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Wenn es Zufälle gab, dann war es vielleicht ein solcher, der dafür sorgte, daß Nancy Sedona an einem Januarmorgen in Boston von einem Wagen erfasst und schwer verletzt wurde. Dieser Unfall brachte sie und ihren Mann Hank in Verbindung mit einem zweiundsiebzig Jahre alten Ereignis, welches das Leben vieler Menschen verändert oder gar zerstört hatte und dies bis zum heutigen Tag tat: Dem sogenannten "Roswell-Zwischenfall", bei dem im Juli 1947 ein unbekanntes Flugobjekt in der Wüste New Mexicos abgestürzt war. Die US-Air Force hat mittlerweile vier verschiedene Erklärungen abgegeben, die alle wenig glaubwürdig klingen, zumal Zeugen von damals etwas ganz anderes berichtet haben. Der Unfall in Boston ließ Nancy und Hank Sedona zu einem Teil der Geschichten von Menschen werden, die seit 1947 nach der Wahrheit hinter den offiziellen Meldungen suchten.
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Seitenzahl: 380
Veröffentlichungsjahr: 2019
Jürgen Binder, geboren 1961 in Butzbach,
Wetteraukreis, lebt seit 1993 mit seiner
Frau in Frankfurt am Main.
Staub der Himmel ist sein zweiter Roman.
Der erste, Die vergessene Zeugin, ist ebenfalls im tredition - Verlag erschienen.
JÜRGEN BINDER
***
STAUB DERHIMMEL
Roman
© 2019 Jürgen Binder
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7497-7085-4
Hardcover:
978-3-7497-7086-1
e-Book:
978-3-7497-7087-8
Der vorliegende Roman stellt eine fiktive, aber auf realen Ereignissen basierende Geschichte dar.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Umschlagabbildung: Jürgen Binder,
o. T., Acryl auf Leinwand 2018
Für Utealways and forever
"Ich war bei meiner Geburt schon alt",
sagte der Junge zu dem Mädchen.
"Ich habe vergessen, woher ich kam undweiß nicht, wohin ich gehen werde.
Aber ich bin hier. Jetzt. Bei Dir.
Und wenn unsere Zeit geht, weil Anderesie noch brauchen, dann gehen wir mit, zueinem fernen Ort, wo wir uns wiedersehen.
Irgendwo.
Unter einem anderen Himmel."
Teil
1
New Mexico 2019
Hank Sedona kam aus Boston und hatte in dieser elenden Gegend hier eigentlich gar nichts verloren. Doch die Informationen des alten Mannes waren eindeutig gewesen und hatten ihn zu diesem Teil des Landes im Südwesten der USA geführt. Zum zweiten Mal.
Dies hier war der ehemalige "Wilde Westen" und in alle Himmelsrichtungen dehnte sich eine Mischung aus Wüste und Prärie bis zum Horizont aus. Links und rechts der Straße in weiter Ferne begrenzt von ihm unbekannten Gebirgszügen.
Die Einöde aus staubigem, gelb-rotem Boden war teilweise von verdorrtem Gras bedeckt, hier und da erhoben sich flache, rötliche Felsformationen aus der Ebene. Es war August und die ganze Szenerie wurde von einem ungewöhnlich hohen Himmel überspannt, an dem nur vereinzelte Schleierwolken schwebten und von dem eine unbarmherzige Sonne auf das Autodach brannte.
Sedona starrte über die lange Motorhaube des riesigen Oldtimers, den man ihm bei der Autovermietung verdächtig günstig überlassen hatte und fragte sich zum wiederholten Mal, ob der niedrige Preis nur dem Alter des Wagens geschuldet war oder vielleicht auch technischen Mängeln, die jederzeit dazu führen konnten, dass er hier, mitten in der Wüste, liegenblieb.
Sedona verdrängte den Gedanken. Vor ihm erstreckte sich die Interstate 25 als schnurgerades Band bis zum Horizont, wo sie im Hitzeflimmern mit der Steppe und dem Himmel verschmolz. Wenn er der Straße einfach weiter folgte, würde er irgendwann in El Paso an der mexikanischen Grenze landen, doch das war nicht sein Ziel.
Er war gestern am frühen Nachmittag in Albuquerque gelandet, hatte sich den billigsten Mietwagen genommen und sich auf den Weg gemacht. Nach etwas mehr als 100 Meilen hatte er Socorro erreicht, die Stadt passiert und sich wenig später, in einem Kaff, das nur aus Motels und Fastfoodläden zu bestehen schien, entschieden, eine Pause einzulegen und sich eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.
In der Einrichtung des Motels, in dem er sich eingebucht hatte, war er sich um Jahrzehnte zurückversetzt vorgekommen. Wie ein Nebendarsteller in einem dieser Horrorfilme aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Doch die Leute waren freundlich gewesen.
Ziemlich früh am Morgen war er wieder aufgebrochen und hatte seinen Weg auf der meist leeren Interstate fortgesetzt, nicht ohne vorher an der Rezeption noch einen Maxi-Thermobecher mit Kaffee zu erstehen, der jetzt auf dem Sitz zwischen seinen Beinen klemmte.
Sedona griff nach den Zigaretten auf der Sitzbank neben ihm und schüttelte eine der filterlosen Kippen aus der hellblauen Softpackung. Er war jetzt Mitte fünfzig. Wenn er heute mit dem Rauchen aufhören würde, dachte er, wäre vielleicht noch etwas zu retten. Doch irgendwie hatte er gar keine Lust, auf das Nikotin und den Qualm zu verzichten.
Er blies den Rauch aus dem Seitenfenster in die heiße Luft und nahm dann einen langen Schluck Kaffee. Die Hitze hatte den Vorteil, dass das Getränk hier garantiert nicht so schnell kalt wurde.
In dem antiken Autoradio, das erstaunlicherweise einen der lokalen Sender empfing, KUNM Radio aus Albuquerque, lief Miley Cyrus' Wrecking Ball und Sedona drehte die Musik lauter. Doch auch das konnte ihn nicht so richtig ablenken. Seine Aufregung stieg, je näher er seinem Ziel kam und seine ganzen Gedanken waren beherrscht von der Frage, was er vorfinden würde. Sedona griff wieder zu den Zigaretten und behielt jetzt den Meilenzähler genau im Auge.
Der alte Mann hatte präzise Entfernungsangaben gemacht. Angaben, die nötig waren, weil an der Stelle, an der er die Straße verlassen und seinen Weg direkt durch die Wüste fortsetzten musste, schon lange keine Abzweigung mehr existierte. Vor einundsiebzig Jahren hatte es sie gegeben, doch wenige Zeit später war sie verschwunden und, Gott sei Dank, in Vergessenheit geraten.
Sein linkes Bein begann zu schmerzen und Sedona fluchte, weil dies immer dann passierte, wenn er es verdammt nochmal am wenigsten gebrauchen konnte. Eine Autobombe in Afghanistan hatte damals sein Bein zerfetzt und seine militärische Karriere abrupt beendet. Es war ein kleines Wunder gewesen, dass man ihn wieder hatte zusammenflicken können und er nach langen Monaten der Reha fast wie zuvor laufen konnte. Aber die Schmerzen, die irgendwelche beschädigten Nerven immer wieder verursachten, trieben ihn manchmal an den Rand des Wahnsinns.
Sedona versuchte, die Schmerztabletten aus der Hosentasche zu kramen, ohne von der Straße abzukommen und ein kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Nach mehreren hundert Metern gelang es ihm, zwei der Pillen aus der Verpackung zu drücken und mit dem Rest des Kaffees hinunterzuspülen. Er hoffte, dass die Wirkung nicht allzu lange auf sich würde warten lassen.
Sein Blick fiel wieder auf den Meilenzähler. Die Stelle, an der er abbiegen musste, war nicht mehr weit entfernt. Er sah in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass hinter ihm kein anderes Fahrzeug in Sicht war und als der Zähler am Armaturenbrett genau die Entfernung von Socorro anzeigte, die ihm genannt worden war, schlug er links ein, rollte ein kurzes abschüssiges Stück Gelände hinunter und entfernte sich genau im rechten Winkel von der Interstate, obwohl hier nichts auch nur im Geringsten an einen Weg erinnerte. Er verließ sich auf die Worte des Mannes, der ihn hierher geschickt hatte.
Der alte Straßenkreuzer jagte über das Geröll des ausgetrockneten Wüstenbodens und zog eine Wolke gelben Staubes hinter sich her. Sedona hatte es jetzt eilig, an sein Ziel zu gelangen.
Er wusste, dass sich irgendwo hier ein militärisches Raketentestgelände befand und hoffte, dass er nicht aus Versehen mitten dort hineinfuhr. Bis jetzt jedenfalls hatte er keine Absperrungen oder Warnschilder gesehen. Und hoffentlich bemerkte niemand die riesige Staubfahne hinter ihm.
Mehrere Meilen fuhr er stur geradeaus, ohne irgendetwas anderes zu Gesicht zu bekommen, als trockenes, absolut leeres, flaches Land.
Dann, als er schon begann zu glauben, dass man ihn verarscht hatte, bemerkte er rechts am Horizont etwas, das nicht zur natürlichen Landschaft zu gehören schien. Er beschleunigte noch weiter und als er näher kam erkannte er, dass dies der Ort sein musste, der ihm beschrieben worden war.
Sedona brachte den Wagen schlitternd zum Stehen und wartete, bis der Staub sich verzogen hatte. Dann öffnete er die Fahrertür und stemmte sich mühsam aus dem Wagen. Seine Beine zitterten und er wusste nicht, ob wegen der Schmerzen oder vor Anspannung. Aber das war im Moment auch vollkommen egal.
Vor ihm erhoben sich die Reste einer alten hölzernen Scheune, die hier wie deplatziert mitten im Nirgendwo stand, ohne irgendwelche anderen Gebäude, zu denen sie hätte gehören können. Eine Seitenwand war nach innen gefallen und die Hälfte des Daches eingestürzt. Es sah nicht so aus, als wäre in den letzten Jahren, vielleicht Jahrzehnten, irgendjemand hier gewesen. Dieser Ort schien völlig vergessen zu sein. Möglicherweise wusste überhaupt niemand mehr von seiner Existenz.
Als er den Blick über die Umgebung der Scheune gleiten ließ, fielen ihm doch vereinzelte Anzeichen auf, Holzstücke und zugewehte Mauerreste, die an das Farmhaus erinnerten, das einst hier noch gestanden hatte. Abgebrannt, genau, wie der alte Mann geschrieben hatte.
Sedona fingerte eine Zigarette aus der Packung und inhalierte so tief, dass ihm kurz schwummrig wurde. "Verdammt", murmelte er heißer und bemerkte, dass sein Mund und seine Kehle knochentrocken waren.
Wind kam auf, ließ den Staub wirbeln und wehte einige Tumbleweeds, jene vertrockneten, kugelförmigen Steppenbüsche vor sich her. Das Geräusch dieser rollenden Sträucher war das einzige, was Sedona hörte und es kam ihm auf einmal unheimlich vor.
Das hier war also vielleicht der Endpunkt seiner jahrelangen Suche. Übelkeit überfiel ihn und er schnickte die Zigarette auf den Wüstenboden. Dann, nach einem langen Moment des Zögerns, zwang er sich zur Bewegung und ging unsicher auf das verottete Gebäude zu.
New Mexico, Juli 1947
Schon in den letzten zwei, drei Tagen hatten heftige Unwetter in der Gegend getobt und auch in dieser Nacht entlud sich ein schweres Gewitter im Gebiet um Corona. Mächtige Blitze zuckten über den Himmel, gefolgt von Donnerschlägen, die die wenigen Farmhäuser erzittern ließen.
Dies alles war nichts, was Charlie Wescott sonderlich beunruhigt hätte. Solche Wetterereignisse waren im Sommer nicht ungewöhnlich und so drehte er sich im Bett auf die andere Seite, um weiterzuschlafen.
Doch nach wenigen Minuten, gegen 23.30 Uhr, wie er sich später zu erinnern glaubte, riss ihn ein Geräusch aus dem Halbschlaf, das eindeutig nicht vom Gewitter verursacht war. Dies war eine Explosion gewesen.
Wescott sprang auf, eilte hinüber zum Fenster und starrte hinaus in die Dunkelheit. Die Blitze erhellten immer wieder für Sekunden die Landschaft, doch er konnte nichts sehen, was er mit dem Explosionsgeräusch von eben in Verbindung hätte bringen können.
Sein Blick wanderte hinüber zur nur wenige hundert Meter entfernten Farm seines Nachbarn William, den alle hier nur "Mac" nannten. Und als er dort die Lichter angehen sah, wußte er, dass Mac es auch gehört hatte. Die Explosion war keine Einbildung gewesen.
Einige Minuten lang sah Wescott noch hinaus in den Regen, dann entschied er, wieder ins Bett zu gehen. Vielleicht würde sich Morgen klären lassen, was da vorhin passiert war. Falls überhaupt etwas passiert war.
Seit seine Frau vor gut zwei Jahren an Krebs gestorben war, kümmerte sich Charlie Wescott nicht mehr um viel. Die meiste Zeit seiner Tage verbrachte er auf der Veranda sitzend, die Gegend und die Aktivitäten seiner wenigen Nachbarn beobachtend. Ab ungefähr vier Uhr Nachmittags trank er Bier, bis er, meist schon recht früh am Abend die nötige Bettschwere hatte, um schlafen zu gehen. Dieser Tagesablauf wurde höchstens unterbrochen, wenn er mit seinem alten Pickup ins nächste Nest fahren musste, um einzukaufen oder wenn jemand, meistens Mac von nebenan, vorbeikam und ein kleines Schwätzchen halten wollte.
Diese konsequente Untätigkeit hatte vor vielleicht einem Jahr seine beiden erwachsenen Söhne aus dem Haus getrieben. Seitdem hatte er von ihnen nichts mehr gehört. Nicht dass er großen Wert darauf gelegt hätte, etwas von ihnen zu hören. Sie wohnten, soweit er wusste, jetzt irgendwo an der Ostküste.
Sollten sie. Wescott war dreiundsechzig, seine letzten Haare fielen nach und nach aus und sein einziger Plan war, keine Pläne mehr zu machen und sich hier nicht wegzubewegen. Irgendwie war er Teil der Wüste geworden. Rötlich-gelb und weitgehend leer.
Der Gewittersturm dieser Nacht tobte noch eine ganze Weile weiter, bis er schließlich nachließ und nach Osten abzog. Gegen 03.30 Uhr schreckte Charlie Wescott aus dem Schlaf hoch und setzte sich im Bett auf. Vereinzelte Bilder wirrer Träume standen noch vor seinen Augen und es dauerte einen Moment, bis er wieder in der Realität ankam.
Er stand auf, tappte im Dunkeln in die Küche und ließ sich an dem verschrammten, wackeligen Tisch nieder, der vor dem Fenster stand. Eigentlich hatte er sich noch ein Bier holen wollen, hatte dies jetzt aber schon wieder vergessen, weil er sich an die Explosion erinnerte. Er glaubte, er hatte sogar davon geträumt. Irgendwie ließ ihm diese Sache keine Ruhe.
Minutenlang blieb Wescott sitzen und schaute immer wieder durchs Fenster hinaus in die Nacht. Das Gewitter schien vorbei zu sein. Er sah keine Blitze mehr, nicht einmal mehr Regen, glaubte er.
Und dann entschied er sich, nachzusehen. Er wollte wissen, was heute Nacht dort draußen passiert war.
Er zog Jeans und Gummistiefel an, warf seinen speckigen Regenmantel über und trat auf die Veranda.
Dort hob er die große Taschenlampe und knipste sie an. Ein Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit und warf einen ovalen, hellen Fleck wenige Meter vor seinen Füßen auf den regennassen Boden. Gut. Hoffentlich hielten die verdammten Batterien noch lang genug.
Wescott schaltete die Lampe wieder aus, er wollte jetzt nicht bemerkt werden, setzte sich in Bewegung und verschwand in der Dunkelheit. Richtung Süden. Er meinte, dass von dort das Explosionsgeräusch gekommen war. Und er würde den Pickup nehmen.
Mehrere hundert Meter weit fuhr Wescott so langsam wie möglich und ohne Licht. Dann erst, als er glaubte, nicht mehr aufzufallen, schaltete er die Scheinwerfer ein und erhöhte die Geschwindigkeit.
Sein Weg führte über das Weideland der Foster-Ranch, die sein Nachbar Mac gepachtet hatte. Mac hielt hier mehrere große Herden Schafe, doch Wescott bekam in dieser Nacht keines der Tiere zu Gesicht. Immer weiter entfernte er sich vom Farmhaus, lenkte den alten Wagen über einen Boden, der bedeckt war von Felsen, Gestrüpp und rauem Büffelgras und befürchtete langsam, dass er sich geirrt hatte bezüglich der Richtung, in der er suchen musste.
Doch dann sah er im Lichtkegel der Scheinwerfer etwas, was seine Vermutungen eindeutig bestätigte.
Er musste jetzt etwa sechs bis sieben Meilen südlich des Farmhauses sein. Wescott konnte das nur schätzen, weil die Instrumente des Pickups schon lange nicht mehr funktionierten. Und hier vor ihm, gleich hinter einem ausgetrockneten Flussbett und über einen Hügel hinweg, ersteckte sich ein Trümmerfeld von riesigen Ausmaßen. Soweit er das erkennen konnte, verteilten sich die Wrackteile, die er sah, auf einer Fläche weit größer als ein Footballfeld.
Charlie Wescott hielt den Atem an und brachte den Pickup abrupt zum Stehen. Irgendetwas war hier abgestürzt, verdammt nochmal.
Er schaltete die Scheinwerfer und den Motor aus und stieg langsam aus dem Wagen. Mit zitternden Fingern nahm er die Taschenlampe aus der Türablage und setzte sich vorsichtig zu Fuß Richtung Trümmerfeld in Bewegung. Was er sah, war absolut erstaunlich.
Alles war mit Wrackteilen übersät, manche mehrere Meter groß, andere so klein und leicht, dass sie im Wind flatterten. Einige von ihnen leuchteten silbrig im Schein der Taschenlampe, aber die meistem waren metallischmatt. Auf einzelnen Teilen meinte er sogar Schriftzeichen zu erkennen, die ihn irgendwie an Hieroglyphen erinnerten. Jedenfalls nichts, was er hätte lesen können.
Was zum Teufel war das hier? Es sah aus, als wäre das Ding, dessen Überreste er sah, in der Luft explodiert und hätte sich dann in Trümmern über das Weidefeld verteilt. Wescott meinte sogar, erkennen zu können, aus welcher Richtung es gekommen sein musste. Die Lage der Wrackteile deutete darauf hin, dass es von Nordost nach Südwest geflogen war.
Er war mittlerweile ein ganzes Stück in das Trümmerfeld hineingelaufen und blieb nun stehen, um nachzudenken. Er konnte sich auf das hier keinen Reim machen. Irgendein Fluggerät, ja. Aber nichts, was ihn an etwas Bekanntes erinnerte. Kurz dachte er daran, eines der Teile aufzuheben, um es genauer zu betrachten, doch er traute sich nicht. Wer weiß, was das für ein Zeug war. Vielleicht irgendeine geheime, militärische Schweinerei. Irgend-was Gefährliches, das verdammt schief gegangen war.
Wescott wurde mulmig und er beschloss, von hier zu verschwinden. Und dann, als er dazu ansetzte, sich umzudrehen, um zurück zum Auto zu laufen, fiel das Licht seiner Taschenlampe auf etwas, das ihm für den Rest seines Lebens nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte.
Charlie Wescott konnte später gar nicht mehr sagen, was ihn dazu veranlasst hatte, zu tun, was er getan hatte. Und ehrlich gesagt wollte er darüber auch gar nicht nachdenken. Jetzt war es sowieso zu spät.
Gegen 05.00 Uhr morgens kam er zurück zum Haus, parkte den Pickup an der hinteren Wand, dort, wo er am wenigsten auffiel und taumelte aus dem Wagen. Ihm war jetzt richtig schlecht, doch er musste die Ladefläche abdecken und zwar schnell. Er versuchte, die paar Meter zum Schuppen hinüber zu rennen, doch auf seinen weichen Beinen war das nicht möglich. Wescott hatte auf einmal Mühe nicht einzunässen. Mit letzter Kraft zerrte er die alte Plane aus dem Schuppen, schleppte sich wieder zurück zum Auto und schaffte es irgendwie, sie über die Ladefläche zu werfen. "Was für eine Scheiße", brabbelte er dabei ständig vor sich hin. "Was für eine elende Scheiße".
Wescott wankte über die Veranda und in seine Küche, wo er den Kühlschrank aufriss und sich zwei Dosen Bier griff. Dann ließ er sich auf den Stuhl am Küchentisch fallen und hatte, jedenfalls im Moment, nicht vor, von dort jemals wieder aufzustehen.
Die erste Dose leerte er auf Ex und versuchte, sich etwas zu entspannen. Um diese Zeit Bier zu trinken passte ganz und gar nicht in seinen festen Tagesablauf der letzten zwei Jahre.
Charlie Wescott wusste es noch nicht, doch ab heute sollte er jeden Morgen Bier brauchen.
Um 07.30 Uhr sah er seinen Nachbarn Mac in Begleitung eines Kindes in Richtung der Schafweiden davonreiten. Es war schon lange hell und von dem Tisch am Fenster aus hatte er eine gute Sicht auf die Umgebung. Deshalb erkannte er schnell, dass es "Dee", der Sohn einer weiteren benachbarten Rancherfamilie war, der neben Mac her ritt.
Gegen Mittag kamen die Beiden zurück und fuhren dann mit Macs Laster davon. Wahrscheinlich brachte Mac den Jungen nach Hause.
Später am Nachmittag, Wescott war nur zwei- oder dreimal aufgestanden, um Bier zu holen, beobachtete er, wie der Laster auf das Gelände der Nachbarfarm rumpelte, hinten beladen mit irgendwelchen größeren Teilen, die Wescott zunächst nicht zuordnen konnte. Doch als Mac begann, seine Ladung in den Schuppen zu schaffen, war deutlich zu sehen, worum es sich handelte. Dies waren Wrackteile. Genau solche, wie er sie letzte Nacht gesehen hatte. Und sie schienen nicht besonders schwer zu sein, denn Mac konnte auch das größte davon, mindestens drei Meter lang, alleine vom Wagen heben.
Sein Nachbar hatte also das Trümmerfeld gefunden und Wescott überlegte, ob er hinübergehen und irgendetwas sagen sollte. Doch er entschied sich dagegen, blieb sitzen und machte sich dann, bei Einbruch der Dämmerung auf den Weg ins Bett. "So eine Scheiße", war das Letzte was er murmelte, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel.
Die nächsten Tage verbrachte Charlie Wescott in einer Art Dämmerzustand, verursacht zum Teil von seinem neuerdings stark angestiegenen Bierverbrauch, vor allem aber vom erfolglosen Versuch, nicht mehr über das…dieses "Ding" auf der Ladefläche seines Pickup nachzudenken.
Hätte er Zeitung gelesen oder wenigstens ab und zu das Radio eingeschaltet, wären ihm die sich überschlagenden und widersprüchlichen Nachrichten über den Absturz und das Trümmerfeld nicht entgangen. Doch so hatte er keine Ahnung, welche Wellen der Vorfall mittlerweile schlug.
Nur einmal, das mochte ungefähr drei Tage nach seiner nächtlichen Entdeckung gewesen sein, hatte er ein Gespräch zwischen Mac und einem Typen, den er nicht kannte, mitgehört. Die Beiden waren zufällig in Hörweite vor seinem Küchenfenster stehengeblieben und so hatte Wescott von den Straßensperrungen erfahren, die weiträumig um die Absturzstelle errichtet worden waren. Offenbar durch Soldaten des 509. Bombergeschwaders des Roswell Army Airfield und von Militärpolizei unklarer Herkunft. Das war, verdammt nochmal, nichts, was zu seiner Beruhigung beigetragen hätte.
Und als wenig später uniformierte Leute bei Mac auftauchten, sich die Trümmerteile zeigen ließen und dann alles, einschließlich seines Nachbarn, mitnahmen, wusste er, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hatte.
Sobald die Luft rein war, ließ er alles stehen und liegen, sprang in den Pickup und raste, so schnell es die alte Karre hergab, vom Hof. Er hätte das hier sowieso nicht länger ertragen. Vor allem nicht den Geruch. Diesen widerlichen Geruch.
Ein reines Wunder, dass der bisher niemandem aufgefallen war.
Boston 2015
Es war ein eiskalter Januarmorgen, als der Fahrer eines großen, hellbraunen Wagens an der Ecke Bedford Street/Church Green auf der schneebedeckten Fahrbahn die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Die späteren Untersuchungen würden ergeben, dass der Mann viel zu schnell gefahren war und über zwei Promille Alkohol im Blut gehabt hatte.
Der schwere Wagen schoß über die Kreuzung und überrollte eine junge Frau, die noch versuchte, ihre Einkaufstüte schützend vor sich zu halten. Dann schlitterte das Auto auf den Bürgersteig zu, wo es eine weitere Frau erfasste. Sie prallte vom Kotflügel ab, flog einige Meter durch die Luft und schleuderte mit dem Rücken an einen Laternenpfahl.
Das Fahrzeug durchbrach die Berge aufgehäuften Schnees am Straßenrand krachte in eine Reihe von Metallpollern und blieb dort stehen, bis die Polizei eintraf. Nichts bewegte sich im Inneren.
Die junge Frau war sofort tot, die zweite Frau, Nancy Sedona, lag schwerverletzt am Fuß der Straßenlaterne in einer gut einen Meter hohen Schneewehe.
Sie wurde vom rasch eintreffenden Rettungswagen ins Massachusetts General Hospital gebracht und dort in ein künstliches Koma versetzt. Den Ärzten blieb angesichts der dramatischen Verletzungen keine andere Wahl. Nancy Sedonas Beine und zwei Brustwirbel waren gebrochen und sie hatte ein schweres Schädel-Hirn Trauma erlitten. Über mögliche innere Verletzungen ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts sagen.
Etwa eine Stunde später, nachdem jemand am Unfallort die weit weggeschleuderte Handtasche mit dem Ausweis gefunden hatte, erhielt Hank Sedona den Anruf, der ihn im Wohnzimmer zusammenbrechen ließ, wo er gerade versucht hatte herauszufinden, warum die Heizung an diesem kalten Tag keine richtige Wärme verbreitete.
Hank und seine Frau Nancy lebten seit Jahren in einer kleinen, aber schönen Wohnung in der Hurley Street im Bostoner Stadtteil East Cambridge, auf der Westseite des Charles River Basin. Trotz einiger Krisen hätte jeder von ihnen beiden gesagt, dass sie ein gutes Leben hatten. Eines, das jetzt vielleicht vorbei war, dachte Hank Sedona, während ihm das Telefon aus der Hand glitt und er, am Boden vor dem Sofa kauernd, anfing unkontrolliert zu weinen.
Der Winter 2015 in Boston und weiten Teilen der Ostküste war der härteste seit mindestens 130 Jahren. Das galt für die gewaltigen Schneemassen, wie für die extremen Minustemperaturen. Die Winterstürme hatten die Stadt regelrecht unter Schnee begraben und das öffentliche Leben weitgehend lahmgelegt. Busse und Bahnen verkehrten kaum noch, weil sie nicht gegen den Schnee ankamen oder weil die Kälte die Technik nicht mehr funktionieren ließ. Die meisten Starts und Landungen am Logan Airport waren gestrichen, sodass in diesen Tagen nicht viele Leute in der Stadt ankamen oder sie verließen. Was den Kindern vielleicht noch wie ein großes Wintermärchen erschien, war für die Erwachsenen längst zu einem Winteralptraum geworden. Einem Alptraum, der sich noch bis weit in den März hinziehen sollte.
Und für Hank Sedonas persönlichen bösen Traum, der mit dem Anruf aus dem Krankenhaus begonnen hatte, war weit darüber hinaus kein Ende abzusehen.
Er wusste nicht, wie lange er auf dem Boden im Wohnzimmer gesessen und geweint hatte, doch als er jetzt aufblickte sah er, dass draußen schon wieder dichtes Schneetreiben eingesetzt hatte. Er mußte ins Krankenhaus. Mußte zu Nancy. Das waren die ersten klaren Gedanken, die er wieder fassen konnte.
Mühsam, als hätte er einen 30 Meilen Marsch hinter sich, richtete Sedona sich auf und quälte sich in die Diele, um sich irgendeine Jacke und die erstbesten Schuhe zu greifen.
Vor der Haustür wehte ihm die Kälte und der Schnee ins Gesicht, was half, ihn so weit aus seiner Schockstarre zu wecken, dass er in der Lage war, sein Auto aus den Schneeverwehungen zu manövrieren und halbwegs sicher durch die glatten Straßen zu lenken.
Er fuhr die Third Street hinunter und bog dann links in die Main Street ein, die direkt auf die Longfellow Bridge führte. Auf der Brücke wehte der Wind besonders stark, fast sah es nach einem weiteren Schneesturm aus und Sedona konnte das Charles River Basin unter sich nur ahnen. Auch der Fluß war zugefroren und schneebedeckt und alles verschwamm in einem konturlosen Weiß. Die Türme im Mittelteil der Brücke sah er erst, als sie an ihm vorbeihuschten und für einen Moment hatte er das Gefühl, die Fahrbahn, die vor ihm im Nichts verschwand, würde auch genau da hinführen. Ins Nichts. Er würde hier ewig weiterfahren und nirgendwo je ankommen.
Doch dann, als er schon fast das andere Ufer erreicht hatte, tauchte links vor ihm der gewaltige Komplex des Massachusetts General Hospital auf, wo seine Frau wahrscheinlich gerade mit dem Tode rang.
Sedona ließ den Wagen irgendwo zwischen zwei Schneebergen stehen und rannte, so schnell es die Glätte und seine zitternden Beine zuließen, auf den Haupteingang des Klinikums zu.
Es dauerte über eine halbe Stunde, bis er in dem riesigen Krankenhauskomplex die Intensivstation gefunden hatte, auf der seine Frau lag und wo ihm jetzt irgendein weißgekleideter Wichtigtuer den Zutritt verweigerte. Schon die dicke Frau am Informationstresen hatte ewig gebraucht, um überhaupt festzustellen, wohin genau Nancy gebracht worden war. Und er hatte gedacht, das hier sei eine der besten Kliniken im ganzen Land.
"Ich will sofort meine Frau sehen, verdammt nochmal", blaffte Sedona den Mann an, der ihm den Weg versperrte. "Lassen Sie mich gefälligst durch."
"Beruhigen Sie sich, Mr. Sedona", erwiderte sein Gegenüber. "Man kann hier nicht so einfach reinspazieren. Das ist eine Intensivstation. Jeder eingeschleppte Keim kann zu einer Gefahr für das Leben der Patienten werden, die hier liegen. Auch für das Leben Ihrer Frau."
"Dann geben Sie mir verdammte Schutzkleidung oder irgendwas." Sedona hatte Mühe, nicht zu schreien. "Ich muß zu meiner Frau. Verstehen Sie das nicht?"
"Sicher verstehe ich das", sagte der Mann, "aber wie gesagt… Wenn Sie sich einen Moment gedulden wollen. Ich werde zusehen, dass so schnell wie möglich ein Arzt zu Ihnen kommt. Der kann Ihnen dann auch Auskunft über den Zustand Ihrer Frau geben." Der Mann deutete auf eine Reihe Stühle an der gegenüberliegenden Wand.
"Hören Sie nicht, was ich sa…", begann Sedona, doch der Mann, wahrscheinlich ein schwachsinniger Pfleger, war schon durch die breite Flügeltür verschwunden, die jetzt hinter ihm ins Schloss fiel.
"Scheisse", schrie Sedona ihm hinterher und rüttelte wie ein Irrer an der Tür zur Intensivstation. Doch diese war und blieb verschlossen und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Schließlich ließ er sich doch auf einen der Stühle fallen und zündete sich eine Zigarette an. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich an das verdammte Rauchverbot hielt.
Er wartete zwei Stunden, ohne dass sich jemand groß für ihn interessierte. In der ganzen Zeit bekam er drei oder vier Schwestern zu Gesicht, die an ihm vorbei den Gang entlang hasteten und sein Rauchen entweder nicht bemerkten oder nichts sagen wollten. Niemand betrat oder verließ die Intensivstation. Sicher gab es noch andere Eingänge.
Nach einer weiteren halben Stunde war er eingenickt. Vor Erschöpfung und eingelullt vom monotonen Brummen irgendwelcher Geräte oder der Klimaanlage oder was auch immer.
"Mister Sedona?" Es dauerte einen Moment, bis die Stimme in sein Bewusstsein drang und er die Berührung an der Schulter wahrnahm. Dann schlug er die Augen auf und sah einen Mann im Arztkittel vor sich stehen, der sich zu ihm hinunterbeugte und seine Frage wiederholte. "Mister Sedona? Ich bin Dr. Steinbeck. Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten, aber die Untersuchung Ihrer Frau hat noch einige Zeit in Anspruch genommen."
Steinbeck. Wie dieser Schriftsteller, dachte Sedona. Er war jetzt hellwach und hatte viel zu viel Angst vor dem, was er zu hören bekommen würde, um sich über die Wartezeit zu beschweren.
"Und?", sagte er heiser. "Wie geht es ihr?"
"Es ist nicht ganz so schlimm, wie wir zunächst angenommen hatten", begann Dr. Steinbeck und zählte die Verletzungen auf, die Nancy Sedona erlitten hatte. Er sah, wie der Ehemann seiner Patientin, der gerade aufgestanden war, sich nach dieser Aufzählung wieder setzen musste und alarmierend blass geworden war. Deshalb fuhr er rasch fort.
"Die gebrochenen Beine Ihrer Frau werden wieder gut zusammenwachsen, Mister Sedona. Da sind eigentlich keine bleibenden Schäden zu erwarten. Was die gebrochenen Brustwirbel betrifft, sieht es nach den bisherigen Untersuchungen so aus, als hätten wir großes Glück gehabt. Auf den CT-Aufnahmen sehe ich nicht, dass das Rückenmark verletzt wäre und der Wirbelkanal scheint intakt zu sein. Wenn sich das bestätigt, werden wir die Sache möglicherweise ohne OP oder zumindest höchstens minimalinvasiv in den Griff bekommen. Es sieht so aus, als müssten wir keine bleibende Lähmung befürchten." Dr. Steinbeck hielt einen Moment inne und sah Sedona an.
"Was ich hier sage, muß ich natürlich unter Vorbehalt stellen. Der Unfall ihrer Frau ist erst einige Stunden her und weitere Untersuchungen werden zeigen, ob sich unsere ersten Eindrücke bestätigen oder nicht. Ob die Wirbelverletzungen Lähmungen oder eingeschränkte Beweglichkeit zur Folge haben werden, wird sich mit letzter Sicherheit erst zeigen, wenn ihre Frau aufwacht."
Wieder machte der Arzt eine Pause.
"Und damit kommen wir zu dem, was uns am meisten Sorgen bereitet," fuhr er dann fort. "Das Schädel-Hirn-Trauma, das ihre Frau erlitten hat. Ihre Frau war bei Bewusstsein, als sie hier ankam, doch die CT-Untersuchung hat uns veranlasst, sie in ein künstliches Koma zu versetzen. Grob gesagt bietet ein derart herunterfahrener Organismus dem Körper mehr Ruhe und damit bessere Gelegenheit, zu heilen.
Das Trauma ihrer Frau ist gravierend, Mister Sedona und es ist nicht absehbar, wann wir sie aus dem Koma werden zurückholen können. Genausowenig kann irgendjemand vorhersehen, ob Folgeschäden bestehen bleiben werden. Selbst bei schweren Schädel-Hirn-Traumata sind bleibende Schädigungen nicht zwingend. Aber ich will Ihnen nicht verschweigen, dass viele, mehr oder weniger schwerwiegende Schäden auftreten können, ja in der Regel sogar zu erwarten sind. Ich möchte Ihnen eine Aufzählung im Moment ersparen."
Hank Sedona war unfähig irgendetwas zu sagen und im Grunde auch nicht in der Lage, das, was er eben gehört hatte, in seiner ganzen Tragweite zu begreifen. Er fühlte sich wie betäubt und hörte die letzten Sätze des Arztes wie durch eine dicke Watteschicht.
"Es tut mir sehr leid", sagte Dr. Steinbeck, "aber wir werden uns auf eine lange Wartezeit mit ungewissem Ausgang einstellen müssen. Sie können Ihre Frau heute nicht mehr sehen, weil sie noch notfallmedizinisch behandelt wird, aber ich denke, dass sie morgen zu ihr dürfen."
Der Arzt verschwand mit wehendem Kittel den Gang hinunter und Sedona blieb einfach sitzen, wollte sich nicht bewegen, wollte nicht weg aus der Nähe Nancys. Irgendwann legte er sich quer über vier Stühle und schlief halb verrückt vor Angst ein.
Draußen senkte sich die Dämmerung über die Stadt und Boston stand erneut eine Nacht mit schweren Schneestürmen bevor, die eine weitere dicke weiße Dekke über all den Dreck legen würden.
Als er Nancy sah, konnte er den Anblick kaum ertragen. Sie lag mit geschienten Beinen und eingeschraubt in ein Gestell zur Fixierung der gebrochenen Wirbel auf dem Bett, umgeben von hohen Türmen medizinischer Geräte, die blinkten, piepsten und summten. Ihre Haare waren verschwunden unter einer Art Haube, aus der verschiedene Kabel zu den Türmen rechts und links des Bettes verliefen.
Sedona sah weitere Schläuche und Leitungen, die in den Körper seiner Frau führten, das künstliche Koma aufrechterhaltend und den Organismus mit allem Lebensnotwendigem versorgend. Besonders das Gehirn mit Sauerstoff. Dr. Steinbeck hatte ihm das erklärt.
Nancy lag alleine in einem fensterlosen Raum, in gedämpftem Licht, das von irgendwo hinter dem Bett herkam. Nur wenn Behandlungen durchgeführt werden mussten, flammten gleisend helle Neonröhren an der Decke auf.
Im Zimmer war neben all den Geräten gerade noch Platz für einen Stuhl geblieben und auf diesem verbrachte Hank Sedona zwei Tage und zwei Nächte, wobei er kaum sagen konnte, wann ein Tag begann oder wann er endete. Alles verschwamm in einem Nebel aus Angst, Sorge und Müdigkeit.
Am dritten Tag wurde Nancy ein Teil der Schädeldekke entfernt.
Dr. Steinbeck sagte, sie könnten das anschwellende Gehirn und den steigenden Druck im Kopf nicht unter Kontrolle bringen. Das Öffnen des Schädels sei die letzte Möglichkeit, der Schwellung Platz zu verschaffen. Er solle sich keine Sorgen machen. Sobald das Gehirn abschwoll und der Druck zurückging, könne man den entfernten Schädelteil wieder einsetzten.
Doch in Steinbecks Gesicht sah Sedona, dass dieser sich selbst einige Sorgen machte. Das hier war keine gute Entwicklung, sagten die Augen des Arztes.
Nach weiteren zwei Tagen hatte sich an Nancys Zustand nichts geändert und die schlimmen Rückenschmerzen, die Sedona mittlerweile quälten, zwangen ihn zu der Einsicht, dass er nicht weiter Tag und Nacht neben dem Krankenbett verbringen konnte. Er mußte sich ab und zu einmal hinlegen können. Und er mußte ab und zu einmal schlafen.
Von da an fuhr er jeden Abend nach Hause und jeden Morgen wieder in die Klinik. Kämpfte sich mit dem Wagen durch die nicht verschwinden wollenden Schneemassen und die Kälte und bald hätte er den Weg von der Hurley Street zum General Hospital und zurück wahrscheinlich mit geschlossenen Augen fahren können.
Nach zweieinhalb Wochen begann Hank Sedona mit seiner Frau zu reden. Warum war er da nicht schon viel früher drauf gekommen?
"Nancy?", sagte er an einem Mittwoch, als er wieder auf dem Stuhl neben ihrem Bett saß. Er musterte ihr Gesicht in der Hoffnung auf irgendeine Reaktion, doch da war keine. Nichts.
"Weißt Du", begann er nach einer Weile wieder, "sie haben versucht, die Straße bei uns aufzureissen. Wegen der Heizung. Aber es war nichts zu machen. Da ist einfach zu viel Schnee. Das hast Du ja noch gesehen. Und in der Zwischenzeit hat es unglaublich viel neuen Schnee gegeben. Regelrechte Schneestürme. Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Außerdem ist der Boden bis tief hinunter gefroren. Sie sind da einfach nicht durchgekommen. Wäre zu viel Aufwand, haben sie gesagt. Na ja, und jetzt ist es bei uns zuhause eben ziemlich kalt." Er machte eine Pause, weil sich in seinem Hals ein Kloß bildete. "Aber das muß Dich ja nicht stören", fügte er dann mit brüchiger Stimme noch hinzu. "Du bist ja jetzt sowieso nicht dort."
Er nahm ihre Hand und begann zu weinen, bis keine Tränen mehr kamen und sein Bauch vor Verkrampfung schmerzte. Als er sie losließ und sich auf dem Stuhl zurücklehnte, wurde es langsam besser, doch es dauerte einige Minuten, bis er weitersprechen konnte.
"Noch etwas wollte ich Dir erzählen. Den Job bei Walmart hab' ich gekündigt. Was sagst Du dazu? Ich hatte sowieso keine Lust mehr, bei denen im Lager zu schufen. Und so hab' ich mehr Zeit für Dich. Das ist doch ok, oder? Die Pension, die die Army mir als kriegsversehrtem Veteran zahlt ist ja gar nicht so übel. Und die reicht im Moment fürs Nötigste, finde ich.
Ach ja, und Deine Kollegen in der Anwaltskanzlei vermissen Dich. Hoffentlich nicht nur, weil jetzt jemand anders den ganzen Schreibkram erledigen muß. Ich hab' mit ihnen telefoniert und ihnen gesagt, dass Du nicht kommen kannst. Vorerst. Und vielleicht länger nicht." Er stockte wieder, riß sich aber zusammen. Sie haben gesagt, dass das kein Problem ist. Wenn's Dir besser geht, kannst Du wieder kommen. Und alle wünschen Dir, dass Du wieder gesund wirst."
Hank Sedona hätte seiner Frau gerne über den Kopf gestreichelt, doch das ging nicht wegen dieses…Lochs. Er durfte da gar nicht dran denken.
"Schatz", sagte er, "ich hol' mir einen Kaffee draußen am Automaten, ok? Dann komme ich gleich zurück." Er strich ihr mit der Hand leicht über die Wange, bevor er das Zimmer verließ und sich auf den Weg den Gang hinunter machte.
Die Gänge im Massachusetts General Hospital waren lang und so brauchte er einige Minuten bis zu der kleinen Nische, die er vor Tagen entdeckt hatte. Hier gab es ein Fenster, das sich öffnen ließ und Sedona hatte sich angewöhnt, hier zu rauchen, wenn er es im Zimmer seiner Frau nicht mehr aushielt.
Er stellte den Becher mit dem Kaffee auf das Fensterbrett und fummelte eine Zigarette aus der Packung. Dann hielt er den Kopf in den kalten Wind und schloss die Augen. Er war hier im achten Stockwerk, aber es gab von seinem Fenster aus nichts zu sehen, außer Gebäuderückwänden und unten einen Hinterhof voller Müllcontainer. Also ließ er die Augen zu, vergaß den Kaffee und stand einfach nur da, bis leichte Flocken auf sein Gesicht fielen, die ihm bewußt machten, dass es wieder angefangen hatte zu schneien.
Anfang Februar teilte ihm Dr. Steinbeck mit, dass sie die Öffnung in Nancys Kopf wieder verschließen würden. Allerdings nicht mit dem entfernten Stück Schädeldecke, wie ursprünglich vorgesehen, sondern mit einer Platte aus Edelstahl. Irgendetwas war mit diesem Stück passiert. Sedona verstand nicht genau was. Es hatte mit der relativ langen Zeit zu tun, die es gebraucht hatte, bis die Schwellung des Gehirns weit genug zurückgegangen war. Doch Dr. Steinbeck sagte, dass die Stahlplatte, wenn sie gut mit dem Knochen verschraubt war, einen mindestens genauso sicheren Verschluß des Schädels bilden würde, wie das Originalteil. Sedona wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte.
Der einzige Nachteil war, dass auf dem Metall natürlich keine Haare mehr wachsen würden.
"Hast Du das gehört?", fragte Sedona, nachdem der Arzt das Zimmer verlassen hatte. "Sie wollen Dir da oben ein Stück Blech dranschrauben. Das mit den Haaren ist nicht so tragisch, oder?" Er dachte daran, dass Nancys lange, braune Haare, diese schönen Haare, etwas gewesen waren, das am Anfang mit dazu beigetragen hatte, dass er sich in sie verliebt hatte. Aber natürlich war das vollkommen egal, wenn seine Frau nur wieder aufwachen könnte. Und die alte wäre. Die, die sie gewesen war.
Dr. Steinbeck hielt sich zurück mit Prognosen. Jedesmal wenn Sedona danach fragte, hieß es, dass es noch zu früh sei, Nancy aus dem Koma erwachen zu lassen und bis dahin lasse sich kaum Verlässliches über mögliche bleibende Schäden sagen.
Doch je mehr Zeit verging, desto halbherziger klangen Steinbecks Versuche, ihm etwas Hoffnung zu lassen und gegen Ende des Monats fürchtete Sedona jeden Tag, jemand könne ihm plötzlich die Frage stellen, ob er damit einverstanden sei, die lebenserhaltenden Geräte abzuschalten.
"Aber Du gehst ja noch nicht, hm?", sagte er zu Nancy an einem der endlosen Tage, die er kaum noch auseinanderhalten konnte. "Nein, Du gehst bestimmt nicht. Ok, jetzt bei diesem Wetter, zu viel Schnee und Kälte und so, wer hat da schon Lust aufzuwachen? Aber wart' mal, bis wieder Sommer ist. Dann kommst Du zurück, ja? Dann werden wir ganz viel draußen sein. Boot fahren. Schwimmen…"
Hank Sedona kämpfte mit den Tränen. "Und der Hund. Wir wollten uns doch einen Hund anschaffen. Dem wird's gefallen bei uns." Er starrte Nancy an, die leblos und stumm da lag, dann sank sein Kopf auf ihren Arm. "Sag' doch mal was", flüsterte er. "Sag' doch bitte irgendwas."
Ende März begann das Eis auf dem Charles River zu tauen, das Schmelzwasser wurde jetzt zum Problem in Bostons Straßen und Dr. Steinbeck kündigte Sedona an, dass sie nun beginnen würden, Nancy aus dem Koma zu holen.
Das Aufwachen musste in Etappen geschehen, die sich jeweils über mehrere Tage erstrecken konnten und Hank Sedona ging in dieser Zeit sehr viel rauchen. Er suchte nicht mehr das Fenster in der Nische auf, sondern fuhr jetzt mit dem Aufzug nach unten, wo er draußen, zwischen den schmelzenden Überresten des Jahrhundertwinters mit den Zigaretten auf und ab wanderte.
Weil er keine Lust hatte, sich zu unterhalten, hielt er sich fern von dem Pulk aus Menschen, der sich regelmäßig am Klinikeingang bildete. Das mildere Wetter schien alle Raucher unter den Patienten, die sich irgendwie fortbewegen konnten, vor die Tür zu treiben. Sedona sah Leute im Rollstuhl, andere auf Krücken gestützt oder mit Verbänden, teilweise nur im Bademantel, die gierig ihre Kippen inhalierten, als gäbe es kein Morgen. Jeden Tag, wenn er hier herunter kam, sah er die selben Gesichter und konnte es manchmal kaum ertragen, dass sie alle bei Bewußtsein waren, während oben im achten Stock seine Frau ums Aufwachen kämpfte und es nicht schaffte.
Nach knapp zwei Wochen, als er Morgens Nancys Krankenzimmer betrat, erwartete ihn dort Dr.Steinbeck, um mit ihm zu sprechen. Und er hatte keine guten Nachrichten.
"Mister Sedona", begann er, "nehmen Sie doch bitte Platz." Der Arzt blieb stehen. Es hätte ja sowieso keinen zweiten Stuhl gegeben.
"Wie Sie sehen, sind alle Geräte, die ihre Frau bisher am Leben erhalten haben, ausgeschaltet."
Er deutete auf die Türme neben Nancys Bett. Nur zwei, drei Überwachungsmonitore waren noch in Betrieb und zeigten irgendwelche Kurven und Linien.
"Ihre Frau sollte längst aufgewacht sein. Die Vitalfunktionen sind alle soweit in Ordnung. Von daher ist nicht zu erklären, warum sie weiterhin in dieser tiefen Bewußtlosigkeit bleibt. Ich fürchte, wir müssen davon ausgehen, dass das Gehirn Ihrer Frau doch weit größeren Schaden genommen hat, als wir alle gehofft haben."
Sedonas Hals fühlte sich irgendwie wund an und er musste mehrmals ansetzen, bevor er die Worte herausbekam. "Wollen Sie damit sagen, dass meine Frau vielleicht gar nicht mehr aufwacht? Dass sie einfach im Koma bleibt?"
Dr. Steinbeck hielt dem flehenden Blick seines Gegenübers stand.
"Damit müssen wir rechnen, Mister Sedona. So leid mir das tut." Er machte eine kurze Pause. "Und selbst, wenn sie irgendwann aufwachen sollte, wird sie kaum selbständig lebensfähig sein." Eigentlich hätte er ehrlicherweise sagen müssen 'wird sie nicht viel mehr als eine leere Hülle sein', doch das brachte er nicht übers Herz.
"Nach so langem Koma, das offenbar unabhängig von unserem künstlich hergestellten andauert, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass das Gehirn je wieder normal funktionieren wird. Es tut mir wirklich sehr leid, Mister Sedona, dass ich Ihnen nichts anderes sagen kann. Und es wird Sie wohl auch nicht trösten können, dass die Beine Ihrer Frau gut verheilt sind und auch die beiden Brustwirbel wohl keine weiteren Probleme machen werden. Wir werden morgen die Korsettkonstruktion entfernen."
Hank Sedona hörte die letzten Worte des Arztes gar nicht mehr. Er war auf dem Stuhl zusammengesunken und konnte an nichts anderes denken, als daran, dass er Nancy verloren hatte. Verloren an einen Zustand irgendwo zwischen Leben und Tod, in dem sie nicht weg, aber auch nicht hier war. Er wusste nicht, ob er das würde ertragen können.
Er starrte auf die Metallplatte oben an ihrem Kopf, die im Licht der Deckenbeleuchtung glänzte und wandte sich dann doch noch einmal an Dr. Steinbeck, der einfach neben ihm stehen geblieben war.
"Keine Chance auf Heilung?", fragte er nur.
"Nein", sagte der Arzt. "Das wäre nicht weniger, als ein Wunder."
Das Wunder geschah am 13. Mai um 15.23 Uhr.
Nancy Sedona schlug die Augen auf, sah ihren Mann an und sagte: "Wo zum Teufel sind wir hier, Hank?"
Doch ihr Mann gab keine Antwort. Er saß reglos auf seinem Stuhl, die Zeitung, aus der er ihr vorgelesen hatte, war zu Boden gefallen und der heiße Kaffee aus dem Pappbecher hatte sich über sein rechtes Bein verteilt. Sein Herz schlug schmerzhaft und so heftig von innen an seine Brust, dass er kurz dachte, er bekäme gerade einen Infarkt. Er spürte sein Blut in den Halsschlagadern pulsieren und der Druck ließ seine Sicht verschwimmen. Hank Sedona war überzeugt, dass dies ein beschissener Traum war, in dem ihm vorgegaukelt wurde, seine Frau sei aufgewacht und sein Erschrecken darüber, wie realistisch diese Unmöglichkeit vor seinen Augen stand, hatte ihn erstarren lassen.
Doch dann spürte er den Schmerz, den die Verbrühung auf seinem Bein verursachte und hörte Nancy wieder etwas sagen.
"Hank? Was ist los? Rede mit mir." Sie machte Anstalten aufzustehen und Sedona sprang auf, um sie daran zu hindern.
"Nein, nein, nein", sagte er. "Nicht aufstehen. Dein Rücken."
"Was ist mit meinem Rücken?, fragte Nancy und ließ sich zurück auf das Bett sinken. "Bist du sicher, dass Du noch alle Tassen im Schrank hast?"
Das war seine Nancy, wie er sie kannte und sie hatte offensichtlich keine Ahnung, was passiert war. Und weil er keine Worte fand, fing er einfach an hysterisch und irre zu lachen, bis er vor Bauchschmerzen nicht mehr konnte.
Nachdem er ihr alles in groben Zügen erzählt hatte, war es an Nancy Sedona, sprachlos zu sein. Erst nach langen Minuten, in denen sie immer wieder nur den Kopf schüttelte, konnte sie auf das Gehörte reagieren. "Mitte Mai sagst Du? Wir haben Mitte Mai? Solange war ich ohne Bewußtsein?"
Sie hatte sich aufgesetzt und ihr wurde schwummrig. Keine Kraft in Armen und Beinen, was ja auch nicht überraschend war nach Monaten der Bewegungslosigkeit.
"Ja", sagte Hank. "Unten im Charlesbank Park ist schon wieder jede Menge los, seit das Schmelzwasser abgelaufen ist. Wenn Du ans Fenster gehen könntest, würdest Du es von hier aus sehen."
Vor gut zwei Wochen war seine Frau in ein anderes Zimmer verlegt worden. Eines mit Fenster und Ausblick auf den Fluß. Sedona erhob sich und öffnete einen Flügel, sodass die milde Luft und mit ihr die Geräusche der Stadt ins Zimmer strömten.
"Hörst Du die Kinder?", fragte er und blickte hinunter auf den weitläufigen Park am Flussufer, dessen nördliches Ende von einem großen Spielplatz beherrscht wurde.
"Ja", sagte Nancy, "ich höre sie." Und nach einer Pause. "Ich fühle mich so normal, Hank. Ich kann mir gar nicht vorstellen, so schwer verletzt gewesen zu sein."
"Du siehst auch ziemlich normal aus", erwiderte er und dachte daran, wie unvorstellbar dies vor Kurzem noch erschienen war. "Ich meine, bis auf den rasierten Schädel und diese Platte."
Nancy tastete vorsichtig auf ihrem Kopf herum und zog die Hand dann schnell wieder weg. "Ich traue mich gar nicht, sie wirklich zu berühren", sagte sie, "und ich bin froh, dass ich im Moment in keinen Spiegel schauen kann."
"Wir besorgen Dir eine gute Perücke und dann siehst Du aus, als wäre nie etwas gewesen", sagte Sedona und schloss das Fenster wieder.
Tatsächlich sollte es weitere Monate der Reha brauchen, bis sich Nancys Körper erholt hatte, doch dann war es wirklich fast so, als wäre nichts passiert gewesen. Selbst die Metallplatte in ihrem Kopf hätte sie beinahe vergessen können, aber wie sich zeigte, empfing sie damit bei bestimmten Wetterlagen Boston WJIB Radio und später noch etwas ganz anderes.
Was Hank Sedona betraf, so würde der 13. Mai 2015 ihm nicht nur als der Tag im Gedächtnis bleiben, an dem seine Frau auf dem Weg ins Reich der Toten umgekehrt und zurückgekommen war, sondern auch als derjenige, der ihn zum ersten Mal auf John Primrose treffen ließ, ein neues Gesicht unten bei den Rauchern am Eingang. Doch den Namen des Mannes kannte er da noch nicht.
Dayton, Ohio Juli 1947