Steinige Wege - Désirée Schindel - E-Book

Steinige Wege E-Book

Désirée Schindel

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Beschreibung

"Ich werde beobachtet! Von einem Mann mit einem Kapuzen-Shirt." Schmerzlich ringt sie nach ihrem ersten Atemzug! Langsam geht die Sonne auf, der erste Lichtschein dringt über den Horizont hinaus und erleuchtet die Stadt in leicht rotem, goldenem Funkeln. Das Nachtleben ist vorüber, die ersten Menschen erwachen und füllen die Straßen auf dem Weg zur Arbeit. Der Alltag beginnt und jeder kommt seinen täglichen Aufgaben nach. Während die Stadt im Leben versinkt, öffnet sie schmerzend die Augen. Was, wenn sich dein Leben von einem Tag auf den anderen völlig verändert? Was, wenn du schon immer ahntest, dass mit DIR etwas nicht stimmt und deine Vergangenheit dir bröckchenweise das Wissen vermittelt, welches du haben solltest. Aber nicht nur die Vergangenheit hält Überraschungen bereit, denn DU bist die Überraschung, die du immer wieder vergisst. Also steh auf und geh den steinigen Weg, der dir bestimmt ist.

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Die Autorin:

Désirée Schindel wurde 1985 in Herford geboren. Nach dem Fachabitur machte sie zunächst eine Ausbildung zur Bürokommunikationskauffrau, studierte anschließend nebenberuflich BWL und erlangte ihren internationalen Bilanzbuchhalter. Sie lebt in Herford (OWL, Deutschland) und arbeitet bei der IT Firma, in welcher sie auch gelernt hat. Dort ist sie im Controlling tätig und übernimmt die Ausbildungsleitung der Auszubildenden.

Neben dem Hobby der Schriftstellerei, schreibt sie einen Blog

www.rheumagefuehle.de und fotografiert gerne. Steinige

Wege ist ihr erster Fantasy Roman einer geplanten Trilogie.

Handlungen, Figuren und Schauplätze dieses Buches entspringen voll und ganz der Fantasie der Autorin. Eventuelle Übereinstimmungen mit Personen und von Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Désirée Schindel

Steinige Wege

Fantasy Roman

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Prolog

Schmerzlich ringt sie nach ihrem ersten Atemzug!

Langsam geht die Sonne auf, der erste Lichtschein dringt über den Horizont hinaus und erleuchtet die Stadt in leicht rotem, goldenem Funkeln. Das Nachtleben ist vorüber, die ersten Menschen erwachen und füllen die Straßen auf dem Weg zur Arbeit. Der Alltag beginnt und jeder kommt seinen täglichen Aufgaben nach. Während die Stadt im Leben versinkt, öffnet sie schmerzend die Augen. Noch kann sie nicht erkennen, ob es ein roter Lichtschein ist oder Blut ihre Sicht auf die Umgebung trübt. Die Schmerzen sind unerträglich. Wie ist es möglich, dass die Pupillen ohne Blut so brennen?! Ein unangenehmer Geruch steigt ihr in die Nase, welcher in ihr den Zwang aufsteigen lässt, diesen Ort so schnell wie nur möglich zu verlassen. Sie will weg, doch leider kann sie sich nicht bewegen, jeder Knochen schmerzt. Sie spürt jeden Nerv in ihrem Körper, die Blutbahn zittert und ihr Herz fühlt sich an, als würde es nicht mehr schlagen.

Moment...

Zögernd, mit zugekniffenen Augen, hebt sie die Hand und legt die Finger an den Hals, um an der Hauptschlagader sicherzugehen, dass sie noch lebt „Bump, Bump, Bump“

Der Puls ist noch vorhanden! Sie lebt!

Wieder versucht sie die Augen zu öffnen und nimmt nun auch ihre Umgebung wahr...

Sie liegt hinter einem Müllcontainer in einer kleinen Gasse. Kein Licht in den Häusern, kein Laternenlicht auf der Straße, nur der Schimmer der Sonne in der Ferne.

Wo bin ich? Was ist passiert? Ohne sich zu bewegen versucht sie in Gedanken den letzten Abend zu rekonstruieren, allerdings fehlt ihr jegliche Erinnerung an die Zeit nach der Party. Wie oft soll ihr das nur noch passieren? Wie oft soll sie noch die Erinnerung an Abende verlieren, die mit so viel Spaß begonnen haben und letztendlich wacht sie schmerzüberflutet in Gassen auf. Gassen, die sie noch nie zuvor gesehen hat und die Errungenschaften der Nacht und der Zeit davor sieht sie nie wieder.

Soley ist mittlerweile fünfundzwanzig Jahre alt. Sie hat bereits mehrfach versucht einen Partner für ihre Seite zu finden, allerdings endet jegliche Anbahnung in ähnlichen Umgebungen und mit dem gleichen Schmerz. Was stimmt nur nicht mit ihr? Was passierte da? Die ersten Male hatte sie direkt Arztbesuche vorgenommen, sich testen lassen, um jegliche Krankheiten, Anzeichen von Vergewaltigung und Gewalt auszuschließen. Doch spätestens nach dem dritten Mal nahm sie der Arzt nicht mehr ernst und sie begann sich selbst für ihre verlorenen Erinnerungen zu schämen. Sie mied übermäßigen Alkoholkonsum, lebte relativ gesund, wenn man von den Zigaretten absah, die sie sich in Stresssituationen gelegentlich mal gönnte. Diese war heute nun definitiv mal wieder eingetroffen, sollte sie sich je wieder bewegen können. Die Schmerzen waren dieses Mal besonders stark.

Allmählich trieb sie der Geruch nach Müll und Kloake dazu, sich durch die Schmerzen zu kämpfen und die Gasse zu durchqueren. Jeder Schritt brachte sie nur langsam vorwärts und trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie versuchte sich zu beruhigen, den Geist dem Körper zu entziehen, wie sie es beim Meditationstraining zu erreichen versuchte, aber es half nichts. Sie nahm den Augenblick zu bewusst wahr, um sich zu beruhigen und von ihrem Schmerz zu befreien. Ihr Puls sollte in diesem Augenblick kraftlos und schwach sein, aber doch raste er als habe sie soeben Hochleistungssport betrieben, um gleich in die Ruhephase unter fünfzig Schläge die Minute zu fallen. Irgendwann würde sie Meditation beherrschen. Sie bewunderte diese Kunst, da sie bei richtiger Anwendung viel Macht verleihen könnte. Sich selbst konditionieren zu können und auf gewisse Gedanken, Geräusche oder andere Sinneswahrnehmungen in einen Rauschzustand der völligen Entspannung zu entweichen. Den Moment bewusst wahrzunehmen, in seiner positiven, wundervollen Güte, ohne das Negative zu sehen oder Schmerz zu empfinden. Sie ist auf dem besten Wege dorthin.

Hinter dem nächsten Container lag eine kleine schwarze, abgemagerte Katze, die durch ihre leeren Augen die fremde Gestalt zu scannen versuchte. Allerdings fiel ihr das Heben des Kopfes wohl sehr schwer, sodass sie aufgab und sich auf ihre letzten Stunden vorbereitete.

Trotz ihrer eigenen Schmerzen konnte Soley diesen Blick nicht ertragen und wollte die kleine Katze mitnehmen. Vermutlich war sie nicht stark genug und war von ihrer Mutter hier liegen gelassen worden. Die Tierwelt ist so grausam, aber real. So real wie das Leben in diesem Augenblick, egal wie sehr man sich wünscht, dass es ein Traum ist und man einfach nur aufwachen muss, zieht es einen doch immer wieder in eine mehr oder weniger verschwommene Realität zurück.

Während sie versuchte die Katze aufzuheben, die ebenfalls zu schwach war sich zu erheben und zu fliehen, brach Soley erneut zusammen und verlor das Bewusstsein...

*********************************************

Die Sonne schien und auf ihrer Haut spürte sie den brennenden Tropfen Schweiß, der ihr den Rücken herunterlief. Schon wieder wurde sie wach, nur leider war der Schmerz keine Erzeugung ihrer ruhenden Gehirnzellen, sondern immer noch Wirklichkeit. Wenn es nicht gerade ein Traum im Traum war und sie gleich doch noch einmal wach würde, würde es auch sicherlich nicht einfach so besser. Was auch immer letzte Nacht passiert ist, es hatte sie mehr geschafft als üblich. Oder war sie einfach nur schwächer geworden? Die letzten Tage hatten ihr schon so einige Kraft geraubt. Schlafmangel, lange Arbeitstage und vor allem das bis ins Unbeträchtliche aufsteigende Gefühl, dass sie doch beobachtet wird. Egal wo sie war, egal was sie machte, egal mit wem an ihrer Seite, sie fühlte Angst. Jeder Schritt wurde schwieriger, die Augen nahmen jegliche Bewegung blitzartig wahr und leiteten die Signale weiter in den Körper, der bereit war zur Reaktion, aber nicht konnte. Sie befürchtete nicht, sich nicht wehren zu können. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr betrieb sie jegliche Kampfsportarten, die man so machen kann. TaekWonDo, Karate, Kungfu, aber auch Yoga übte sie aus. Abgesehen von Waffen. Waffen jeglicher Art haben den Menschen seit spätestens dem Mittelalter nichts Gutes mehr gebracht. Die Menschheit muss nicht mehr Jagen, um sich Nahrung zu beschaffen, warum sollten wir Waffen brauchen und uns gegenseitig Leid und Schmerzen zufügen? Das würde sie doch nie begreifen. Nichtsdestotrotz fühlten sich die meisten Menschen mit Waffen sicherer. Scheinbar verleihen sie ein Gefühl der Unbesiegbarkeit und Macht, nach dem sich viele Menschen sehnen.

Diese Grundeinstellung sorgte nun für die derbe Auswirkung als sie bemerkte, dass sie nicht nur einen Container weitergekommen war, sondern nun eine kleine tote Katze im Arm hielt und eine Waffe in ihrer Hose steckte. Diese hatte sie zunächst überhaupt nicht bemerkt, allerdings war dies unter den Schmerzen nicht überraschend. Sie hatte sich dermaßen darauf konzentriert zu prüfen, ob sie noch lebt, dass sie den Rest nicht wahrgenommen hatte.

Nun war sie hellwach, sie spürte ihren Körper wieder und auch der Puls stieg an. Was machte diese Waffe an ihrer Seite? Warum hatte diese Nacht unbeschreibliche Ausmaße auf sie genommen? Jetzt muss Schluss sein. Sie muss herausfinden, was nicht stimmt. Egal was kommt, unter diesen Umständen kann sie nicht weitermachen. Zumal, was sollte sie nun mit der Waffe machen? Hier liegen lassen? – Auf keinen Fall, es befinden sich Fingerabdrücke auf ihr und sie weiß nicht einmal, was passiert ist. Sie schaute sich in der Gasse um und entdeckte zwei scheinbar leerstehende Hochhäuser. Wenn sie nach rechts schaute, sah sie durch die drei Meter breite Straße nach einem Platz ein weiteres Gebäude am Ende. Sollte es ein Parkplatz sein, waren dort keine Fahrzeuge abgestellt. Es schien ein Firmengelände zu sein, welches keine Fenster in ihre Richtung hatte. Dort hatte sie niemand bisher gesehen. Wenn sie die Straße hochschaute, sah sie eine Kreuzung, an der mehr Betrieb stattfand. Allerdings sah sie nur Fahrzeuge fahren, kein Fußgänger in Sicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nun jemand gesehen hatte, war gering. Nachdem sie sich eingehend umgeschaut hatte, verließ sie samt hängender Katze und versteckter Waffe die Gasse...

Kapitel 1

Nachdem sie die Orientierung erlangt hatte, bemerkte sie, dass sie sich in der dunkelsten Gegend von San Francisco befand. Sie selbst wohnte in der 22nd Street, recht zentral mit allem in der Nähe, was man zum Leben braucht. Shoppingcenter, Apotheken, Lebensmittelstores, Schnellrestaurants, Kneipen und Wäschereien, sowie Tankstellen.

Auf dem Weg nach Hause hatte sie in einem kleinen Park in der Nähe Soley jr. beerdigt. Obwohl sie die Katze schon fast tot gefunden hatte, tat es ihr sehr leid. Auf dem Weg hatte sie ihr noch den Namen Soley gegeben. Sie war nicht besonders kreativ, daher hatte sie lange nachgedacht und sich dann entschieden die Katze nach sich selbst zu benennen.

Der Name kommt aus dem isländischen und bedeutet Butterblume oder Sonneninsel und genau das wünschte sie ihr. Dass sie nun auf einer Sonneninsel angekommen war. Einen Namen tragen zu dürfen, empfand Soley als sehr wichtig, denn nur dieser macht jemanden zu einem Lebewesen. Zu jemandem, der mit Namen benannt wurde, über den sich irgendwann jemand Gedanken gemacht hatte. Ein Individuum, das gerufen werden kann und somit lebendig wird. Und selbst wenn eine Katze nur Katze heißt, es ist völlig egal, die Hauptsache ein Name und kein „Hey du“. Ein Name, der einem von jemandem gegeben wurde, der sich um einen kümmerte.

Wie sie selbst heißt, hat sie entschieden als sie die vierten Pflegeeltern bekam. Davor hatte sie viele Namen, warum nicht einmal einer beibehalten wurde, weiß sie nicht. Sie vermutet, dass sie mit jeder Familie jemand anderes werden sollte, das eigene Kind, welches auf natürlichem Wege nicht möglich war. Und nachdem man die Anforderungen nicht erfüllte, wurde man ausgetauscht. Hat sie das geprägt? Sie hatte keine Ahnung, sie war der Mensch der sie war. Sie würde behaupten es hat sie stark gemacht, nicht schwach.

Die letzte Familie war einwandfrei und sie hat auch einen Bruder bekommen, Phil. Geschwister sind etwas Tolles. Dennoch wollte sie entfliehen und zog nach der Schule nach San Francisco, um ihre technische Ausbildung in dem Bereich der IT zu beginnen und sich ihr eigene Lebendigkeit aufzubauen.

Zu Hause angekommen, duschte sie ausgiebig. Vom Schmerz noch leicht betäubt, spürte sie kaum den Schaum auf ihrer Haut. Eigentlich müsste die Haut brennen wie Feuer, aber vermutlich war nun der Punkt erreicht, an dem es darauf nicht mehr ankam. Sie wollte sich nur noch reinigen, die letzten Stunden vergessen, aber genau das Gegenteil musste sie nun tun. Sie schloss die Augen und verfiel in Gedanken. Jegliche Augenblicke, die ihr verloren gingen. Die Momente, die sie vergaß. Was passiert in ihnen? Und warum hatte es die Ausmaße angenommen, dass sie mit einer Waffe aufwachte?! Was fällt in diesen Nächten vor? Was nimmt ihr die Kraft und lässt sie vergessen? Selbst nach Turnier-Kämpfen war sie nicht so fertig und die gingen manchmal den ganzen Tag. Sie schaute an sich herunter, keine Wunden, keine Zeichen von Gewalt. Die Schmerzen kamen eher von innen, lagen unsichtbar auf der Haut, unbeschreiblich. Ein Kratzen im Hals, als habe man tagelang nichts zu trinken bekommen. Die Eingeweide zogen sich zusammen und spielten Fangen im Körper. Sie fühlte sich unwohl, obwohl es keinen körperlichen Grund dazu gab. Übelkeit und der Puls stiegen an.

Dennoch war die Spitze des Eisbergs immer die Seele; nicht zu wissen was geschehen ist. Warum passiert es gerade ihr? Es folgten Nächte ohne Schlaf. Langsam rutschte sie die Duschwand herunter und weinte bitterlich. In diesem Moment stellte sie ihr eigenes Leben so in Frage, dass es für sie kein Morgen mehr gab. Eingequetscht zwischen Gedanken und körperlichen Schmerzen weiß sie nicht wohin mit sich selbst. Wenn es einen Sinn im Leben gibt, wo liegt ihrer? Sie besaß eine durchschnittliche Wohnung, einen gewöhnlichen Job und doch kein normales Leben. Obwohl sie doch so langweilig schien.

Sie versuchte sich zu beruhigen. Komm Soley, weinen macht keinen Sinn. Entweder du tust was oder du krümmst dich weiter zusammen, stellst alles in Frage und verbringst dein Leben in Einsamkeit zu Hause. Sie raufte sich zusammen, stieg aus der Dusche und zog sich den Bademantel über. Ihre Schritte waren immer noch nicht sicher. Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und ihr Gehen war vergleichbar mit den ersten Schritten eines Kindes. Ein kurzer Moment, der sie zum Lächeln brachte, weil es einfach so niedlich aussah. Zumindest bei Kleinkindern, nur nicht bei ihr.

Nachdem sie sich einen Kaffee gekocht hatte, riss sie die gekaufte Zigarettenschachtel auf und setzte sich vor ihren Laptop. Nur was jetzt? Kann man vergessene Nächte googeln? Leise musste sie lachen. Irrsinnig. Wie fange ich was an, was ich nicht beschreiben kann? Wie suche ich etwas, wenn ich nicht weiß was?

Eigentlich wollte sie nie wissen, woher sie kam und wer ihre leiblichen Eltern waren, aber vielleicht sollte sie genau dort beginnen. Wer waren sie und warum wollten sie sie nicht? Oder sind sie gestorben? Wie kann es sein, dass man nichts davon weiß – einfach nichts?! Keine Träume, keine Erinnerungen, nichts...

Die anderen Kinder im Heim erzählten oft, dass sie von ihrer Kindheit träumten. Das Lachen der Mutter oder die Leichtigkeit des Vaters. Oder von der Gewalt zu Hause, wie schön es war dort raus zu kommen. Fluch oder Segen, dass sie nichts davon erfuhr? War sie deshalb ein optimistischer und fröhlicher Mensch? Wäre sie durch Lebenserinnerungen anders beschaffen worden? Menschen werden durch ihre Erinnerungen geprägt. Vielleicht hatte sie die Fähigkeit, alles Schlechte zu vergessen, aber warum dann Thomas? Der letzte Abend hatte doch so nett begonnen. Sie kannten sich genau drei Wochen, waren zweimal essen gegangen, hatten sich super unterhalten, den gleichen Humor und hatten sich mehrfach einfach in der Stadt oder Umgebung zum Bummeln getroffen. Auch auf der Feier war er sehr nett gewesen und sie hatten viel gelacht. Daher wollten sie gemeinschaftlich den Abend bei ihm ausklingen lassen. War sie jemals dort angekommen? Wo wohnte er überhaupt? Sie starrte auf ihr Handy. Sollte sie ihn anrufen, einfach fragen? Aber was dann? Was würde er sagen? Bisher hatte sie das nicht gemacht und auch die Personen niemals mehr wiedergesehen. Vielleicht sollte sie das heute ändern. Schließlich war diesmal alles anders...

Sie hatte eine Waffe bei sich gefunden und die Schmerzen waren stärker denn je. Egal was passiert war, der Kampf war definitiv bitterer.

Sie wählte die Nummer.

Ohne zu zögern ging Thomas dran.

„Thomas hier. Wer ist da?“

„Ähm, hey, ich bin's Soley.“

„Wer?“ War das zu fassen? Man verbringt drei Wochen zusammen und dann fragt er: Wer?

„Soley?! Du warst gestern mit mir auf der Party und mir fehlt die Erinnerung an heute Nacht. Kannst du mir helfen?“

„Ich weiß nicht wen du sprechen möchtest, aber sicher nicht mich. Ich war zwar gestern auf einer Feier, bin aber wohl völlig betrunken von einem Kumpel nach Hause gebracht worden. Er hat mir nichts von einer Frau erzählt, die ich dort kennen gelernt haben soll.“

„Du hast mich auch nicht dort kennengelernt. Wir haben uns schon gekannt. Seit circa drei Wochen. Willst du mich veräppeln?“

„Nein, sorry, also ich denke ich bin nicht der, den du suchst und leicht verwirrt. Ich hoffe du findest deinen Thomas noch, aber ich muss los“

Klick. Aufgelegt.

Okay, das hatte sie nun kein Stück nach vorne gebracht. Entweder er log oder er wusste wirklich nichts mehr von ihr.

Option eins ist die wahrscheinlichere, aber Option zwei würde erklären, warum sie Jack, Harvey und Luke auch nie wiedergesehen hatte. Hatten die sie auch vergessen? Schlechter Film, versteckte Kamera. Obwohl sie das nicht wirklich ernst meinte, schaute sie sich um und fing panisch an ihre Wohnung zu durchsuchen.

Drei Zigaretten und eine Stunde später sah es aus, wie neben dem Container heute Morgen, aber sie war kein Stückchen weitergekommen. Nichts gefunden.

Wieder am Schreibtisch, startete sie erneut den Versuch, eine passende Frage für ihren Freund Google zu formulieren.

Zunächst versuchte sie es über die Waffe. Da sie keine Ahnung davon hatte, entschloss sie sich ihren Freund James zu fragen. James kannte sie, seit sie nach San Francisco gezogen war. Eigentlich war die Begegnung zunächst nicht von Freundschaft geprägt. James ist Polizist und wollte ihr direkt bei der Ankunft einen saftigen Strafzettel wegen Falschparkens verpassen, allerdings schien sie damals relativ unbeholfen rüber zu kommen und schleppte sich mit den Möbeln für ihre Wohnung ab. James ist etwas älter als sie und hat ein sehr gutes Herz. Statt ihr den Strafzettel auszustellen, half er ihr, die Sachen in die Wohnung zu tragen. Daraus entwickelte sich eine ihrer wenigen Freundschaften, die sie in San Francisco hatte, wenn es nicht sogar die einzige tiefgehende war. Sie redeten über alles, bis auf ihre nächtlichen Erlebnisse. Dort dachte sie sich immer einen Streit oder andere Ausreden aus, warum es mit dem Mann nicht klappte. Wie sie die Waffe erklären sollte, wusste sie auch noch nicht.

„Hey, schön von dir zu hören, was ist denn los?“, er war wie immer. Obwohl sie nun ca. drei Monate keinen Kontakt hatten, weil James mehr in sein Familienleben eingebunden war, war es direkt wie immer... Vor drei Monaten hatte er mit seiner Frau das erste Kind bekommen. Yasmin. Sie war wirklich entzückend, aber dennoch war Soley nicht der Familienmensch und sie spürte jedes Mal die Abneigung seiner Frau zu ihr, wenn sie die drei besuchte.

Sie konnte das sogar verstehen. Freundschaften mit Frauen, die sogar für Aussprachen von Beziehungsproblemen genutzt werden, außerdem eine relativ Unbekannte, sind trotz der Jahre schwer hinzunehmen. Nicht weil man seinem Partner nicht vertraut, man ist sich sicher, dass er nicht fremdgehen würde. Es ist eher die Angst, dass sich Liebe zu der anderen Person entwickeln könnte. Man redet über das eigene Gefühlschaos, tauscht sich aus, kennt den anderen sehr gut und das ohne die Schwierigkeiten und Streitereien einer Beziehung. Man fängt an sich zu fragen: Was wäre wenn? allerdings würde jede Beziehung aus diesem Grundstein irgendwann den gleichen Alltag erreichen. Es wird schwieriger über seine Probleme mit dem Gegenüber zu sprechen und erst recht, wenn sie dann die eigene Partnerschaft direkt betreffen. Seine Frau musste sich dahingehend keine Sorgen machen, da Soley Realistin war und sich nicht annährend einer von den beiden eine Partnerschaft mit dem jeweils anderen vorstellen könnte. Aber die letzten Zweifel konnte man einfach nicht nehmen.

„Hey, das hört sich ja an, als würde ich mich nur melden, wenn was los ist?“ beide lachten. „Quatsch, das weißt du doch?!“

„Klar, wie geht es dem jungen Glück?“

„Gut und gewöhnungsbedürftig. Es ändert sich schon einiges und nicht alles ist zunächst positiv, aber, wenn man dann zwischen dem Geheule das Lachen des Kindes hört, das Funkeln in den Augen sieht und die Reinheit der Seele spürt, genießt man jeden Augenblick...“

„Oh je, Kinder machen doch alle weich.“ Sie schmunzelten beide.

„Stimmt, hätte mir das einer mit zwanzig erzählt, ich hätte ihn ausgelacht. Nun zu dir. Ist irgendwas Bestimmtes? Ich hatte erst nächste Woche mit einem Anruf von dir gerechnet, weil du im Moment so beschäftigt bist, aber dennoch meinen Geburtstag niemals vergessen würdest.“ Sie konnte das Grinsen in seinem Gesicht quasi spüren. Man muss dazu sagen, ja, Geburtstage und Termine waren nicht so ihrs. Sie vergaß diese Dinge regelmäßig gerne. Vielleicht hatte sie deswegen auch nicht so viele Freunde. Für viele sind diese Tage ein Zeichen, dass man an sich denkt. Warum kann aber nicht jeder X-beliebige Tag das sein? Wieder eine Frage, die sie sich nicht beantworten konnte. Was sie demnach an James sehr mochte, dass er das wusste und ihr immer zur Erinnerung eine Nachricht schickte. Klingt komisch, ist aber für die beiden eine Routine geworden.

„Könnten wir uns vielleicht heute sehen? Ich weiß nicht wie ich das erklären soll, aber ich habe eine Waffe gefunden und vielleicht kannst du mir was dazu sagen? Was ist das für ein Modell, wobei wird das genutzt? Und so weiter. Ich weiß, das klingt komisch, aber ich muss etwas herausfinden.“

„Du wirst deine Gründe haben, allerdings musst du wissen, dass ich dir mit einem Modell keine Erklärung auf Nutzen geben kann. Du musst dich daran gewöhnen, dass du in einem Land lebst, wo Waffen legal sind, teilweise ein Hobby.“

Sie liebte ihn, er stellte nicht direkt viele Fragen, er wusste sie würde ihm alles erzählen, was er wissen musste. Die Leier mit den Waffen hatte sie schon oft genug mit ihm diskutiert und die unterschiedlichen Einstellungen würden sich nicht mehr ändern.

„Aber ich habe vielleicht was Besseres, denn ich weiß, es überrascht dich immer wieder aufs Neue, ich bin kein Umzugshelfer, sondern ein Cop. Wann treffen wir uns?“

„Wann könntest du zu mir kommen?“

„Wir haben gerade Mittag, ich esse noch was, bringe mein Kind zum Schlafen und würde dann so auf 15 Uhr bei dir erscheinen?“

Sie schaute auf die Uhr, die Zeit hatte sie total vergessen. Also in zwei Stunden.

„Das wäre perfekt.“

„Somit ist es das. Ich würde mal sagen, bis gleich.“

„Danke, grüß schön.“

„Hm, ich weiß es noch nicht. Bringe das erstmal schonend rüber wohin ich fahre. Sehen uns gleich.“

Es würde sich nie ändern, dachte sie und legte auf.

*********************************************

Zwei Stunden, kein Problem. Sie zog sich ihren Jogginganzug an und räumte das angerichtete Chaos erstmal auf. Sie hatte sämtliche Bilder von den Wänden genommen und teilweise sogar Schränke vorgezogen.

Ihre Wohnung war nicht besonders groß. Sie wohnte im oberen Stock eines Zweifamilienhauses. Wenn man durch die Eingangstür kam, ging man zunächst einige Stufen hoch, bis man mit einer Rechtsdrehung um neunzig Grad in die Wohnung gelangte. Linksseitig befand sich dann direkt die Küche. Diese war nett hergerichtet. Die Fliesen waren aus schwarzem Marmor, während die Küche aus hellem Holz bestand. Da sie alleine lebte, befand sich kein Esstisch in der Küche, sondern eine kleine Thekenzeile mit zwei Hockern. Ging man weiter, kam am Ende der Küche hinter einer Tür ihr Büro. Dies war ein eigener Raum, im Gegensatz zu dem Wohnzimmer. Das Büro war direkt mit der Küche verbunden und recht schlicht eingerichtet, wie der Rest der Wohnung auch. Das Badezimmer befand sich am Ende des Flures. Dieses war wohl das geräumigste Zimmer. Sie hatte eine traumhafte Eckbadewanne und eine ebenerdige Regendusche. Davon hatte sie bereits als Kind geträumt. Rechts davon lag das Schlafzimmer, in dem sich ein zweiter Traumaspekt ihrer Kindheit erfüllte. Über ihrem Bett befand sich ein Glasdach. Somit konnte sie nachts in den Sternenhimmel schauen, was ihr das Gefühl von Freiheit vermittelte. Oft, wenn sie nicht schlafen konnte, dachte sie über die Weite des Alls nach. Wie viele Sterne es dort wohl gibt und ob das Nichts endlos ist.

An das Schlafzimmer grenzte ein winziger Raum, den sie als Ankleideraum nutzte, mit zwei Schränken drin konnte man sich nun gerade noch um die eigene Achse drehen. Es gab kaum Bilder in ihrer Wohnung, die auf ihre Familie oder Freunde schlossen. Eigentlich gab es nur gekaufte Bilder. Sie machte nie viele Fotos. Viel lieber genoss sie jeden Augenblick und saugte die Momente so auf, dass sie es in ihrem Kopf einfach wieder abrufen konnte. Teilweise verfügte sie über ein fotografisches Gedächtnis, allerdings konnte sie das beim Lernen nie so gut umsetzen. Das belegten auch die Noten auf ihren Zeugnissen. Theoretikerin war sie nie und würde sie auch nicht mehr werden, aber praktisch war sie immer gut gewesen. Deswegen stand für sie auch sehr schnell fest, dass sie sich nicht für ein Studium melden würde, sondern direkt in einen Beruf einstieg. Auswendiglernen war nicht ihre Stärke. Sie musste es verstehen, somit konnte sie alles, was ihr logisch erschien wiedergeben und umsetzen. Wenn man so veranlagt war, musste man Dinge praktisch ausprobieren, um es richtig zu verinnerlichen. Dies erwies sich im Studium meistens als schwierig. Sie bereute den Schritt aber nicht, auch wenn ihre Familie sie gerne wie ihren Bruder, im Studium gesehen hätte. Wenn man was werden will, dann muss man studieren. Sie liebte diese Familiendiskussionen, der sich wohl jedes Kind einmal im Leben stellen musste. Eltern wissen einfach mehr, dass macht die jahrelange Erfahrung und in deren Köpfen bleibt die Welt manchmal einfach stehen oder dreht sich rückwärts.

*********************************************

Es läutete.

Die Zeit war wie im Fluge vergangen, während sie aufräumte und in Gedanken versunken war. Schnell lief sie zur Tür und freute sich James zu sehen.

„Na, wie geht es meiner Kleinen?“

„Naja, im Moment so mittelmäßig. Denke, für mich untypisch, relativ viel nach.“

„Was ich in deinem Fall grundsätzlich nicht als schädlich ansehen würde?!“

„Doofmann!“, beide lachten.

„Komm erstmal hoch, ich erzähle dir alles. Magst einen Kaffee trinken?“

„Da würde ich nicht Nein sagen.“ Er folgte ihr die Treppe hoch in die Küche.

„Was hast du gemacht? Es sieht aus wie auseinandergenommen und nach einem gescheiterten Versuch alles wieder herzurichten. Hast du Bilder von der Wand gerissen? Da sind sogar Kratzspuren!“

Manchmal bereute sie es doch, dass ihr vermeintlich bester Freund Polizist war. Vor allem, wenn er in seinem Job auch noch so gut war. Er hatte eine wahnsinnige Wahrnehmungsgabe was Räume anging.

Spezialausbildung Tatortanalyst eben.

„Vielleicht habe ich Kameras gesucht.“ Etwas unschuldig guckte sie ihn an.

„Kameras gesucht? Mäuschen, was stimmt mit dir nicht?“

„So einiges“, versuchte sie humorvoll den Augenblick ins Lächerliche zu ziehen. Leider bemerkte sie relativ schnell, dass das gerade nicht klappte.

„Ernsthaft. Im Zusammenhang mit der erwähnten Waffe macht mich das gerade etwas unruhig und ich beginne mir Sorgen um dich zu machen. Ich will einleitend nur eine Bitte aussprechen. Du bist mir wichtig, bitte lüg mich nicht an und nimm Rücksicht auf meinen Beruf.“

„Du weißt, ich würde dich nie in Schwierigkeiten bringen. Das weißt du doch oder?“, hilflos suchte sie Zustimmung in seinem Blick.

„Ich bin mir sogar 100%ig sicher, aber Situationen und Erlebnisse verändern manchmal Menschen. Das sehe ich leider zu oft in meinem Job, daher weise ich gerne darauf hin.“

Stille.

Hätte sie das doch sein lassen sollen? Sie könnte sich auch anders behelfen oder?

„Jetzt guck nicht so und denk nicht weiter darüber nach. Erzähl mir alles.“

Er kannte sie einfach zu gut. Gefühlt konnte er jeden Gedanken von ihr in den Augen lesen. Oder war sie offen wie ein Buch? Blätterten die Menschen in ihr und wussten mehr als sie selbst, weil sie sich manchmal vorkam wie Dorie aus Findet Nemo.

Nachdem sie den Kaffee eingegossen und gegenüber von James Platz genommen hatte, zündete sie sich eine Zigarette an und versuchte den letzten Abend zu schildern.

„Naja, es ist so. Ich war gestern seit längerem mal wieder aus. Es war wirklich nett, ich war mit Thomas unterwegs, den ich vor drei Wochen kennen gelernt habe.“

„Achso“ unterbrach er sie „und das erfahre ich so beiläufig?“

„Wir hatten uns nur ein paarmal getroffen. Würde ich heiraten, erfährst du es als Erstes.“

„Naaatürlich, da freu ich mich doch. Das weiß ich WIRKLICH zu schätzen. Aber ich wollte nicht unterbrechen. Erzähl ruhig weiter.“

„Also, der Abend war wirklich nett. Wir waren in dem Club an der neunten Straße, in dem wir vor zwei Jahren auch häufiger waren. Der Club war aber eigentlich geschlossen für diese Privatparty, die ein Bekannter von einem Freund von Thomas gegeben hat.“ Kurzzeitig versank sie in die Erinnerung, wie sie an dem Lokal angekommen waren.

„Kenn ich noch. War immer lustig da, wenn wir es mal geschafft haben auszugehen.“ Er lächelte sie liebevoll an, um sie zum weiteren Reden zu animieren.

„Irgendwann, nachdem wir zwei Cocktails getrunken und eine Runde getanzt haben, wollten wir noch zu ihm gehen.“

Mit einer hochgezogenen Augenbraue schaute er Soley an und fragte schnippisch. „Aha, auf einen Kaffee?“

„Richtig, woher weißt du das?“

„Kind, das erkläre ich dir nun wirklich nicht.“

„Ach Mensch, selbst wenn er das gewollt hätte, wir hatten nun wirklich genug Dates die Wochen davor. Aber kommen wir zum eigentlichen Problem. Denn ab diesem Zeitpunkt habe ich keine Erinnerung mehr und wache mit einer Waffe in meiner Hose, in einer Gasse in der Nähe von Noriega auf.“

„Was? Wie ohne Erinnerung? Meinst du das ernst? Hast du vielleicht eine Beule am Hinterkopf?“

„Ja.“ Unschuldig guckte sie ihn an. Er griff ihr in den Nacken und suchte den Kopf nach Blut ab. Was dachte er nun nur von ihr? Bis er antworten konnte, kamen ihr die Sekunden und seine warmen Berührungen wie Stunden vor. Durch die Stille konnte sie das Leben auf der Straße wahrnehmen, wie sich die Menschen im Alltag tummeln, an dem sie nicht teilnehmen konnte. Wie sehr sehnte sie sich gerade aus diesem Augenblick heraus. Was hielt ihr Freund nun von ihr?

Nach einer gefühlten Ewigkeit der Untersuchung, schaute er sie wieder an und war scheinbar zufrieden keine näheren Verletzungen am Kopf, seiner Meinung nach der Zentrale des Körpers, gefunden zu haben.

Nun blickte er sie an und erwartete natürlich weitere Erklärungen. „Und? Das wird vermutlich nicht alles gewesen sein, was ich wissen sollte oder? Fangen wir kurz an: wie geht es dir jetzt?“

Sie verlor den Verstand, nahm eine Zigarette, die Tasse Kaffee und stand auf. Tränen sammelten sich in ihren Augen, sie blinzelte sie weg und versuchte sich zu sammeln. „Na, wie wohl? Ich habe eine ganze Nacht vergessen und wache mit einer Waffe in der Hose auf, kann es schlimmer sein? Ich zweifle an meinem Verstand.“

„Ok, erstmal ganz ruhig. Und eigentlich sollst du das Rauchen bleiben lassen!“ sagte er, während er sich ebenfalls eine ansteckte.

„Wir sammeln uns nun kurz, du erzählst alles was du noch weißt und dann überlegen wir, was zu tun ist.“ Sachlich versuchte er die Sache anzugehen. „Was weißt du alles über diesen Thomas?“

„James, bevor du auf einen falschen Gedanken kommst, muss ich dir noch etwas sagen.“

„Nur zu...“

Oh man, wie fängt man das nur an?! Mit mir stimmt was nicht, ich vergesse alle außer dich, fühle mich verfolgt, bin vermutlich gestört und nehme es selbst nicht wahr?!

„Das war nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist. Es war heute Nacht scheinbar nur das schlimmste Mal und ich komme nicht weiter.“

„Scheinbar wird das ein langer Tag. Soll ich Yasmin schon mal informieren?“ Er zwinkerte ihr zu und versuchte die Stimmung einigermaßen erträglich zu machen.

Sie umklammerte ihre Kaffeetasse und wusste nicht so recht, ob er eine Antwort erwartete. Es war schon komisch, wie schwer es Menschen manchmal fallen kann sich zu öffnen. Es sind die besten Freunde, bei denen es gerade manchmal schwer ist, weil man diese im täglichen Leben haben will. Oft schämt man sich für seine Gefühle und Probleme so sehr, dass man durch die nahestehenden Freunde nicht an sie erinnert werden will. Dabei ist das Schönste ja an einer Freundschaft zu wissen, dass man immer zu ihnen kommen kann. Man weiß es, man fühlt es und dennoch macht man die meisten Dinge mit sich selbst aus. Dabei tut man oft auch den Freunden einen Gefallen sich zu öffnen, weil es gut tut, für Menschen da zu sein, die einem am Herzen liegen. Man bekommt selbst auch das Gefühl gebraucht zu werden. Soley genoss dieses Gefühl meistens ja auch richtig und versuchte immer Lösungen zu finden oder einfach nur da zu sein.

„Ich kann es dir nicht mal richtig erklären, aber seit einigen Jahren schon passiert es mir häufiger, dass ich mich Personen annähre, ja, männlichen und partnerschaftlich meine ich damit. Allerdings, immer wenn es enger wird, beziehungsweise es körperlich werden soll, vergesse ich was passiert ist und sehe die Jungs nicht mehr wieder. Beim ersten Mal habe ich Panik bekommen und wollte niemandem etwas davon erzählen, zumal ich auch annahm, ich wäre vielleicht missbraucht worden.“

„Ich ziehe die Schweine zur Rechenschaft!“ Man sah an seinem Blick, dass es auch ihm nicht leicht fiel, sein Unbehagen zu verbergen.

„Ruhig, es war nicht der Fall. Ich habe mich untersuchen lassen. Bis zum dritten Vorfall, da wurde es mir nun wirklich auch vor dem Arzt unangenehm. Denn seines Erachtens scheine ich ja viel zu vergessen. Das kann ich ihm nicht einmal übelnehmen, was würdest du denken, wenn jemand immer wieder mit solchen Behauptungen zu dir kommt und es ist nie etwas passiert, aber du erinnerst dich nicht?!“

Trotz rhetorischer Frage antwortete er. „Bei so vielen Betäubungsmitteln, die man illegal beziehen kann, würde ich deine Nüchternheit auf jeden Fall in Frage stellen und dir raten, egal was du nimmst, höre auf damit.“

„Richtig. Und genau das hat der Arzt mir auch freundlichst geraten. Allerdings habe ich schon lange nichts mehr dabei getrunken, weil ich erst immer vermutet habe, ich vertrage den Alkohol nicht.“

„Entschuldigung, aber von wie vielen Männern reden wir nun eigentlich?“

„Nicht von so vielen. Bisher ist mir das heute zum vierten Mal passiert. Und wir gehen davon aus, dass ich ja schließlich seit dem zwanzigsten Lebensjahr nun auch gerne mal einen Partner hätte.“ Sie schmunzelte.

„Ich habe mich schon immer gewundert, warum du niemanden hast. Aber ich ging von Zeitmangel oder der Liebe zur Programmierarbeit aus.“

„Danke! Es wird dich überraschen, aber wir sind nicht alles Nerds, wir haben auch ein Leben vor, unter und auf dem Schreibtisch.“ Sie zwinkerte ihm zu und ergänzte dann nachdenklich: „Zumindest habe ich davon gehört.“

Die beiden schenkten sich noch einen Kaffee nach, während Soley weitererzählte.

„Also gut, mit Anfang zwanzig traf ich Jack. Du hast ihn doch auch einmal gesehen, als wir im Kino waren. Ich dachte damals, es würde mehr als nur eine Freundschaft werden. Wir waren so oft unterwegs und haben Zeit zusammen verbracht. Bis wir eines Abends in einer Kneipe was getrunken hatten. Danach war die Erinnerung weg und ich wurde in einer Gasse, in der Nähe der Piers wach. Solche Schmerzen hatte ich noch nie erlebt, sie waren anders als alles was ich kenne. Total verschreckt habe ich mich damals von Ärzten durchchecken lassen und mir geschworen, dass ich Männer für den Rest meines Lebens verachten werde.“

„Nur weil dir einer was antut, solltest du nie an dem Verstand anderer Menschen zweifeln!“

„Habe ich ja auch nicht. Er hat sich nie mehr gemeldet und als wir uns mal auf der Straße gesehen haben, ging er lächelnd an mir vorbei, als würde er mich nicht kennen.

Ähnlich war es mit Harvey. Bei Luke dann, habe ich schon Alkohol ausgeschlossen und mich nur noch am Tage getroffen. Aber auch da, irgendwann werde ich auf einer Wiese wach, der unbeschreibliche Schmerz quält mich und keiner mehr da.“

Kurz holte sie Luft, trank ihren Kaffee und machte sich erneut eine Zigarette an.

„Ich kann nicht erläutern was passiert. Aber so schlimm wie heute nach Thomas, war es noch nie. Also habe ich dann das erste Mal versucht noch einmal Kontakt aufzunehmen und mit ihm zu sprechen. Er erinnert sich nicht an mich, sagt er zumindest. An nichts mit mir in den letzten drei Wochen.“

Er schmunzelte. Sie beobachtete ihn um aus seinem Blick seine Gedanken lesen zu können.

Nichts... Pokerface, wie immer.

„Was denkst du bisher?“

„Keine Ahnung. Normalerweise habe ich einen Täter den ich suche. Nun scheint dieser aber entweder vor mir zu sitzen oder du hast ein sehr seltsames Händchen in Sachen Männern.“

„Das würde ich vermutlich nicht mal bestreiten, wenn du mich als seltsam definierst. Aber ganz egal, die Jungs vergessen mich. Und ich habe mich immer gewundert, was ich Schlimmes getan haben könnte, dass sie sich nicht mehr melden und mich vergessen wollen. Sollte ich wohl auch Jack, Harvey und Luke noch mal kontaktieren?“

„Ich bin mir nicht sicher, aber WIR könnten das versuchen. Bleiben wir erstmal bei dem aktuellen Kontakt. Thomas wer?“

„Oha, ich habe es doch nicht so mit Namen und dann auch noch Nachname?! Ich glaube irgendwas mit Mekeln.“

„Mekeln?“

„Ja, mit e oder a oder vielleicht auch noch was davor oder danach, keine Ahnung.“

„Wie habt ihr euch denn kennengelernt?“

Sie lächelte. „Eigentlich mal gar nicht so schlecht. Nicht online oder so, sondern wirklich in der freien Wildbahn. Wir haben beide auf den gleichen Bus gewartet und ein streitendes Pärchen beobachtet. Dieser Streit wurde wegen unbedeutender Kleinigkeiten so konfus, dass wir uns anschmunzelten und ins Gespräch kamen. Darüber, dass wir die Zeit viel zu schade fänden, um über solche Belanglosigkeiten zu streiten.“

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Drei Wochen zuvor an einer Bushaltestelle im Nirgendwo...

Soley kam gerade von einem Kundentermin. Das war wirklich selten, denn meistens erledigte sie ihre Tätigkeiten vom Schreibtisch aus. Es regnete und sie war froh, als sie unter dem Dach der Bushaltestelle Sicherheit fand. Für September war es wirklich kalt an dem Tag. Scheinbar brach der Herbst diesmal eher ein, dachte sie und starrte so in den Regen vor sich.

Die Tropfen liefen ihr die Stirn herunter und sie war dankbar, die Jacke und die feste Notebooktasche mitgenommen zu haben. Zunächst wollte sie die schickere Stofftasche verwenden, als habe sie eine Vorahnung gehabt, hat sie dann aber doch auf die sichere Ledertasche gewechselt, die wirklich wasserdicht zu sein schien. Mehrmals getestet, was nicht immer freiwillig stattfand.

Durch ein laut diskutierendes Pärchen wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.

„Du spinnst doch, du hast doch genau gesehen, dass ich eben schon ausgewichen bin!“

„Bleib doch mal ruhig, ich bin doch nun nicht mit Absicht in diese Pfütze getreten, um dich zu ärgern.“

„Naja, da bin ich mir nicht so sicher, dass machst du doch heute schon den ganzen Tag. Heute Morgen beginnend mit dem Zucker in meinem Kaffee. Irgendwas stimmt doch mit dir nicht.“

„Wundervoll, danke!“

„Seitdem du gestern irgendwo warst, wo ich mal wieder nicht weiß wo, bist du total verändert. Ich habe da keinen Bock mehr drauf, immer zu fragen, hinterher zu laufen und dich vierundzwanzig Stunden am Tag zu betreuen!?“

„Manchmal glaube ich, du suchst einfach nur nach Punkten um dich über mich aufzuregen, oder?“

„Jetzt komm mir nicht so...“

Ein kleines leises Lachen neben ihr ertönte und in ihrer Starre hatte sie gar nicht den süßen Mann neben ihr entdeckt. Sportlich, ca. 190 cm groß, braune Augen und in diesem Augenblick den schelmischen Blick, der genau zum Ton passte, den sie wahrgenommen hatte. Er gefiel ihr auf Anhieb. „Sind sie nicht süß?“, fragte er sie.

Sie musste ebenfalls lachen und stimmte ihm mit schüchternem Blick zu.

„Naja, wer weiß was da heute Morgen schon stattgefunden hat!“, beide lachten.

„Hey, ich bin Thomas und du?“

„Soley“

„Oh klingt schön.“ Lächelnd führte er weiter Smalltalk. „Auf welchen Bus wartest du so nassgetröpfelt?“

„Linie zwei in die Stadt runter. Nehme ich an. Also ich meine, ich bin nicht oft in dieser Gegend, komme gerade vom Kunden und muss irgendwie erstmal in die City.“

„Dann bist hier genau richtig, bleib in meiner Nähe, ich habe bis dahin auf jeden Fall den gleichen Weg. Arbeite direkt in der Stadt und bin auf dem Weg zurück. Was machst du beruflich?“

„Ich bin Programmiererin.“ Den Blick der dann kam konnte sie nicht richtig deuten. Entweder es war wieder einer mit Vorurteilen zum Nerd-Leben oder er hatte eben mal keine.

„Oh, spannend.“ Sagte er und überraschte sie damit. „Ich bin Banker, das ist nicht so wirklich interessant, aber lohnenswert, weshalb ich es wohl für immer bleibe.“

Beide lächelten sich an. Danach hatten sie sich noch während der Busfahrt unterhalten und am Ende Nummern ausgetauscht. Trotz der Annahme von Soley, dass er sich nie wieder melden würde, stimmte sie zu und wurde schon am nächsten Tag von ihm überrascht.

Daraus folgten gemeinsame Stunden, Essen gehen, Spaziergänge und intensive Gespräche...

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Skeptischer Blick von gegenüber und schon kam sie in die Realität zurück. Er konnte einem manchmal aber auch alles vermiesen, gerne wäre sie nun einfach in ihrer Erinnerung geblieben und hätte nichts mehr davon preisgegeben und alles andere verdrängt. Leider nicht möglich. Warum bedeutet Leben immer sich allem stellen zu müssen?

„Wo wohnt er denn? Habt ihr euch einmal bei ihm zu Hause getroffen? Oder gib mir seine Handynummer, ich kann ihn auch überprüfen lassen. Aber das darf niemand wissen, dass regle ich zunächst unter der Hand. Weißt du bei welcher Bank er arbeitet?“

„Bei der Bank of America. Wo er wohnt weiß ich leider nicht mehr, falls wir überhaupt jemals in diese Richtung gegangen sind. Handynummer schicke ich dir gerade.“

Er stand auf und schien die Nummer direkt weiterzuleiten. „Meine Kollegin ist super und verschlossen, wenn wir Glück haben und sie ist gerade am Arbeiten haben wir in ein paar Minuten erst den Anruf, warum sie das tun sollte und zwei Minuten später ein Profil des Typen.“ Er zwinkerte und wartete sehnsüchtig auf ein herzliches Dankeschön von ihr, was nun aber gerade ausblieb. Frustriert setzte er sich wieder hin.

„Ok und wo genau bist du heute aufgewacht?“

„Irgendwo nähe Jackson Street nehme ich an. Hinter einem Müllcontainer.“ Sie zögerte. „Es tut mir leid, es war alles so viel heute Morgen.“ Jetzt mussten doch einige Tränen ihren Weg finden. James stand direkt auf und drückte sie fest an sich.

„Heute nur so viel wie du magst und kannst. Wir können das auch langsam angehen lassen und suchen, ich bin auf jeden Fall dabei und helfe dir!“

Das war zu viel Liebe auf einmal und sie musste schluchzen. Als habe sie das heute Morgen nicht schon genug getan, wie lange konnte einen sowas denn mitnehmen, ist ja nun nicht das erste Mal gewesen.

„Hast du danach überhaupt schon geschlafen?“

„Nein, kann ich jetzt aber auch nicht. Gib mir noch etwas Zeit und dann habe ich mich wieder gefangen.“

Das liebte sie so an ihm, ruhig setzte er sich und stellte keine Fragen.

Da sie nun gerade nicht viel reden konnte, holte sie aus einem Handtuch, welches sie in die hinterste Ecke der Wohnung versteckt hatte, schon mal die Waffe.

„Hier, wie angekündigt. Die kannst du dir schon mal ansehen.“

Durch ihre glasigen Augen beobachtete sie, wie er die Waffe mit Gummihandschuhen, die er in ihrer Küche gefunden hatte, aus dem Handtuch nahm und in die Luft hielt. Sein Blick verfinsterte sich Stück um Stück. Zwischendurch hörte sie ihn nuscheln; „circa zehn cm Lauf, kurze Feuerwaffe, Baujahr 1998, legale Waffe ohne Eintragung beim ATF, müsste aber eingetragen sein, allerdings ist seltsam, dass die Seriennummer abgekratzt wurde. Ich muss das analysieren lassen. Daneben schaue ich mal nach Fingerabdrücken, wenn wir ganz großes Glück haben, bekommen wir dazu mehr Informationen.“

Es ging noch einige Zeit so weiter, all dies waren allerdings Dinge, die sie eigentlich nicht hören und sehen wollte. Sie konnte immer noch nicht begreifen, warum Menschen zu Schusswaffen greifen. Dennoch werden es immer mehr, denn die die eigentlich keine Gewalt wollen, versuchen sich nun so zu schützen, vor Menschen die eine Lust oder Befriedigung spüren, wenn sie Waffen abfeuern. Mit Schwertern hatte sie sich bereits eingehender beschäftigt, weil sie aufgrund der Kampfkunst häufiger mit Messern, Dolchen und Schwertern hantieren musste. Eigentlich um zu lernen diese abzuwenden, bevor sie einen verletzen. Auch daran fand sie schon keinen Gefallen, aber besser als sich eine Handfeuerwaffe anzuschaffen.

Selbst wenn man den Kampf liebt, was sie sich selbst auch eingestehen musste, sonst würde sie nicht an den Wettkämpfen teilnehmen, warum muss es dann unfair aus weiter Entfernung passieren?! Weil man vielleicht weiß, dass man sonst keine Chance hat?

„Ich würde dich einmal kurz für eine Stunde alleine lassen und ins Büro fahren. Wäre das ok für dich? Du entspannst dich bitte etwas und ich versuche schon mal etwas herauszufinden. Danach musst du mir noch etwas mehr erzählen, denn scheinbar war das noch nicht alles?!“

Er lächelte und gab ihr das beliebte Bussi auf die Wange. „Ja, das ist kein Problem, ich lege kurz die Beine hoch, fühle mich gerade ohnehin reichlich schwach.“

Die Tür knallte und sie war alleine, mit sich und den Gedanken an das was war.

Kapitel 2

Es ist dunkel, sie hat die Augen geöffnet, aber sieht nichts außer völliger Dunkelheit. Stimmen sind um sie herum.

„Was machen wir nun mit ihr?“

„Wie was machen wir nun mit ihr, gar nichts! Lass sie hier liegen und das Problem wird sich schon von alleine lösen.“

„Findest du das nicht etwas grausam? Schließlich hat sie dir nichts weiter getan?“

„Nichts weiter getan? Ich hatte keine Ahnung was ich hier mache. Ich weiß nur von dir, dass du sie schon auf der Feier gesehen hast, wie sie mich entführt hat. Wer weiß was dort überhaupt in meinem Drink war, was überhaupt hier alles mit mir passiert ist.“

„Entführt habe ich niemals gesagt, ich sagte nur ich habe euch zusammen gesehen, wie ihr die Party verlassen habt. Also nun wirklich. Warum willst du ihr nicht helfen?“

„Weißt du wie das dargestellt wird, wenn zwei Männer nun mit einer Frau hinter einem Container in einer Gasse in Verbindung gebracht werden? Wir werden der Vergewaltigung bezichtigt. Vielleicht wacht sie ebenfalls ohne Erinnerung auf und dann haben wir eine tickende Zeitbombe um uns herum und die Situation wird zu unseren Lasten ausgelegt. Wir sollten sie eher umbringen.“

„Du machst Witze, wir gehen!“

Es klingelte und sie wurde ruckartig wach. Seltsamer Traum, vermutlich würde sie nun den vergangenen Abend viele Nächte lang noch durchleben. Das wäre nicht das erste Mal, nur leider haben diese Träume noch keinem geholfen.

James war wieder da und erzählte, dass er die Waffe nun erst einmal bei der Arbeit gelassen hatte, um sie weiter zu analysieren. Zu ihrem Schutz hatte er ebenfalls nicht gesagt, woher er die Waffe hatte, nur, dass sie in einer Gasse in der Nähe gefunden wurde. Soley war ihm wirklich sehr dankbar dafür, weil sie einfach nicht wollte, dass jemand erfuhr, dass mit ihr irgendwas scheinbar nicht stimmte.

Wieder holte sie die tiefe Trauer und Verzweiflung ein, gespiegelt von der Hoffnungslosigkeit, dass sie sich möglicherweise niemals erinnern würde, was in diesen Momenten geschah und auch niemals jemanden fand, der das nachvollziehen konnte. Ohne dass sie es wollte flossen wieder leise Tränen ihre Wangen herunter und sie schämte sich. Sie wusste wie sich auch James dabei fühlen musste, dass ihr das Gefühl nun leider keiner nehmen konnte. Das man nicht einfach machen kann, dass es dem anderen wieder gut geht, egal wie sehr man sich das als Freund, Partner oder Familie wünschte. Manche Dinge lassen sich nicht einfach so heilen, sie brauchen Zeit und manche heilen auch niemals. Eine Zeit lang hatte sie das Problem nun wieder gekonnt ignoriert und sich einfach niemandem näher geöffnet, aber ob das wirklich die Lösung ist, wagte sie zu bezweifeln.

Still nahm James sie erst einmal in den Arm und drückte sie ganz fest an sich. Er hatte gerade in seinem Beruf häufiger mit Menschen in schwierigen Situationen zu tun, er kannte die Verzweiflung und das Gefühl in diesem Moment, dass das Leben niemals mehr so sein wird, wie es war. Das trug sein Job leider immer wieder mit sich. Aber ebenfalls auch schöne Momente, wenn du Menschen doch einen Sinn am Leben zurückgeben konntest. Allerdings waren all das meistens Menschen, die ihm nicht so wichtig waren wie Soley. Er wusste in diesem Moment, dass er alles tun würde, um ihr das Gefühl wiederzugeben, dass sie sicher ist. Dass sie normal war und dass alles wieder gut werden würde.

Beide wussten nicht wie lange sie so da saßen ohne zu sprechen, jeder mit seinen Gedanken und wie er damit am besten umgehen konnte oder was er in den nächsten Schritten tun würde. Das ist das Schönste an innigen Freundschaften, oft brauchte man einfach nicht viele Worte. Auch Schweigen war nicht unangenehm, sondern belebend.

„Ich weiß, dass du nun gleich erst einmal nach Hause musst, vielleicht tut es mir auch ganz gut noch etwas alleine zu sein. Dann kann ich mich austoben und wenn wir uns wiedersehen, bin ich wieder stabiler.“ Ein gezwungenes Lächeln begleitete ihre Aussage.

„Ehrlich? Ich möchte dich eigentlich nun ungern alleine lassen. Ich weiß, dass dir das lieber ist, weil du auch gerne alles mit dir selbst ausmachst, aber denk bitte noch einmal darüber nach mit zu uns zu kommen. Wir holen was Schönes zu Essen und du kannst in unserem Gästezimmer schlafen. Die kleine Sophie freut sich sicherlich auch, wenn sie noch jemanden die ganze Nacht wachhalten kann, nur die Eltern wird langsam langweilig.“

Beide lächelten sich an und Soley wand sich aus seinem kräftigen Armdruck.

„Ich würde gerne, aber einerseits weiß ich, dass deine Frau das nicht gerade gerne sieht und andererseits, möchte ich mich noch etwas sortieren und das in aller Ruhe. Ich werde mir eine Pinnwand basteln, als würde ich einen Täter wie das FBI suchen und versuchen mir Dinge wieder in Erinnerung zu rufen. Vielleicht muss ich auch noch tiefer beginnen, keine Ahnung, aber es wird hier und jetzt seinen Anfang finden. Ich denke nicht, dass jemand mich sucht und ich in irgendeiner Gefahr bin. Wenn, dann scheint diese von mir aus zu gehen.“

Sie hoffte er sah das nun auch mit dem gleichen Humor wie sie und vergaß kurz seinen Beruf. Als sie ihn aber ansah und den Blick erhaschte, war ihr klar, dass sie sich nicht irgendeinen Spaß aus der Situation machen sollte. Gut zu wissen, dass er für sie da sein würde. Das erleichterte doch so einiges.

„Alles klar, ich lass dich alleine, würde aber gerne regelmäßig eine Nachricht von dir erhalten. Wenn du Fragen hast oder ich irgendwas Anderes für dich tun kann, raussuchen kann, sag es einfach.“

„Bisher weiß ich es noch nicht, aber ich bin mir sehr sicher, dass ich darauf zurückkommen werde. Es wird sicherlich etwas geben, wo du mich unterstützen kannst. Vielen Dank, dass du für mich da bist!“

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Die Tür fiel ins Schloss und sie war alleine. Sie brauchte eine Weile, um nicht in Panik zu verfallen. Ob es doch die falsche Idee war ihn gehen zu lassen und alleine zu bleiben? Aber sie hatte Recht, grundsätzlich war ihr ja nichts passiert. Körperlich waren keine Zeichen einer Gewalttat an ihr zu sehen.

Egal was den Schmerz ausmachte, er schien größtenteils von innen zu kommen und sie aufzufressen. Es war wie ein Reißen im ganzen Körper, dann der Druck auf der Lunge, als ob sich jemand mit ganzem Körpergewicht auf sie drauf stellte und stehen blieb. Sie atmete, aber es fühlte sich an als würde die Luft nicht überall dort ankommen, wo sie hingehörte. Die Haut brannte, obwohl keine offenen Wunden da waren und das Herz pochte bis zum Hals und weit darüber hinaus.

Es würde wieder Tage und Wochen dauern, bis das Gefühl sie verlassen würde. Und nun stand sie hier, alleine in ihrer Wohnung mit einer neuen Zigarette im Hals und wusste nicht wo sie beginnen sollte. Nachdem sie die Gedanken auch nicht so schnell ordnen konnte wie sie wollte, ging sie zunächst schlafen und versuchte erneut alles von sich zu werfen. Morgen würde sie die Sache dann genauer angehen und sich einen Plan erstellen, was, wann, wie, wo passiert sein könnte und welche Gründe es dafür gab.

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Nach einer wechselhaften Nacht machte sich Soley an die Arbeit. In der Firma hatte sie sich für heute krankgemeldet. Das funktionierte zwar auch gut, aber nur für einen Tag, danach musste sie sehen, wie sie weiter vorgehen wollte. Ob sie Urlaub nehmen musste oder die normale Privatzeit für ihre Nachforschungen ausreichte. Leider hatte sie einen Job, der meist viel Zeit benötigte. Sie war zwar nicht an einen festen Arbeitsplatz gebunden, da man heutzutage ja von jedem Ort arbeiten konnte, wenn man die nötige Ausstattung hatte, was bei ihr im Unternehmen natürlich zur Grundausstattung dazugehörte. Nichtsdestotrotz, konnte sie nicht parallel arbeiten. Konzentration ist bei der Programmierung leider das Wichtigste und nicht immer so einfach wie im Fernsehen dargestellt. Wenn man mal gerade wieder einen IT Spezialisten hat, der die Welt rettet, während von hinten fünf Leute zu schauen und Druck aufbauen. Man sieht eine grüne Schrift über einen schwarzen Monitor laufen, die Hauptdarsteller kurz wild auf der Tastatur tippen und irgendwann ein Fenster: Herzlichen Glückwunsch, sie haben heute die Welt gerettet.

Also musste sie heute nicht nur die Übersicht erstellen, sondern sich einen Zeitplan aufbauen, wie sie weiter vorgehen konnte.

Vier Mal war ihr das Ganze nun bewusst schon passiert. Daher würde sie diese Personen zunächst eingehender durchleuchten. Mit ihrer IT Affinität sollte dies auch kein Thema sein.

Jack Mayser

Harvey Wellsen

Luke Salley

Thomas Michell

Thomas Michell, der Name war ihr nach langem Grübeln doch wieder eingefallen. Auch die anderen haben sie einige Zeit gekostet, bis sie alle wieder richtig in Erinnerung gerufen hatte. Nun war sie sich aber sicher.

Danach würde sie ihre Pflegefamilie befragen, ob es früher bereits schon Auffälligkeiten bei ihr gegeben hat.

Die Courtney's, diesen Namen trug sie immer noch.

Da sie früher noch sehr jung war, musste sie in ihrem Heim herausfinden, wie die Familien hießen, in denen sie außerdem untergebracht worden war. Vielleicht konnte Soley doch noch herausfinden, wie ihre wahren Eltern hießen, ob sie noch lebten und ob es Blutsverwandtschaft gab. Es war viel zu tun und noch stand sie mehr als am Anfang. Dennoch versuchte sie gerade das Gefühl der Hoffnungslosigkeit zu unterdrücken und das Beste aus der Situation zu machen.

Nach einiger Zeit hatte sich ihr Wohnzimmer in eine Agentenkammer verwandelt. Sie hatte sich eine Pinnwand aus einer alten Arbeitsplatte gebaut, die sie noch im Keller hatte. Jeder oben genannte Name hatte nun ein kleines Quadrat auf dieser erhalten.

Daran klebte sie nun zunächst die einzelnen Namen, ihren eigenen in die Mitte und ihre Familie drum herum, mit einem großen Fragezeichen.

Dazu plante sie am kommenden Wochenende ihren Bruder zu ihren Eltern nach Hause einzuladen und wollte ein gemütliches Wochenende verbringen.

Wenn sie dort alle nötigen Informationen erhalten hatte, wollte sie in der folgenden Woche zum Heim fahren, in dem sie ihre Jugend verbracht hatte, um weitere Namen von Pflegeeltern zu bekommen.

Bis dahin konnte sie sich mit den unterschiedlichen Typen ihrer Vergangenheit beschäftigen.

Sie begann mit dem letzten. Thomas Mitchell, der Banker. Von ihm hatte sie noch das Meiste präsent. Sie wusste mittlerweile wo er wohnte, wo er arbeitete und alles was ihr das Internet noch innerhalb von zwei Stunden verraten konnte.

Scheinbar war Thomas gar nicht so unbekannt.

Er war achtundzwanzig Jahre alt und arbeitete seit der Ausbildung bei der Bank. Daneben war er auf einer Singlebörse angemeldet und datete regelmäßig hübsche Frauen, zumindest wurde ihm das auf Facebook von Freunden und Familienmitgliedern so unterstellt. Bilder von diesen Mädels gab es tatsächlich nicht. Daneben trieb er scheinbar Sport als Ausgleich. Er war in der Nähe schon seit einigen Jahren in einem Boxverein und machte auch regelmäßig bei Wettkämpfen mit. Warum hatte sie ihn eigentlich nicht dort kennengelernt, anstatt an einer Bushaltestelle? Nach kurzer Recherche verfiel sie schon wieder in Gedanken an die Zeit mit ihm. Sie hatten sich wirklich nicht lange gekannt, aber es passte einfach alles. Er war nett, scheinbar hatte er auch die gleichen Hobbys und wohnte gar nicht so weit entfernt. Drei Dates, was zum Teufel kann schon bei drei Dates so schieflaufen, dass er sie direkt wieder vergessen will? Das würde sie niemals verstehen. Daneben noch ihr Traum von letzter Nacht. War das wirklich seine Stimme, hatte er etwas von dem mitbekommen, was passiert war und wollte es nur nicht mehr wahrhaben oder sich erinnern?

Was konnte es sein? Oder war das eine Verschwörung gegen sie, in der alle, die sie kannte, bis auf James, mit drinhängen? Oder James auch und er war nur der beste Heuchler? Vielleicht war als Kind schon etwas falsch mit ihr, darum musste sie auch die vielen Familien wechseln, bis zu dieser einen, die aber nun auch nur aus Wissenschaftlern bestand, die versuchten sie zu analysieren. Oder war sie da, weil es nirgendwo anders sicher ist? Nicht für sie, sondern für die Menschen in ihrer Umgebung? Vielleicht war sie völlig aggressiv und versuchte Menschen umzubringen, ohne dass sie es bewusst wahrnahm, die wiederrum konnten sich retten und verletzten sie. Aber nur innerlich und vor allem: wie viele sollte sie dann schon auf ihrem Gewissen haben?!

Nein, das konnte nicht sein und das sollte sie sich auch nicht länger einreden, sie brauchte Fakten, keine Vermutungen.

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Die Zigaretten waren alle, die Wand war bereits mit den einzelnen Namen und bei Thomas sogar mit seinen Hobbys und beruflichen Verbindungen voll geheftet. Somit ging sie raus und fuhr intuitiv in die Nähe von Thomas' Arbeit, um sich Zigaretten zu kaufen.

Mit Herzklopfen bis zum Hals bestieg sie die Bank of America. Es war ein wirklich wunderschönes, altes Gebäude. Einem Rathaus ähnlicher als einer Bank, dass machte es etwas angenehmer sein Geld auszugeben und sich die materiellen Träume zu erfüllen. Die meisten Bankgebäude waren mittlerweile riesige Hochhäuser mit Glasfenstern. Das Symbol der Macht. Unauffällig schlenderte sie zunächst an den Bankschaltern vorbei und lokalisierte die Mitarbeiter. Noch hatte sie keinen Plan was sie hier überhaupt machte und was passieren würde, wenn sie Thomas hinter einem Schalter entdeckte, aber es musste sein. Irgendetwas musste sie nun einfach tun, zu Hause würde sie verrückt werden, sie musste Antworten auf die Fragen finden, den Post It's an der Wand eine Bedeutung geben, dem Leben wieder einen Sinn. Und wenn das hieß, Ängste zu überwinden, musste es das eben sein.

Sie entdeckte ihn an Schalter sieben. Ohne zu zögern ging sie auf den Schalter zu und wartete bis er sie erblickte.

„Guten Tag schöne Frau, was kann ich für sie tun?“

Genauso freundlich und charmant wie bei der ersten Begegnung, schien er auch heute wieder aufzutreten. Mit einem Funkeln in den Augen, als habe er heute den besten Tag seines Lebens, strahlte er sie an. Das ließ in ihr ein unbeholfenes und wütendes Gefühl aufkommen. Schließlich war er nicht ganz unschuldig, dass es ihr eben nicht so ging. Aber das konnte sie schnell überspielen.

„Herzlichen Dank! Sie strahlen ja bis über beide Ohren, ist heute etwa ihr Glückstag?“, fragte sie freundlich, bevor sie weiter zum Geschäftlichen übergehen wollte. „Bisher kann ich nicht klagen und ich vermute sie wollen ihn mir nun sicherlich auch nicht zerstören oder?“ Er zwinkerte mit seinen glänzenden braunen Augen, die ihr schon an der Bushaltestelle den Atem stocken ließen.

„Keine Sorge, ich habe keine Beschwerde, ich wollte eigentlich nur ein Depot eröffnen. Gerne würde ich einmal in die Welt der Aktien einsteigen.“

Was natürlich nicht annähernd stimmte, da sie von Finanzen absolut keine Ahnung hatte und auch kein Interesse. Auch dort hatte sie ihre ganz eigene Meinung, warum Aktien die Mentalität der Menschen verwässern, aber die musste sie nun einfach einmal zur Seite schieben und Kontakt aufnehmen.

„Das klingt ja wunderbar. Dann lade ich Sie sogar auf einen Kaffee ins Hinterzimmer, zu einem Beratungstermin ein. Sie haben Glück, denn wir haben gerade einen freien Raum, ich habe Zeit und sie treffen sogar mein Spezialgebiet, je nachdem wie investitionsfreudig und risikoreich sie sind.“

Wenn er wüsste! Was hatte sie schon zu verlieren?! Auf Risiko spielen würde vermutlich ihr neues Hobby werden.

„Gerne“

„Folgen sie mir.“

Er schenkte ihr einen Kaffee ein, legte ein paar Kekse auf einen Teller und setzte sich ihr gegenüber hin.

„So, dazu muss ich ihnen zunächst ein paar private Fragen stellen, nicht wundern. Sagen sie mir einmal wie sie heißen, wo sie wohnen und was sie beruflich machen? Haben sie eventuell bereits ein Konto bei uns in der Bank? Dann können wir das etwas abkürzen.“

„Nein, bisher nicht.“