Sterbende Magie - Jennifer Heck - E-Book

Sterbende Magie E-Book

Jennifer Heck

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Beschreibung

Die Magie in Arantis stirbt. Auf der Flucht landen die magiebegabten Brüder Kiro und Luan in einem Fischerdorf an der Küste. Während Kiro so schnell wie möglich raus aufs Meer will, um die sagenumwobene Insel der Magier zu finden, kommt der geschwächte Luan im Schloss auf den Klippen unter. Das marode Gebäude mit seinen staubigen Büchern und der Wind, der nachts seine Lieder mit den tosenden Wellen singt, faszinieren ihn – ebenso wie der mürrische Schlossherr. Doch die Zeit drängt und die Brüder müssen sich entscheiden: für die Magie oder für ihre Heimat.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Table of Contents

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Danksagung

Weitere Werke aus dem Verlagsprogramm

 

 

 

 

Sterbende

Magie

 

 

 

 

 

 

 

Ein Roman von Jennifer Heck

 

 

 

Impressum

Copyright © 2022 Traumtänzer-Verlag Lysander Schretzlmeier

Ostenweg 5

93358 Train

www.traumtaenzer-verlag.de

© 2022 Jennifer Heck

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte sind vorbehalten.

 

 

ISBN: 978-3-947031-38-2 (Taschenbuch)

ISBN: 978-3-947031-39-9 (E-Book mobi)

ISBN: 978-3-947031-40-5 (E-Book ePub)

 

Autorin: Jennifer Heck

Covergestaltung: Constanze Kramer

www.coverboutique.de

 

Weitere Romane der Autorin:

Gebrochene Flügel - Zwischen Fliegen und Fallen (Traumtänzer-Verlag 2018)

Bis der letzte Vorhang fällt (MAIN Verlag 2020)

 

 

Kapitel 1 - Kiro

 

Die Magie im Land verändert sich. Es ist nichts, was man mit bloßem Auge sehen kann. Ich kann es fühlen. Ein feines Ziehen in der Magengegend. Ein unangenehmes Kribbeln im Hinterkopf. Ein Gedanke, der meinen Kopf nicht mehr verlassen will. Wann immer ich mich umdrehe, zurück in die Richtung schaue, aus der wir gekommen sind, spüre ich die Veränderung. Ein düsterer Schleier legt sich über Arantis, erstickt nach und nach die Magie im Land. Doch niemand scheint es wahrnehmen zu können, außer mir. Nicht einmal Luan.

»Was ist los?« Mein Bruder stöhnt leise, stemmt schweratmend die Hände in die Seite. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.

»Nichts.« Ich kehre dem kriechenden Schatten den Rücken zu. Vielleicht sehe ich Gespenster. Besser nicht zu sehr darüber nachdenken. Besser den Blick nach vorne richten. Auf Luan, der einige Schritte vor mir geht. Mein Bruder bereitet mir Sorgen. Immer wieder stolpert er über Wurzeln, verliert das Gleichgewicht. So geht es schon seit … Noch einmal werfe ich einen Blick zurück in die Ferne, wo nichts als Bäume, trockenes Gestrüpp und der schmale Waldweg zu sehen sind. Trügerische Ruhe. Ich schüttele kurz den Kopf, verbanne die Gedanken an die Hauptstadt und den Hof unserer Großeltern.

Rasch schließe ich zu Luan auf, klopfe ihm aufmunternd auf die Schultern. Wir müssen weiter. Die Zeit drängt und wir wissen nicht, wie lang der Weg noch ist.

»Da braut sich was zusammen.« Luan starrt in den wolkengrauen Himmel.

Ich nicke langsam, ziehe mir die Mütze tiefer ins Gesicht. Ein eisiger Wind peitscht uns entgegen, wirbelt das raschelnde Laub zu unseren Füßen auf. Mit zunehmender Stunde wird der Wald düsterer. Ein schummriges Abendlicht dringt durch die lichten Baumkronen über uns, bringt die letzten roten und gelben Blätter zum Leuchten, wirft wandernde Schatten auf den Boden.

Ich hoffe, dass wir den Wald hinter uns lassen können, bevor die Nacht hereinbricht. Huschende Geräusche im Unterholz zeigen uns, dass wir nicht allein sind. Ich kann nur hoffen, dass die Tiere nicht zu neugierig werden – vor allem nicht das Rudel Wölfe, das uns in der vergangenen Nacht mit ihrem Geheule den Schlaf geraubt hat. Zudem hat Luan recht. Ein Gewitter liegt in der Luft. Der stärker werdende Wind ist sein Vorbote. Wir sollten uns rechtzeitig nach einem geeigneten Unterschlupf umsehen.

Zu gerne würde ich unsere Schritte beschleunigen, doch mit Luan an der Seite ist das unmöglich. Besorgt betrachte ich meinen Zwillingsbruder. Sein Atem geht schwer, immer wieder stockt er. Ich weiß, dass er versucht, das Husten vor mir zu verbergen - als würde ich das nicht merken. Seit wir unterwegs sind, hat sich sein Zustand stetig verschlechtert. Mit zitternden Händen streicht er sich das blonde, schweißnasse Haar aus dem Gesicht.

»Ich … Ich muss was trinken.« Er räuspert sich, unterdrückt erneut ein Husten.

»Setz dich hin.«

»Es geht schon.«

»Eine kurze Pause schadet uns nicht.«

»Aber …«

»Luan, tu’s einfach.«

Er lässt sich am Stamm einer mächtigen Eiche hinuntergleiten. Das Laub ist feucht und dreckig, doch das macht keinen Unterschied mehr. Unsere Kleidung ist ohnehin bereits klamm und strotzt nur so vor Dreck.

Seufzend gehe ich neben ihm auf die Knie. Luan hat die Augen geschlossen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich im Takt seiner gehetzten Atmung. Mir gefällt der rasselnde Klang nicht. Ich lege ihm die Hand auf die Stirn. Heiß. Viel zu heiß. Ich verstehe das nicht. Wir werden nicht krank. Niemals.

Ich kann die Aura um ihn herum sehen, die Bewegungen der kleinen Moleküle, die ihn wie jedes Lebewesen umgeben. Nur für uns Magier ist dieses Spiel des Lebens sichtbar. Wir können eingreifen, verändern, reparieren. Ich weiß genau, wo der Fehler sitzt. Ich kenne das Muster seiner Aura in- und auswendig, vielleicht besser als mein eigenes. Darum stechen mir die Ungleichheiten, die Abnormitäten, die das Fieber verursachen, sogleich ins Auge. Es ist wie ein Loch in einem Wollpullover. Doch ich kann nicht darauf zugreifen, kann die Stränge nicht neu anordnen, kann das Loch nicht schließen. Ich kann ihn nicht heilen. Es ist frustrierend.

»Es funktioniert noch immer nicht, oder?«

Luan öffnet träge die Augen. Sie sind von hellem Blau - wie meine. Doch seinen fehlt es an Glanz. Matt und müde schauen sie mich an. Der Anblick lässt eine eisige Angst in mir aufsteigen. Ich bin machtlos. Ich kann ihm nicht helfen. Tatenlos muss ich dabei zuschauen, wie sich sein Zustand mehr und mehr verschlechtert.

»Warum kannst du dich nicht selbst heilen?«

Diese Frage habe ich ihm schon zu oft in den vergangenen Stunden gestellt. Er antwortet nur mit einem hilflosen Schulterzucken.

Ich sage ihm nicht, wie sehr ich mir Sorgen mache. Will ihn nicht weiter verunsichern. Doch warum passiert so etwas ausgerechnet jetzt? Nun, da wir auf der Flucht sind. Wo es für uns so wichtig ist, schnell zu handeln und einen klaren Kopf zu bewahren.

»Es wird schon wieder«, murmelt mein Bruder, doch es schwingt keine Sicherheit in seiner Stimme mit. Ich weiß, dass die Geschehnisse der letzten Tage ihm zu schaffen machen und ihn nicht loslassen. Doch wir haben nicht die Zeit, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Welt, so wie wir sie kennen, existiert nicht länger. Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Land zu verlassen. Ich höre die Stimme unserer Mutter im Kopf: »Wenn ich nach Sonnenaufgang nicht bei euch bin, geht zur Küste und nehmt ein Schiff nach Vayara. Auf dem Meer seid ihr sicher. Es wird euch beschützen.«

Das Meer. Der weite Ozean. Es kann nicht mehr weit sein.

»Wir müssen weiter.«

Ich rappele mich auf, strecke Luan die Hand hin. Er nimmt einen letzten Schluck aus seinem Wasserbeutel, dann lässt er sich von mir hochziehen.

Seine Beine sind schwach, immer wieder stolpert er unachtsam über Wurzeln. Ich bleibe dicht an seiner Seite, bereit ihn bei Bedarf zu stützen.

 

***

 

Als wir die Klippen erreichen, beginnen die ersten Fäden der Dunkelheit hinter uns ein Bild der Nacht zu weben. Wir haben es rechtzeitig geschafft, den Wald hinter uns zu lassen. Die Klippen vor uns enden abrupt im Nichts. Dahinter erstreckt sich nur noch das Meer. Kalt, weit, tosend. Blass ist es. Leuchtet förmlich im Kontrast zu den dunklen Wolken, die sich am Horizont auftürmen. Erste Blitze zucken über den Himmel, begleitet von einem tiefen Grollen.

Was für eine Begrüßung. Trotz Erschöpfung schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ich teile es mit Luan, den der Anblick des Meeres ebenfalls in den Bann geschlagen hat. Wir stehen am Rand der hohen Klippe, müde, erschöpft. Unter uns geht es sicherlich hundert Meter in die Tiefe. Wir haben es geschafft. Tief atme ich ein. Ist das der erfrischende Geruch der See, von dem alle immer gesprochen haben? Es riecht salzig, rauchig und ein bisschen - fischig. Ich rümpfe die Nase und erst jetzt erkenne ich das Dorf, das nicht allzu weit entfernt im Bodennebel liegt. Schmale Rauchwolken steigen aus den Kaminen, der Geruch wird vom Wind zu uns getragen. Oberhalb des Dorfes, fast auf unserer Höhe, befindet sich ein Schloss, das sich an die Klippe schmiegt.

Luans bellendes Husten reißt mich von dem Anblick fort. Ich stütze ihn, ziehe ihn sicherheitshalber von den Klippen fort. Der Klang seines gehetzten Atems ist in den letzten Stunden schlimmer geworden. Kratzend, schmerzhaft allein beim Zuhören.

»Komm schon, wir haben es geschafft. Wir sind da.«

Doch Luan reagiert kaum. Die Stirn meines Bruders glüht, in seinen Augen flackert es unruhig.

»Verdammt«, fluche ich leise.

Das Schloss ist uns näher als das Dorf. Kaum Lichter flackern hinter den zahlreichen Fenstern.

»Ich hole dir Hilfe«, murmele ich.

»Ich kann nicht mehr, Kiro.« Seine Stimme ist schwach. Luan schafft es kaum, ein paar Schritte zu gehen. Anscheinend haben ihn nun, da wir unser Ziel erreicht haben, endgültig die Kräfte verlassen.

»Nur noch ein bisschen durchhalten, ja?«

Zu allem Überfluss fängt es nun an zu regnen. Kalte Tropfen fallen auf meine Haut, beißen sich in der ohnehin schon klammen Kleidung fest. Innerhalb von Sekunden sind wir nass bis auf die Knochen. Verdammt, das kann nicht gut für Luan sein. Ich stütze meinen Bruder so gut ich kann. Den rutschigen Felsen der Klippen folgt weiches Weideland, doch der Regen prasselt so stark auf uns nieder, dass der Boden binnen kürzester Zeit aufgeweicht ist. Unsere Füße versinken im Matsch, der sie nur widerwillig mit schmatzenden Geräuschen wieder freigibt. Vor uns tauchen die Umrisse einer Holzhütte auf. Eine Scheune. Ich atme erleichtert auf. Das ist noch besser als das Schloss. Näher. Keine Menschen. Niemand würde unangenehme Fragen stellen.

»Komm schon, Luan.«

Endlich erreichen wir die Scheune. Dem Geruch zufolge handelt es sich um einen Stall. Ein heller Blitz erleuchtet die Weide für einen Moment. Als ein Donnerschlag die Welt erbeben lässt, ertönt vom Inneren der Hütte ein aufgeregtes Hufgetrappel. Für mich klingt das eher nach Pferden als nach Kühen.

Luan stöhnt und krümmt sich zusammen. Das nimmt mir jegliche Entscheidung ab. Er lässt sich zu Boden gleiten, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Holzwand und beginnt so kräftig zu husten, dass sein ganzer Körper erbebt.

Die Tür zum Stall ist verschlossen. Ich presse die Lippen fest zusammen, berühre das Schloss. Metall ist schwierig. Dadurch, dass es von Menschenhand bearbeitet wurde, hat es den Großteil seiner Magie und Wandelbarkeit verloren. Bei Lebewesen ist das Weben von Magie einfacher. Alles was atmen, wachsen oder sich durch die Natur verändern kann, hat eine unterschiedlich stark ausgeprägte Aura. Die Aura des Metallschlosses ist nur schwach. Ich greife nach dem leichten Schimmer, ändere die Anordnung, bringe das Metall dazu, seine Beschaffenheit zu verändern. Es wird porös, bricht. Alles, was es nun braucht, ist ein kräftiger Ruck. Das Metall zerspringt und lässt die schwere Holztüre aufschwingen. Der dumpfe, warme Geruch von Pferden schlägt uns entgegen.

»Puuh.« Ich versuche durch den Mund zu atmen. Der Geruch ist zwar streng, aber die Wärme wird gut für Luan sein.

»Na, komm.« Ich ziehe meinen Bruder hoch, gemeinsam betreten wir den Stall. In fünf Boxen stehen Pferde, starren uns aus ihren großen runden Augen an, schnauben leise. Der Schecke in der linken Ecke ruckt immer wieder mit dem Kopf auf und ab. Ich beobachte die Pferde wachsam. Diese großen Tiere sind mir nicht geheuer.

Eine der vorderen Boxen ist bis auf einen Haufen Heu leer.

»Leg dich hin«, murmele ich Luan zu, der ins Heu hinabgleitet, sich hustend am Boden zusammenkrümmt. Ich gehe neben ihn in die Hocke, streiche ihm das Haar aus dem Gesicht.

»Was machst du nur, Bruder?«

Luan will antworten, doch heraus kommt nur ein bellendes Husten.

»Shh. Alles wird gut.«

Ein letztes Mal versuche ich ihn zu heilen. Doch es ist zwecklos, ich komme nicht an ihn ran. Es ist, als wäre da eine Blockade zwischen ihm und mir.

Ich seufze leise. »Ich hole Hilfe. Versuch ruhig zu atmen, ja?«

Luan zittert am ganzen Körper. In der nassen Kleidung kann er nicht warm werden. Kurzentschlossen schäle ich ihn zumindest aus dem Mantel. Auf einer Ablage am Eingang des Stalls finde ich eine zusammengelegte Wolldecke, die wohl für die Pferde gedacht ist.

Luan wickelt sich in die Decke ein, schließt die Augen und scheint mich nicht mehr wahrzunehmen.

Es fällt mir schwer, ihn zurückzulassen. Ich kann nur hoffen, dass es in dem Dorf einen Heilkundigen gibt. Es widerstrebt mir, einen von diesen Quacksalbern aufzusuchen, doch da ich sonst keine Möglichkeit habe, Luan zu heilen, bleibt mir nichts anderes übrig.

 

***

 

Das Gewitter hält die Welt draußen fest im Griff. Der Donner grollt nicht mehr nur in der Ferne, er duelliert sich mit dem Rauschen und Krachen der Wellen, die gegen die Klippen branden. Blitze zucken über den Himmel, spiegeln sich im trüben Wasser. Normalerweise liebe ich Gewitter, lasse mich davon begeistern, welche Macht sie entfalten können. Doch heute könnte ich auf diese Demonstration der Natur verzichten. Meine Schuhe bestehen nur noch aus einem einzigen Schlammbrocken, der Mantel schützt längst nicht mehr vor Nässe. Endlich erreiche ich einen befestigten Weg, der am Schloss vorbeiführt.

Aus der Nähe wirkt das Gebäude noch eindrucksvoller. Alt muss es sein, thront sicher schon über hundert Jahre am Rand der Klippe. Es ist komplett aus Stein gebaut, ein Turm schraubt sich an der linken Seite in die Höhe. Das Hauptgebäude umfasst mehrere Stockwerke. Burgzinnen und hohe Fenster verzieren die Fassade. Unter dem Torbogen, der mich nahezu wie ein Zwerg fühlen lässt, bieten mächtige Flügeltüren aus Holz Einlass. Ich überlege, ob es die Größe ist, die mich einschüchtert, oder das Gefühl von Kälte, die das Gebäude ausstrahlt. Hinter einzelnen Fenstern flackert Kerzenschein. Irgendjemand lebt also hier. Kurz überlege ich, dort um Hilfe zu bitten. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass sich in diesen Hallen ein Heilkundiger befindet?

Ein Blitz lässt den Weg vor mir aufleuchten - und enthüllt einen Mann, der auf den ersten Blick erschreckend kopflos wirkt, sich auf den zweiten schlichtweg den Mantel über den Kopf gezogen hat. Zügig eilt er an der Wegkreuzung vor mir geradeaus, direkt auf den Schlosseingang zu.

»He!«, rufe ich. »Warten Sie! Ich brauche Hilfe!«

Ob das tosende Meer meine Worte verschluckt oder ob der Mann sie einfach ignoriert, er läuft weiter. Ich beginne zu rennen.

»Bitte, ich brauche Hilfe!«

Der Mann zögert, endlich dreht er sich um, sieht in meine Richtung. Ein altes, zerknittertes Gesicht lugt unter dem langen Mantel hervor, den er sich mit einer Hand über den Kopf gezogen hält. Mit der anderen Hand presst er einen Stapel Papier an die Brust.

Der Mann verzieht angestrengt das Gesicht, scheint in dem meinen nach etwas Bekanntem zu suchen - und nicht zu finden.

»Ein Fremder«, stellt er fest und klingt dabei wenig begeistert.

Ich unterdrücke den Drang, mir die Mütze tiefer ins Gesicht zu ziehen.

»Ich brauche einen Heilkundigen. Jemanden, der sich mit erhöhter Körpertemperatur und Husten auskennt.«

»Fieber?« Der Alte reißt alarmiert die Augen auf. »Halten Sie sich fern von diesem Ort!« Er deutet mit den Händen eine Kreuzbewegung an und lässt dabei beinahe seinen Papierstapel fallen.

Ich lasse nicht locker. »Gibt es hier nun einen Heilkundigen oder nicht?«

»Unten im Dorf«, presst der Alte hervor, scheint nur ungern diese Information preiszugeben. Sein Blick huscht zu dem Weg, den er gekommen ist.

»Danke.«

Der Alte öffnet den Mund, scheint noch etwas sagen zu wollen, schüttelt dann den Kopf und kehrt mir den Rücken zu, um die letzten Meter zum Schloss zurückzulegen.

Ich ziehe die Mütze tiefer ins Gesicht und laufe den Weg entlang, den der alte Mann gekommen ist. Schlangenförmig führt er hinab ins Dorf. Bei strömendem Regen sind die in Stein gehauenen Treppenstufen kein ungefährlicher Pfad. Mit meinen dreckigen Schuhen rutsche ich bereits nach wenigen Schritten aus und schlage mir das Knie auf. Fluchend rappele ich mich wieder hoch.

Wie konnte sich mein Leben in nur wenigen Tagen in Chaos auflösen? Einen kurzen Moment lang sehne ich mich nach unserem kleinen Haus in Molga. Einem Ort der Behaglichkeit und Wärme. Ein Zuhause. Schniefend wische ich mir über die Augen. Ich darf mir keinen Moment der Schwäche erlauben. Das Haus gehört der Vergangenheit an - genau wie seine Bewohner. Alles, was jetzt zählt, ist Luan.

Das Dorf liegt im Dunkeln. Regen und Wind haben die meisten Straßenlaternen zum Erlöschen gebracht. Bei diesem Wetter befindet sich ohnehin kein Mensch mehr draußen. Es ist so still. Keine Fabrikgeräusche oder das Rattern einer entfernten Eisenbahn durchbricht die nächtliche Ruhe. Hier gibt es weder das eine noch das andere. Die Industrialisierung hat die Dörfer noch nicht erreicht.

Ich komme mir vor wie ein Eindringling, als ich die lange Straße entlanggehe. So überschaubar das Dorf von oben gewirkt hat, so überfordern mich nun die eng aneinandergrenzenden Häuser. Wo soll ich anfangen? Einfach der nächstbesten Haustüre anklopfen? Ich will so wenig Menschen wie möglich auf mich aufmerksam machen.

Es muss ein Schild geben, irgendetwas, das auf einen Heilkundigen hinweist. So kenne ich das aus der Hauptstadt. Das Unbehagen in mir wächst mit jedem Schritt. Ich biege um die Ecke und endlich entdecke ich eine Person auf der Straße.

»Entschuldigen Sie, Miss?«

Die alte Frau flucht laut, jongliert mit mehreren Flaschen, die sie auf dem Arm trägt. »Erschreck mich nicht so. Beinahe hättest du mir eine Flasche Ale geschuldet.« Sie sieht mich forschend an, kneift die Augen zusammen, um in der Dunkelheit mehr zu erkennen. »Wer bist du überhaupt, dass du mich Miss nennst, hm?« Ihr fehlen ein paar Zähne, darum klingen ihre Worte mehr genuschelt als gesprochen.

»Ich brauche Hilfe, ich …«

»Ich erkenn’ dich nicht, komm näher. Und mach hinne, bei dem Sauwetter hat man ja nicht ewig Zeit.«

»Ich suche den Heilkundigen in diesem Dorf.«

Die Frau legt den Kopf schief. Sie ist nicht so alt, wie ich im ersten Moment gedacht habe. Ihre Stimme klingt brüchig und ihre Haltung ist miserabel, aber im Gesicht befinden sich nicht allzu viele Falten. Sie kann kaum älter als vierzig sein.

»Du bist fremd«, stellt sie fest. »Hab ich’s mir doch gleich gedacht.«

»Bitte Miss, ich suche …«

»Nenn mich nicht immer Miss. Ich bin Dody, verdammt noch mal. Und wer bist du, hm?«

»Kiro«, antworte ich verunsichert.

»Hübscher Bursche«, murmelt sie. »Den Cal findest du am Marktplatz, kannste eigentlich nicht verfehlen, wenn du die Straße weitergehst und dann nach rechts abbiegst. Ist nicht schwer.«

»Danke.« Ich will schon weiter spurten, da packt mich die Frau am Arm, während sie mit ihrem anderen die drei Flaschen Ale umklammert hält.

»Hast du vor länger zu bleiben?«

»Weiß ich noch nicht.« Ich widerstehe dem Drang, mich loszureißen.

»Meine Nichte hat ein paar freie Zimmer. Elira, sie …«

»Danke, ich muss jetzt wirklich los.« Ich ziehe meinen Arm aus dem Griff der Frau und renne los.

 

***

 

Der Marktplatz ist tatsächlich nicht schwer zu finden. Der runde Platz mit einem Brunnen in der Mitte liegt direkt am Meer, mündet in einen Hafen. Mehrere breite Stege führen aufs Wasser hinaus. Boote schwanken dort in den Wellen, die Masten behaupten sich gegen den starken Wind.

Ich wünschte, es wäre heller, um mehr als nur Umrisse erkennen zu können. Eines dieser Boote ist vielleicht genau das, was wir suchen. Das uns sicher über das Meer bringen kann - nach Vayara. Die Stadt der Magier. Aber dafür wird später genug Zeit sein. Erst muss ich für Luan einen Heilkundigen auftreiben.

Eine schwungvoll aufspringende Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Aus der Kneipe an der Ecke dringt johlendes Gelächter. Jemand flucht laut und zieht die offene Tür, die vom Wind gegen die Hauswand gedrückt wird, wieder zu. Mit schnell pochendem Herz nähere ich mich. Der Kneipenlärm schüchtert mich ein, aber dort wird man sicherlich den Heilkundigen des Dorfes kennen.

Ich gehe ein paar Schritte darauf zu, als ein weiterer Blitz die Dunkelheit zerreißt – die gelben Blüten einer Ringelblume, gemalt auf ein Holzschild, springen mir ins Auge, das Symbol der Heilkundigen. Es hängt an einem Haus vor der Kneipe.

Endlich. Erleichtert atme ich auf und hämmere gegen die Tür des großen Backsteinhauses. Zunächst höre ich nichts. Unnachgiebig hämmere ich weiter gegen Tür, da ertönt von innen eine genervte Stimme: »Ja doch!«

Eine Frau mit quengelndem Baby auf dem Arm öffnet mir. »Was willst du, Jungchen?« Sie schaukelt das Kind, wirft mir einen genervten Blick zu.

Bedeutet die Ringelblume auf dem Land etwas anderes als in der Stadt? Das behagliche Licht von Kaminfeuer beleuchtet hinter ihr ein großzügiges Wohnzimmer samt Sessel und Holztisch, auf dem noch das Geschirr steht, das vermutlich zur Teestunde gereicht wurde.

»Ich … Ich suche einen Heilkundigen.«

»Natürlich tust du das.« Sie seufzt. »Cal? Cal!«

Ein weiteres Kind fängt an zu schreien.

»Ach, bei der stinkenden Fischblase!«, flucht die Frau. »Komm einfach rein. Cal, verdammt nochmal!«, brüllt sie durchs Haus.

Zögernd trete ich über die Schwelle. Von der Ecke aus sieht mich ein Kleinkind mit großen Augen an und steckt sich den Daumen in den Mund. Auf dem Boden liegt Spielzeug herum, ein Holzpferd, mehrere Bauklötze. Die Frau flucht, als sie darüber stolpert, während sie das schreiende Kind aus der Krippe nimmt. Mit den zwei Kindern im Arm lässt sie sich auf einem der Sessel nieder.

»Hier herrscht ein bisschen Chaos, ich weiß. Cal, verdammt noch mal! Aber ich will dich mal mit drei Kindern gleichzeitig sehen. Das treibt einen in den Wahnsinn.«

Ich erwidere nichts.

»Was im Namen der Heiligen ist denn los? Gibt es einen Unfall? Was kann ich tun?«

Ein Mann kommt die Treppe herunter, knöpft sich gerade das Hemd zu, die Haare stehen ihm am Hinterkopf ab. Eine schmale Brille sitzt schief auf seiner Nase.

»Das Jungchen will was von dir!«

Ich hasse es, wie sie mich Jungchen nennt, schließlich gelten Luan und ich seit einigen Monaten als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Doch ich ignoriere sie und wende mich an ihren Mann: »Sind Sie Heilkundiger?«

»Natürlich bin ich das. Deshalb bist du doch hier, oder etwa nicht? Also, was kann ich für dich tun?« Er hat endlich sein Hemd zugeknöpft, ohne zu merken, dass die Knöpfe falsch angeordnet sind.

»Ich … Ich brauche Ihre Hilfe.« Es überrascht mich, wie schwer mir die Worte über die Lippen kommen. Ich bin es nicht gewohnt, Menschen ohne Zugang zu Magie um Hilfe zu bitten – schon gar keinen Quacksalber. Nicht nach all dem, was in der Hauptstadt passiert ist … Ich schüttele den Kopf. Mir bleibt keine andere Wahl. Ich selbst kann Luan nicht helfen. »Es geht um meinen Bruder.«

»Am besten gehen wir in die Praxis«, sagt der Mann mit Blick auf seine quengelnden Kinder und lächelt entschuldigend.

Ich bekomme nicht einmal ein Lippenzucken zustande. Ich will meinen Bruder nicht zu lange warten lassen. Bestimmt schläft er, rede ich mir ein, aber was, wenn … Was wenn sich sein Zustand noch weiter verschlechtert hat? Ich darf gar nicht daran denken.

Die Praxis ist ein dunkler Raum, in dem Büschel von Kräutern zum Trocknen aufgehängt sind. Es riecht nach einer Mischung aus Pfefferminze und Weihrauch.

»Also, wo drückt der Schuh?« Der Mann trägt noch immer dieses aufmunternde Lächeln im Gesicht, während er mir mit einer Geste anbietet, mich zu setzen.

Nervös knete ich meine Hände, setzen kann ich mich nicht. »Mein Bruder, er hat kaum Kraft mehr. Er hustet und seine Haut brennt, als würde das Blut unter ihr kochen.« Ich atme tief durch. »Ich brauche etwas, das schnell wirkt, etwas, das ihn rasch wieder auf die Beine bringt. Wir müssen weiter. Wir müssen fort.«

Wir müssen nach Vayara. Beinahe wären mir diese Worte auch noch herausgerutscht. Ich presse die Lippen zusammen. Ich darf nicht zu viel verraten, diesem Heilkundigen nicht zu sehr vertrauen.

Doch Cal nickt und beginnt bereits einige Schachteln zusammenzusuchen. » Dein Bruder hat Fieber. Das ist hier im Ort ein empfindliches Thema. Aber es klingt, als hätte er sich einfach etwas überanstrengt. Sich eine Erkältung eingefangen. Ihr seid schon länger unterwegs, nicht wahr?«

»Ein paar Tage«, murmele ich. Erwähne dabei nicht, dass wir auf unserer Flucht in eine Eisenbahn gestiegen sind und bis zu deren Endhaltestelle gefahren sind. So einen gewissen Abstand zwischen uns und die Hauptstadt bringen konnten. Ich will diesem Heilkundigen nicht zu viele Informationen geben. Denn ich bin mir unsicher, wie schnell dieses Fischerdorf Neuigkeiten erreichen. Ab wann eine Flucht aus der Hauptstadt bereits verdächtig wirken kann …

»Ein paar Tage«, wiederholt Cal und dreht sich um. »Und wie alt ist dein Bruder?«

Wieder zögere ich. Dass wir Zwillinge sind, könnte uns in diesem Dorf zu etwas Besonderem machen. Ich will nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. »Nur ein bisschen älter als ich«, antworte ich daher wage.

»Also knapp achtzehn?«

Ich nicke.

»Ich brauche schon ein paar mehr Infos, wenn ich deinem Bruder helfen soll. Seid ihr mit einem Schiff angekommen oder über Land? Wann hat sich sein Zustand verschlechtert? Beschreibe mir noch einmal genau seine Symptome.«

Das sind endlich Fragen, die ich beantworten kann. »Über Land«, sprudelt es aus mir hervor. »Vor zwei Tagen klagte Luan über Halsschmerzen, dann kamen Kopf- und Gliederschmerzen hinzu. Seit heute klagt er darüber, dass ihm warm ist, gleichzeitig fängt er auch immer wieder an zu zittern. Und dann noch dieser Husten …«

»Das klingt mir wirklich nach einer Erkältung.« Cal wirkt seltsam erleichtert, lächelt nun wieder. »Nicht unüblich bei dem Wetter. Ich empfehle kalte Wadenwickel, das hilft die Temperatur zu senken. Normal sollte sich sein Zustand nach ein paar Tage Ruhe verbessern. Ich gebe dir ein paar getrocknete Kräuter mit.« Er dreht mir den Rücken zu, öffnet ein paar Schachteln. Dabei beginnt er zu murmeln: »Holunderblüte, Lindenblüte, Himbeerblätter, Hagebutte, Mädesüß, was noch? Ah ja, Spitzwegerich. So, das sollte eine gute Mischung sein. Brüh deinem Bruder einen guten Sud daraus.«

Ich hebe skeptisch die Augenbrauen. »Das ist alles? Das soll ihn wieder gesund machen?«

»Na, das wollen wir doch hoffen. Viel Trinken und Ruhe, das ist die beste Medizin bei einer Erkältung. In den meisten Fällen.«

»In den meisten Fällen?«

»Sollte das Fieber nach ein paar Tagen nicht verschwinden oder der Husten zu sehr auf die Lunge gehen, dann bringe ihn zu mir.«

»Nach ein paar Tagen?«, wiederhole ich schockiert.

»Du scheinst gerne das zu wiederholen, was ich sage.« Er lächelt schief. »Was erwartest du von mir? Dass ich mit den Fingern schnippe und alles ist in Ordnung? Hast du noch nie eine Erkältung gehabt?«

Ich erwidere darauf nichts.

Das Grinsen weicht aus seinem Gesicht und er nickt langsam. »Ah, natürlich. Sie kommen aus der Stadt, nicht wahr? Ich hätte es gleich erkennen sollen.«

Mir fällt auf, dass er auf einmal in die höfliche Ansprechform rutscht.

»Ihr Städter seid es gewohnt, dass Krankheiten innerhalb weniger Sekunden verschwinden, ist es nicht so? Nun … Ihr Bruder wird es aushalten müssen, wie jeder andere hier auf dem Land auch.«

Das Lächeln ist aus seinem Gesicht verschwunden. Cal packt seine Kräuterschachteln wieder zusammen.

»Ich bin ja der Meinung, dass die Magier euch verweichlichen. Wie kann euer Körper stärker werden, wenn ihr ihm nie die Chance gebt zu kämpfen?«

»Indem er gar nicht erst kämpfen muss. Wir …« Ich verstumme. Bisher weiß Cal nur, dass ich aus der Stadt komme, nicht, dass ich einer dieser Magier bin. Besser, es bleibt dabei. »Welchen Vorteil soll es schon haben, krank zu sein?«, frage ich dennoch.

Der Heilkundige mustert mich nachdenklich. »Der Geist wächst im Schmerz. Manche Krankheit, die uns das erste Mal umhaut, kann uns beim zweiten Mal kaum etwas anhaben. Vermutlich reagiert Ihr Bruder deshalb so empfindlich. Das ist ganz normal für die erste richtige Erkältung.«

Ich schüttele den Kopf. Wenn alles normal wäre, dann wäre es nicht möglich, dass Luan überhaupt krank ist. Doch diesem Quacksalber kann ich das wohl kaum erklären.

Hämmernde Fäuste an der Tür lassen mich zusammenzucken. »Was ist denn heute los?«, murmelt Cal. »Cora! Machst du auf?«, ruft er ins Nachbarzimmer.

»Ich denke, wir sind hier fertig.« Er drückt mir den Beutel mit den Kräutern in die Hand. Ich krame nach einer Münze, doch er winkt ab. »Die erste Erkältung geht aufs Haus. Sollte Ihr Bruder in ein paar Tagen noch Beschwerden haben, kommen Sie vorbei und ich schau ihn mir an.«

Auf mein gemurmeltes Danke achtet Cal kaum mehr, sondern eilt bereits zur Tür. Davor steht ein junger Kerl, nass und völlig außer Atem.

»Beruhig dich erst mal, Jungchen.« Cals Frau verdreht die Augen, geht zurück ins Haus und legt die Kinder zurück in die Krippe.

»Mein Herr schickt mich«, keucht der Junge atemlos.

»Immer langsam, Dajan. Komm erst mal ins Trockene.«

»Cal, du wirst gebraucht. Sofort.«

Cal seufzt. »Dass man nicht einmal einen ruhigen Abend haben kann. Ich muss weg, Frau!«, ruft er ins Haus und greift nach seinem Mantel und einer Tasche, die neben dem Eingang steht.

»Ja, ja, geh nur«, höre ich Cora murmeln. »Und mach die Tür hinter dir zu, verdammt noch mal!«

Cal nickt mir noch einmal zu, eilt dann mit dem jungen Mann davon. Ich lasse die Kräuter in meiner Jackentasche verschwinden. Trinken und Ruhe. Das ist also der wertvolle Rat eines Heilkundigen. Dafür hätte ich mir den Weg ins Dorf sparen können. Die Worte des Heilkundigen nagen dennoch an mir. Er hat recht damit. Wir sind es nicht gewohnt, krank zu sein. Kann es sein, dass Luans für mich so mysteriöse Krankheit etwas ist, womit sich die Leute hier öfter herumschlagen müssen?

Ich will mich gerade auf den Rückweg machen, da erweckt etwas am Hafen meine Aufmerksamkeit. Ein Boot legt an. Ist es trotz Gewitter draußen auf dem Meer gewesen?

Neugierig trete ich näher. Es ist kein großes Boot. Zwei Männer reichen, um es zu segeln. Der kleinere der beiden ist bereits auf den Steg gesprungen, zurrt das Boot mit einem dicken Tau fest. Die Segel sind schon eingeholt. Genau so ein Boot werden wir brauchen, wenn wir nach Vayara segeln wollen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie man es steuert. Aber ich werde es lernen.

 

Kapitel 2 - Luan

 

Mit einem Lächeln, in dem das Glück strahlt, bückt sich Elsa und krault der getigerten Katze das Kinn. Sie verzieht das Gesicht, der Rücken macht ihr anscheinend schon wieder zu schaffen. Doch das hält Elsa nicht davon ab, sich draußen in ihrem Garten um die Pflanzen zu kümmern, die sie so sehr liebt. Blaue Margeriten blühen um sie herum, ihre Favoriten, obwohl viele sie für schlicht und langweilig halten.

Elsa nimmt die Katze auf den Arm, lächelt mich an. »Du hast mich sterben lassen, Luan. Deine eigene Großmutter.«

Auf ihrer Stirn platzt ein rotes Loch auf, Blut fließt das Gesicht hinab, die blauen Augen starren blicklos in die Ferne, der Mund ist in Erstaunen aufgerissen.

»Neeiin!«, brülle ich, doch es ist zu spät. Elsa ist tot. Ihr Körper liegt am Boden.

»Was ist mit ihm?«

Eine Hand legt sich auf meine Stirn.

»Er hat Fieber.«

»Fieber? Aber doch nicht …?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Tu es nicht, Luan.«

Ich fahre herum. Javar lehnt mit dem Rücken an der Hauswand, presst sich die Hand auf den Unterleib. Seine Lippe ist blutig gebissen. In seinem Blick liegt ein Flehen.

»Tu es nicht, Luan«, wiederholt er.

»Aber …« Er versteht nicht, ich muss …

»Er fantasiert. Wir können ihn nicht hierlassen.«

»Du willst ihn ins Schloss bringen? Bist du verrückt? Du weißt doch nicht einmal, wer er ist! Was, wenn es ansteckend ist? Hast du vergessen …«

»Halt die Klappe, Livia. Ich kann ihn nicht einfach hier liegen lassen! Er braucht Hilfe!«

Blutige Hände. Meine Hände sind voller Blut. Ich muss es abwischen. Ich muss es loswerden!

Panische Angst steigt in mir auf, schnürt mir die Kehle zu.

»Shh! Alles wird gut!«

Die Worte werden von meinem Großvater gesprochen, doch diese dunkle Stimme ist mir fremd. Das ist nicht Javar. Das Bild von ihm mit zerschossenem Bauch löst sich langsam auf.

Jemand nimmt mich hoch, trägt mich auf den Armen wie ein kleines Kind. Wo bin ich? Ich atme tief ein. Ein ungewohnter Geruch umhüllt mich. Er erinnert mich an nasse Wolle, Lavendel und - Maschinenöl? Es ist kein unangenehmer Geruch. Angestrengt versuche ich die Augen zu öffnen. Die Welt um mich herum ist verschwommen, wippt mit jedem Schritt auf und ab. Kalter Regen tropft mir ins Gesicht.

»Livia, schick Dajan ins Dorf zu Cal. Er soll sich beeilen. Und sag Martha, sie soll heißes Wasser aufsetzen und ein Bett vorbereiten.«

»Aber …«

»Na, mach schon!«

Ich suche nach dem Gesicht der Stimme, finde ein Paar braune Augen unter dichten Brauen, angestrengt zusammengezogen. Ein stoppeliges Kinn, zu einem Strich zusammengepresste Lippen. Meine Finger wollen den Linien seiner Wangenknochen folgen, doch der fremde Mann dreht das Gesicht weg. Kraftlos gleitet meine Hand wieder nach unten. Wer ist dieser Mann? Meine Augenlider gehorchen mir nicht länger, sie fallen zu.

Die zitternde Hand, die eine Pistole hält. »Tu es nicht, Luan.« Aber ich muss, sonst …

Ich klammere mich an das Geräusch der fremden Stimme, angenehm tief, beruhigend. Sie gibt Befehle. Redet von einem Raum und einem Bett. Eine weibliche Stimme antwortet, doch ich konzentriere mich ganz auf seine. Versuche mich mit ihrer Hilfe im Hier und Jetzt zu halten, nicht wieder abzudriften.

Der Blick in Javars Augen bricht. Der letzte Ausdruck spiegelt Enttäuschung.

Mein Atem geht rasselnd.

»Er muss sich beruhigen! Bei den Verdammten, wo bleibt Cal?«

Arme umfassen mich, halten mich fest. Ich spüre Wärme, da ist wieder dieser Geruch. Ich werde langsam ruhiger. Halte mich an dem fest, was ich zu fassen bekomme. Ein Hemd.

Der Husten lässt meine Brust zusammenkrampfen, brennt mir in der Kehle. In meinem Kopf schwirren Gedanken und Bilder völlig durcheinander, leuchten auf, verschwinden wieder, bevor ich sie ganz fassen kann. Wo bin ich? Wo ist Kiro? Kiro …

 

***

 

Ich liege in einem Bett. Einem weichen Bett und es ist warm. Zu warm. Dennoch würde ich lieber unter die Decke tauchen, als sie von mir fort zu strampeln.

»Die Körpertemperatur ist erhöht, aber nicht besorgniserregend, soweit ich das abschätzen kann.«

Ich habe genug davon, dass man mich anfasst, ohne zu fragen. Meine Stirn, meinen Hals, meine Brust. Dieser Quacksalber hat seine Hände ständig irgendwo. Mein Kopf tut sich noch immer schwer damit, zu denken - die Gedanken rasen hindurch wie Sternschnuppen, verglühen oft, bevor ich sie greifen kann.

Immerhin weiß ich mittlerweile, wo ich bin und was vor sich geht. Jemand muss mich in dem Stall gefunden und ins Schloss getragen haben. Sie haben diesen Mann gerufen. Einen Heilkundigen, der glaubt, Krankheiten mit getrockneten Kräutern heilen zu können.

Bei den Sternen, wo bleibt nur mein Bruder? Jemand muss ihm sagen, wo ich bin. Mir entweicht schon wieder dieses schmerzhafte, bellende Husten.

»Der Klang seines Hustens gefällt mir nicht.«

Schon wieder fasst mir der Kerl an die Brust, tastet sie ab. Am liebsten würde ich seine Hand wegschlagen, doch dann würden sie merken, dass ich wach bin. Bei Bewusstsein. Das ist das letzte, was ich will. Ich bin noch nicht bereit dazu, Fragen zu beantworten. Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Will erst meinen Bruder sehen. Ich muss … Ich muss warten, bis sie weg sind und dann das Schloss verlassen und nach Kiro suchen. Ich muss … Schon wieder driften meine Gedanken ab. Denken ist anstrengend.

»Ich fertige eine Salbe an, die helfen wird. Bis dahin soll er viel trinken. Ich habe Kräuter dabei, aus denen ein Tee gekocht werden soll. Außerdem braucht er viel Ruhe. Kann er hierbleiben?«

Kurz liegt eine Stille im Raum.

»Vorerst ja.« Diese Stimme. Sie reizt mich am meisten, die Augen zu öffnen.

Ein Räuspern. »Aber es ist nicht … wie damals?«

»Keine Sorge, es handelt sich nur um eine Verkühlung. Der Junge wird schon wieder.«

»Gut.«

Jemand fasst mir an die Stirn. »Kalte Wadenwickel helfen gegen die hohe Temperatur. Seit wann befindet er sich in diesem Fieberschlaf?«

Fieberschlaf. Mir ist abwechselnd kalt und warm. Was ist nur mit meinem Körper los? Wir werden doch nicht krank!

»Seit wir ihn gefunden haben. Ich wollte eigentlich nur nach den Pferden sehen. Er lag in einer der Boxen, hat vermutlich Schutz vor dem Gewitter gesucht.«

»Und er war allein?«

»Ja.«

»Hm.«

Mein Kopf schmerzt, als würden mir tausend Nadeln ins Gehirn stechen, um nach Gedanken zu fischen. Meine Kehle fühlt sich an, als hätte ich Glas geschluckt. Ist das normal? Mein Körper scheint auseinanderzufallen.

Stöhnend presse ich die Hand gegen die Stirn, versuche die Erinnerungen aufzuhalten. Das Geräusch herantrabender Pferde. Der Rücken meiner Großmutter, als sie den Fremden entgegengeht. Blut, das sich über ihr Kleid ausbreitet …

Ich schreie, will das nicht sehen.

»Er hat Albträume. Man kann ihn unmöglich allein lassen.«

»Ich kann ihm etwas geben, das ihn gut schlafen lässt.«

Ja. Nein! Ich muss von hier verschwinden. Kiro …

»Das wäre gut.«

»Keine Sorge, es geht schnell. Ich habe alles dabei. Damit wird er zumindest ein paar traumlose Stunden haben.«

Traumlos. Ich protestiere nicht, als der Quacksalber mich aufrichtet und mir eine Flasche an die Lippen hält. Schnell schlucke ich die Flüssigkeit, die einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Traumlos. Was für eine verlockende Aussicht.

»Das war’s erst einmal. Ich werde morgen noch einmal nach ihm schauen, wenn er wach und ansprechbar ist.«

»Danke. Ich begleite Sie nach draußen, Cal.«

Ich höre Schritte, eine zuschlagende Tür, murmelnde Stimmen, die sich langsam entfernen.

Endlich allein, endlich Ruhe. Ich spüre, wie sich mein Körper langsam entspannt. Ich öffne die Augen, lasse den Blick durch den mir unbekannten Raum wandern - und schaue geradewegs in ein Paar stechendgrüne Augen.

»Wusste ich doch, dass du wach bist.«

Die dünnen Lippen des Mädchens verziehen sich zu einem spöttischen Lächeln. Sie lehnt lässig gegen eine Kommode rechts neben dem Bett. Rotes Haar fällt ihr in Wellen über die Schultern. Es schockiert mich, dass ich sie nicht bemerkt habe. Normalerweise ist es undenkbar, sich an einen Magier anzuschleichen. Wir nehmen die Auren von Lebewesen selbst in der Dunkelheit wahr. Doch ich bin heute wohl nicht ganz bei mir.

Meine Brust erbebt in einem weiteren schmerzhaften Hustenschub.

»Immer mit der Ruhe. Ich bin nur neugierig, wer du bist.« Sie legt den Kopf schief. Ihre Stimme hat etwas Spitzes, Scharfes – wie ein Messer, das sich direkt in mein Gehirn gräbt. Ich weiche ihrem Blick aus, kneife die Augen fest zusammen. Zu viele Eindrücke für mein malträtiertes Gehirn.

»He, he, noch nicht einschlafen.« Die junge Frau packt mich am Arm. Schon wieder eine Berührung, dieses Mal schlage ich die Hand weg.

»He, kein Grund gleich unhöflich zu werden.«

Ich sehne mich nach Ruhe … Das rothaarige Mädchen hält sie von mir fern. Es ist schwer, ihr Alter zu schätzen. Vielleicht achtzehn? Sie könnte genauso gut ein, zwei Jahre jünger als ich sein.

»Was … willst du?« Meine ersten gesprochenen Worte seit Stunden. Kratzend, gepresst, fremd.

Ein Lächeln erscheint auf ihren Lippen. »Ah, schon besser. Wer im Namen der Verdammten bist du? Wie bist du in den Stall gekommen? Theo denkt, ich hätte vergessen abzuschließen, aber das stimmt nicht! Das Schloss ist verbogen, zerstört. Wie ist das möglich?«

So viele aneinandergereihte Worte. Meinem Kopf fällt es schwer, ihr zu folgen. Stall. Theo. Schloss.

»Glaub nicht, dass du mir so einfach davonkommst …«

Stall. Schloss. Kiro!

»Kiro.«

»Was?«

»Kiro …«

»Ist das dein Name?«

»Nein. Bruder. Im Stall. Sucht mich. Du musst ihm sagen, wo ich bin.« Das Sprechen fällt mir immer schwerer. Ich bin so unendlich müde. Beginnt die Medizin des Heilkundigen zu wirken?

»Ich bin doch kein verdammter Bote! Was wollt ihr hier?«

»Kiro …«

Bruder, wo steckst du? Wo warst du an jenem Abend, als alles zusammengebrochen ist? Als die Blauröcke kamen und töteten. Ich sehe ihre blauen Uniformen deutlich vor mir, die langen Gehröcke mit den goldenen Knöpfen. Ich sehe ihre blassen Gesichter, der Schrecken in ihren Augen. Kiro, warum klebt kein Blut an deinen Händen? Wo warst du? Wo bist du …?

»Ach, verdammt!« Das Mädchen stampft wütend mit dem Fuß auf.

Ich nehme das nur aus weiter Ferne wahr. Bleierne Müdigkeit legt sich wie eine dicke Wolldecke über mich. Endlich lasse ich los …

 

Kapitel 3 - Kiro

 

Ein Pferd tänzelt schnaubend in seiner Box herum, nachdem ich zuvor aus Frust gegen die Stallwand getreten habe.

Er ist nicht hier. Wo steckt Luan? Wo sind seine Sachen?

Nervös gehe ich auf und ab. Kann es sein, dass er mir nachgelaufen ist und sich in der Dunkelheit verirrt hat? Ich schüttele den Kopf. So schwach, wie er gewesen ist? Unmöglich.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Die Verzweiflung frisst ein Loch in meinen Magen. Im Stroh kann ich noch die Kuhle erkennen, in der er gelegen hat.

Wie konnte ich ihn allein zurücklassen? Wie konnte ich nur denken, hier wäre er sicher? Ich bin so dumm! Hätte besser auf ihn aufpassen müssen. Was, wenn er im Delirium aus dem Stall gestolpert ist, auf die Klippen zu und … Ich darf gar nicht daran denken.

Vielleicht hat ihn jemand aus dem Schloss gefunden. Vielleicht wurde Cal wegen ihm gerufen. Dann muss er kurz vor mir angekommen sein. Hätte ich den Fischern nur nicht beim Anlegen zugesehen. Ich hätte mich von diesem Heilkundigen nicht verunsichern und gleich zu Luan zurückkehren sollen …

»Du bist ein Narr, Kiro«, verfluche ich mich selbst, schüttele fassungslos den Kopf.

»Ein Narr vielleicht, aber ein hübscher.«

Ich fahre auf dem Absatz herum. Im Eingang des Stalls steht eine junge Frau mit flammendrotem Haar. Sie ist hübsch - und das weiß sie auch. Ein spöttisches Lächeln umspielt ihre Lippen; die grünen Augen funkeln. Mit der einen Hand spielt sie mit dem flüssigen Wachs der Kerze, die sie in der Hand hält. Solche Mädchen habe ich in Molga schon zur Genüge getroffen. Immer auf den eigenen Vorteil aus, davon überzeugt, dem anderen überlegen zu sein.

Was mich jedoch stutzen lässt, ist ihre Aura. Jeder Mensch hat eine Aura, keine zwei sind gleich. Ich habe in meinem Leben schon so viele Auren gesehen, dass ich die Grundmuster kenne und leicht interpretieren kann. Ich erkenne Krankheiten, Familienzugehörigkeiten und manchmal selbst charakterliche Eigenschaften allein an der Art, wie die Aura gestrickt ist. Es verwirrt mich, dass etwas bei dem Mädchen anders ist. Etwas an ihr ist eigenartig und mahnt mich zur Vorsicht.

»Wer bist du?«

»Ich stelle hier die Fragen, Fremder.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust, lehnt sich lässig gegen die Stallwand. Ihre Zähne blitzen im Licht der Kerze auf. »Bemerkenswert. Ihr seht genau gleich aus. Dasselbe helle Haar, dieselben Gesichtszüge.«

Einerseits will ich erleichtert aufatmen, andererseits will ich sie packen und schütteln, bis sie mir verrät, wo Luan ist.

»Wo ist er?« Meine Stimme klingt grollend, während ich drohend einen Schritt auf sie zu gehe.

Die junge Frau weicht nicht zurück. »Du bist also der Bruder? Kiro.« Sie spricht meinen Namen langsam und mit Genugtuung aus. Ihr gefällt es, wie sehr es mich schockiert, dass sie meinen Namen kennt.

»Wo ist Luan?«, frage ich nachdrücklich.

Sie rollt mir den Augen. »Keine Sorge, ihm geht’s gut. Dein Bruder schläft den Schlaf eines Heiligen. Ihr seid also Zwillinge? Sieht man nicht oft.«

»Wo ist er? Im Schloss?«

»Ne, im Meer. Wo denn sonst?«

Sie verspottet mich.

»Ich will ihn sehen!«

»Du willst also hinüber ins Schloss spazieren, den Grafen aus dem Bett holen und ihm erklären, warum du und dein Bruder hier seid und euch in seinem Stall versteckt habt? Prima Idee. Nur zu.« Sie macht mir den Weg frei. Mein Zögern lässt sie grinsen. »Dachte ich’s mir doch!«

Ihr herausfordernder Blick bringt mein Blut noch mehr in Wallung. Respektlose Göre.

»Wer bist du eigentlich?«, knurre ich. Ich bin es leid, nicht zu wissen, wen ich vor mir habe.

»Das wüsstest du gerne, nicht wahr?« Sie lacht überheblich und wirft mit Schwung ihre langen Haare über die Schulter. Eine einstudierte Bewegung. Sie will Eindruck machen, selbstbewusst wirken. Doch ich werde das Gefühl nicht los, dass ihr Verhalten zum Großteil Fassade ist. Das nervöse Flackern ihrer Aura zeigt mir, dass sie nicht so selbstsicher ist, wie sie tut. Sie verbirgt etwas, ist gut darin es zu verbergen. Vielleicht fällt es mir deshalb so schwer, ihre Aura zu interpretieren. Sie ist anders, interessant. Ich sehe ihr fest in die Augen, setze ein breites Grinsen auf. Das Spiel, das sie spielt, kann ich ebenso spielen.

»Ich bin gut darin, in Menschen zu lesen.«

Sie legt den Kopf schief und grinst. »Dann lese in mir. Sag mir, wer ich bin.«

Ich mustere sie von oben bis unten. »Deine Kleidung ist zu einfach, um die Tochter des Grafen zu sein. Sie ist zu individuell für ein Hausmädchen. Du kannst dich nachts frei auf dem Gelände bewegen, hast Schlüssel sowohl zum Haupthaus als auch zum Stall. Das heißt, du hast eine besondere Stellung beim Hausherrn. Können dich die anderen deshalb nicht leiden?« Das war nur eine Vermutung, doch am Aufleuchten ihrer Aura sehe ich, dass ich recht habe. Das gibt mir die Richtung für einen nächsten Verdacht: »Du hast es schwer hier, nicht wahr? Bist anders als die anderen.«

Dass sie anders ist, ist für mich eindeutig. Ich kann nur nicht identifizieren, was genau es ist, was sie von den anderen unterscheidet. »Es ist schwierig für dich Anschluss zu finden, Freundschaften zu schließen«, vermute ich weiter. »Die Leute hier verstehen dich nicht. Ist es nicht so?«

Einen Moment lang starrt sie mich mit zusammengepressten Lippen an. Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus. »Nicht schlecht. Mein Name ist Livia. Schön dich kennenzulernen, Kiro.« Sie zwinkert mir zu und reicht mir ihre Hand. Kalt und schmal ist diese.

Jetzt da Livia näher vor mir steht, nehme ich einen leichten Zitrusduft wahr. Auf der blassen Haut ihres Gesichts tanzen im Licht des Feuers zahlreiche Sommersprossen. Livia tritt nicht wieder zurück, bleibt weiterhin dicht vor mir stehen. Jede ihrer Bewegungen ist provokativ, alles an ihr scheint eine Herausforderung zu sein – und ich komme nicht umhin, die Herausforderung anzunehmen.

Ihre rätselhaften grünen Augen blicken zu mir auf. »Und was bringen dir diese Informationen über mich nun, hm?«

Ein leichtes Lächeln umspielt meine Lippen. Ich versuche ihr nicht zu zeigen, wie angespannt ich bin. »Dass du etwas von mir willst.«

Ihre Augen funkeln. »Ist das so?«

»Warum sonst bist du allein hergekommen? Zufall war das nicht.«

»Ich glaube nicht an Zufall.«

»Ich auch nicht. Also, weshalb bist du hier? Was muss ich tun, damit ich meinen Bruder zurückbekomme?«

Livia tritt lachend ein paar Schritte zurück. »Oh, wir halten ihn nicht fest. Es steht ihm frei zu gehen. Wenn du ihn jetzt bei Nacht aus dem Schloss trägst, werden sich die Leute natürlich fragen, was mit ihm passiert ist. Aber sie werden sicher keinen Suchtrupp losschicken. Und selbst wenn, ihr wärt längst über alle Berge - wenn es das ist, was ihr wollt.«

Ich zögere.

Livia grinst. »Weißt du, ich bin auch nicht schlecht darin, Menschen zu lesen. Wenn du mich fragst, ich glaube, dass ihr gerade erst angekommen seid und nicht vorhabt, gleich wieder zu verschwinden. Hab ich recht?«

Nun presse ich die Lippen aufeinander. »Es geht dich nichts an, wer wir sind und was wir wollen. Aber ich kann dir versprechen, wir werden nicht lange bleiben.«

»Bist du sicher?« Livia hebt die Augenbrauen. »Was wollen ein Magier und sein kranker Bruder in einem kleinen Fischerdorf wie Valtameri?«

Ich trete unweigerlich einen Schritt zurück; mein Herzschlag spielt verrückt – eine körperliche Reaktion, die nicht unbemerkt an Livia vorbeigeht. Leise lacht sie über den Trumpf, den sie gerade aus dem Ärmel gezogen hat.

»Was? Hast du gedacht, ich hätte es nicht gemerkt? Du hast das Türschloss nahezu geschmolzen. Theo mag das nicht bemerkt haben, doch ich bin nicht dumm! Magier sind hier nicht besonders gerne gesehen, weißt du? … Aber Halt, das seid ihr ja nirgendwo mehr im Land, wenn die Nachrichten aus den Städten stimmen.« Sie reckt herausfordernd das Kinn. »Wie wollen du und dein Bruder es schaffen, nicht aufzufallen? Gar nicht so einfach in einem Dorf, das selten Fremde aus der Stadt sieht, hm? Schon gar nicht für Zwillinge. Weißt du, hier auf dem Land hält man Zwillinge noch immer für ein magisches Zeichen.«

»Das ist Unsinn.« Die Stimme kratzt in meinem Hals.

Sie zuckt mit den Schultern. »Erklär das den Fackelträgern, die euch jagen werden.«

Binnen von Sekunden hat sie es geschafft, dass ich mich in dem Pferdestall in die Enge getrieben fühle – und das von einem dürren, rothaarigen Mädchen.

»Was willst du?«, frage ich tonlos.

Sie klimpert mit den Wimpern und kommt wieder einen Schritt auf mich zu. »Ich denke, wir können einander helfen.«

»Können wir das?«

»Wir pflegen deinen Bruder gesund, lassen ihn im Schloss wohnen.«

Ich hebe die Augenbrauen. »Als deine Geisel?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Wenn du es so sehen willst. Ich schlage dir eine andere Sichtweise vor: Du kannst im Dorf erledigen, was auch immer du erledigen musst. Dein Bruder bleibt hier. Niemand sieht euch zusammen. Niemand stellt Fragen.«

Alles an ihr warnt mich davor, ihr zu vertrauen. »Und was springt für dich dabei heraus?«

Livia zwinkert mir zu. »Ach, meine Dienste sind billig. Ich möchte nur, dass du mir einen Gefallen tust.«

»Was für einen Gefallen?«

Sie grinst. »Das sage ich dir, wenn es soweit ist.«

Schnaubend verschränke ich die Arme. »Ich werde niemanden für dich umbringen oder so.«

»Verdammt, dann muss ich mir was anderes überlegen.« Sie verdreht die Augen. »Keine Sorge, es ist nichts, was dir wehtut oder deinen Weg ins Heiligtum versperrt. Wobei, ihr Magier glaubt gar nicht ans Heiligtum, oder?«

»Es gibt kein Heiligtum. Das ist eine Erfindung der Mächtigen, um das Volk zu kontrollieren.«

Livia schnaubt. »Genau wegen solcher Aussagen haben die Leute euch Magier so wahnsinnig gern. Also, haben wir eine Abmachung?«

»Was passiert, wenn ich Nein sage?« Und ich bin schwer versucht Nein zu sagen. Wenn mein Bruder nicht wäre …

»Willst du das wirklich herausfinden?« Livia hebt die Augenbrauen. Sie spielt mit mir, und sie weiß das.

Das mit dem Gefallen behagt mir nicht. Doch mit zu vielen Dingen hat sie Recht. Luan und ich sind zusammen zu auffällig – und er ist krank. Vielleicht tut es ihm gut, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Er muss gesund werden, bevor wir weiterkönnen. Und dafür ist ein Schlafplatz in einem Pferdestall oder unter freiem Himmel nicht gerade förderlich.

»Ich möchte erst mit Luan reden.«

Livia zuckt mit den Schultern. »Sicher. Wenn er wieder wach ist, kein Problem.«

»Und wenn ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird …«

Sie verdreht die Augen. »Ganz ehrlich, dein Bruder ist gerade viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ein gekrümmtes Haar überhaupt zu bemerken. Also, haben wir eine Abmachung oder nicht?«

»Ich schätze schon«, knurre ich, denn natürlich habe ich keine andere Wahl. Ich frage mich, was eine junge Frau wie Livia von mir will. Aber im Zweifelsfall würde ich diesen Gefallen immer noch verweigern können, wenn er mir zu weit geht.

Livia grinst breit, ihre Augen funkeln. »Na geht doch. Du kannst über Nacht den Pferden Gesellschaft leisten, aber spätestens im Morgengrauen musst du hier raus. Klar soweit?«

»Wenn ich Luan sehen will …«

»Komm bei Sonnenuntergang wieder zum Schloss.«

»Sonnenuntergang? Warum erst …«

Sie verdreht die Augen. »Dann sind die meisten Bediensteten mit dem Abendessen beschäftigt. Außerdem wird dein Brüderchen vermutlich ohnehin den halben Tag verschlafen. Cal hat ihm was gegeben.«

»Hmpf.« Ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt. Dafür bin ich zu sehr mit dem Misstrauen auf die Kunst der Heilkundigen aufgewachsen. Schon seit wir Magier uns hier in Arantis niedergelassen haben, besteht zwischen den Heilkundigen und uns eine mit gegenseitiger Abneigung einhergehende Konkurrenz. Die getrockneten Kräuter, die nun nutzlos in meiner Tasche liegen, sind eine Sache. Ein Schlafmittel jedoch, ohne dass ich seine Aura kontrollieren kann, macht mich nervös. Seufzend lehne ich mich gegen eine der Pferdeboxen. Noch nie habe ich mich so nutzlos gefühlt, und müde. Das Tier starrt mich mit trägen Augen an. Seit sich das Gewitter draußen gelegt hat, sind die Pferde deutlich ruhiger.

Livia ist noch immer hier. Ich schaue sie an, hebe die Brauen. »Ist noch was?«

Sie grinst. »Wir sehen uns morgen, Kiro.«

»Kann es kaum erwarten«, murmele ich und sehe zu, wie Livia in der Nacht verschwindet.

 

***

 

Das Gewitter hat eine müde Stille hinterlassen. Erst langsam trauen sich die Grillen aus ihren Verstecken, stimmen ihren nächtlichen Gesang an, untermalt vom sanften Rauschen des Meeres.

Ich sitze draußen auf der Pferdedecke, lehne gegen die Holzwand und starre in den Himmel. Im Stall habe ich’s nicht lange ausgehalten. Zu warm und stickig. Auch das ständige Schnauben der Pferde, ihr Geruch …

In dieser Nacht sind keine Sterne zu erkennen. Keine Sternbilder. Selbst der Mond hält sich bedeckt. Der Himmel ist in dieser Nacht eine alles verschluckende Schwärze.

---ENDE DER LESEPROBE---