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Was für eine Geschichte... So hatte er es sich tatsächlich nicht vorgestellt... Nachdem Leander Moss durch einen Unfalltod das Zeitliche gesegnet hat, berichtet er haarklein, was einem Menschen ab dem Zeitpunkt seines Todes widerfährt. Neben der banalen Wahrheit über den echten Sinn des Lebens, und ob Gott die Welt nun wirklich erschaffen hat, rettet er (mit ein wenig Unterstützung) nichts weniger als das komplette Universum und erkennt: Sterben ist gar nicht so schlimm!
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2015
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© 2015 Leander Moss
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-5268-4
Für meinen Vater, der mich immer liebt.
Wenn du das hervorbringst, was in dir ist,
Wird dich das, was du hervorbringst, retten.
Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist,
Wird dich das, was du nicht hervorbringst, zerstören.
Jesus von Nazareth, Thomasevangelium
So hatte ich es mir nun wirklich nicht vorgestellt. Mein Plan war ein völlig anderer gewesen. Und doch hätte ich es eigentlich voraussehen müssen. Wo doch schon im Leben selbst das Meiste anders läuft als geplant, hätte ich zu dem Schluss kommen können, dass es nach dem Tod auch nicht viel besser aussieht. Wie auch immer, es kam mir wirklich sehr ungelegen, gerade heute das Zeitliche zu segnen. Ich war noch nicht fertig. Es gab noch das ein oder andere, das ich gern in meinem Leben erledigt gewusst hätte. Zu allem Überfluss blendete mich dieses verdammte Todestunnellicht wie der Leuchtturm von Alexandria die Yacht von Ptolemaios.
Im Totenbuch der Tibeter wird berichtet, dass die Chance auf Erleuchtung, also die Chance, aus diesem ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens ein für allemal auszusteigen, unmittelbar nach dem Tod am größten sei. Also dann, wenn dich das Licht blendet. Danach werde es nur noch exponentiell schwieriger, das Nirwana aus diesem Zwischenzustand, in dem ich gerade abhing, zu erreichen. Um es kurz zu machen, nehme ich die Pointe vorweg: Ich habe irgendwie die Ausfahrt verpasst. Es gab auch ehrlich gesagt kein Schild mit der Aufschrift „Zur Erleuchtung hier entlang“. Letzten Endes war es aber besser so, denn mit meiner Erleuchtung gäbe es dieses Buch nicht. Den Lesern, die während des Lichttunnels gern direkt erleuchtet werden möchten, empfehle ich die Praxis des Phowa. Googeln Sie bitte selbst, was Phowa ist und wie es funktioniert!
Wie bereits erwähnt, war ich mit meinem Todeszeitpunkt überhaupt nicht einverstanden. Das hat wohl etwas mit dieser Liste unerledigter Lebensaufgaben zu tun, die der Mensch von heute gern mit sich herum trägt. Meistens in der Form von „Später werde ich ... reich werden ... ein Unternehmen gründen ... ganz groß raus kommen ... eine Weltreise machen ... anfangen zu versuchen, ein Buch zu schreiben ... und so weiter und so weiter.“ Wenn ich Ihnen, werter Leser und verehrte Leserin, als so eben Verstorbener einen gut gemeinten Rat geben darf: „Tun Sie es jetzt! Es gibt kein später.“ Irgendwann kommt bei jedem der Deckel drauf. Also carpe diem und mens sana in Campari Soda, oder so ähnlich.
Zum Thema „Später werde ich ... “ fällt mir gerade noch ein Witz ein: Ein uraltes Ehepaar sitzt vor dem Scheidungsrichter. Dieser fragt den Mann,
»Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Achtundneunzig«, antwortet der Mann.
»Und Ihre Frau?«
»Fünfundneunzig.«
»Warum um alles in der Welt wollen Sie sich denn in Ihrem Alter überhaupt noch scheiden lassen?«, fragt der Richter.
»Ach wissen Sie, wir wollten noch so lange warten bis die Kinder tot sind.«
Was mir bereits vor meinem Tod bewusst war, ist die Tatsache, dass sämtliche Energie im Leben nur geborgt ist. Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem ich diese zurück zu geben habe. Erstaunlich ist, dass die meisten Menschen das wissen, aber trotzdem weiter Dummheiten fabrizieren und so tun, als würden sie ewig leben. Hier empfehlen die alten Tolteken, und auch ich als Toter, jeden Moment des Lebens im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit zu betrachten. Dadurch verschwinden fast alle Sorgen und Ängste, bis auf die Angst vor dem Tod natürlich. Aber auch diese wird verschwinden, nachdem sie mein Buch gelesen haben. Falls nicht, dann verschwindet sie spätestens, nachdem Sie gestorben sind. Alle Ängste im Leben sollen übrigens auf nur eine Angst zurückzuführen sein. Sie wissen schon welche: Die Angst vor dem Tod, sagen die Tolteken und C.G. Jung, glaube ich. Fakt ist, dass sich im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit auch solche Streitfragen, ob die Äste des Kirschbaums vom Nachbargrundstück nun Ihnen gehören oder dem Kirschbaumbesitzer, in Schall und Rauch auflösen werden.
Bevor ich weiter von dem Licht erzähle, das mich beinah das Augenlicht meines Energiekörpers gekostet hätte, interessiert es Sie vielleicht noch, wie ich überhaupt gestorben bin. Die Kurzfassung: Als ich geradeaus ging und nach rechts schaute, kam die Straßenbahn von links. Interessant ist, dass man zunächst gar nicht bemerkt, dass man tot ist, wenn man so abrupt stirbt. Ich wurde buchstäblich aus meinem Körper geworfen und schaute ganz interessiert dem Pulk von Menschen zu, die dort im Regen einen Halbkreis um die Fahrerkabine der Linie 1 bildeten. Von Sensationslust getrieben, ging ich natürlich auf die Menge zu, um auch einen Blick auf das zu erhaschen, was über zwanzig erwachsene Menschen bei diesem Mistwetter dazu veranlasste, sich vollregnen zu lassen. Eigentlich hätte mir meine Situation schon in dem Moment auffallen müssen, als ich einen der Schaulustigen fragte, was denn passiert wäre, und von ihm keine Antwort erhielt. Ich tat sein Verhalten aber damit ab, dass das Ereignis wohl so interessant war, dass der Passant meine Frage nicht mitbekam. Erst viel später sollte ich erfahren, dass er mich gar nicht hören konnte, weil ich mich in einer Art Zwischenzustand unmittelbar vor dem Tunnellicht befand, in den jene Verstorbenen eintreten, die nicht eines natürlichen Todes sterben, sondern so wie ich durch einen Unfall oder gar Mord in die ewigen Jagdgründe eingehen.
Nun stand ich also dort in der letzten Reihe des Menschenkreises und wartete artig, bis sich ein Spalt auftat, der mir freie Sicht auf das Schauspiel bot. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon geahnt, dass ich mich mit meinem Lichtkörper durch alles und jeden hindurch bewegen konnte, so wäre ich direkt in die erste Reihe durchmarschiert. Es tut mir leid. Ich wusste es nicht besser. Ich bin in diesem Leben auch zum ersten Mal gestorben, und als Kavalier der alten Schule verbat mir mein Anstand mich vorzudrängeln. Wenn ich eins konnte in diesem Leben, dann war das warten. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass man im Leben die meiste Zeit wartet? Man wartet auf den Bus, auf die Ferien, auf den Urlaub, auf den Feierabend, auf besseres Wetter, auf die Geburt des Kindes, auf den Beginn der Pubertät des Kindes und dann ganz schnell auf das Ende derselben. Beim Arzt gibt es sogar bezeichnender Weise das von allen Patienten gefürchtete und berüchtigte Wartezimmer. Auch Sie als Leser warten gerade darauf, dass ich endlich aufhöre, vom Warten zu schreiben, und verdammt noch mal erzähle, was sich als Nächstes zugetragen hat. Bitte haben Sie jedoch Nachsicht und Verständnis dafür, dass ich als kürzlich Verstorbener nach einem relativ langen Leben trotz Unfalltod sehr mitteilungsbedürftig bin. Das Schöne am Warten ist, dass auch dieses irgendwann vorüber geht. So ist es ja mit allen Situationen im Leben. Irgendwann ist es vorbei. Dieser Gedanke ist besonders hilfreich in unangenehmen Situationen. Irgendwann ist auch das vorbei. Nun denn, auch mein Warten war irgendwann vorbe,i und die ersehnte Lücke tat sich auf. Das Erste, was mir an der Person oder an dem, was von dieser noch übrig war, auffiel, war die Kleidung. Der arme Tölpel, der mit verrenkten Gliedmaßen und dem Gesicht nach unten auf den Schienen lag, hatte die gleiche Jacke an wie ich. Während der Fahrer der Straßenbahn und ein Fahrkartenkontrolleur gemeinsam versuchten, die Unfallstelle abzusichern, hörte man schon die unverschämt laute Sirene des Notarztwagens, der die Pole Position vor der Feuerwehr einnahm, dicht gefolgt von der Polizei. »Da kommt jede Hilfe zu spät. Der ist hinüber!«, sagte einer der Passanten, und erntete ein synchrones Nicken der anderen Gaffer. Nachdem ich die Jacke wiedererkannt hatte, fiel mein Blick auf Hose und Schuhe der frischen Leiche. Auch diese beiden Kleidungsstücke kannte ich, und langsam schlich sich bei mir das Gefühl ein, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Nachdem ich vor Angst meine Zähne auf meinem gebeugten Zeigefinger fest verankert hatte, ließ ich meinen Blick langsam zum Kopf des Toten wandern und erblickte unter der mit Blut verschmierten blauen Wollmütze – in der festen Überzeugung, auch diese schon irgendwo einmal gesehen zu haben – mir sehr bekannte grau-schwarze Locken. Plötzliche Panik ergriff mich. Wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich meinen Nachbarn gebeten mich zu kneifen. Doch meine Angstattacke verleitete mich zu einer spektakuläreren Aktion. Ich trat in die Mitte des Kreises und erhob meine Stimme, »Ich glaube, das bin ich dort auf den Schienen.« Natürlich hörte mich niemand. »Hallo«, schrie ich. Keine Reaktion. Meine Angst wurde noch größer, bis sie von einem auf den anderen Augenblick verschwunden war. Denn dann kam mir die Idee, dass das Ganze eine neue Folge von „Vorsicht Kamera“ sein musste, und wahrscheinlich einer meiner Freunde die Nummer inszeniert hatte. »Okay, Ihr habt gewonnen. Ihr könnt aufhören. Wo ist die Kamera? Ihr habt das wirklich gut gemacht. Ich bin voll drauf reingefallen. Aber jetzt habe ich euch.« Niemand beachtete mich. Es schaute kein Mensch in meine Richtung. So gut können die doch gar nicht sein. Sind das alles Profischauspieler? Langsam wurde ich wütend. Jetzt half nur noch eines. Ich musste mir einen der Schaulustigen am Schlafittchen packen und ordentlich durchschütteln. Meine Wahl fiel auf den Fahrkartenkontrolleur. Mit dieser Sorte Mensch hatte ich sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen. Kontrolleure, Politessen und GEZ-Mitarbeiter haben irgendwie alle die gleiche Aura. Sicherlich können Sie sich bereits vorstellen, was geschah, als ich versuchte, mir die blau uniformierte Hochnäsigkeit zu schnappen. Ich schnappte ins Leere und fiel durch ihn hindurch. Ich hatte ja keinen Körper mehr. Was Sie sich vermutlich ebenfalls vorstellen können, ist meine Reaktion auf diese Bauchlandung. Jetzt hatte ich wirklich Angst; Todesangst, um genau zu sein. Vielleicht klingt das jetzt im Nachhinein komisch. Ich versichere Ihnen jedoch, dass es zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht lustig war. Ich wusste ja noch nicht, dass ich bereits tot war.
Ich musste versuchen, meine Gedanken zu ordnen. Ich ging durch den Fahrer der Straßenbahn und eine ältere Dame mit Yorkshire-Terrier hindurch, um etwas Abstand zum soeben Erlebten und der Menschentraube zu gewinnen. Ich versuchte mich zu erinnern. Was war geschehen? Zum Glück hatte ich bereits zu Lebzeiten etwas über diesen Zwischenzustand gelesen. Wie erwähnt, wird dieser nur Unfall- und Mordopfern zuteil.
Der so Verstorbene realisiert zunächst nicht, dass er tot ist. Das kam mir irgendwie bekannt vor. Ferner kann es für den unbewussten Toten gefährlich werden, wenn dieser zu Lebzeiten Raucher oder Alkoholiker war. Denn auch im Tod möchte der Süchtige seinen Lastern weiter frönen. Als Toter merkt man jedoch sehr rasch, dass Rauchen und Saufen ohne Körper irgendwie weniger funktionieren. Daher kann es sein, dass diese unbewusst gestorbene süchtige Seele einen noch lebenden daherschlendernden Raucher besetzt, und dieser sich wundert, warum er auf einmal fünf Zigaretten täglich mehr raucht. Gleiches gilt für Alkoholiker. Die meisten Alkoholiker sind mehrfach besetzt von plötzlich verstorbenen Trinkern und würden allein vielleicht nur einen Schnaps trinken. Da aber möglicherweise noch neun weitere Seelen im gleichen Körper hausen, trinken diese alle einen mit.
Zum Glück war ich in meinem letzten Leben weder Nikotin- noch Alkoholkonsument und hatte so eine Sorge weniger. Sollten Sie gern mal etwas tiefer ins Glas schauen oder gar Kettenraucher sein, dann haben Sie ab jetzt immer eine Ausrede parat: Sie können nichts dafür. Sie sind ja besetzt. Falls Sie jedoch mit dem Rauchen und Trinken aufhören möchten, dann gehen Sie doch einfach zu einem Schamanen und lassen sich Ihre Besetzungen entfernen.
Langsam freundete ich mich mit dem Gedanken an, dass ich mausetot war. Im Nachhinein kann ich sagen, dass alles fürchterlich schnell ging. Ich habe das „Aus dem Körper Stoßen“ kaum gespürt und kann Ihnen versichern: „Sterben tut überhaupt nicht weh!“ Wenn ich mir so meine Reste auf den Schienen ansah, war ich sogar insgeheim froh, dass ich tot war. Denn hätte ich in diesem Zustand noch gelebt, dann hätte das wahrscheinlich sehr weh getan. Drei geschlagene Tage verbrachte ich in meiner Lichtkörperform, drei aufregende und abenteuerliche Tage. Zunächst beobachtete ich natürlich, wie meine Leiche weggeschafft wurde. Zwei kräftige Burschen im Rettungssanitäterkostüm legten mich auf eine Bahre und schmissen mich in den Kofferraum ihres orange-weiß lackierten Rennwagens. Zimperlich waren die beiden dabei nicht. Mit etwas Phantasie glich die Situation einer Schlachthofszene, in der das frisch erlegte Schwein gerade zum Metzger abtransportiert wurde. »So geht man nicht mit einem Toten um«, sagte ich den beiden tauben Medizinstudenten. Im Krankenhaus angekommen, wurden wir freundlich begrüßt: »Was habt ihr mir denn heute Schönes mitgebracht? Wieder so einen depressiven Spinner, der sich die intelligenteste Art zum Freitod überlegt hat?«, fragte einer der Weißkittel meine beiden Träger. Arschloch. »Straßenbahnopfer«, sagte der kräftigere meiner beiden Butler. »Opfer oder Hüpfer?«, fragte der Mann in Weiß grinsend. »Gescheiterter S-Bahn-Surfer«, konterte Butler Nummer zwei. Dann brachen die drei in schallendes Gelächter aus. Hätte ich noch einen Körper gehabt, dann wüssten Sie sofort, wer hier gleich tot gewesen wäre. Mit nicht vorhandenen Samthandschuhen rollten die zwei Gorillas mich auf eine schmale Metallpritsche, die auf einer Art Teeservicewagen durch die Katakomben der Universitätsklinik gelenkt wurde. Minotaurus hätte seine wahre Freude an diesem Labyrinth gehabt. Nach mehreren Kilometern Buckelpiste kamen wir endlich an meinem Bestimmungsort an; ein ca. 50m langer und 10m breiter Bunker mit in die Wand gezimmerten Kühlschränken in Menschengröße. In 4 Etagen wurden hier sämtliche Leichen gestapelt. Im Container 27C war wohl noch ein Zimmer frei, und die Elfenhände meiner treuen Diener schmissen mich in die geöffnete Schublade meines neuen Zuhauses. Bevor sie die Lade mit einem finalen Ruck zuklatschten, konnte ich noch einen letzten Blick auf den Zettel an meinem dicken Zeh erhaschen, den mir der Weißkittel am Empfang verpasst hatte. Dort waren mein Name und der Tag meines Ablebens fein säuberlich notiert worden: Leander Moss. Klappe zu, Affe tot.
In der Stille des Kühlraums, die nur durch das gleichmäßige Summen der 400 Gefrierschränke begleitet wurde, hatte ich endlich etwas Zeit gefunden, mich mit meiner neuen Daseinsform zu beschäftigen. Fakt war, dass ich noch eine Form von Bewusstsein hatte, nachdem ich meinen fleischlichen Körper verlassen hatte. Außerdem hatte ich so etwas wie einen Energiekörper, der meinem menschlichen Körper erstaunlich ähnlich war. Nach genauer Betrachtung meiner Hände, erkannte ich jedoch die durchschimmernde Konsistenz meines sogenannten Lichtkörpers. Ich hatte ja bereits herausgefunden, dass man mich weder hören noch sehen konnte, und Menschen für mich kein Hindernis darstellten, wenn ich durch diese hindurch gehen wollte. Da fragte ich mich natürlich, wie es mit Wänden und anderen physischen Hindernissen aussehen würde. Aus Gewohnheit hatte ich meinen Weg von der Unfallstelle bis zu meiner arktischen Behausung so wie jeder andere Normalsterbliche zurückgelegt; ich ging durch Türen, wo es Türen gab und vermied es, gegen irgendetwas zu laufen. Selbst im Krankenwagen setzte ich mich an eine freie Stelle neben meiner Leiche. Jetzt war ich natürlich neugierig geworden, ging zur nächstbesten Wand der Kühlkammer und legte sachte meine Hand auf den Beton. Fest. Seltsam. Warum konnte ich durch Menschen gehen? Könnte die Wand auch nicht fest sein? Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, da rutsche meine Hand auch schon bis kurz vor den Ellbogen in die Wand hinein. Cool, dachte ich und ging hindurch. Ein gleißendes Licht blendete mich.
Ich sah vier Menschen mit grünem Mundschutz um einen Metalltisch gebeugt. Das Licht war nicht das erwartete Todestunnellicht, sondern die Energiefressleuchte des Operationssaals.
»'Tschuldigung, wollte nicht stören«, sagte ich und erinnerte mich im gleichen Moment an meine Unsichtbarkeit. »Ich geh' dann mal wieder«, entschwand meinem Mund im vollen Bewusstsein, dass mich hier niemand hörte, und verschwand rückwärts in meine arktische Heimat. Sofort keimte in mir der Gedanke, warum der Boden unter meinen Füßen fest war und ich nicht einfach durch die Erde hindurch fiel. Kaum gedacht, schon gemacht. Mein rechter Fuß versank knöcheltief im Beton des Fußbodens. In letzter Sekunde lenkte ich meine Gedanken in eine andere Richtung und ... steckte fest. Lachen Sie nicht. Zu Beginn war es gar nicht so einfach, mit dieser neuen Körperlichkeit klar zukommen. Außerdem hatte ich noch keinen Energiekörperführerschein gemacht. Zum Glück hatte ich den Dreh irgendwann raus und verstand, dass hier ein paar Dinge anders liefen als in der Menschenwelt.
Nach meiner Expedition in den Fußboden kam mir natürlich der Gedanke, ob ich mich auch in die entgegengesetzte Richtung bewegen könnte. Sekundenbruchteile später schwebte ich knapp unter der Decke und freute mich meines Zwischenlebens. Ich konnte tatsächlich fliegen. Beschwingt vollführte ich einige akrobatische Kunststückchen, die die Leistung eines jeden von der Schwerkraft abhängigen Topathleten in den Schatten gestellt hätten. Ich musste unbedingt raus aus dem Krankenhaus, um die Grenzen meiner neu erworbenen Flugkünste zu testen, und nahm den kürzesten Weg nach oben. Gemächlich schwebte ich durch die Etagen des Krankenhauses, durchquerte Patienten, Ärzte, Pfleger und Schwestern, sah sterbende Menschen und neugeborene Kinder, blickte in die Augen verzweifelter und vor Freude strahlender Angehöriger, hörte das Reinigungspersonal über den arroganten Oberarzt lästern und sah denselben mit der Intensivschwester in der Besenkammer in intensiver Mund zu Mund-Beatmung vereint. Auf dem Dach angekommen, breitete ich meine Schwingen aus und sauste über die beleuchtete Stadt. Ein atemberaubendes Gefühl, wenn ich noch einen Atem gehabt hätte. Ich kam mir vor wie Supermann und genoss die Freiheit des Fluges in vollen Zügen. Ich schoss durch die Wolken, begleitete einen Schwarm Vögel im Formationsflug, ließ mich steil gen Erdboden stürzen, um kurz vor demselben abzubremsen und dann wieder und wieder den Himmel zu erstürmen. So einen Spaß hatte ich schon ewig nicht mehr gehabt. Ich war der König der Lüfte.