sein Bruder Jewgeni wird 1948 tot aufgefunden. Cédric Gras hat sowohl in den Archiven des KGB als auch in Sibirien sowie in den Bergen Zentralasiens recherchiert, um das Leben der Brüder Witali und Jewgeni Abalakow zu rekonstruieren, die – erst unzertrennlich, dann zerstritten – gemeinsam das Rote Zeitalter erlebten und davon träumten, den höchsten Gipfel der Welt im Namen der UdSSR zu bezwingen. Entstanden ist so eine packende Reportage, in welcher der Erzähler die Leserinnen und Leser ganz unmittelbar an seinen Recherchen und Entdeckungen teilhaben lässt.

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Seitenzahl: 311

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CÉDRIC GRAS

STALINSALPINISTEN

Der Fall Abalakow

Aus dem Französischenvon Manon Hopf

INHALT

Abalakow

ERSTER TEIL: PICKEL UND SICHEL

Aus bürgerlichem Hause

Das Fontainebleau von Sibirien

Erbauer der strahlenden Zukunft

Die Gesellschaft für proletarischen Tourismus

Die 29. Einheit

Pik Stalin

Pik Lenin

Eroberung des Nützlichen

Schiffbruch am Khan Tengri

ZWEITER TEIL: DIE ORGANISATION DER KONTERREVOLUTIONÄREN ALPINISTEN

Frohes Jahr 1937!

Ein Bruder unter Arrest

Der große Zusammenbruch

Artikel 58

Die Kaukasische Front

Auf zum Himalaya!

Verbrechen oder Unfall?

DRITTER TEIL: WITALI ABALAKOW

Spartak Moskau

Tauwetter

Gipfel des Sieges

Everest-Nordwand

Das Scheitern des Kommunism

Patriarch

Acht sowjetische Frauen

Everest 1982

Epilog

Dank

Quellen

Bildnachweis

Doch nichts Besseres als eine Wahrheit,die unwahrscheinlich wirkt!

Stefan Zweig, Magellan

ABALAKOW

Lange habe ich mich gesträubt. Ich habe schon immer nach der Geschichte hinter der Geschichte gesucht: Stalin, den Gulags und allem, was im Westen als exotisch dargestellt wird. Ich bin kreuz und quer durch Russland gereist, um es heute klarer zu sehen. Ich wollte nie, wie es gegenwärtig allzu üblich ist, mich der berühmten Namen Verstorbener bedienen, um eine fade Reise in der heutigen Zeit aufzuwerten. Ich weigerte mich, die Geschichte heranzuziehen, um eine Gegenwart, die manchmal nicht an die Vergangenheit heranreicht, interessanter zu machen. Doch man interessiert sich nicht ungestraft für Eurasien. Das rote Jahrhundert lauert überall. Die Sowjetunion hat eine gewaltige Dramaturgie entwickelt, erschütternde Schicksale und launische Fügungen. Das wird immer ihr größter Erfolg bleiben. Aus ihr werden die Schriftsteller nach wie vor ausgiebig schöpfen.

Wenn ich heute der Versuchung erliege, Schwarzweißbilder heranzuziehen, dann nicht wegen der erstbesten Anekdote. Diese Geschichte lässt mich nicht mehr los, weil sie jede meiner Leidenschaften anspricht. All die Jahre im Osten, die Berge, die mich als Heranwachsenden stets begleiteten, meine Reisen durch Zentralasien. Sie kam zu mir wie eine Katharsis, wie eine Selbstverständlichkeit. Und mir wurde bewusst, wenn nicht ich, würde sich niemand sonst dieser unglaublichen Geschichte annehmen. Ich wollte nicht, dass sie im Dunkeln verschwindet. Schließlich fühlte ich mich verpflichtet, sie ans Licht zu bringen. Daraufhin versank ich jeden Tag tiefer in fiebrige Recherchen, gefesselt von diesen verrückten Lebensgeschichten aus jenen Jahrzehnten, die nicht weniger verrückt waren, in einem Land, das es schon immer war.

So kam es, dass ich eines Tages im Herbst in der ohrenbetäubenden Metro der Hauptstadt aller russischen Staaten saß. An der Station Frunsenskaja, die in der Moskwa-Schleife liegt, komme ich wieder an die frische Luft. Ich blicke auf Beton und große Bäume, die ihr welkes Laub abwerfen. Ich frage nach der Bolschaja Pirogowskaja. Dort befindet sich heute das Staatsarchiv. Zügigen Schrittes versuche ich mir nochmal klarzumachen, warum ich hier bin. Warum beschäftige ich mich seit so vielen Monaten mit diesen beiden in Vergessenheit geratenen Alpinisten? Was bringt einen dazu, im Leben Unbekannter herumzuschnüffeln? Und mit welchem Recht übrigens, wenn nicht dem, der wahren Geschichte auf den Grund zu gehen?

Die Akademiker in meinem Bekanntenkreis prophezeiten mir Schwierigkeiten auf allen Ebenen. „Du wirst sehen“, sagten sie voraus, „die Akten über die Säuberungen sind unter Verschluss. Russland unter Putin kehrt die Opfer des Stalinismus unter den Teppich. Man wird dir nicht das Geringste zeigen.“ Ich hatte mich also auf die Willkür der Beamten eingestellt, darauf, dass ich alle möglichen Stempel sammeln müsste, dass ich meine gesammelten Russischkenntnisse und mein gesamtes Wissen über die internationale Bürokratie für diese außergewöhnliche Spurensuche brauchen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, über diese beiden Kerle zu schreiben, ohne das Kafkaeske ihrer Prozesse gelesen, ohne den Geruch des Papiers eingeatmet zu haben, das man zu lügen und zu töten nötigte.

Zuvor hatte es mich einige Mühe gekostet, die Akte P-8594 ausfindig zu machen, in ihr befand sich der Schlüssel. In der Lubjanka, dem historischen Hauptquartier des KGB, war sie nicht mehr. Sie war ins Staatsarchiv verlegt worden, und ich hatte gleich einen detaillierten Antrag gestellt. Dann musste ich Geduld haben. Ein oder zwei Monate lang. Als die Antwort auf sich warten ließ, rief ich an. Ich fragte eine knarzende Stimme nach der Abteilung für die „Opfer der Säuberungen“ des Stalinschen Terrors. „Wir haben keine anderen“, erwiderte schlechtgelaunt eine Dame. Übrigens, mein Antrag sei jetzt bewilligt, ich könne kommen, wann ich wolle.

Da bin ich nun, in der Bolschaja Pirogowskaja, vor diesem riesigen sowjetischen Gebäude voll mit sortierten, schrecklichen Geheimnissen, am frühen Morgen eines Tages, dessen Himmel ich nicht zu Gesicht bekommen werde. Auf der rechten Seite der Eingangshalle kann man über ein altes Telefon die Archivare kontaktieren. Ich wähle eine der Nummern auf der Liste, die daneben an der Wand hängt. Es klingelt, worauf eine Stimme grüßt, wie man in Russland eben grüßt. Sie grüßt nicht. Sie lenkt, sie befiehlt, sie ordnet an. Sie kündigt mich bei der Zuständigen für die Passierscheine an, die mit Mühe meinen ausländischen Namen dechiffriert.

Dann soll ich den Innenhof durchqueren bis zum Gebäude 7. Dort bedeckt das erste gefallene Laub die Schwelle eines Eingangs, der hundert anderen gleicht. Im zweiten Stock erwartet mich zwischen hohen Regalen meine Ansprechpartnerin – freudlos, aber hilfsbereit. Das Zimmer ist schlecht beleuchtet. Ich setze mich an einen kleinen Tisch in der Nähe eines Fensters, das ein wenig Licht hereinlässt. Sie bringt mir die Akte. Dann bittet sie mich mit Nachdruck „nichts zu stehlen“, um anschließend merkwürdigerweise zu erwähnen, dass sie sich gegen Mittag mit einem Agenten des FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit) treffen werde. Ich sage, das sei perfekt. Dass der FSB mich wahrscheinlich besser kennt als ich mich selbst. Ich werde allmählich vergesslich, nachdem ich schon seit fünfzehn Jahren dieses Land bereise.

Darauf lässt sie mich allein.

Hier war ich also. Seit acht Monaten verfolgte ich die Spur dieser beiden Männer. Der Brüder Abalakow.

Ich öffnete die Akte. Ich warf einen Blick auf die Liste derjenigen, die bereits vor mir dagewesen waren. Nur zwei Namen von vor ungefähr zehn Jahren. Sie waren mir schon unter Artikeln aufgefallen, die sich mit dem Alpinismus in der UdSSR beschäftigten. Sonst niemand, zumindest seit der Verlegung der Akte ins Staatsarchiv.

Dann stürzte ich mich wissensdurstig auf 350 Seiten Untersuchungsmaterial. Ich hatte Hunderte von Fragen. Aus welchen Gründen wurde Witali Abalakow, der bekannteste sowjetische Alpinist, Opfer des Großen Terrors? Hatte er unter Folter seine Seilkameraden denunziert? Und vor allem: Hatte er seinen eigenen Bruder verraten? Jewgeni Abalakow, Stern am Himmel des Alpinismus, heldenhafter Bezwinger des gewaltigen Pik Stalin.

Ich hatte mich so lange danach gesehnt, Licht in diese Geschichte zu bringen.

Doch war ich recht bald froh, wirklich erst am Ende meiner Recherchen in die Archive gegangen zu sein. Denn um diese Geschichte richtig zu verstehen, muss man in das Sibirien des beginnenden letzten Jahrhunderts zurückkehren.

ERSTER TEIL

PICKEL UND SICHEL

AUS BÜRGERLICHEM HAUSE

Wir befinden uns im Jahr 1920. Der Bürgerkrieg hat gerade Sibirien erfasst. Das heilige Russland bricht in seine fahlen und unermesslichen Weiten auseinander. Die Weißen drängen die Roten zurück, die Roten metzeln die Weißen nieder und die Bolschewiki haben gerade Krasnojarsk erobert, eine verschlafene Holzstadt am Ufer des Jenisseis, mit Schildern auf Altslawisch, zerzausten Muschiks1 und chinesischen Waren. In einem stattlichen Haus in der damaligen Leninstraße – oder heißt sie noch Straße Mariä Verkündung? – sitzt eine ungewöhnliche Familie am Abendtisch, als es laut an der Tür klopft. Es trommelt sogar, und als die Tür aufgeht, erscheint im Türrahmen ein Soldat der Revolution und zeigt stolz einen Haftbefehl.

Das Dokument mit dem Stempel der neuen Herrscher des Landes erwähnt den Namen Iwan Abalakow, Eigentümer des Hauses. Er ist ein angesehener Geschäftsmann, somit ein Volksfeind schlechthin. Sein Schicksal ist besiegelt. Seit Ausbruch der Oktoberrevolution weiß man nur zu gut, wie diese abendlichen Besuche enden. Wer zur Bourgeoisie gehört, wird im Eilverfahren hingerichtet. Zwei junge Heranwachsende stürzen zum Eingang, um zu verhindern, dass dieser Iwan Abalakow abgeführt wird. Er ist ihr Onkel väterlicherseits und hat sie bei sich aufgenommen. Die beiden heißen Witali und Jewgeni, vierzehn und dreizehn Jahre alt, zwei Waisen, deren hohe Bestimmung noch niemand erahnt, während sich der angestaute Klassenhass unter dem Joch der Zaren entlädt.

Der Rotgardist beschließt, Onkel sowie Neffen wegen Behinderung der Arbeiter- und Bauernjustiz zu verhaften, weil er, der einfache Bürger, von jetzt an alle Rechte hat. Also greift er sich die Sprösslinge dieser „kapitalistischen“ Patchworkfamilie. Wahrscheinlich war dies der Abend, an dem Witali und Jewgeni auf einmal erwachsen wurden, als sich das kommunistische Ideal ihren jugendlichen Köpfen derart unrühmlich zeigte. Die Tür schließt sich vor ihrer mütterlichen Tante, der Frau, die sie großzieht, die keine anderen Kinder hat und die nicht aufgibt. Sie bricht nicht vor Ikonen und Kerzen kniend in Tränen aus. Nein, lieber holt sie nachts auf der Straße den mutigen Soldaten ein. Sie lässt, während der Soldat scheinbar die Sterne betrachtet, Wodka und Sakuski2 in seine Manteltasche gleiten. Schließlich hat auch die Revolution eine menschliche Seite. So rettet sie die beiden Brüder, die ins Haus zurückgehen, um einstimmig für das Heil ihres Onkels zu beten, der bald zum Tode verurteilt wird. Seine Strafe wird wie durch ein Wunder umgewandelt in Zwangsarbeit im Lager, und im Dezember desselben Jahres wird er sogar begnadigt. Die Bolschewiki haben ihre Meinung geändert, denn sie brauchen gebildete Leute. Man weist ihm eine Stelle als Buchhalter in einer Fabrik zu und deklassiert, proletarisiert und entbürgerlicht, gehört er von nun an zu den fleißigen Arbeitermassen.

Diese Szene habe ich aus einem Artikel, der erst 2018 erschienen ist und den ich im Arbeiter von Krasnojarsk ausfindig gemacht habe, einem im Sterben liegenden Blatt, das von einigen Pensionierten geführt wird, die über eine Welt lamentieren, die die ihrige vergisst. Eine alte Dame brachte darin einen Zeugenbericht aus zweiter Hand über eine ferne Freundin, deren Großmutter mit der Tante der Abalakows verkehrte … Wahrscheinlich bin ich der Einzige gewesen, der diese unvollkommene Erinnerung in der letzten Ecke eines kaum gelesenen sibirischen Blattes fieberhaft verschlungen hat. Aber mit welcher Erleichterung! Sie ließ eine Kindheit in einem neuen Licht erscheinen, die von allen anderen sowjetischen Quellen politisch kompatibel erzählt wurde. Und diesen Fallen galt es auszuweichen. Laut offizieller Literatur sollten die Helden gleich mit dem ersten Schluck Muttermilch Bolschewisten gewesen sein. Aber als treue Söhne von Kosaken konnten die Brüder Abalakow nur in Liebe zum Zaren und im Weihrauch der orthodoxen Kirchen erzogen worden sein. Hier musste man beginnen.

Die sowjetische Geschichtsschreibung lässt nämlich, beschämt über die bürgerliche Herkunft ihrer jungen Helden, gerade diese Ereignisse diskret aus. „Es waren harte Zeiten“, ist die Ausrede, „wegen der Koltschak3-Truppen.“ Einer erwähnt, dass „die Abalakow-Brüder im Dorf, beim Flößen, im Haus arbeiten mussten“. Er hütet sich davor zu erwähnen, dass der Grund dafür die Konfiszierung der Dampfmühle und des Geschäfts ihres Onkels im Zuge seiner Verhaftung war. Das Wohngebäude, ein Blockhaus, damals auf 9471 Rubel geschätzt und damit ein Vermögen, wurde verstaatlicht. Eine bolschewistische Verwaltung hat sich dort niedergelassen und es ist schwer nachzuvollziehen, wo die bisher privilegierten Waisen ab diesem Zeitpunkt leben.

Es ist also ein schwieriger Start in einer Gesellschaft, in der nur die soziale Herkunft zählt. Eine Schande, über die in der Presse der UdSSR gnadenlos geschwiegen wurde; man kann auch nicht damit rechnen, dass die Brüder Abalakow unter diesen Umständen von ihrer Kindheit erzählen, die auf brutale Weise in Armut endete. Sie selbst behaupteten immer, dass sie von einfachen Leuten abstammten. Sie hatten ihr Leben lang keine andere Wahl, als ihre Abstammung von „Geschäftemachern“ zu leugnen, und damit ihren Onkel und ihre Tante ebenso wie ihre Eltern, die sie kaum kannten. Schenkt man ihnen Glauben, so ist ihr Vater Jäger oder Holzfäller gewesen. Doch die Ermittlungsarbeiten, die das Volkskommissariat für Inneres der UdSSR, das schreckliche NKWD, während der Stalinschen Säuberungen durchführen ließ, belegen das exakte Gegenteil. Sie waren die Söhne eines wohlhabenden Kaufmanns, der Goldförderungen am unteren Jenissei besaß. Heute weiß man, dass sie den Namen eines Geschäftsmannes der dritten Gilde trugen, der mit handwerklichen Erzeugnissen, Fellen und Pelzen handelte. Was ihre Mutter betrifft, die bei Jewgenis Geburt im Kindbett starb, weiß man, dass sie aus Irkutsk stammte, aus der Familie Glotowych, Reeder von Dampfschiffen.

DAS FONTAINEBLEAU VON SIBIRIEN

Der Name Abalakow hat zwei Gesichter, es ist der Familienname zweier Helden, zu zwei Vornamen. Witali und Jewgeni, zwei Jungs, die später in der gesamten UdSSR als die „Brüder Abalakow“ bekannt sein werden, als die, die die Wolkenmeere durchstreifen. Es wird der Tag kommen, an dem der eine sich bereit machen wird, den Everest zu besteigen, während die Witwe des anderen ihren „Eroberer der Substratosphäre“ beweinen wird. Die Propagandapresse konnte dem sowjetischen Leser nicht erklären, dass diese Männer die Oktoberrevolution zunächst gehasst hatten. Die Ikonen des Kommunismus konnten nichts anderes als echte Proletarier sein. Von ihrer Jugend hat sie also nur ihre Eskapaden in den legendären Stolby im Gedächtnis behalten.

Stolby bezeichnet so etwas wie „Säulen“, „Blöcke“ oder „Boulder“. Man findet dort ein Archipel aus Syenitfelsen, die in der unmittelbaren Nähe von Krasnojarsk aus dem Boden ragen. Weil sich der Ort gut zum Klettern eignet, wird er oft als das Fontainebleau von Sibirien bezeichnet, ich muss aber sagen, dass die Stolby bei Weitem den berühmten Sandstein der Pariser Umgebung übertreffen. Man wandert dort zwischen Felswänden, in denen die Kletterer hängen, zwischen verfallenen Gräbern und herumschweifenden Bären. Die jungen Russen kommen hierher, um wochenlang am Fuß der Kletterrouten zu kampieren, die sie so lange wiederholen, bis sie sie in- und auswendig kennen. Heute noch heißt einer dieser schwindelerregenden Felsen, an dem sie trainieren, der Kommunar, und man kann ihn über die Abalakow-Route besteigen. Über den Stolby schwebt überall der schützende Geist Witalis und Jewgenis.

Die Stolby strahlen eine nonkonformistische Atmosphäre aus, etwas Anarchistisches, vergleichbar vielleicht mit dem ursprünglichen nordamerikanischen Yosemite. Ein subversiver Geist ist dort spürbar, der auf das Zarenreich zurückgeht, als das Klettern Seite an Seite mit der Utopie in seinen Kinderschuhen steckte. Die Utopie, die damals in Mode war, hieß „Sozialismus“. Die Deportierten und Anarchisten trafen sich im Schutz der Taiga und der Höhlen. Schenkt man den sowjetischen Autoren, die ich bis zum Überdruss gelesen habe, Glauben, malten diese in Großbuchstaben „Nieder mit der Zarenherrschaft!“ oder „Der Gouverneur ist ein Ganove!“ oben auf die Felsen. Die Polizei konnte nicht anders, als mit der Pistole zu drohen, damit sie diese Parolen, die außerhalb der Reichweite der Polizei lagen, selbst wieder entfernten. Wenn sie nicht gleich auf die knallroten Symbole feuerten, die die makellose Landschaft befleckten.

Naja, natürlich wurde das leicht übertrieben dargestellt, damit der Alpinismus besser in die sowjetische Mythologie hineinpasst. Dass sie den ersten roten Dissidenten Schutz geboten haben, verlieh den Felsformationen einen fast heiligen Charakter und adelte die Brüder Abalakow. Ich bezweifle, dass sich Witali und Jewgeni dort an den Debatten über den Klassenkampf beteiligten. Ich will aber gerne glauben, dass sie in ihrem Alter, in den Felsen hängend, andere Wege suchten als jenen der Diktatur des Proletariats.

Die einzige Brücke über den Jenissei war der Transsibirischen Eisenbahn vorbehalten, also mussten sie jedes Mal den breiten Fluss mit einem Kahn überqueren und dann etwa zwanzig Kilometer zu Fuß zurücklegen. In den Stolby angekommen, biwakierten sie unter hohen Bäumen und Wänden mit einer Unbekümmertheit, die an Leichtsinn grenzte.

Sicher ist, dass ihr Schicksal hier seinen Ursprung nimmt, in diesem Chaos aus Syenit, das durch die Baumkronen scheint. Zumindest in diesem Punkt stimmt die offizielle Überlieferung überein. Die Brüder Abalakow verbrachten ihre Jugend in diesem Gestein, an das sie sich schmiegten und wo sie der Schwerkraft zu trotzen und ihre Kunststücke über dem Abgrund zu vollbringen lernten. Angeblich verpassten seine Kameraden Jewgeni den Spitznamen „Tamias“. Das Tamias sibiricus ist ein kleines endemisches Streifenhörnchen. Denn Jewgeni erschloss Routen dort, wo bisher noch keine Galosche die Flechten vom Felsen gekratzt hatte. Witali, obwohl um ein Jahr älter, folgte ihm, so gut er konnte. Auf den wenigen Fotografien aus dieser Zeit ist er weniger kräftig und schlanker. Er selbst wird sich später als beinahe kränklich beschreiben und sagen, dass er sein Überleben einzig seinem eisernen Willen verdanke, der legendär werden sollte. Ihre Tante ließ ihn mütterlich sibirischen Kräutersud trinken. Schon damals ist der kleine Jewgeni derjenige, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er ist der Jüngste, der eindeutige Liebling, und auch ich bin in diese Falle getreten und habe mich dabei ertappt, dass ich Jewgeni Witali vorziehe. Ich habe den Künstler Jewgeni bewundert, den seiltänzerischen Kletterer, den untadeligen Helden. Und ich habe vor dem Ingenieur Witali, dem Schweigsamen, der beinahe zum Gulag verurteilt wurde, das Gesicht verzogen. Obwohl mich eigentlich ein Männerlächeln kaum berührt. Jewgeni war bekannt für sein freundliches Gesicht, und sein Bruder sollte sich sein Leben lang damit zufriedengeben, bei allem immer der Zweite zu sein, bei den Frauen, bei Stalin, dem Volk und sogar vor dem Tod.

ERBAUER DER STRAHLENDEN ZUKUNFT

Nach dieser vom Klettern und vom Aufstand der Bolschewiki geprägten Kindheit begeben sich die Brüder Abalakow nach Moskau. Eine Reise, die heute noch vier Tage und vier Nächte mit der Transsibirischen Eisenbahn dauert. All die Ebenen, der Ural und wieder Ebene um Ebene und endlich die neue Hauptstadt der Sowjets. Witali packt 1925 seine Koffer. Er, der in Krasnojarsk in ihrem in eine Werkstatt umgestalteten Zimmer Ski anfertigte, wird an der Mendeljew-Universität an der Fakultät für Mechanik zugelassen. Ein Jahr später legt Jewgeni seinen Schülerkittel ab, um am Moskauer Kunstinstitut zu studieren, wo er auf die lobende Empfehlung eines Zeichenlehrers der Schule Nummer 3 von Krasnojarsk hin aufgenommen wurde. Seit seiner Kindheit zeichnet er die eingeschneite Taiga, Stillleben und erstaunliche Selbstportraits, auf Schulhefte skizziert, so wie ein Meister vor seinem Spiegel.

In Moskau kennt niemand die beiden sibirischen Studenten und alles deutet darauf hin, dass sie sich dort, begünstigt durch die Anarchie, eine neue Biografie erfinden. Eine von bürgerlicher Herkunft und gesellschaftlich geächteter Verwandtschaft bereinigte Vergangenheit. Ihr Onkel hat ihnen sehr ans Herz gelegt, sich unter die Massen zu mischen, die den Kommunismus vorbereiten. Die Brüder Abalakow stellen sich überall als einfache und seit Langem verwaiste Kosakensöhne vor. Sie fallen niemandem auf. Die Macht der Sowjets scheint von Dauer zu sein, aber die Neue Ökonomische Politik des verstorbenen Lenin ist in vollem Gange. Durch sie kommen einige Händler vorläufig zu Wohlstand und die Stadt brodelt im Rhythmus der holprigen Straßenbahnen.

Zwanzig Jahre alt in einem Land zu sein, das mit seiner schrecklichen Vergangenheit reinen Tisch macht, wie berauschend musste das sein! Bei der Ankunft der Abalakows verdrehen die Trugbilder der Oktoberrevolution allen die Köpfe. Ihnen steht die strahlende Zukunft bevor: Alles muss neu gemacht werden, alles ist möglich! Ich habe guten Grund zu glauben, dass in Witali und Jewgeni eine innere Umwälzung stattfindet. Auf einmal öffnen sie sich dieser Revolution, die ihren Onkel deklassiert und ihr Vermögen verstaatlicht hat. Ihr Ausbruch ist zwar brutal gewesen – wie hätte es auch anders sein können? –, aber ihr Zweck ist rein. In den Gemeinschaftswohnungen leben junge Leute, die darauf drängen, eine vorbildliche Zukunft zu entwerfen. Auch die Brüder Abalakow engagieren sich bei der Erbauung dieses siegreichen Sozialismus. Witali widmet sein konzentriertes und kartesianisches Wesen dem Fortschritt. Die UdSSR spricht von nichts anderem als von einer materiellen Zukunft, von Industrie und Fabriken. Man braucht tatkräftige Arbeiter und Konstrukteure mit Visionen …

Jewgeni seinerseits taucht in eine von jeder konservativen Last befreite Gesellschaft ein. Man hält sich für avantgardistisch. Die Kunst darf nicht mehr allein der Bourgeoisie vorbehalten sein. Die kulturelle Revolution ist auf dem Vormarsch. Sie fasziniert bis in den Westen, und das bis heute. Es sind sozusagen die Goldenen Zwanziger der Sowjetunion. Ein Auflodern, das bald wieder erlischt. Als Jewgeni nach Moskau kommt, ist das alles schon vorbei, Marc Chagall ist emigriert, Kasimir Malewitsch steht in der Kritik. Lenin ist seit zwei Jahren tot und einbalsamiert. Es ist schon das Ende des Futurismus, des Kubismus und jener Gemälde, die keine mehr sind. Im Hinterhalt lauert der Sozialistische Realismus. Jewgeni wird in den Kurs von Wera Muchina aufgenommen, der zukünftigen Bildhauerin der Skulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin. Diese wird emblematisch für die stalinsche Bildgebung werden. In den Quellen wird diese frühe Begegnung zweier Figuren des sowjetischen Pantheons hervorgehoben, und ich habe hundertmal die lobenden Worte Wera Muchinas über den ernsten, konzentrierten Jewgeni Abalakow gelesen, über den sie niemals die geringste kritische Bemerkung machen musste. Später wird sie ihre Wertschätzung hinsichtlich seines „Talents“ und seiner „großen Bescheidenheit“ wiederholen. Hätte sie sich überhaupt abfällige Kommentare erlauben dürfen?

An der Universität lernen die Brüder Abalakow die Grundlagen einer neuen Ordnung kennen. Die Revolution behauptet, einen Musterbürger zu schmieden, so wie Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Sie ist der Urknall einer neuen Welt, eines Universums, das sich im Namen der Internationalen immer weiter ausdehnt. Witali und Jewgeni gehören vielleicht nicht gerade zu denen, die den Marxismus Wort für Wort befolgen, und doch wird die UdSSR ihr Land, und nicht mehr Russland, denn die Sowjetunion ist ihre Epoche. Man muss verstehen, dass ein Ort nichts ist ohne ein Datum, dass das Eurasien der Zwanzigerjahre heute ein versunkener Kontinent ist. Und dass die beiden sich darauf vorbereiten, das Banner einer wunderbaren Utopie auf den höchsten aller Gipfel zu setzen.

Ich erinnere mich an eine großartige Passage in Iwan Bunins Das Leben Arsenjews. Eine Kämpferin von großer Schönheit, die sich von der Natur übervorteilt sieht, versucht sich zu verstümmeln, um mehr Gleichheit unter ihresgleichen herzustellen. Ich habe nie mehr eine passendere Allegorie für diese fanatische und selbstzerstörerische, jedoch Berge versetzende Revolution gefunden. Können wir uns das vorstellen, wir, für die der Sozialismus vor allem eine Art ist, unseren Lebensstandard zu rechtfertigen? Wir, die das Elend beklagen und dabei auf nichts verzichten wollen.

Ich habe keinen Zweifel, dass Witali in den 1920er-Jahren in einer Art streberhaftem Wettstreit lebt, während Jewgeni eine gewisse Moskauer Boheme für sich entdeckt. Sie bleiben jedoch die besten Komplizen, sobald es um ihre Eskapaden geht. Die sich in der Entwicklung befindende Hauptstadt und ihr urbaner Horizont können ihre Sehnsüchte nicht vollends stillen. Viel mehr als von Moskau träumen sie davon, sich an den Steilwänden des Kaukasus zu messen. Im Winter trainieren sie an den Leninbergen. Heute nennt man sie die Sperlingsberge, auf deren Anhöhe die renommierte Lomonossow-Universität steht. Doch zu jener Zeit gab es noch keinen einzigen dieser schwindelnd hohen Wolkenkratzer, die die „Sieben Schwestern Stalins“ genannt werden.

Alles musste erst erbaut werden.

DIE GESELLSCHAFT FÜR PROLETARISCHEN TOURISMUS

Mittlerweile sind die Brüder 25 und 24 Jahre alt. Witali ist diplomierter Maschinenbauingenieur und Jewgeni hat die Kunstakademie abgeschlossen. 1931 muss man sie sich in einem Zug vorstellen, der in die kleine kaukasische Republik Kabardino-Balkarien fährt. Die Brüder Abalakow sind kräftige und starke junge Männer geworden. Jewgeni ist noch stämmiger als sein großer Bruder, mit tiefblauen Augen, hellbraunem Haar wird er als immer heiter beschrieben. Witali seinerseits spricht schnell und scharf, er hat einen ungestümeren Charakter. Er hat ein schmales Gesicht, das später faltig wird und nie rund. Seine knochige Gestalt spiegelt die Askese wider, der er sich verschrieben hat. Seine Kahlheit schreitet voran, aber noch hat er nicht diesen Kahlkopf mit abstehenden Ohren, der der Nachwelt bekannt ist.

Eine junge Frau, Valentina Tscheredowa, ist mit dabei. Sie ist ebenfalls aus Krasnojarsk, auch sie hat das Klettern an den Stolby gelernt. Sie ist Witalis Jugendliebe. Ein erstes Herzklopfen, das ewig bleibt. Die ganzen Studienjahre lang hat Valentina brav in Sibirien am Ufer des Jenisseis gewartet. Es sei denn, sie lebte die freie Liebe, um gegen die überholten bourgeoisen Sitten aufzubegehren. Wer weiß? Wie dem auch sei, schließlich zog sie zu ihrem Zukünftigen in die Hauptstadt. Das ist der Lauf der Dinge in Sachen Ehe in diesem weiten Land. Hier ziehen die jungen Männer als Aufklärer den Trugbildern der Großstadt entgegen. Wenn sie dort einmal Fuß gefasst haben, lassen sie ihre Verlobten nachkommen, die sie im hintersten Winkel des trostlosen Flachlandes zurückgelassen haben und die befürchten, von einer eleganten Dame auf einem Moskauer Boulevard in den Schatten gestellt zu werden.

Witali hat Valentina nicht vergessen. Sicher betrachtete er am Abend nach seinen Kursen die sportliche und kräftige junge Frau, die zu Beginn der UdSSR und ihres Lebens posiert, ein Moment, den ein schmachtender Verehrer auf einem Sepiafoto verewigt hat. Mit ihrem Bubikopf ist sie der Inbegriff einer jungen und emanzipierten Kommunistin. Jetzt, da sie zivilrechtlich verheiratet sind, rollt der Zug in Richtung Kaukasus. Diesen haben Witali und Jewgeni nur das eine Mal im vorigen Sommer von den üppigen Ufern des Schwarzen Meers aus gesehen. Keiner von ihnen hat jemals einen Fuß auf einen Gletscher gesetzt. Sie sind nicht in Tälern groß geworden, nicht im Schatten schwindelnd hoher Berge geboren. Sie sind in den unendlichen Ebenen auf die Welt gekommen, die einen an Galileo zweifeln lassen, am Ufer des Jenisseis. Dieser Fluss durchzieht den gesamten Bauch Eurasiens, mächtig, glatt, faszinierend ist er das einzig Bemerkenswerte in dieser Landschaft.

Drei Tage auf Schienen. Die Sibiriaken kennen das Zugfahren. Sie verbringen ganze Monate ihres Lebens im Zug. Bis dahin sind die Brüder Abalakow fast jeden Sommer nach Krasnojarsk zurückgekehrt. Wochenlanges Reisen, natürlich um Valentinas schöner Augen willen, aber auch, um ihrem Abenteuergeist Freiraum zu geben, ermöglicht durch die Ersparnisse, die der Ingenieur Witali mit seinen ersten Patenten erwirtschaften konnte. Der Künstler Jewgeni verdient noch keinen müden Heller. Nichts Neues unter der Sonne, selbst wenn sie kommunistisch war, und sicherlich nichts, das ihre Eintracht stören könnte. In diesem Alter scheinen sie unzertrennlich zu sein, wie sie wochenlang in die unbekannten Gebirgsmassive des Altai oder Sajan vorstoßen.

Es wäre ein zu großer Exkurs, von diesen äußerst wilden initiatorischen Streifzügen zu erzählen. Ich würde einfach sagen, dass sie die Brüder Abalakow definitiv geprägt haben. Die Bären sicherlich, aber auch die zugefrorenen Flüsse, die Nächte auf einer von der Glut aufgewärmten nackten Erde, die „ohne jeden Nagel“ zusammengebauten Flöße. Welch strahlende Jugend, die ihre Schritte nach den Sternen oder dem Kompass richtet und sich zu den Quellen des Jenisseis aufmacht! Jewgeni wird darüber schreiben: „Unsere Vorräte waren aufgebraucht, wir ernährten uns von Kräutern und Beeren … Die meiste Zeit schwammen wir neben dem Floß, das in den Stromschnellen überschwemmt wurde … Wir haben uns definitiv das Reisevirus eingefangen.“

Und dieses Mal endlich der Kaukasus! Der Zug bremst laut an der Endstation, an der Pforte zum Orient, die die Russen so sehr fasziniert. Valentina, Witali und Jewgeni treffen in Naltschik ein, von wo aus man den 5642 Meter hohen Vulkan Elbrus schimmern sieht. Sie beziehen ihr Quartier in den mehr als dürftigen Unterkünften der Gesellschaft für proletarischen Tourismus4. Anders gesagt: Sie richten sich voller Freude in einem Aul ein, jenen seit Urzeiten unveränderten Steindörfern der balkarischen Hirten. Was für ein Name, diese Gesellschaft für proletarischen Tourismus! Sie wurde gerade von einer Handvoll Lenins ehemaliger Exilgenossen gegründet. Als sie in den Schweizer Bergen auf eine Revolution warteten, die selbst Wladimir Iljitsch nicht mehr zu erleben glaubte, brachen einige zu Gipfeltouren auf, manche beabsichtigten sogar, die Bergführerprüfung abzulegen. Nun ist es ihr Ziel, jungen Sowjets die Kunst des Bergsteigens beizubringen, und zwar in ihren eigenen Bergen, auch wenn sie es weiterhin alpinism nennen.

In Auf kühner Reise – Von Moskau in den Kaukasus5 teilt die Schweizer Abenteurerin Ella Maillart die plötzliche Begeisterung der Sowjets für Sport im Freien. Die Verfassung garantiert den Arbeitern ein Recht auf Urlaub und in den Fabriken sind proletarische Wandersektionen entstanden. Es geht darum, sich das gewaltige Territorium der Union im Zeichen der „sozialistischen Vaterlandsliebe“ anzueignen. Die hohen Berge sind nicht mehr wie zur Zarenzeit nur der Aristokratie vorbehalten, sondern gehören von nun an dem Volk! Auch wenn es vor allem Studenten sind, die, mit dem Segen der Partei, leidenschaftlich gern Bergsteigen gehen. Ella Maillart zieht mit einigen von ihnen los, wobei sie fast von einem Balkaren entführt wird. Sie beobachtet die „Bildungspropaganda“, die Wanderkinos, oder notiert die Absicht, die kaukasischen Völker von ihren mittelalterlichen Bräuchen und Vendettas loszureißen, um sie zu modernem Wohlstand zu führen. Das sind die Tugenden der Oktoberrevolution …

In der Alpinismussektion der Gesellschaft für proletarischen Tourismus lernen die Brüder Abalakow und Valentina, angeleitet von ein paar Kameraden, die kaum mehr wissen als sie selbst, schnell dazu. Die Gesellschaft ruht einzig und allein auf der Begeisterung ihrer Mitglieder (Pessimismus ist nämlich ein spießiger Makel), auf der Unterstützung einiger Bolschewiken, auf wenigen langen Eispickeln, Steigeisen ohne Vorderzacken und einfacher Technik. Auch wenn die Brüder Abalakow in den Stolby ohne Seil und Haken kletterten, „im Unterschied zu westlichen Kletterern“, wie ich weiß nicht mehr welcher Autor prahlt, werden sie schnell mit dieser unentbehrlichen Ausrüstung vertraut. Valentina lernt die Lektionen im Eisklettern genauso gut wie ihre Begleiter, und das Autodidaktentrio wird unmittelbar einen erstrangigen Gipfel bezwingen.

Gegen Ende des Sommers werden zwei Schweizer (die UdSSR hat sich Ausländern noch nicht verschlossen) und ihre Moskauer Begleiter am Missestau als vermisst gemeldet, einem 4425 Meter hohen Gipfel des unberührten Bezengi-Gletschersystems. Da kaum mehr als eine Handvoll aktiver Bergsteiger verfügbar ist, werden die Abalakows für die Suche mobilisiert. Sie erkunden Gletscherspalten und Séracs, durchkämmen die Wände, suchen in Winkeln und Vorsprüngen. Bald finden sie Überreste ausländischer Konserven oder Schweizer Schokolade – ein sich wiederholendes Klischee in den sowjetischen Chroniken. Die Leichen aber bleiben unauffindbar.

Was dann passierte, habe ich in allen Texten gelesen, es ist überall auf die gleiche Art und Weise beschrieben. Die Erstbesteigung. Klares Wetter, unten die ersten Wiesen, die Bäche, Almen, Weidezäune. Absolut unbeeindruckt von der Tragödie ziehen unsere Helden es vor, einen benachbarten Gipfel zu besteigen, den Dychtau. Das bedeutet auf Balkarisch „Himmelsberg“, mit seinen 5205 Metern ist er als zweithöchster Gipfel des Kaukasus der Thronfolger des Elbrus. Wer kennt schon im Westen diese kühnen Bergspitzen und Republiken, deren Namen unmöglich auszusprechen sind? Über einen überwechteten Grat, der die beiden Berge miteinander verbindet, rücken sie in Richtung Ziel vor. Es scheint unglaublich, aber nur Witali hat Steigeisen an.

Mit Valentina biwakieren sie auf 4700 Metern Höhe in schneidender Kälte. Sie haben Durst und nichts, um Schnee zu schmelzen. Die Ausrüstung ist dürftig und zusammengestückelt, statt Seilen haben sie nur Feuerwehrleinen dabei. Zum ersten Mal begeben sie sich in solche Höhen. Und doch finden sie auch hier das vertraute Ringen mit dem Felsen wieder. Ihre Hände kennen die Übung. Ihre Nerven sind die Anspannung der Ausgesetztheit gewohnt. Die endlos aufeinandergetürmten Felsblöcke ähneln den Spielzeugen ihrer Kindheit und die in den Himmel ragenden Granitspitzen rufen sie. Am Morgen des 5. September stoßen sie endlich zum Gipfel vor, nachdem sie sich durch tiefen Schnee und über einen letzten Vorsprung gekämpft haben. Unter einem Stein finden sie eine Konservendose und darin eine Notiz auf Deutsch als Beweis für den Gipfelgang. Auch sie kritzeln eine Nachricht für die Nachwelt, gezeichnet „Abalakow“.

Erstaunen in der verblüfften Welt des sozialistischen Alpinismus. Gerade haben Unbekannte im Kaukasus die Ehre der Nation gerettet! Sie haben sich dort hochgearbeitet, wohin vorher nur Fremde ihren Fuß gesetzt hatten. Man ist verblüfft, wie sie das Klettern beherrschen. Über sie wird zum ersten Mal in den Zeitungen berichtet. Man hebt ihre Eigenschaft als siberjaki und Kosaken hervor. In der russischen Vorstellung erwecken diese zwei Wörter das Bild von charakterstarken und unerschrockenen Landvermessern, die die Grenzen ihres Landes, das so groß ist wie ein Kontinent, sowohl schützen als auch erweitern. Selbst der Name Abalakow ist das genealogische Echo einer uralten Waldkultur, eines antiken Russlands, das in den unbekannten Tiefen eines „Far East“ aufgebrochen ist. Und hier sind jetzt diese Pioniere, die von nun an die Grenzen in Richtung Himmel verschieben!

Hier, auf diesem kaukasischen Riesen, beginnt die Geschichte der Abalakows. Was unsere Helden betrifft, habe ich mir das Foto, das sie unsterblich machte, lange angesehen. Links ein kräftiger Jewgeni, eine kaukasische Mütze auf dem runden Kopf. Rechts ein schmalerer Witali, ausgemergelt, mit hoher, breiter und kahler Stirn. Er ist so blond, dass seine Haare auf dem Schwarz-Weiß-Abzug fast weiß erscheinen. Sie haben beide Pluderhosen an, und wie sie da im Gras posieren, sind sie so unterschiedlich. Jewgeni strahlt eine freche Gesundheit und Kraft aus, auch in seinem offenen Blick. Witali meidet das Objektiv, sein Blick schweift wie aus Verlegenheit über die Wiese. Man erkennt am Abstand ihrer Augen, dass sie Brüder sind, an ihren Nasen und an ihren Mündern. Und dann gibt es da ein Detail, das man am Anfang gar nicht bemerkt. Sie halten sich an der Hand. Oder vielmehr scheint Jewgenis Hand auf der halbgeschlossenen Faust Witalis zu liegen.

Von nun an werden sie nur noch für diese Saison im ewigen Schnee leben. Jeden Sommer werden sie verreisen. Witali wird erst im Herbst wieder in seine Fabrik zurückkehren. Die Kunst wird für Jewgeni eine Winterbeschäftigung werden. 1932 wird er ausgewählt, ein Lenin-Monument zu realisieren. Für die Bildhauer seiner Zeit ist das ein riesiger Markt. Stalin hat beschlossen, den Kommunismus in die Landschaft einzupflanzen. Jeder Platz jedes Dorfes jeder Republik in ganz Eurasien muss seinen Wladimir Iljitsch haben, der mit einer Arbeitermütze auf dem Kopf und seinem Proletariermantel auf den Schultern mit ausgestrecktem Arm den Weg weist. Der Lenin des Bildhauers Abalakow ist für die Stadt Kertsch auf der Krim bestimmt. Ich habe einen alten Abzug dieses Werks gefunden, das später bei der Invasion der Nazis zerstört wurde. Darauf sieht man das ziemlich schlichte Abbild Lenins, vermutlich lebensgroß, nach den Regeln des sotsrealism entworfen.

Die Brüder Jewgeni (links) und Witali Abalakow, 1920

Da Lenin der Sockel ist, auf dem die junge UdSSR ruht, muss die Notwendigkeit zur Eroberung der Gipfel logischerweise in seiner Biografie begründet sein. Ein Sport, ursprünglich ausgeführt vom europäischen Adel, der seinem Wesen nach so eitel und tiefbürgerlich ist, bildet eine Herausforderung für den Sozialismus. Deswegen beschwören die sowjetischen Autoren in ellenlangen Prologen die Jahre des Propheten der Revolution im schweizerischen Exil. „Wir wissen, dass der große Lenin seine ganz besondere Freude in den Bergen fand, dass er seine knappe freie Zeit mit Wanderungen in die Schluchten, zu Wasserfällen und auf die Gipfel der Alpen verbrachte“, berichtet einer von ihnen. Wenn der brillante Geist des „großen Lenin“ in der klaren Luft während der Schweizer Verbannung aufblühte, konnte das Bergsteigen nicht konterrevolutionär sein.

Die Glanzleistungen der Brüder Abalakow sollten die Vorherrschaft des Menschen über die Natur beweisen. Ein Jahr nach ihren ersten bemerkenswerten Schritten erregen sie erneut die Gemüter. Dieses Mal ist Valentina nicht dabei. Mit einem Kameraden aus der Hauptsektion des Alpinismus der Gesellschaft für proletarischen Sozialismus unternehmen sie die gefürchtete Traverse der Bezengi-Mauer von West nach Ost. Es ist immer schwierig, einen Berg in Worten zu beschreiben. Die Bezengi-Wand besteht aus einer Reihe von Erhebungen, die alle fast 5000 Meter Höhe erreichen und die durch einen schmalen Grat voller tückischer Abbrüche verbunden sind. Dieser markiert über mehrere Kilometer die Grenze zu Georgien. Eine unglaubliche Festung, vollkommen makellos und unberührt. Sieben Tage lang schlagen sich die drei Männer durch schlechtes Wetter, im Bereich der Séracs sichern sie sich gegenseitig vor dem Absturz. Sie erklimmen nacheinander drei Gipfel, den Gestola, den Katyn-Tau und den Djangi-Tau, bevor sie schneeblind den Rückzug durch die Wand antreten.

Auf den sattgrünen Almhängen kurieren sie ihre Augen. Sie strecken sich in der Sonne aus und betrachten die weiße Hölle, aus der sie entkommen sind. Der Wind, der hoch droben die Wolken jagt, hat hier beinahe etwas von Stille. Witali sieht in der Üppigkeit der Kumuluswolken die Rundungen Valentinas, die in der Hauptstadt auf ihn wartet. Jewgeni denkt seinerseits zweifelsohne an Anna Kasakowa, die er auf einem Wanderpfad kennengelernt hat. Ein junges Mädchen aus gutem Hause, auch wenn dieser Ausdruck seit der Oktoberrevolution nicht mehr viel bedeutet. Das Anwesen ihrer Eltern wurde von den Bolschewiken konfisziert. Ich glaube, habe aber kaum Beweise für diese Aussage, dass ihr nur ein kleines Zimmer als Zuhause geblieben ist. Die gebildete Pianistin und Philologin teilt mit Jewgeni die Freude an der Kunst, aber auch die Liebe zu Reisen und Hochtälern.

Zuerst begegnen sie sich in den Bergen, wo sie die Gesellschaft für proletarischen Tourismus tatkräftig unterstützt, dann im Rahmen von Vorträgen in Moskau. Ich stelle sie mir in einer armseligen Wohnung vor. Sie spielt Jewgeni etwas auf dem Klavier vor, nackt vielleicht, während er seine Augen schließt, von der Schönheit der schwebenden Töne in den Bann gezogen. Als er sie wieder öffnet, fällt sein Blick auf ihren Körper. Sie sind jung in einer Welt, die noch jünger ist, auch wenn sie zwei kleine Jahre älter ist als er.

Eine einzige Sache bereitet Jewgeni vielleicht Sorgen: die langen Abwesenheiten, die sein Leben charakterisieren werden, um die Gebirge der gesamten UdSSR zu durchstreifen. Wie ein so vollkommenes Geschöpf der Versuchung ganz Moskaus überlassen? Auf den Fotos, die es von Anna Kasakowa gibt, zeigt sie ein stolzes Profil. Ohne Zweifel wurde diese junge Frau von allen Bergsteigern des Kaukasus begehrt. Aber Jewgeni ist der beste unter ihnen, das wird jetzt offensichtlich. Und Witali folgte der verwirrenden Leichtigkeit seines talentierten kleinen Bruders, so gut er kann.

DIE 29. EINHEIT

Die Geschichte, die auf diesen Seiten erzählt wird, ist im Westen weitgehend unbekannt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Schauplatz, an dem sie spielt, einer imaginären Landschaft ähnelt. Wir Europäer träumen für gewöhnlich vom Himalaya, von den Tropen, von der Sahara. Wir kennen aber den Kaukasus nicht, den Tian Shan, den Pamir. Wir haben aus Eurasien die dunkle Seite der Erde gemacht, eine Welt, die es auf unserer mentalen Karte nicht gibt. Damals hatte sie einen Namen: die UdSSR …