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STAR GATE – das Original: Die 11. Kompilation
Wilfried A. Hary (Hrsg.): „Die Bände 101 bis 110 der laufenden Serie STAR GATE – das Original – zusammengefasst!“
Die Serie STAR GATE – das Original existiert nun schon seit 1986(!). Einige Autoren sind daran beteiligt. Viele Leser schätzten das frühere Heftformat und genießen das Taschenbuchformat, in dem die Serie inzwischen erscheint, aber es gibt nicht wenige Leser, die immer wieder auch nach einem umfangreichen Buchformat verlangen, vergleichbar etwa mit den Silberbänden der Perry-Rhodan-Serie.
Für diese haben wir nun die nächste Kompilation geschaffen, basierend auf den folgenden Bänden der laufenden Serie:
101 »Das Relikt« Erno Fischer (SB)
102 »Das kosmische Geheimnis« Erno Fischer (SB)
103 »Arndt Soklund« Erno Fischer (AS/LB)
104 »Die PSI-Bombe« Erno Fischer (LB)
105 »Das Mysterium« Erno Fischer (SB)
106 »Der Sturz von Lenshee« Frederick S. List (SB)
107 »Die Waffen des Krieges« Erno Fischer (SB)
108 »Der letzte Zeuge« Erno Fischer (SB)
109 »Stumme Schreie« Wilfried A. Hary (LB)
110 »Der Seelenfresser« Frederick S. List (LB)
(In Klammern: Abkürzung des jeweiligen Coverkünstlers des Originals!)
Viel Freude beim Lesen dieser immerhin wieder ganze 10(!) Bände umfassenden Kompilation!
Euer Wilfried A. Hary (Hrsg.)
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Die 11.
Kompilation
Wilfried A. Hary (Hrsg.)
Urheberrechte am Grundkonzept zu Beginn der Serie STAR GATE - das Original: Uwe Anton, Werner K. Giesa, Wilfried A. Hary, Frank Rehfeld.
Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de.
ISSN 1860-1855
Diese Fassung basiert auf den Romanen 101 bis 110
der laufenden Serie!
© 2019 by HARY-PRODUCTION
Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken
Telefon: 06332-481150
www.HaryPro.de
eMail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und
Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.
Lektorat: Werner Schubert
Titelbild: Lothar Bauer
Logo: Gerhard Börnsen
Coverhintergrund: Anistasius
Achtung: „STAR GATE - das Original“ ist eine eigenständige Serie, die nachweislich Jahre vor Serien ähnlichen Namens begann, wie sie im Fernsehen laufen oder liefen oder im Kino zu sehen sind oder waren! Daher der Zusatz „das Original“!
Die Serie STAR GATE – das Original existiert nun schon seit 1986(!). Einige Autoren sind daran beteiligt. Viele Leser schätzten das frühere Heftformat und genießen das Taschenbuchformat, in dem die Serie inzwischen erscheint, aber es gibt nicht wenige Leser, die immer wieder auch nach einem umfangreichen Buchformat verlangen, vergleichbar etwa mit den Silberbänden der Perry-Rhodan-Serie.
Für diese haben wir nun die nächste Kompilation geschaffen, basierend auf den folgenden Bänden der laufenden Serie:
101 »Das Relikt« Erno Fischer (SB)
102 »Das kosmische Geheimnis« Erno Fischer (SB)
103 »Arndt Soklund« Erno Fischer (AS)
104 »Die PSI-Bombe« Erno Fischer (LB)
105 »Das Mysterium« Erno Fischer (SB)
106 »Der Sturz von Lenshee« Frederick S. List (SB)
107 »Die Waffen des Krieges« Erno Fischer (SB)
108 »Der letzte Zeuge« Erno Fischer (SB)
109 »Stumme Schreie« Wilfried A. Hary (LB)
110 »Der Seelenfresser« Frederick S. List (LB)
(In Klammern: Abkürzung des jeweiligen Coverkünstlers des Originals!)
Viel Freude beim Lesen dieser immerhin wieder ganze 10(!) Bände umfassenden Kompilation!
Euer Wilfried A. Hary (Hrsg.)
Erno Fischer
Das Relikt
„Unter dem Eis wartet es seit ewiger Zeit
- auf sein Erwachen!“
Heiko Chan und sein Freund Don Jaime am Südpol – in illustrer Gesellschaft: PSI-Menschen, auch ein wenig abfällig Mutanten genannt. Auf der Suche nach den sagenhaften Relikten aus grauer Vorzeit, die es angeblich unter dem ewigen Eis verborgen geben soll.
Durch Liberanto, als Arndt Soklund einst Konzernchef von Bionic Inc., der hier vor vielen Jahren die Stadt Atlantis City erbauen ließ, um seine Konzernzentrale herum, finden sie einen Zugang. Doch es gibt Probleme untereinander, und dann geraten sie in ein sogenanntes PSI-Feld, das ihnen arg zu schaffen macht – außer Liberanto, der ihnen den Tipp gibt, sich nicht dagegen zu wehren.
Aber das PSI-Feld blockiert die Fähigkeiten der Mutanten, auch die der kleinen, erst vierjährigen Lisa…
DIE HAUPTPERSONEN:
Heiko Chan und Don Jaime López de Mendoza Tendilla y Ledesma – der Survival-Spezialist und sein Freund kommen von einem Schlamassel in den nächsten.
Lisa – Das kleine Mädchen ist erst vier Jahre alt. Aber sie ist ein sogenannter PSI-Mensch.
Liberanto – Der Exterrorist heißt in Wirklichkeit Arndt Soklund und muss sich der veränderten Situation auf der Erde anpassen – und nicht nur dieser…
Nestor Hagen – Der ehemalige Sicherheitschef von WWF befreite Liberanto aus den Kerkern von Luna, zufällig unmittelbar vor der Invasion der Kyphorer. Niemand mag ihm trauen. Zu recht?
Die kleine, erst vierjährige Lisa Scott schrie wie am Spieß. Sie fuchtelte verzweifelt mit ihren kleinen Ärmchen herum und wollte sich nicht mehr beruhigen. Immer wieder rief sie dabei gellend nach ihrer Mutter.
Alle wussten, dass diese längst tot war, aber Lisa hatte immer behauptet, ihre Mutter sei dennoch ständig bei ihr. Nur Liberanto schien zu begreifen, was mit der Kleinen los war. Er ging vor ihr in die Hocke und schaute sie forschend an.
Plötzlich brüllte er so laut er konnte: »Lisa!«
Die Kleine erschrak und stockte mitten in der Bewegung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Liberanto an.
»Bitte, Lisa, deine Mama ist doch immer noch da!«, sagte dieser jetzt sanft.
Die Kleine schrie nicht mehr, sondern starrte nur noch. Ihr kleines, blasses Gesicht lief leicht bläulich an, weil sie vergaß zu atmen. Saß der Schock so tief?
Liberanto sprach weiter sanft und beruhigend auf sie ein: »Du kannst sie jetzt nicht mehr spüren, wegen dem PSI-Feld, verstehst du? Es blockiert uns alle, auch dich. Du bist jetzt ein ganz normales kleines Mädchen. Deine Mama kann sich dir gegenüber nicht mehr verständlich machen. Aber das ist nicht für lange.«
»Aber – aber …«, stammelte sie. »Aber dann ist Mama ganz viel traurig!«
»Nein, Lisa, denn sie weiß ja, dass es nicht für lange ist. Nur solange der verrückte Computer das PSI-Feld aufrechterhält. Er tut das aus Sicherheitsgründen. Weil er sonst meint, Angst haben zu müssen.«
»Aber – aber, er braucht doch keine Angst zu haben vor Mama!«
»Nein, vor der nicht, aber vielleicht vor den anderen? Du sagst doch selber immer, sie seien böse. Und der verrückte Computer muss sich eben vor ihnen hüten. Wenn er erst bemerkt, was für ein liebes, kleines Mädchen du bist, dann kannst du auch wieder mit deiner Mama reden. Die freut sich bestimmt schon ganz toll darauf.«
Die Kleine nickte: »Ja, ich auch!«
»Na, siehst du, Lisa: Es gibt also keinen Grund, traurig zu sein und zu weinen. Alles wird gut. Glaube mir, denn ich kenne den Computer. Der ist zwar ein wenig verrückt, aber er ist nicht böse. Das darfst du mir glauben.«
Abermals nickte die Kleine. »Ja, ich glaube dir, seltsamer Mann!«
Liberanto richtete sich wieder auf und nickte Don Jaime aufmunternd zu. Dieser bückte sich nach Lisa und nahm sie auf den Arm, was sie gern zuließ.
Sie war die einzige ohne Schutzanzug. Das erfüllte den asiatischen Survival-Spezialisten Heiko Chan jetzt doch mit Sorge. Aber als er nach den Helmanzeigen schielte und sah, dass sowohl die Luftzusammensetzung und der Luftdruck als auch die Temperatur angenehme Werte aufwiesen, beruhigte er sich wieder. Vorher hatte Lisa sich mit ihren PSI-Kräften geschützt. Jetzt, da diese blockiert waren, hätte sie sterben müssen, wäre alles noch so gewesen wie zuvor. Das brachte ihn allerdings auf einen anderen Gedanken: Hatte sich ihre Umgebung denn nicht drastisch geändert?
Soweit die Helmscheibe es zuließ, warf er einen Blick in die Runde – und erstarrte: Sie waren überhaupt nicht mehr in diesem sich steil nach unten schlängelnden Schlauch! Das hier war ein ebenerdiger, großzügig breiter Gang. Nicht rund, sondern eckig. Die Decke war geschätzte drei Meter über dem Boden. Die Wände sahen aus wie aus Felsen gehauen.
Das war ja, als befänden sie sich plötzlich unter dem ewigen Eis der Antarktis, sogar tief im Boden darunter? Aber wie waren sie überhaupt hierher gelangt?
Es muss geschehen sein, als das PSI-Feld spürbar wurde. Es hat uns dermaßen beeinträchtigt, dass wir nichts davon bemerkt haben!, dachte Heiko erschüttert.
Liberanto hatte ihn beobachtet. Er lächelte Heiko an. »Das siehst du schon richtig: Wir sind nicht mehr auf dem Weg nach unten, sondern haben dieses Ziel bereits erreicht!«
Heiko ging nicht darauf ein. Er wandte sich halb um die eigene Achse. Hinter ihnen verlief der Gang schnurgerade. Die Wände schimmerten matt. Das Licht reichte aus, um alles gut sehen zu können. So konnte er mindestens fünfzig Meter tief in den Gang hineinschauen, dessen Wände, Boden und Decke völlig glatt verliefen.
Er wandte sich wieder nach vorn. Auch in dieser Richtung sah es so aus. Der Gang schien keinen Anfang und kein Ende zu haben.
»Wo – wo sind wir?«, erkundigte er sich brüchig.
Die anderen waren jetzt auch auf den unerwarteten Ortswechsel aufmerksam geworden. Sie schauten alarmiert umher.
»Wir sind in der Tiefe. Der verrückte Computer – ich nenne ihn so, obwohl er eigentlich mit einem Computer kaum vergleichbar ist … Nun, er hat uns zu sich geholt.«
»Und wo ist er?«
»Den Rest des Weges müssen wir wohl zu Fuß zurücklegen. Ich weiß nicht, warum er das mit uns tut. Er spricht nicht zu mir, genauso wenig wie zu euch. Etwas, das ich eigentlich so nicht erwartet habe, obwohl der Kontakt mit ihm völlig abbrach, damals, nach der Vereisung von Atlantis City.«
»Was ist damals überhaupt passiert?«, hakte Heiko nach, aber Liberanto ließ sich zu seiner Enttäuschung nicht darauf ein. Er winkte nur ab und meinte zu Heiko:
»Komm mit mir an die Spitze. Ich rate allen, den Helm ganz abzunehmen. Den braucht ihr jetzt sowieso nicht mehr. Seht Lisa, die kann sich jetzt nicht mehr schützen, aber es ist auch nicht mehr nötig.«
Heiko löste wie Liberanto selbst den Helm und ließ ihn nach hinten klappen. Der Helm faltete sich automatisch zusammen. Obwohl er vorher so stabil ausgesehen hatte wie ein altmodischer Taucherhelm, bildete er jetzt eine Art Nackenkrause. Ein wahres Wunder der Technik, aber Heiko hatte sich an so etwas längst gewöhnt.
Nur Don Jaime folgte noch seinem Beispiel. Die anderen machten keinerlei Anstalten dazu. Liberanto schien es egal zu sein, und Heiko kam nun auch seiner Bitte nach, mit ihm die Spitze zu bilden. Was hatte Liberanto vor?
Heiko brauchte die Frage nicht laut zu stellen. Liberanto erklärte es ihm auch so. Dabei hörten alle anderen über die Außenmikrophone ihrer Spezialanzüge mit: »Wir gehen diesen Weg weiter. Damals habe ich mehrere Kilometer zurücklegen müssen, um mein Ziel zu erreichen. Der Tunnel, den ich benutzt habe, sah anders aus als dieser hier. Anscheinend gibt es mehrere, vielleicht ein regelrechtes Labyrinth.«
»Und wie willst du den richtigen Weg finden?«, erkundigte sich Heiko. Er wies nach vorn. »Ich meine, solange es keine Abzweigung gibt, ist alles klar, aber dann…?«
»Mach dir keine Sorgen, Heiko: Ich konzentriere mich auf den Weg – und du bitte auf alles andere. Ich wäre dir dankbar dafür.«
Heiko Chan verkniff sich die Frage: »Wieso ausgerechnet ich?« Eigentlich konnte er es sich denken: Liberanto traute niemandem, aber allen anderen wohl noch weniger als ihm. Vielleicht noch Don Jaime, aber der war ja mit Lisa beschäftigt, und das war auch durchaus nötig.
Es gab sogar jede Menge Abzweigungen, die sie hinter sich bringen mussten. Die abzweigenden Gänge sahen nicht anders aus als der Gang, den sie entlangschritten, und das PSI-Feld war nach wie vor allgegenwärtig.
Auch die anderen hatten unterdessen ihre Helme abgenommen. Sie blieben stumm, außer der blonden Survival-Spezialistin Nadine Prehti und Nestor Hagen, die sich immer wieder leise miteinander stritten, ohne dass Heiko Chan verstand, worum es eigentlich ging. Konnten sie das nicht unterlassen?
Heiko Chan fand inzwischen: Liberanto benahm sich irgendwie seltsam, eigentlich schon seit das PSI-Feld aufgetreten war, doch jetzt noch verstärkt. Er wirkte meistens geistesabwesend und nicht recht bei der Sache. Wenn er sprach, dann entweder zu Heiko Chan oder zu Nadine Prehti und Nestor Hagen gewandt. Letzteren zeigte er seinen Hass immer offener, indem er ihnen als ehemalige Repräsentanten der von ihm gehassten Konzerne einiges an den Kopf warf. Anscheinend hatte er bessere Ohren als Heiko Chan und wusste genau, worüber die beiden miteinander stritten. Es ging wohl um ihrer beider Rollen in den konkurrierenden Konzernen WWF und Flibo. Hagen verwandelte sich dabei mehr und mehr zu einer Art tickender Zeitbombe, auch noch durch Liberanto angeheizt. Er beherrschte sich zwar meisterlich, aber irgendwann würde seine Beherrschung nicht mehr reichen.
Heiko versuchte, sich nicht ständig vorzustellen, was dann geschah. Zumal er das alles als höchst unnötig erachtete. Aber er schritt nicht ein, sondern ließ alles laufen. Konnte es sein, dass Liberanto mit seinem eigentlich absurden Vorgehen gegen die beiden eine bestimmte Absicht verfolgte? Hing es gar damit zusammen, dass sie hier so lange unterwegs waren? Denn auch das ergab für Heiko nicht den geringsten Sinn: Der verrückte Computer, wie Liberanto ihn nannte, hatte sie über mehrere Kilometer aus dem schlauchartigen Gang durch das Eis in dieses Labyrinth hier unten teleportiert, wie auch immer, aber wieso nicht gleich zu sich? Wieso mussten sie noch so lange laufen?
Heiko Chan kam einfach nicht hinter den Sinn des Ganzen. Das war wohl der eigentliche Grund, wieso er sich noch aus allem heraushielt und abwartete.
Eine weitere halbe Stunde waren sie jetzt unterwegs. Heiko hatte schon den Verdacht, dass Liberanto sie womöglich sogar bewusst im Kreis führte. Was sollte das? Fand er den Eingang zum eigentlichen Zentrum des Labyrinths nicht mehr? Oder hatte es andere Gründe, die sie noch nicht ahnten?
Immer wieder warf Liberanto ihm jetzt scheue Blicke zu, als ob er die Gedanken Heikos lesen würde. Aber es geschah wohl eher, weil er Heiko noch immer nicht völlig traute. Immerhin hatte der asiatische Survival-Spezialist dem verhassten Konzern Mechanics angehört, an den er einst als Arndt Soklund sein gesamtes Konzernerbe verloren hatte.
Grit und Britt Londesdale beachtete er überhaupt nicht, als wären sie gar nicht vorhanden. Dafür gab es keinen Grund, aber die beiden jungen Frauen taten auch nichts, um diesen Zustand zu ändern. Sie verhielten sich nach wie vor neutral. Was vor allem Grit sehr schwerzufallen schien, wenn Heiko das richtig beurteilte. Die Neutralität ihrer Zwillingsschwester war jedenfalls überzeugender dargestellt. Heiko kannte beide ja überhaupt nicht, war also auf Vermutungen angewiesen.
Karl Berens, den Heiko insgeheim den »Gestaltwandler« nannte, weil er in einem gewissen Rahmen beinahe jede beliebige Persönlichkeit simulieren konnte, hielt sich aus allem heraus. Das tat er anscheinend am liebsten. Wäre er nicht mit dabei gewesen, hätte es keinen Unterschied gemacht.
Don Jaime kümmerte sich die ganze Zeit rührend um die kleine Lisa, die ihn anscheinend gern als Vaterersatz akzeptierte. Inzwischen hatte sie sich ganz und gar beruhigt. Sie schaute sich nur immer wieder mit großen, staunenden Kinderaugen um, als könne sie nicht wirklich begreifen, was um sie überhaupt geschah.
Heiko überlegte im Stillen, wie es wohl für die Mutanten sein mochte, auf einmal vollkommen auf ihre PSI-Fähigkeiten verzichten zu müssen. Sie zeigten jedenfalls überhaupt keine Reaktion darauf. Konnte es sogar sein, dass sie erleichtert darüber waren? War für sie ihre Extrabegabung eher ein Fluch denn ein Segen?
Er wagte es nicht, diesbezüglich Fragen zu stellen, und schielte wieder nach Lisa. Eigentlich konnte man nur ihr eine Beeinträchtigung ansehen. Sie war ein besonders fähiger Mutant und hatte trotz ihrer Kindlichkeit bereits gelernt, mit ihren Kräften umzugehen. Vor allem eben, weil sie glaubte, ihre verstorbene Mutter sei ständig bei ihr. Wann immer sie etwas nicht begriff, sprang sozusagen der Geist ihrer Mutter ein. Das fehlte ihr jetzt deutlich.
In der Zwischenzeit war Heiko tatsächlich zu einer Art Führer geworden. Schuld daran war die besondere Bevorzugung durch Liberanto, der sich selber nunmehr als eine Art Berater zu fühlen schien.
Liberanto selbst wurde jetzt immer öfter so geistesabwesend, dass sein Blick leer wurde und er langsamer ging. Manchmal drohte er zusammenzubrechen, doch dann klärte sein Blick sich wieder, und er tat ganz so, als sei nichts geschehen.
Heiko wusste, dass niemand etwas unternehmen konnte, falls Liberanto wirklich einmal zusammenbrach. Auch die Mutanten nicht. Wie denn auch? Zumal sie sich seltsam scheu Liberanto gegenüber benahmen. Auch das eigentlich kein Wunder, seit das PSI-Feld sie beeinträchtigte, das an Intensität weder verlor noch zunahm.
Heiko sah deutlich: Keinem war Liberanto noch geheuer.
Der Weg wurde plötzlich unterbrochen. Der unterirdische Gang war hier teilweise verschüttet. Bislang war das Gangsystem mehr oder weniger unbeschädigt erschienen. Doch hier stapelte sich der Schutt bis fast zur Decke.
»Ich schlage vor, wir kehren um«, murmelte Liberanto tonlos. »Ich muss einen Umweg suchen.«
Heiko zuckte die Achseln und setzte sich wieder wortlos an die Spitze. Sie gingen den Weg zurück, bis sie zu einer Kreuzung kamen.
Anscheinend führt er uns doch nicht im Kreis, überlegte Heiko. Aber dann ist das Bunkersystem groß genug, um die gesamte ehemalige Bevölkerung von Atlantis City und vielleicht sogar noch mehr Menschen aufzunehmen.
Obwohl es keinerlei Räume zu geben schien, sondern nur diese schier endlosen und verschachtelten Gänge. Ein Labyrinth, in dem jeder Ortsunkundige sehr bald die Orientierung verlor.
Ohne Liberanto würden sie den Ausgang nicht mehr finden. Davon war Heiko überzeugt. Hatte Liberanto sie deshalb so lange herumgeführt, damit er für sie noch unentbehrlicher wurde?
Heiko schnappte einen Blick von Liberanto auf. Der Exterrorist lächelte seltsam. Heiko zuckte unwillkürlich zusammen. Er lauschte wieder in sich hinein. Nein, mittels dieses PSI-Feldes würde man seine Gedanken nicht anzapfen können. Es war ein eher passives Feld, wie es schien – und hatte Liberanto nicht behauptet, die Gedanken von normalen Menschen wären sowieso nicht so ohne Weiteres von Mutanten zu lesen? Gab es eine Art natürlicher Abschirmung, die nur die Lesbarkeit von ganz besonders intensiven Gedanken ermöglichte?
Dieser Blick und das Lächeln von Liberanto waren reiner Zufall. Liberanto kannte seine Gedanken nicht. Er erahnte sie höchstens!
Heiko Chan blieb plötzlich stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Sie hatten sich nach links gewandt. Ein stummer Wink Liberantos hatte für diese Richtungsänderung genügt.
Die anderen blieben ebenfalls stehen. Es tat den Füßen gut, einmal nicht mehr laufen zu müssen. Doch das war nicht der Grund für den Stopp.
Zu ihren Füßen rumorte es. Aus dem Boden drangen dumpfe, unheimliche Laute. Es hörte sich an, als wären titanenhafte Maschinen dort unten, im Schoß der Erde, angelaufen. Das Grollen drang bis zu ihnen herauf.
Heiko spürte eine leichte Gänsehaut auf dem Rücken.
Auf einmal fühlte er sich in dem Labyrinth, das ihm als ein weitverzweigtes Bunkersystem erschien, wie in einer Mausefalle. Unentrinnbar eingesperrt. Über sich Tausende von Tonnen Erde, Gestein und noch viel mehr Eis. Unter sich die Relikte aus grauer Vorzeit, die auf gespenstische Weise wieder zu arbeiten begannen.
Er schluckte schwer und sah nach den anderen. Ihre Gesichter erschienen unnatürlich bleich. Auch das Gesicht von Liberanto. Er grinste allerdings. Es wirkte auf Heiko hämisch wie das Grinsen eines Teufels, der seine Opfer endgültig in der Falle wusste und sie nur noch eine Weile quälen wollte, ehe sie der Verdammnis anheimfielen.
Hagen brüllte auf. Er zog seinen Strahler so schnell, dass man die Bewegung nicht mit den Augen verfolgen konnte. Zwar war der von den Kyphorern gestohlene Strahler nicht schussbereit gewesen, aber Hagen brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um ihn zu entsichern.
Der sonnenheiße Strahl war scharf gebündelt und nicht dicker als eine Kugelschreibermine. Dafür war seine Wirkung am Auftreffpunkt umso verheerender.
Der Felsen zerplatzte donnernd. Die Trümmer fetzten nach allen Seiten und sirrten den Menschen um die Ohren. Alle warfen sich zu Boden. Nur Hagen und Liberanto blieben stehen.
Liberanto lachte gehässig. »Reichlich nervös, wie mir scheint, was? Seit wann schießt du auf harmlose Schatten?«
»Da war …«, hub Hagen zu seiner Verteidigung an.
»… nichts!« unterbrach Liberanto ihn. »Absolut nichts, du hirnloses Soldatenmonster. Siehst aus wie der Held aus den Visio-Programmen. Dein Blaster sitzt reichlich locker, Sicherheitschef. Fürchtest du dich vor dem Satan, dass er deine verfluchte Seele holt?«
Hagen brüllte abermals. Doch diesmal hatte er ein echtes Ziel für seinen Strahler: Liberanto! Sein Daumen lag auf dem Auslöser. Die Abstrahlmündung zeigte auf den Exterroristen.
Doch als der sonnenhelle Strahl ins Ziel rasen wollte, stand Liberanto nicht mehr an seinem Platz. Er hatte etwa zwei Meter von Hagen entfernt gestanden. Hagen hatte ihn völlig unterschätzt. Das rächte sich nun. Ehe er seinen Strahler herumreißen konnte, traf Liberantos Fußspitze das Handgelenk des Hünen.
Der Schuss ging in die Decke und brannte ein Loch hinein. Ein Funkenregen ging auf die beiden nieder, gefolgt von einem glühendheißen Steinschlag.
Sie kümmerten sich nicht darum.
Hagens Strahler beschrieb einen hohen Bogen und flog davon. Der ehemalige Sicherheitschef von WWF hatte keine Zeit, sich um den Schmerz in seinem Handgelenk zu kümmern. Liberanto wirbelte behände heran. Der Schutzanzug schien ihn in keiner Weise zu behindern. Er lag am Ende des Bewegungsablaufs fast waagerecht in der Luft. Ein Absatz der Sicherheitsschuhe zielte genau nach dem Kehlkopf des Gardisten. Wenn er traf, war Hagen erledigt. Der zweite Absatz sollte im Magen landen.
Ein vergleichsweise harmloses Ziel.
Nestor Hagen vollführte eine halbe Drehbewegung wie ein Stierkämpfer in der Arena. Liberanto zischte an ihm vorbei und krümmte sich gleichzeitig zusammen, weil er den Schlag des Survival-Spezialisten erwartete.
Doch der Schlag erfolgte gar nicht. Hagen hatte etwas anderes im Sinn. Er packte mit der rechten Hand zu und erwischte den Haarschopf des Kleineren.
Diesmal schrie der Exterrorist wie am Spieß. Doch Hagen hatte sein Handgelenk überschätzt. Der Schmerz machte ihm zu schaffen.
Nur einen Moment lang hing Liberanto scheinbar hilflos in seinem Griff, dann trat der drahtige Exterrorist mit aller Kraft zu.
Hagen ließ los und wollte dem Tritt ausweichen.
Das gelang ihm nur zum Teil. Der harte Stiefel seines Gegners landete an seiner Hüfte.
Hagen prallte zurück und kippte nach hinten um. Doch der Sturz war nur eine Finte.
Liberanto machte keine Abwehrbewegung. Hagen drehte sich im Fallen, um im Liegestütz zu landen. Gleichzeitig nahm er mit den Beinen Liberanto in die Zange. Der Exterrorist wusste kaum, wie ihm geschah, da landete Hagen am Boden, ohne seinen Gegner aus der Fußangel zu lassen, federte wieder empor und wirbelte halb um die eigene Achse. Das genügte. Liberanto flog durch die Luft und krachte ebenfalls zu Boden.
Hagen zog die Knie zur Brust und machte die »Kippe«. Mit artistischer Behändigkeit kam er auf die Beine. Der schwere Schutzanzug war für ihn kein Problem.
Und es gab keine Atempause für ihn. Mit den Füßen voran und einem grausamen Lächeln um die Lippen stürzte er sich auf Liberanto. Dabei berechnete er dessen Ausweichbewegung im Voraus und traf ihn gezielt im Unterleib.
Heiko, der das sah, drehte sich schier der Magen um. Der Kampf der beiden wurde mit einer solchen Brutalität und Gnadenlosigkeit geführt, als ginge es tatsächlich um Leben und Tod. Der Hass war beiderseitig.
Liberanto wurde zwar getroffen, doch die Wirkung war nicht ganz im Sinne Hagens. Seine Füße trafen auf eisenharte Muskeln. Liberantos Hände umklammerten im nächsten Augenblick Hagens Gelenkfesseln. Liberanto bäumte sich auf.
Hagen wurde emporgeschleudert wie von einem Trampolinfell. Sein Körper blieb dabei gestreckt und wirkte gespannt wie eine Stahlfeder. Er wirbelte rückwärts durch die Luft und landete nach dem Salto auf den Füßen.
Er konzentrierte sich voll und ganz auf seinen ungeahnt harten Gegner. Deshalb kam das Eingreifen Nadine Prehtis für ihn völlig überraschend. Sie als ehemalige Survival-Spezialistin von Flibo konnte sich dieses Eingreifen durchaus leisten.
Sie stand auf einmal hinter Hagen und nahm ihn in den doppelten Nelson. In einer Reflexbewegung wollte Hagen aus dem Griff tauchen, doch er reagierte eine Zehntelsekunde zu spät. Der Griff war bereits geschlossen. Wenn er sich jetzt zu befreien versuchte – beispielsweise mit einer schnellen Rolle vorwärts –, konnte er sich das Genick brechen.
Liberanto sprang auf die Beine und wollte auf Hagen eindringen. Schaumflocken flogen von seinem strichdünnen Mund. Die Augen waren geweitet und blutunterlaufen. Das Gesicht war eine Grimasse grenzenlosen, tödlichen Hasses.
Karl Berens und Heiko Chan griffen gleichzeitig nach Liberanto. Dieser wollte sich gewaltsam losreißen. Er sah nur noch Hagen und wollte den ehemaligen Sicherheitschef vernichten.
In Hagens Gesicht war jetzt kein Hass mehr zu lesen, sondern Erschrecken. Vielleicht hätte er den Kampf gewonnen, obwohl seine körperliche Überlegenheit erstaunlicherweise nur hauchdünn war. Liberanto machte fehlende Kraft durch überlegene Gewandtheit wett.
Jedenfalls wäre einer der beiden nicht mit dem Leben davongekommen. Grund genug für die anderen, einzugreifen. Außer den Zwillingen, die sowieso nichts hätten ausrichten können, und Don Jaime, der Lisa auf den Armen hielt, die sich ängstlich an ihn klammerte und das Geschehen mit schreckgeweiteten Augen verfolgte.
Es dauerte Sekunden, in denen Liberanto schweigend und verbissen versuchte, weiter vorwärts zu stürmen, bis er endlich begriff, dass man ihn festhielt.
Sofort änderte er seine Taktik. Er sprang empor und schlug einen Salto rückwärts. Ehe die beiden nachfassen konnten, war er bereits außer Reichweite.
Heiko konnte sich auf seine Kampfkraft etwas einbilden. Er hatte schon ganz andere Gefahren überstanden, doch Liberanto war schwerer festzuhalten als ein nasser Aal. Heiko und Karl Berens prallten gegeneinander und kamen sich gegenseitig ins Gehege.
Im nächsten Augenblick setzte Liberanto mit einem gewaltigen Sprung über sie hinweg. Sein Ziel war wieder Nestor Hagen, der noch immer von Nadine Prehti festgehalten wurde. Hagen würde sich diesmal nicht wehren können. Er war hilflos ausgeliefert.
»Stopp!«, rief Heiko mit messerscharfer Stimme. »Liberanto, komm zu dir!«
Liberanto hatte seinen Todfeind erreicht und wollte soeben beide Fäuste in das verhasste Gesicht hämmern.
Er stockte mitten im Schlag. Seine Fäuste verfehlten das Ziel. Liberanto flog mit vollem Körpergewicht gegen Hagen und Nadine Prehti und brachte die beiden beinahe zu Fall. Nadine Prehti musste loslassen, um Hagen nicht das Genick zu brechen.
Der ehemalige Sicherheitschef brauchte sich allerdings nicht mehr zur Wehr zu setzen. Liberanto stand da mit herabhängenden Armen; noch immer waren seine Augen blutunterlaufen. Doch der Hass war aus seinem Gesicht gewichen.
Langsam wandte er sich um. Sein Blick suchte Heiko.
Da stand der asiatische Survival-Spezialist, mit leicht gespreizten Beinen. Seine Augen schienen Blitze zu schleudern und wirkten dabei kalt wie zwei Gletscherseen. Eine unbeschreibliche Mischung, die Liberanto in ihren Bann zu ziehen schien.
Derweil rannte Nestor Hagen davon. Er kümmerte sich nicht um die anderen. Es sah aus, als würde er feige das Weite suchen, doch Hagen hatte etwas ganz anderes im Sinn: nämlich seinen verlorenen Strahler!
Das wurde Heiko erst bewusst, als Hagen sich danach bückte und ihn blitzschnell an sich nahm, um ihn auf Liberanto zu richten.
»Jetzt ist es genug!«, fauchte er. Er ging sofort auf ihn zu und streckte seine Rechte aus. »Ja, Hagen, es ist wirklich genug. Ihr beide habt einiges angerichtet. Wenn ich mich recht erinnere, begann es mit einem unkontrollierten Strahlschuss, oben, vor dem Eingang in die Tiefe. Besser, wenn du mir jetzt die Waffe gibst, nicht wahr?«
»Das würde dir so passen, asiatischer Hurensohn! Der kalte Krieg der Konzerne ist zum Waffenstillstand unter den Überlebenden der Invasion der Kyphorer geworden. Alles sieht danach aus, als wären wir aufeinander angewiesen, weil die Erde von dieser fremden Macht besetzt gehalten wird. Eine Täuschung, wie ich finde. Während des Waffenstillstandes hat sich die Situation nur nach außen hin geändert. Ihr bleibt Feinde. Es wird wieder deutlicher werden, wenn die Besatzer davongejagt wurden und die Konzerne wieder versuchen, sich zu etablieren. Das wird nicht ohne Blutvergießen abgehen.«
»Sehr interessant, Hagen, aber bis es so weit ist, kannst du mir trotzdem den Strahler geben«, meinte Heiko Chan ungerührt.
Hagen sprang einen Schritt zurück. »Komm mir nicht zu nahe, Hurensohn! Ich begreife, dass ihr ein Komplott gegen mich geschmiedet habt. Sogar die verfluchte Flibo-Hure Nadine Prehti gehört dazu.« Hagen spuckte zu Boden. »Sie ist die Energie eines Strahlschusses überhaupt nicht wert. Ihr verfluchten Spießgesellen dieses Terroristen, der sich hochtrabend Liberanto nennt! Natürlich werdet ihr alles tun, was er von euch verlangt. Aber meine Order lauten anders. Ich soll bei Liberanto bleiben, nicht von seiner Seite weichen. Bevor ihr mich allerdings mit Hilfe dieser Relikte aus grauer Vorzeit umbringt, werde ich euch beweisen, dass man so mit einem Sicherheitschef der WWF nicht umgehen kann. Ich gebe ab sofort hier die Befehle, niemand anderer! Und ich werde jeden töten, der sich mir widersetzt.«
»Ein Komplott gegen dich?« Heiko schüttelte über so viel Borniertheit den Kopf. Aber er war nicht lebensmüde und blieb stehen.
Liberanto lachte gellend. Er wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Tränen rannen ihm über die Wangen. Das gab Hagen den Rest. Die Abstrahlmündung seines Strahlers zeigte auf Liberanto, als er abdrückte.
Diesmal gelang es dem ehemaligen Terroristen nicht mehr, rechtzeitig dem Schuss auszuweichen. Der dünne Energiestrahl, der wie ein Blitz aus der Waffe zuckte, traf ihn voll und hüllte ihn für einen Augenblick in ein waberndes Glutfeld.
Die Stichflamme sank zusammen.
Liberanto krümmte sich vor Lachen. Sein Sicherheitsanzug hing nur noch in Fetzen von seinem ansonsten nackten Körper.
Der zweite Schuss, der dritte, der vierte…
Liberanto lachte, während die Energien seinen Körper umtosten, alles an ihm verdampften, doch seinen nackten Körper völlig unversehrt ließen und das Gestein des Bodens zum Kochen brachten.
Die anderen flohen vor der Hitze, während Nestor Hagen das fünfte Mal schoss.
Nur Heiko blieb an seinem Platz, einigermaßen geschützt von dem Sicherheitsanzug, so dass er die ungeheure Hitze nur im Gesicht spürte. Fassungslos verfolgte er das Geschehen. Liberanto schien völlig unverletzbar.
Hagen schlug die linke Hand vor das Gesicht. Die Rechte mit dem Strahler zitterte. Seine Linke strich über das Gesicht, als wolle er es wie eine Maske herunterziehen. Das Weiße seiner Augen wurde sichtbar. Die Haut bildete tiefe Gräben. Sein Blick war starr. Die Rechte mit der Waffe zitterte stärker. Die Linke erreichte die Mundpartie. Ein dumpfer Laut entrang sich seiner Kehle.
Nestor Hagen sank auf die Knie. Die Waffe polterte zu Boden. Er schlug die Arme um sich, als friere er auf einmal. Sein Körper pendelte hin und her.
»Verdammt!«, murmelte er brüchig. »Verdammt!«
Heiko hob den Strahler sicherheitshalber schleunigst auf und wog ihn wie prüfend in der Hand.
Liberanto lachte nicht mehr. Er schritt auf nackten Sohlen über das glutflüssige Gestein. Die Hitze konnte ihm nichts anhaben.
»Wir sollten endlich weitergehen«, sagte er hart. »Wir haben genug Zeit vertrödelt. Schließlich haben wir noch Wichtigeres zu tun, nicht wahr?«
Er schritt tiefer in den Gang hinein, begleitet vom dumpfen Grollen der unterirdischen Maschinenanlage. Dabei kam er dicht an Hagen vorbei.
Der Sicherheitsmann hielt in der Bewegung inne und presste die Unterarme in seinen Bauch. Sein Gesicht sah erschreckend aus. Nestor Hagen war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Mit starrem Blick beobachtete er Liberanto. Dann schüttelte er den Kopf, dass die Haare flogen, ließ die Arme sinken und sprang auf die Beine.
Nestor Hagen stand breitbeinig und schwankend da und ließ den davongehenden Liberanto nicht aus den Augen.
»Warum?«, brüllte in diesem Moment Heiko Chan anklagend. »Liberanto, ich will es wissen: Warum hast du das getan?«
Liberanto blieb tatsächlich stehen und wandte sich langsam zu ihm um. Hagen ignorierte er einfach.
»Das fragst du noch? Ja, hast du es noch immer nicht begriffen? Dies war ein Test, nichts weiter. Ich musste testen, wie weit Nestor Hagen zu gehen bereit war. Deshalb habe ich ihn die ganze Zeit über provoziert. Nadine hat mir sogar ungewollt geholfen dabei. Nestor Hagen ist alles andere als ein stabiler Charakter. Es ist der innere Zwiespalt, der ihn so gefährlich macht. In ihm schlummern ungeheure Kapazitäten an PSI, doch sie sind versiegelt, weil sie für ihn selber zu gefährlich wären. Und das macht ihm zu schaffen.«
»Ein – ein … Test?« Heiko Chan konnte und wollte es nicht glauben.
»Ja«, bestätigte der splitternackte Liberanto ungerührt. »Nicht für euch, sondern für den verrückten Computer. Es war wichtig, ihn wissen zu lassen, vor wem er sich tatsächlich hüten muss. Sonst würde er uns vielleicht gar nicht zu sich lassen.«
»Dann erledigen wir Hagen einfach an Ort und Stelle«, schlug jetzt Nadine Prehti eiskalt vor. »Dann wäre das Problem ein für alle mal erledigt. Der Clouzot können wir ja sagen, dass uns nichts anderes übrig blieb, weil Hagen total aus dem Ruder lief. Und gelogen wäre es auch nicht.« Sie schaute sich beifallheischend um. »Na, wenn es keiner von euch erledigen will, tu ich es halt. Mir macht es nichts aus.«
»Nein!«, entschied Liberanto, und es hörte sich nicht so an, als würde er mit Gegenrede rechnen. »Heiko hat recht: Es ist genug! Ich gehe davon aus, dass nicht nur der verrückte Computer jetzt weiß, welches Risiko Hagen darstellt, sondern … er selber ebenfalls! Und das sorgt möglicherweise dafür, dass er nicht mehr länger ein Risiko sein wird.«
»Möglicherweise, möglicherweise!«, äffte die Blondine unbeeindruckt nach. »Gut, ich will dann noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Aber beschwere dich niemals bei mir, wenn du endlich einsehen musst, eine Fehlentscheidung getroffen zu haben.«
Heiko wunderte sich darüber, dass die Prehti so schnell die Waffen streckte. War es, weil Liberanto ein äußerst beeindruckendes Schauspiel als Unverletzbarer geboten hatte? Ja, es schien sie enorm zu beeindrucken, was Heiko jedoch von sich selber nicht behaupten konnte. Für ihn war der ganze Ablauf eher geeignet gewesen, jetzt noch misstrauischer zu sein gegenüber Liberanto…
*
Das Grollen und Rumoren unter ihren Füßen hatte zugenommen, beinahe mit jedem weiteren Schritt.
Heiko schaute sich um und wurde unwillkürlich langsamer. Der Gang hatte sich erweitert, unmerklich zwar nur, aber ihm fiel es jetzt auf, und er konnte sich auf sein Augenmaß sicherlich verlassen. Bewegten sie sich endlich auf das Zentrum der Bunkeranlage zu? Wusste jetzt der verrückte Computer genug über seine Gäste, um es zu wagen, sie näher an sich heran zu lassen?
Dabei wunderte ihn allerdings, wieso Liberanto nicht längst die Waffen eingesammelt hatte. Das hätte doch sicherlich das Sicherheitsbedürfnis des verrückten Computers noch besser befriedigt?
Und wo war eigentlich seine eigene Waffe?
Das allerdings fiel ihm jetzt erst ein: Liberanto hatte doch eine Waffe bei sich getragen. Wieso war diese nicht detoniert, als Hagen auf ihn schoss?
Er schaute auf den Exterroristen, der jetzt vor ihm ging, und blieb noch ein Stückchen weiter zurück.
Liberanto war seit dem Beschuss splitternackt, bewegte sich aber, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Es war grotesk anzusehen, im Vergleich zu den anderen, die außer Lisa in unförmige Sicherheitsanzüge gehüllt waren. Eine Waffe konnte Heiko jedenfalls an ihm nicht mehr entdecken.
Zwar kannte er sich mit der Wirkungsweise eines kyphorischen Blasters nicht aus, aber es wunderte ihn nach wie vor, wieso bei dem Beschuss die Waffe von Liberanto nicht detoniert war. Es konnte eigentlich nur eines bedeuten: Er hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr besessen!
Plötzlich blieb Liberanto stehen und wandte sich ihm grinsend zu. Auch Heiko verhielt im Schritt. Alle anderen, die hinter ihm gingen, folgten seinem Beispiel.
Liberanto sagte: »Es ist nicht mehr weit. Und falls ihr euch immer noch wundert, wieso ich den Beschuss von Hagen überlebt habe: Ich bin schon länger tot, schon seit Jahren. Ich kann nicht mehr sterben.« Er ließ erst seine Worte wirken, ehe er fortfuhr: »Außerdem hat mir das Relikt geholfen. Der verrückte Computer, so nannte ich ihn immer, aber er ist in Wirklichkeit … das Relikt.«
»Aber heißt es nicht die Relikte aus grauer Vorzeit? Gibt es nicht mehr als nur ein Relikt?« Heiko hatte die Frage gestellt. Er legte leicht den Kopf schief und musterte den Nackten. Das Grinsen in dessen Gesicht wirkte auf ihn überheblich, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Durchaus, aber nur dieses eine Relikt ist gewissermaßen von fundamentaler Bedeutung. Ihr hört ja das Rumoren unter uns. Sagen wir mal: Das sind die anderen Relikte!«
Noch während er sprach, begann die Verwandlung: Der Sicherheitsanzug, den er vorher getragen hatte – zumindest etwas, das genauso aussah – bildete sich allmählich neu. Es dauerte nur Sekunden, dann sah er exakt so aus wie vor dem Beschuss. Er griff in eine der Außentaschen und zog den Strahler hervor, den Heiko an ihm vermisst hatte.
»He, du machst mir ja sozusagen Konkurrenz!«, ächzte Karl Berens. Anscheinend wollte er mit diesen Worten nur das Beobachtete verarbeiten.
»Es ist alles mehr oder weniger Illusion!«, erläuterte Liberanto, und das Grinsen erstarb. Er wurde ungewöhnlich ernst. »Ich wurde niemals getroffen von den tödlichen Strahlen. Aber selbst wenn ich getroffen worden wäre, hätte ich es überlebt – so, wie ihr es gesehen habt.«
»Dann ist vielleicht sogar das ganze Bunkersystem so etwas wie eine Illusion?«, stieß Heiko hervor.
»Beinahe!«, wich Liberanto aus und wandte sich einfach ab, während er den Strahler wieder wegsteckte. »Ihr solltet das Relikt niemals unterschätzen. Aber ich kann euch leider auch nicht mehr darüber sagen, weil ich selber nicht viel mehr weiß. Nicht umsonst bin ich gemeinsam mit euch hierher gekommen und nicht etwa allein. Ich hätte ja nur um Kapstadt einen Bogen machen und euch vermeiden müssen.«
Er blieb abermals stehen und wandte sich Heiko zu.
»Das weißt du, Heiko: Ich hätte schon einen Weg gefunden, hierher zu gelangen, trotz der Besatzer. Aber ich entschied mich für die Zusammenarbeit, trotz meines berechtigten Misstrauens gegenüber Hagen und vor allem natürlich gegenüber der Clouzot, dessen Auftraggeberin. Sie hat mich schon einmal hereingelegt, was mir Jahre in den Kerkern von Luna einbrachte.«
Er wandte sich diesmal endgültig ab und schritt davon.
»Dieses verdammte Ding spielt nur mit uns!«, knurrte jetzt Nestor Hagen.
Alle schauten ihn an, außer Liberanto, der ungerührt weiterging. Aber Nestor Hagen machte jetzt einen ganz normalen Eindruck, als wäre nichts geschehen. Er war anscheinend ganz einfach nur genauso irritiert wie alle anderen.
Heiko wandte sich von ihm ab und beeilte sich, zu dem Exterroristen aufzuschließen. »Wir sind also längst in der Gewalt der Anlage?«
»Ja!«, grollte Hagen hinter ihm – so dicht, dass Heiko sich wunderte: Er hatte gar nicht mitbekommen, dass er ihm so rasch gefolgt war. »Wir sind alle Narren gewesen, mit diesem Typen hierher zu kommen.«
Die restliche Gruppe setzte sich in Bewegung und schloss sich ihnen an. Heiko Chan schaute über die Schulter zurück nach Hagen: Der große Mann wirkte ernst und verschlossen.
Heiko öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ es aber dann doch sein und richtete sein Augenmerk nach vorn.
Er hatte das Gefühl, dass Liberanto zumindest in einem nicht gelogen hatte: Sie brauchten nicht mehr weit zu gehen.
Vergangenheit
Es dauerte lange, bis er die Verzweiflung überwunden hatte und sich mit den Gegebenheiten abfand.
Er war hier und offensichtlich in Gefangenschaft. Kahle, leuchtende Wände umgaben ihn. Nirgendwo auch nur der geringste Hinweis darauf, dass es jemals wieder ein Entrinnen geben könnte.
Er richtete sich auf und bewegte sich mit taumelndem Schritt durch den Raum. Seine Hände klatschten gegen die glatte Wand. Er lehnte sich dagegen, als wolle er sie einfach mit seinen Körperkräften wegdrücken.
Arndt Soklund ließ den Kopf hängen, drehte sich halb herum und lehnte sich leicht mit dem Rücken gegen die Wand.
Wie oft schon hatte er sich in dieser Leere umgeblickt? Kein Geräusch drang an seine Ohren. Er war abgeschnitten von der Welt.
Kein Geräusch?
Da war ein leises Scharren. Es kam von links und ließ ihn herumfahren.
Seine Augen weiteten sich.
Arndt Soklund wusste längst nicht mehr, von welcher Seite er gekommen war. Dort, wo sich jetzt ein Eingang öffnete?
Sein Atem beschleunigte sich. Blitzschnell sprang er vor. Es war eine Chance, eine winzige Chance. Er musste sie nutzen. Er musste aus diesem Raum hinaus, musste der Leere und Enge entfliehen, um zurückzukehren zu Yggdrasil…
Er stand in der Öffnung und wusste, dass er sich geirrt hatte. Der Optimismus hatte ihn kopflos gemacht. Nein, von hier war er nicht gekommen! Ein strahlender Gang lag vor ihm. Das Licht brach aus Wänden, Decke und Boden, wie in dem Raum, den zu verlassen er im Begriff war. Doch das Licht war greller und tat in den Augen weh.
»Will-kom-men!«, sagte eine blechern klingende Stimme. Sie hallte in dem Lichtergang wider.
»Will-kom-men!«
Gespenstisch – und dennoch lachte Arndt Soklund.
Er hatte zwar noch nicht mit dem Leben abgeschlossen, bezweifelte jedoch, dass er dieser Umgebung jemals wieder entrinnen konnte. Jemand oder etwas hatte ihn hergelockt. Da war er nun. Sollten sie mit ihm machen, was sie wollten. Sie hatten ihn in ihrer Gewalt.
Ja, er lachte lauthals und betrat den kerzengeraden Gang. Seine Schritte hallten von den Wänden wider. Dafür war er in dem senkrecht abgehenden Schacht abgestürzt und mitsamt dem Fahrstuhl zerschellt. Um wiedergeboren zu werden – und das letztlich nur, um in dieses Labyrinth zu stolpern?
Das erschien ihm einfach nur lächerlich. Er warf deshalb den Kopf in den Nacken und lachte in diese blendende Helligkeit hinein.
»Will-kom-men!«
Arndt Soklund lachte, bis er heiser war.
Abrupt blieb er stehen. Vor ihm war eine Wand. Hier endete der Gang.
Arndt Soklund starrte die Wand an. Wenn die es wollten, gab es einen Durchgang. Wenn nicht, war es ohnedies hoffnungslos.
Die Stimme meldete sich wieder. Diesmal sprach sie im rasenden Stakkato und piepsig, wie von einem Tonband, das jemand zu schnell abspulte. Arndt Soklund verstand nichts.
Die Geschwindigkeit verlangsamte sich. Die Laute dehnten sich, bis die Stimme normal klang, jedoch unverständlich blieb. Dann sank die Tonlage weiter ab bis zu einem Brummen. Ein kurzes Zwitschern, ein Jaulen, Abriss. Nichts mehr. Stille.
Arndt Soklund beugte den Rücken und ballte die Fäuste.
Als wäre dies als Drohung angesehen worden, teilte sich die Wand, die das Gangende bildete, zu einer mannshohen Öffnung.
»Na also, geht doch!«, brummte Arndt Soklund und tat unbeeindruckt. Er schritt durch die Öffnung, betrat den Raum dahinter und sah sich um. Er wunderte sich auch nicht, dass der Eingang sofort wieder verschwand. Dieses Gefängnis hier war nicht schlechter als das erste. Wozu sollte er sich also aufregen?
»Mehr reden!«, forderte die Stimme verzerrt.
»Mehr reden?«, echote Arndt Soklund erstaunt.
»Ja, mehr reden!« Es jaulte wieder, dass Arndt Soklund eine Gänsehaut bekam. Es war, als spiele jemand mit einer Technik, von der er nichts verstand. Wer?
»Mehr reden!«
»Ist ja schon gut!«, brauste Arndt Soklund auf. »Was soll ich denn sagen? Meinen Namen, meine Herkunft? Ich heiße Arndt Soklund, Sohn von Kareen und Berint Soklund, den Gründern von Bionic Inc. Sie hatten den Traum von Yggdrasil, wie ich vermute. Deshalb haben sie die Konzernzentrale hierher, in die Antarktis, verlegt. Ich war immer gegen meine Eltern, von frühen Kindesbeinen an. Ich weiß nicht, wieso. Ich habe sie abgelehnt. Nun, eigentlich habe ich jeden Menschen abgelehnt. Es gab niemals eine Beziehung. Ich hatte nie Freunde, aber man ließ mich im Großen und Ganzen in Ruhe. Niemand hatte Lust, mich zu mobben. Niemand wollte sich jemals mit mir anlegen. Ich war ein guter Schüler und habe immer beste Zeugnisse erzielt. Ich ging nach dem Internat in der Schweiz nach Paris, um dort Bionik zu studieren. Die Universität wird vom Konzern gesponsert. Aber das war nicht der Grund, wieso ich dort studierte. Paris bietet neben der Konzernzentrale die besten Möglichkeiten, zu lernen und zu experimentieren. Bionik war schon immer meine Leidenschaft. Sonst hätte ich etwas anderes getan. Ich wollte ja nie etwas mit dem Konzern meiner Eltern zu tun haben. Deshalb hat sich eigentlich alles in mir gegen dieses Studium gesträubt. Meine wissenschaftliche Neugierde blieb jedoch größer als meine Abneigung gegen alles, was mit meinen Eltern zusammenhing. Und seit Paris habe ich ebenfalls diesen Traum von Yggdrasil. Ich habe ihn bis heute nicht begriffen. Außer eben, dass ich diesen Baum aus den Sagen und Mythen suchen sollte. Und jetzt glaube ich, ihn endlich gefunden zu haben. Jahre nach dem Tod meiner Eltern. Ich habe ihr Erbe notgedrungen übernommen und begriffen, wie unrecht ich ihnen ein Leben lang tat. Jetzt ist es zu spät, sie um Verzeihung zu bitten. Ich übernahm den Konzern und baute um die Zentrale herum eine ganze Stadt, die ich Atlantis City nannte. Sie befindet sich über uns, weit über uns, oberhalb des kilometerdicken Eispanzers der Antarktis. Ja, ich dachte, ich hätte hier unten Yggdrasil gefunden, doch dann hast du mir dieses – dieses Robotauge geschickt und mich hierher gelockt. In deine Falle.«
Er schöpfte tief Atem.
»Du sprichst von Yggdrasil? Was meinst du damit?«
»Wie bitte? Das fragst du mich? Also gut, in der Wiederholung: Ich fand Yggdrasil – und fand dich. Wer oder was bist du? Wie stehst du zur Weltesche? Kann es sein, dass sie mich zu sich rief, damit ich sie von dir befreie?«
»Yggdrasil? Was ist Weltesche?«
»Sag mal, du kennst Yggdrasil nicht?«
»Unzulängliche Information. Weltesche? Menschliche Begriffe. Denke deutlicher an Yggdrasil, gib mir ein Bild!«
Automatisch dachte Arndt Soklund an die Insel Irminsul, wie er sie vorgefunden hatte, und die knorrigen Wucherungen.
Die Reaktion darauf: Ein Geräusch, das man am ehesten mit einem Schrei vergleichen konnte. Doch er klang nicht menschlich.
Arndt Soklund runzelte die Stirn. Aha, daher wehte der Wind. Der Fremde hatte seine Gedanken belauscht – die ganze Zeit. Deshalb hatte er sich als Gefangener so lange in diesem kahlen Raum aufgehalten, während nichts geschah.
Es war eben doch etwas geschehen: Der Jemand hatte heimlich versucht, seine Gedanken zu begreifen. Früher hätte das Arndt Soklund zutiefst erschreckt. Heute, nach allem, was er inzwischen erlebt hatte, erschien es ihm fast als normal. Auch Yggdrasil hatte schließlich telepathisch nach ihm gerufen. Er war diesem Ruf gehorsam gefolgt.
»Gehorsam?«, fragte die Stimme. Sie klang anders als vorher.
Ich muss reden? Warum, wenn er doch meine Gedanken lesen kann?
»Natürlich kann ich deine Gedanken lesen, aber sie sind anders als die Sprache. Ich – habe meine Schwierigkeiten, musst du wissen. Ich bin erst erwacht und weiß nichts. Meine Erinnerungen sind verschüttet. Defekte Speicherkapazitäten, würdest du wohl sagen. Oh, es fällt mir schwer, wie ein Mensch zu sprechen. Deine Gedanken – sie sind so fremd. Erschreckend, faszinierend, widerlich und großartig zugleich. Was für ein seltsames Wesen – der Mensch. Ich…«
Die Stimme brach ab.
»Wer oder was bist du?«, fragte Arndt Soklund hartnäckig.
»Ein Computer? Nun, es stimmt nicht ganz. Vielleicht würdest du mich so nennen, könntest du mich begreifen. Deshalb … Ich will diese Bezeichnung beibehalten. Sie kommt der Wahrheit am nächsten.«
»Und da behauptest du, Schwierigkeiten mit dem menschlichen Denken und mit der menschlichen Sprache zu haben!«
»Ich lerne rasch.«
»Das kann man wohl sagen. Aber warum hast du so seltsam bei der Vorstellung von Yggdrasil reagiert?«
»Ich kenne sie unter einem anderen Namen, unter einem … nichtmenschlichen. Welche Zeit haben wir eigentlich?«
»Das Jahr 2053 nach Christus.«
»Nach wem?«
»Was weißt du denn überhaupt? Vielleicht sollten wir da anfangen?«
»Es ist das Chaos, das sich nicht ordnen lässt. Es muss etwas Entsetzliches passiert sein. Ich müsste alles analysieren, vergleichen, auswerten, um aus dem Chaos meiner Speicher wenigstens ein bisschen Ordnung herauszukristallisieren. Spreche ich zu abstrakt über diese Dinge? Kannst du mich verstehen?«
Arndt Soklund schaute sich um. Dieser Raum war größer als der erste, aber er erschien jetzt nicht mehr völlig leer. Es war, als habe etwas einen Schleier von den Wänden gezogen. Es gab sogar Sitzgelegenheiten. Technische Einrichtungen im menschlichen Sinn fehlten gänzlich, nach wie vor. Sechs Türen führten aus dem Raum. Ja, es waren Türen: Hohe, abschattierte Rechtecke, nun deutlich erkennbar. Auch der Eingang, durch den Arndt Soklund gekommen war, wurde auf diese Art kenntlich gemacht.
Es war ein Kuppelraum mit glockenförmiger Decke, und Arndt Soklund konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass es vorher keinen Schleier gegeben hatte, der alles verbarg, was er jetzt sehen konnte, sondern als wären die Einzelheiten erst während seines Gesprächs mit dem Computer-Wesen entstanden.
Der Durchmesser betrug zwölf bis dreizehn Meter. Die Kuppeldecke bestand aus unregelmäßig geformten, glitzernden Waben, von denen die kleinste wenig größer als ein Stecknadelkopf und die größte einen Durchmesser von einem Viertelmeter maß.
Die Waben begannen zu glühen.
»Ich warte noch auf Antwort!«, erinnerte der Computer seinen Gast.
»Ich verstehe schon, was du meinst. Du wurdest beschädigt? Wann und durch was?«
»Schmerzlich, es zu sagen, Arndt Soklund, aber ich kann mich wahrhaftig nicht an Einzelheiten erinnern. Ich versuche es noch immer, während ich mich mit dir unterhalte. Du musst wissen, dass ich erst vor relativ kurzer Zeit begonnen habe, zu erwachen. Dabei weiß ich nicht einmal, wie lange der Prozess des Erwachens dauerte. Ich habe die letzten Stunden jedenfalls dazu benutzt, einigermaßen akzeptabel denken zu lernen. Dazu war es erforderlich, die Reparatureinheiten zu aktivieren!«
»Reparatureinheiten?«, fragte Arndt Soklund und betrachtete das glühende Mosaik. Was hatte der Computer vor?
Er fügte hinzu: »So etwas wie mobile Roboter?«
Der Computer lachte. »Natürlich nicht, Arndt Soklund. Ich sehe schon, dass der Begriff Computer dich zu sehr verwirrt. Ich bin eine Denkeinheit, künstlich erzeugt, ja, aber voll wirksam. Da gibt es keine tickenden Relais und…«
»Bei uns auch nicht mehr!« Es klang leicht empört.
»Ist ja schon gut, Arndt. Ich wollte keineswegs an den Fähigkeiten eurer Techniker zweifeln, aber um einmal so weit zu sein, so etwas wie mich zu bauen, da werden wohl noch ein paar Jahrtausende oder mehr vergehen – falls es bis dahin überhaupt noch Menschen gibt!«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Nun, ich kenne inzwischen einen Großteil deiner Erinnerungen. Alles kann ich nicht kennen, weil ich nicht alles begreife. Na, das wird schon noch kommen. Es ist ziemlich schwer, vom Denken der Behüter der kosmischen Ordnung auf euer Denken umzuschalten.«
»Behüter der kosmischen Ordnung?«
»Ja, ein Begriff, den ich gerade isolieren konnte. Ging vorher in dem ganzen Durcheinander völlig unter. Du musst dir vorstellen: Das ist wie eine Bibliothek mit lauter Büchern, in denen das ganze Wissen gespeichert ist – unvorstellbar viel Wissen. Es ist ja auch eine gewaltig große Bibliothek. Tja, es kommt zur Sintflut, und unsere bildschöne Bibliothek geht unter. Was soll ich sagen? Das Wasser weicht alles auf, obwohl man gutes Papier verwendet hat. Die Schrift bleibt. Mechanische Kräfte tun ein Übriges. Das Gebäude stürzt unter der Gewalt der Fluten zusammen und beschädigt die Bücher arg. Die ganze Suppe brodelt und schäumt. Alles wird davongeschwemmt. Die Bücher werden mehr und mehr zerrupft. Am Ende ist vieles verloren gegangen, während der Rest in einem Strudel kreist – um und um, unaufhörlich, drunter und drüber. Siehst du? Und ich hocke am Rand des Strudels und versuche, hie und da ein Blatt zu erhaschen. Mehr noch: Ich versuche, es in Bezug zu den Blättern zu bringen, die ich schon gefischt habe. Die Seitenzahlen geben mir Schützenhilfe. Doch was nutzt das letztlich, wenn die Schrift in jedem Buch gleich war? Ist die Seite hundert jetzt dem Buch tausend zugehörig? Dann passt vielleicht die Seite neunundneunzig? Oder gehört sie nicht eher ins Buch dreihunderttausendundvier?«
»Enorm!«, kommentierte Arndt Soklund beeindruckt. »Noch überzeugender geht es nicht mehr. Du hast inzwischen nicht nur die Denkweise des Menschen begriffen, sondern beginnst, wie ein Mensch zu reden und zu…«
»Genug der Ehre!« Es klang tatsächlich verlegen. »Wir wollen uns doch nicht in Lobhudeleien ergehen, nicht wahr? Aber du kannst Platz nehmen, Arndt.«
Die Wand wurde von unterschiedlich hoch angeordneten Nischen unterbrochen, die er gleich als Sitzgelegenheiten identifiziert hatte. Sie befanden sich zwischen den Türen und waren verschieden groß. Sollte er sich dort hineinsetzen?
»Genau, Arndt. Du wirst einen passenden Sitzplatz finden.«
»Sind die Nischen deshalb so unterschiedlich?«
»Ja, Arndt. Die Behüter der kosmischen Ordnung waren eine menschenähnliche Rasse – zumindest, was ihre Erscheinung betraf. Oder ihr seid eine den Behütern der kosmischen Ordnung im Körperbau ähnliche Rasse. Ansonsten unterschieden sie sich recht deutlich von den Menschen.«
»Danke für das Kompliment!«, sagte Arndt Soklund bissig.
»Es war gar kein Kompliment, mein Freund. Das hast du schon richtig begriffen. Aber ich möchte jetzt nicht schon wieder auf euch Menschen herumhacken. Ich sehe schon, dass ich auf euch angewiesen bin.«
»Zunächst einmal auf mich!«, gab Arndt Soklund zu bedenken.
»Siehst du, jetzt bin ich überrascht. Es wäre dir doch peinlich, wenn ich dich fortwährend loben würde? Das kann ich verstehen. Mir würde es ebenso ergehen.«
»Deine Anpassung an die menschliche Denkweise wird mir allmählich unheimlich. Jedes weitere Kompliment bleibt mir glatt im Hals stecken.«
»Mein lieber Arndt Soklund, nichts sollte dir hier unheimlich vorkommen. Es gehört zu meiner Hauptaufgabe, mich anzupassen. Verstehst du? Ich handele im Auftrag der Behüter der kosmischen Ordnung, und die Behüter der kosmischen Ordnung haben mir ihren Willen aufgepfropft. Dieser Wille bestimmt mich, wenn ich denke. Ich werde mich nie dem widersetzen. Nicht, weil der Zwang für mich zu groß ist. Die Behüter der kosmischen Ordnung haben mich so denken lassen, wie sie selber es taten. Ist ja auch logisch. Daraus resultiert, dass ich ganz automatisch in ihrem Sinn handele und alles für richtig befinde, was sie für richtig befinden. Ich weiß nicht, was aus ihnen wurde, weil ich nichts über den vergangenen Zeitraum weiß. Es spielt keine Rolle. Ich handele, als wären sie hier. Du bist ein irdisches, denkendes, intelligentes Wesen, das es fertigbrachte, mein Interesse zu wecken und…«
»Schön, dass du dich gern reden hörst, Computer, aber ich möchte jetzt endlich wissen, was das alles soll. Wieso hast du mich mit diesem komischen Auge geholt? Das warst du doch?«
»Ich habe dich gebeten, dich hinzusetzen, weil ich eine kleine optische Vorführung vorbereitet habe. Nicht, dass es dir wieder unheimlich wird, Arndt Soklund, aber ich habe sehr viele neue Blätter aus dem Strudel des Chaos gefischt während unseres erbaulichen Gespräches und sie sogar richtig eingeordnet – ja, noch während ich mich mit dir unterhielt – und bin nunmehr so weit, dir ein paar Erklärungen abzugeben. Unheimlich braucht es dir deswegen nicht zu werden, weil ich einfach schneller denke als du. Es liegt an der Kapazität. Du musst dir vorstellen, dass ich nicht auf ein so relativ kleines Gehirn wie deines angewiesen bin. Du befindest dich inmitten meines Denkapparates und machst dich vergleichsweise winzig darin aus. Es wäre doch beschämend, wenn ich damit nicht schneller denken könnte, wie?«
»Die glühenden Waben?«, erkundigte Arndt Soklund sich ungläubig.
»Natürlich nicht, Arndt. Die ganze Materie, die dich umgibt, auch der Gang, für dessen zu hohe Helligkeit ich mich noch entschuldigen muss. Auch der Raum gehört dazu. Aber jetzt erst mal zu den Erklärungen. Es ist wichtig, dass du es weißt. Inzwischen hoffe ich, dass ich meine Arbeit am Strudel beenden kann.«
»So schnell?«
Der Computer gab keine Antwort. Stattdessen brach gleißendes Licht aus den glühenden Waben. Die Lichtbahnen zuckten wie Laserblitze von der Kuppel herunter, brachen sich am Boden und formten Lichtgebilde, die wie Nebelschwaden wirkten und ständig ihre Formen veränderten.
Arndt Soklund duckte sich unwillkürlich.
»Bei allen Konzernherren!«, schimpfte der Computer. »Da klappt aber auch gar nichts. Das ist zum Aus-der-Haut-Fahren!«
Die Lichtnebel wallten stärker. Strudel bildeten sich, hoben sich gegenseitig auf oder verstärkten sich. Und dann schälte sich aus der flimmernden Hölle ein Bild: Arndt Soklund!
»Eine Rekonstruktion«, erläuterte der Computer. Es klang entschuldigend. »Die Qualität ist entsprechend. Ich bekomme das verdammte Ding einfach nicht richtig in den Griff. Es fehlen noch ein paar Blätter, verstehst du? Hätte ich sie, würde es wie am Schnürchen klappen. Diese Blätter sind gewissermaßen Bruchstücke eines Bauplans, um diesen Projektor ganz intakt zu kriegen. Ich bin zwar nicht dumm, aber auch nicht schöpferisch genug, sämtliche Blätter zu ersetzen – mit purer Fantasie. Du verstehst? Den Großteil schaffe ich, wie du siehst. Na, Schwamm drüber!«
Arndt Soklund wusste nicht, ob er lachen oder fluchen sollte. Er blieb sitzen und betrachtete sich selbst in einem Gleiter, der nur entfernt einem Gleiter ähnelte.
»Tut mir leid, Arndt, das habe ich aus deiner Erinnerung. Es wird schon besser, siehst du?«
Er sah. Arndt Soklund flog mit seinem Gleiter über das Tal Ödrödir. Das Heilige Tal mit Yggdrasil. Licht brach von Irminsul herauf und fasste als mächtiger Strahl nach dem Gleiter. Arndt Soklund war wie besessen. Er schien den Verstand zu verlieren und achtete überhaupt nicht mehr auf die Kontrollen. Das Licht erfüllte seinen Körper, sein Denken, verwirrte ihn, störte ihn, war zu fremdartig, um von ihm verstanden zu werden. Denn das Licht war nichts anderes als PSI – von dem Computer sichtbar gemacht.
Und Arndt Soklund flog blind in Richtung Boden, zerschellte jedoch nicht, weil der Gleiter automatisch die Steuerung übernahm und weiterflog, sich dabei wieder von Yggdrasil entfernend.
Plötzlicher Szenenwechsel: Er sah sich selber in diesem Ding, das die Wissenschaftler seines Konzerns Fahrstuhl genannt hatten, auf dem Weg nach unten, durch den Schacht, den sie in das ewige Eis gebohrt hatten. Eine Detonation über dem Fahrstuhl; die Seile rissen, der Fahrstuhl sauste abwärts, wurde immer schneller. Die verdrängte Luft orgelte durch die Führungsschienen am Fahrstuhl nach oben und konnte diese dadurch nicht genügend abbremsen. So erreichte er die zugefrorene Sohle des Schachts, durchstieß das Eis, zerschellte. Arndt Soklund wurde im Innern zerquetscht. Ein grausiger Anblick – und dann lag er unterhalb des Eises auf dem Morast. Eigentlich hätte es hier den Bionic-See geben müssen. Der war genauestens vermessen worden. Doch wieso bot sich nun ein völlig anderes Bild?
Seltsames Licht umspielte diesen Körper, der anscheinend dadurch gesundete.
Das Licht erzeugte neues Leben.
»Als du von mir entdeckt wurdest, geschah dies. Ich nahm Bilder auf, die ich erst später zu verarbeiten wusste.« Die Stimme des Computers. »Durch dich erfuhr ich von Yggdrasil. Da warst du bereits hier. Ich war wie ein erwachendes Neugeborenes, das erst einmal lernen muss, wahrzunehmen und – zu denken. Am Anfang war es schwierig. Ja, die Schwierigkeiten waren schier unüberwindbar. Doch so unwissend ich auch war: Ich erkannte, dass du ein Freund bist. Du bist wie die Behüter der kosmischen Ordnung, wenigstens was dein Sinnen und Trachten betrifft. Yggdrasil rief dich, und du kamst – und hättest du auch dein Leben dafür lassen müssen. Wisse, die Behüter der kosmischen Ordnung waren die Behüter der Weltenbäume, und Yggdrasil ist solch ein Baum!«
»Und was bist du?«, fragte Arndt Soklund, während vor seinen Augen sein Körper endgültig lebendig wurde und erwachte.
Der Computer raffte die Zeit und zeigte das Robotauge, das er schickte, um den neuen Behüter der kosmischen Ordnung zu locken – den Behüter der kosmischen Ordnung, der ein Mensch war.
»Der Mensch als Behüter der kosmischen Ordnung der Weltenbäume?«, murmelte Arndt Soklund. Eine Antwort erhielt er nicht.
Liberanto blieb stehen. Nur eine Sekunde dauerte es. Die Wand, vor der er stand, öffnete sich. Ein Mechanismus, der das bewirkte, konnte von keinem der Menschen festgestellt werden.
»Hier war es!«, verkündete Liberanto stolz.
Ja, es klang stolz.
Die Menschen gingen näher und blickten in den kahlen Raum.
»Du hast uns doch die ganze Zeit nur so herumgeführt, nicht wahr?«, fragte Heiko geradeheraus. »Diese Wand ist doch nicht wirklich so weit vom Eingang zum Bunkersystem entfernt?«
»Nicht ganz!«, erwiderte Liberanto erstaunlich offen. »Der Computer brauchte Zeit, euch zu analysieren. Hatte ich es nicht schon angedeutet?«
»Na, hoffentlich ist es ihm zur Genüge gelungen!«, bemerkte Heiko bissig. Er ärgerte sich, ohne genau beschreiben zu können, warum.
»Ich bitte einzutreten!«, sagte Liberanto feierlich und winkte alle herbei.
Nestor Hagen tat es als Erster. Er wirkte anders als vorher. Aus ihm war ein schweigsamer, in sich gekehrter Mensch geworden, der sich von keinem ansprechen ließ und eine Art unsichtbaren Panzer um sich erzeugt hatte.
Damit ähnelte er Grit und Britt. Sie gebärdeten sich in der gleichen Weise. Alle standen unter dem Eindruck der seltsamen Umgebung. Nur reagierte jeder anders. Das war der eigentliche Grund des veränderten Verhaltens.
Heiko Chan spürte es am eigenen Leib, obwohl es bei ihm eher schwach ausgeprägt war. Er schaute auf Liberanto. Dieser hatte zweifelsohne hier das größte Anliegen von allen. Er war als Arnd Soklund der Erbe von Bionic Inc., und alles sprach dafür, dass er derjenige war, der als erster Mensch die Relikte aus grauer Vorzeit kontaktiert hatte, obwohl er aus ungewissen Gründen nicht verraten wollte, wie das damals, vor Jahren, abgelaufen war.
Fast schien es, als wäre er als Liberanto von den Relikten – oder von diesem einen Relikt, das er als verrückten Computer bezeichnet hatte? – regelrecht programmiert worden, ohne selbst zu begreifen, womit er es da zu tun hatte.
Allerdings sprach auch einiges dafür, nach Einschätzung von Heiko Chan, dass er als Einziger nicht wirklich von der Blockade durch das PSI-Feld betroffen war. Ganz im Gegenteil: Hatte er nicht sogar zugegeben, dass dieses Relikt ihn durch eine Täuschung vor den tödlichen Strahlen aus Hagens Blaster geschützt hatte – wie auch immer dies überhaupt möglich gewesen war?
Arndt Soklund musste die Relikte aus grauer Vorzeit persönlich kennengelernt haben. Das war nun unumstößliche Tatsache geworden. Für alle. Außer vielleicht für Lisa, die nichts von dem begriff, was um sie herum vorging und sich nach wie vor an Don Jaime festklammerte, als sei er die einzige Verbindung zwischen ihr und der Wirklichkeit.
»Mama!«, hörte Heiko Chan in diesem Augenblick die Kleine rufen.
Er wollte soeben durch die Öffnung treten, um den anderen zu folgen. Er war der Letzte der ganzen Gruppe. Don Jaime war mit Lisa vor ihm.
Heiko Chan trat neben Don Jaime und schaute nach Lisa. Sie wirkte glücklich. Sie strahlte über das ganze Gesicht und schaute in eine bestimmte Richtung. Aber niemand konnte dort etwas sehen, außer ihr.
Jetzt schaute sie zu Don Jaime empor. »Mama bedankt sich bei dir, weil du so gut auf mich aufgepasst hast. Du bist wie ein Papa zu mir, sagt sie.«
Don Jaime reagierte verlegen. Er wusste offensichtlich gar nicht, was er sagen sollte.
Die Kleine schaute nach Liberanto, der lächelnd dastand und ihren Blick einfing. »Du bist gar nicht so böse, wie du tust.«
»Nun, kleine Lisa, das sage einmal den anderen. Die halten mich für ganz schlimm böse sogar. Aber es freut mich, dass der verrückte Computer dir erlaubt hat, deine Mama zu sehen.«
»Ich spüre keinerlei Veränderung!«, beschwerte sich die superblonde Nadine Prehti.
»Wir auch nicht!«, meinten die Zwillinge Britt und Grit Londesdale wie meist im Duett. »Das bedeutet offensichtlich, dass dieses Relikt das PSI-Feld bewusst steuern kann.«
»Bewusst?«, echote Karl Berens skeptisch.
»Und ob!«, wies Liberanto ihn zurecht. Das Lächeln gefror in seinem Gesicht. »Hast du es noch immer nicht begriffen? Das Relikt hat ein eigenes Bewusstsein, einen eigenen Willen. Es erkennt niemanden an, außer mich, aber mich auch nur bedingt. Es sieht in mir anscheinend so etwas wie einen Vermittler.«
»Aber wieso dieser ganze bescheuerte Aufwand?«, regte sich Heiko Chan auf. »Ich meine, wieso hat dieses Ding so lange benötigt, um sich darüber klar zu werden, dass wir hierher kommen dürfen, was anscheinend sein Zentrum ist oder so etwas Ähnliches? Wenn du doch schon einmal hier warst, wenn es dir vielleicht sogar geholfen hat, Atlantis City so perfekt zu vereisen…«
»Es hat sich alles geändert, sogleich nach der Vereisung«, murmelte Liberanto. Es klang nachdenklich. »Nein, nicht direkt danach. Zeitlich durchaus versetzt. Als ich dann endlich draußen war, riss der Kontakt ab. Und jetzt ist der Kontakt nur noch bedingt möglich. Ich – ich konnte vor Jahren mit dem Relikt sprechen, so wie mit euch.«
»Und das kannst du jetzt nicht mehr?«, wunderte sich Heiko Chan ehrlich.
»Nein, aber ich glaube, das Relikt hat durch unsere Anwesenheit eine Art neuen Wissensschub bekommen.« Seine Haltung straffte sich. »Nun, wir werden sehen!«
»Da!«, rief Nestor Hagen alarmiert. Er streckte den Arm aus.
Alle folgten mit ihren Blicken der Richtung, in die er zeigte – nämlich dorthin, woher sie gekommen waren: Der Eingang war spurlos verschwunden!
Sie wähnten sich prompt in einer Falle und fühlten sich in der Beengung unbehaglich, außer Liberanto. Und vielleicht auch Lisa, die überglücklich zu sein schien, wieder ihre Mutter zurückzuhaben.
Heiko schaute in die Runde. Die Wände waren glatt und fugenlos. Lange dauerte der Zustand allerdings nicht mehr an. Ein Ausgang bildete sich, doch führte er lediglich in einen weiteren Raum.
»Es ist, als könnten sich die Räume willkürlich verändern«, sagte Liberanto. »Als würden sie sich den Besuchern anpassen. Oder wird nur ein seltsames und undurchschaubares Spiel mit ihnen getrieben?«
Solche Worte aus seinem Munde? Es klang nicht nur geheimnisvoll, sondern sogar unheimlich.
Und er fuhr fort: »Oh nein, es ist keineswegs ein Spiel, meine Freunde. Es ist mehr, viel mehr! Dies hier sind Räume, die einst mit Leben erfüllt waren. Seid froh, dass sie sich verändern können, sonst wären sie, was sie viel zu lange waren: Ruinen. Hier wohnten ungezählte denkende Wesen, ehe der Tod sie ereilte. Sie verschwanden, und nun werden ihre wiederentstandenen Räume von fremden Füßen betreten.«
Sein Gesichtsausdruck dabei war seltsam entrückt, als hätte nicht er gesprochen, sondern eine fremde Macht sich seines Mundes bedient.
Im zweiten Raum blieb Liberanto stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Er hatte nach wie vor diesen entrückten Ausdruck nicht nur in seinem Gesicht, sondern auch in den geweiteten Augen.
Heiko Chan spürte eine unangenehme Gänsehaut auf dem Rücken.
Liberanto schaute ihn an, ohne ihn zu sehen. Jetzt war Heiko ganz sicher, dass er zwar die Stimme von Liberanto gehört hatte, aber dass es die Worte eines anderen gewesen waren – eines Dinges, das Liberanto völlig in seinem Besitz hatte. Eines Dinges, das mächtig genug war, eine Stadt wie Atlantis City im Eis versinken zu lassen und sie gegen alle Zugriffe von außen zu schützen.
Eine Macht, die Liberanto so sehr beherrschte, dass er unangreifbar wurde, selbst wenn man mit einem kyphorischen Blaster auf ihn schoss.
Die Macht der Relikte aus grauer Vorzeit. Stand hinter ihnen ein verrückter Computer, sonst nichts?
Eins war jedenfalls sicher: Diese Anlage war nicht von Menschenhand erschaffen worden. Aus grauer Vorzeit? Wie alt waren diese Relikte überhaupt? Tausende von Jahren, Zehntausende, Hunderttausende?
Liberanto verschränkte die Arme vor der Brust und trat ein paar Schritte zurück. Sein Blick wurde wieder klar. Er lächelte unergründlich.
»Ich kenne Liberanto. Er ist mein Freund!«, sagte eine Stimme, und sie klang direkt in ihren Köpfen auf. »Er trägt mein Geschenk im Kopf.«
Die Versammelten blickten sich bleich an. Was hatte das zu bedeuten: Geschenk in seinem Kopf?
»Und du, Nestor Hagen, bist ein Mutant, der sich gegen seine eigentliche Bestimmung wehrt. Ich sehe eine enorme Gefahr, die noch in dir schlummert. Insofern ist es besser, wenn du dies unterdrückst. Niemand könnte es kontrollieren, auch du nicht. Und du dienst voller Ergebung einer Frau mit großen Plänen!«
Das sind Worte, die zu der Beschreibung Hagens passen: Der ist verrückt! Und der Clouzot irgendwie hörig. Wahrscheinlich weiß er selber nicht wieso. Weil sie seinem Leben einen Sinn gibt, nachdem sein Konzern nicht mehr existiert? Heiko Chan schüttelte den Kopf.
Sie lauschten weiter, doch der Computer – oder wie immer man das Relikt nennen sollte – meldete sich nicht mehr. Etwa zwei Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah.
Heiko trat neben Hagen und tätschelte mit einem schiefen Grinsen seine Schulter. »Nimm es nicht so tragisch, dass er gerade dich angesprochen hat.«
Nestor Hagen begriff, dass Heiko Chan ihn nur von weiteren Unüberlegtheiten abhalten wollte, und lächelte flüchtig.
Es war der Zeitpunkt, an dem sich die nächste Tür öffnete.
Wieder ein Raum.
Sie schritten hindurch – und sowie sie den Durchgang passiert hatten, öffnete sich auf einer anderen Seite ein weiterer. So durchquerten sie mehrere Räume und blieben dabei dicht beisammen. Am Ende schritten sie durch ein kurzes Gangstück, das scheinbar im Nichts endete. Es war ein grell erleuchtetes Nichts. Liberanto zögerte nicht hineinzutreten. Er hing kurz wie schwerlos in der Luft, dann schwebte er nach unten.
Heiko und die anderen erreichten das Ende des Ganges und begriffen, dass von hier aus ein Schwebeschacht hinabführte.
Liberanto schwebte tiefer und winkte ihnen aufmunternd zu. »Das kenne ich schon von meinem letzten Besuch: So eine Art Fahrstuhl, allerdings ohne Kabine. Es tut nicht weh und macht keinen Krach.«
»Na, dann wollen wir doch mal!«, knurrte Heiko und trat mutig ins Leere. Sofort fühlte er sich von einem sanften Kraftfeld gepackt, das ihn Liberanto folgen ließ.
Kaum waren alle im Schacht, ging es schneller. Der Computer beobachtete sie anscheinend ununterbrochen. Vielleicht hatte er seine Gründe, dass er sich nicht mehr meldete? Heiko Chan machte sich keine Gedanken mehr darüber. Als sie auf der Sohle des Schachts angelangt waren, schwitzte er. Er hatte einhundert Stockwerke gezählt. Jedes Stockwerk war mindestens drei Meter hoch.
Das waren mindestens dreihundert Meter!