Sterne leuchten heller am Meer - Rosita Hoppe - E-Book
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Sterne leuchten heller am Meer E-Book

Rosita Hoppe

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Beschreibung

Wenn die Liebe dich findet, obwohl du sie gar nicht suchst ... Kann man sein Leben von einem auf den anderen Tag komplett umkrempeln? Als Hanna unverhofft auf Amrum strandet, verliebt sie sich spontan in die nordfriesische Insel und in ein altes Haus, an dem sie zufällig vorbeikommt. Sie ist sich sicher, das wäre der perfekte Platz für sie und die alten Möbel, die sie in ihrer Freizeit liebevoll aufarbeitet. Sie setzt alles daran, dieses Haus kaufen zu können. Finn, der Besitzer des Hauses, ist von Hannas Vorschlag gar nicht begeistert und will erst mal in Ruhe renovieren, bevor er sich entscheidet, ob er das Haus überhaupt verkaufen will. Doch er hat nicht mit Hannas Hartnäckigkeit gerechnet und vor allem nicht damit, dass ihm die quirlige Frau ziemlich den Kopf verdreht. Ist es wirklich eine gute Idee, sie in eine halbe Baustelle einziehen zu lassen? Auf der Nordseeinsel schlägt Hanna reichlich Gegenwind entgegen. War ihre Entscheidung, nach Amrum umzusiedeln, die richtige?

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9769-6

Rosita HoppeSterne leuchten heller am Meer

Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

1

Geschafft! Hanna warf das zerfledderte Schleifpapier zu den anderen in den Mülleimer und streckte sich. Beinahe ehrfürchtig strich sie an der Kante der über achtzig Jahre alten Kommode entlang, die sie stundenlang nach Feierabend von mehreren alten Farbschichten befreit hatte. Trotz der Staubreste machte sie weit mehr her als vor einigen Wochen, als Hanna sie auf einem Flohmarkt erstanden hatte. In den nächsten Tagen wollte sie das gute Stück ölen. So würde sie fast perfekt aussehen, da war sie sich sicher. Sie zog das breite Stirnband, das ihr die krausen Haare aus dem Gesicht hielt und sie davor schützte, dass sich der Schleifstaub in den Haaren festsetzte, vom Kopf und schüttelte es aus.

„Frau Keller. Es war mir beinahe klar, dass ich Sie hier finde.“

Ruckartig drehte sich Hanna um, als sie in ihrem Rücken ihren Namen hörte. Die Stimme verhieß nichts Gutes.

„Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich es nicht gutheiße, was Sie hier veranstalten? Eine Garage ist dazu da, den Parkraum auf öffentlichen Straßen zu entlasten. Warum kapieren Sie das nicht? Oder wollen Sie riskieren, dass ich das Ordnungsamt informiere?“

„Guten Tag, Herr Mormann.“ Warum hatte sie das Garagentor nicht geschlossen, bevor sie sich an die Arbeit gemacht hatte? Sie wusste es genau. Weil Tageslicht und vor allem Frischluft hereinströmten und der Schleifstaub besser abzog. Unzählige Male hatte sie mit ihrem Vermieter bereits diskutiert, gebettelt, hier ihrer Leidenschaft nachgehen zu können. Mittlerweile war sie es leid.

Er hielt ihr einen Umschlag hin. „Der ist für Sie.“

Hanna wischte sich die Hände an ihrer Latzhose ab und nahm zögerlich das Kuvert entgegen. „Was ist das?“, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue.

„Lesen Sie es und halten Sie sich dran. Ich habe Besseres zu tun, als Sie ständig zu belehren.“

Er drehte sich um und ging mit ausladenden Schritten in Richtung Haustür. Ob er auch andere Hausbewohner belehren wollte? Ein unangenehmer Zeitgenosse. Wenn sie sich nicht im ersten Moment in die Wohnung, die für ihre Wünsche perfekt geschnitten und wunderbar an einem Park gelegen war, verliebt hätte, hätte sie beim ersten Zusammentreffen mit Mormann einen Rückzieher gemacht. Denn schon da fand sie ihn kompliziert und intolerant. Aber damals hatte sie geglaubt, dass sie ihn kaum zu Gesicht bekommen würde, da er einige Kilometer von diesem Haus entfernt wohnte. Das war eine Fehleinschätzung gewesen.

Sie fegte die Kommode mit einem Handfeger ab und nahm einen weichen Lappen zur Hand. Sorgsam entfernte sie den letzten feinen Schleifstaub. Für heute war sie fertig und stolz auf sich, wie jedes Mal, wenn sie ausgiebig gearbeitet hatte.

Auf dem Weg hinauf in ihre Wohnung riss sie den Briefumschlag auf. Sie schnaubte. „Das gibt es doch nicht …“

… hiermit gebe ich Ihnen eine letzte Frist, die von Ihnen gemietete Garage ihrem ursprünglichen Zweck zuzuführen und nicht weiter als Werkstatt und schon gar nicht als Verkaufsstätte Ihrer alten „Polten“ zu nutzen. Andernfalls werde ich Ihnen die Kündigung aussprechen.

Hochachtungsvoll Joachim Mormann

Ihre Hand zitterte, als sie versuchte, den Wohnungsschlüssel ins Schloss zu stecken. Hanna warf den Brief auf den Küchentisch. Wieso stellte der sich eigentlich so an? Der Typ vom dritten Stock schraubte in seiner Garage an einem Oldtimer herum. Und Frau Weber aus dem Erdgeschoss lagerte ihre Gartenutensilien in der Garage. Sie besaß nämlich gar kein Auto. Wieso konnte jeder seinen Hobbys nachgehen, nur sie nicht? Im Grunde genommen arbeitete sie auch an Oldtimern, wenn auch keine fahrbaren. Ihre waren Holzmöbel aller Größen und Formen, die viele Jahre geliebt und gepflegt, aber irgendwann aussortiert und gegen neue Möbel ersetzt worden waren. Sie, Hanna Keller, rettete zumindest einen Teil von ihnen vor dem Sperrmüll, ergatterte sie auf Flohmärkten oder im Internet und hauchte ihnen durch Abschleifen, Lackieren oder Beizen neues Leben ein. Sie strich über die wundervoll gemaserte Platte ihres Küchentischs. Mit dem hatte alles angefangen. Sie hatte den Tisch aus Kirschenholz nur zwei Straßen weiter auf dem Bürgersteig entdeckt, wo er mit etlichen anderen unnütz gewordenen Gegenständen zum Sperrmülltransport bereitgestellt worden war. Vom ersten Blick an hatte die Maserung sie fasziniert und sie hatte sich spontan entschieden, dieses Möbel vor dem sicheren Aus zu bewahren. Sicherheitshalber hatte sie sogar bei den Leuten geklingelt und nachgefragt, ob sie das Teil mitnehmen dürfe. Sie wollte schließlich nicht als Diebin enden. Der gute Mann hatte ihr sogar geholfen, den Tisch bis zu ihrer Garage zu transportieren. Er sei froh, dass das gute Stück seiner Eltern nun nicht in der Müllverbrennung lande, sondern eine wirklich nette neue Besitzerin gefunden habe. Sorgsam hatte sie in den Tagen darauf ihre Errungenschaft in der Garage abgeschliffen und neu lackiert. Ihr Wagen hatte derweil seine Behausung räumen und am Straßenrand ausharren müssen. Seit zwei Jahren schmückte das restaurierte Fundstück nun schon ihre Küche und sie liebte es immer noch heiß und innig. Der Tisch sah beinahe aus wie neu, dabei wusste er sicherlich unzählige Geschichten zu erzählen, wenn er denn reden könnte.

Vom Tisch aus wanderte Mormanns Brief ins Altpapier. Von wegen Verkaufsstätte. Gerade zweimal hatte sie ein restauriertes Möbel verkauft, weil sie einsehen musste, dass ihre Wohnung mittlerweile aus allen Nähten platzte, sie aber dennoch nicht aufhören konnte, weitere Schätzchen vor dem Entsorgen zu retten. Vor einiger Zeit hatte sich sogar eine Nachbarin an sie gewandt mit der Frage, ob sie auch Restaurierungsaufträge annähme. Warum nicht, hatte Hanna geantwortet und drei Tage später hatte sie sich um einen ziemlich lädierten Sekretär gekümmert, den ihre Auftraggeberin von ihrem Großvater geerbt hatte. Inzwischen war Hanna sogar so weit, dass sie sich beinahe an jedem Arbeitstag nach dem Feierabend sehnte, um ihrem Hobby nachgehen zu können. Ihr eigentlicher Beruf war ihr inzwischen zu trocken und zu kopflastig. Anderer Leute Buchhaltung und Steuererklärungen zu bearbeiten, war nicht mehr das, was sie sich unter einem erfüllten Arbeitstag vorstellte. Aber ein geregeltes Einkommen war das Polster für ihr Leben und für weitere Rettungsaktionen.

Nach einem kurzen Abendessen setzte sie sich in ihren Lieblingssessel, ein Erbstück von ihrer Oma. Als Oma ins Pflegeheim gekommen war, konnte sie ihn aus Platzgründen nicht mitnehmen. Hanna hatte ihn neu polstern und beziehen lassen und nun war er mit seinem auffälligen Blumenmuster der Hingucker in ihrem Wohnzimmer. Passend dazu stand ein Hocker vor dem Sessel, auf dem sie die Beine ablegte, den Laptop auf den Knien. Die halbe Stunde, bevor ihre beste Freundin Larissa zu ihrem wöchentlichen Mädelsabend vorbeikam, wollte sie nutzen und widmete sie ihrem zweiten Steckenpferd, dem Durchforsten einschlägiger Plattformen, auf denen Privatpersonen ausgediente Dinge anboten.

2

„Ich habe uns was mitgebracht“, trällerte Larissa und hauchte Hanna einen Begrüßungskuss auf die Wange. Sie balancierte einen Pappkarton, aus dem es verführerisch duftete. Sie drückte sich an Hanna vorbei und steuerte die Küche an.

„Sag nicht, du hast gebacken“, fragte Hanna argwöhnisch, denn sie wusste um Larissas Koch- und Backkünste, die häufig im Desaster endeten. Irgendwann würde die Freundin ihre Küche abfackeln, weil sie ständig mehrere Dinge auf einmal in Angriff nahm und ihre Augen überall hatte, bloß nicht da, wo es gerade am nötigsten war.

„Ich habe einen Rhabarberkuchen mitgebracht.“

„Wem hast du den geklaut?“

Larissa stellte den Karton auf dem Tisch ab und stemmte ihre Hände in die Hüften. „Was denkst du von mir?“

„Dass du so was verführerisch Duftendes niemals selbst hingekriegt hast.“

Larissa zog eine Schnute. „Danke für deine Freundschaft.“ Sie zog ihre Jeansjacke aus und warf sie achtlos über einen der Küchenstühle. „Hast du Sahne?“

„Nö, wieso?“

„Weil auf Rhabarberkuchen einfach Sahne gehört. Sponserst du wenigstens einen Latte oder Cappu?“

„Na klar. Hätte ich gewusst, dass du mich heute noch mästest, hätte ich aufs Abendessen verzichtet.“ Hanna füllte den Wasserkocher, stellte ihn an und holte die Dose mit dem Cappuccinopulver aus dem Küchenschrank.

Währenddessen befreite Larissa ihr Mitbringsel vom Pappkarton. „Ich gestehe, meine Mutter hat ihn gebacken. Aber nur, weil sie mit ihrem Rhabarber nicht mehr weiß, wohin.“ Larissa zuckte mit den Schultern. „Außerdem wollte sie ein neues Rezept ausprobieren und braucht ein paar Testesser. Da konnte ich doch nicht ablehnen, oder?“

Hanna schmunzelte und stellte zwei Teller auf den Tisch. „Auf gar keinen Fall. Da werde ich mir lieber den Magen verrenken, als den Wunsch deiner Mutter zu ignorieren.“

„Wusste ich es doch.“

„Der Mormann droht mir mit Kündigung“, berichtete Hanna, noch ehe sie sich dem Kuchen widmeten.

„Oha. Meint er nur die Garage oder will er dich gleich ganz aus dem Haus verbannen?“

Hanna zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, so genau stand das nicht in seinem Brief.“ Sie holte das Schreiben aus dem Altpapier und schob es über den Tisch.

„Ich habe dir ja gleich gesagt, dass das nicht gut geht. Du hättest ihn wenigstens fragen müssen, bevor du mit deinem Restaurationswahn anfängst. Vielleicht hätte er sogar mit sich reden lassen.“

„Der doch nicht. Aber schließlich kann ich nicht hier in der Wohnung …“

Larissa zwinkerte Hanna zu. „Könnte es sein, dass du es mit deinem Hobby ein bisschen übertreibst?“

„Ich liebe es einfach. Es befriedigt mich, wenn ich einem ausgedienten Möbel neues Leben einhauchen kann.“

„Also ich stelle mir unter Befriedigung etwas gaaanz anderes vor“, kicherte Larissa.

„Du nun wieder. Verstehst du mich denn kein bisschen?“

„Einerseits schon. Es ist toll, wenn man etwas gefunden hat, was einen ausfüllt und einem Freude bereitet. Aber du übertreibst es. Wo willst du mit all den …“

„Polten, sprich es ruhig aus. Das ist jedenfalls der Ausdruck, den der Mormann benutzt.“

„So fies würde ich es niemals ausdrücken. Aber dennoch kannst du nicht in dem Maße weitermachen. Es sei denn, du sattelst um und machst das gewerbsmäßig. Dann müsstest du dir eine kleine Werkstatt anmieten.“

„Ich kann doch meinen regulären Job nicht an den Nagel hängen. Wovon soll ich denn leben? Wer weiß, ob ich überhaupt jeden Monat so viel verkaufen würde, um davon leben zu können. Das ist mir viel zu unsicher.“

„Denk zumindest mal darüber nach, wie du das in Zukunft handhaben willst. Und sieh zu, dass du die Garage leer räumst. Sonst flattert dir tatsächlich noch eine Kündigung ins Haus.“

„Die Kommode muss ich aber noch fertig machen. Die will ich ins Schlafzimmer stellen. Dafür brauche ich übrigens noch ein paar starke Arme. Meinst du, wir beide schaffen das?“

„Wenn nicht, fragen wir den Mormann, ob er mit anpackt. So kann er sich gleich überzeugen, dass du deine Polten aus der Garage räumst.“

„Lieber zerlege ich sie in Einzelteile und baue sie hier oben wieder zusammen, als den zu fragen.“

„Das sollte auch ein Scherz sein. Und jetzt lass uns endlich Mamas Kuchen genießen.“

Es fiel Hanna verdammt schwer, sich zurückzuhalten und in der Garage nicht mehr ihrer Leidenschaft nachzugehen. Nachdem sie noch einmal vergeblich versucht hatte, ihren Vermieter zu überreden, blieb ihr nichts anderes übrig, als erst mal die Füße stillzuhalten. Auch die Suche nach einem passenden Raum, den sie als Werkstatt nutzen konnte, so wie es Larissa vorgeschlagen hatte, gestaltete sich schwieriger als gedacht, es sei denn, sie nähme lange Wege in Kauf. Aber sie gab nicht auf, forschte beinahe täglich in den Anzeigen der örtlichen Presse und auf den einschlägigen Immobilienportalen. In zwei Wochen sollte in der Nachbarstadt ein Flohmarkt stattfinden, den wollte sie sich nicht entgehen lassen. Aus der Vergangenheit wusste sie, dass dort oft auch Kleinmöbel angeboten wurden. Sie hoffte, mit den Händlern ins Gespräch zu kommen. Vielleicht wusste einer von ihnen, wo sie passende Räumlichkeiten anmieten konnte.

Bis dahin wollte sie sich mit dem Stöbern nach weiteren aufarbeitungswürdigen Möbelstücken trösten, die sie, sobald sie eine richtige Werkstatt besaß, retten wollte.

Wow, was für ein eindrucksvolles Stück! Dieser Vitrinenschrank mit zwei langen Türen mit Glasscheiben und Rundungen an der Oberkante sowie zwei großen und zwei kleinen Schubladen im Unterteil sah wunderschön aus. Angeblich sollte er bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts gefertigt worden sein und aus massiver Birke bestehen. Ihr Herzschlag nahm Fahrt auf und sie zoomte die Aufnahmen so groß wie möglich. Doch leider wurden sie unscharf. Dennoch war sie sich sicher, hier etwas Außergewöhnliches gefunden zu haben. Wenn der Schrank in natura nur halb so gut aussah, wie er auf den Fotos wirkte, wäre das ein außergewöhnlicher Fund. Der Schrank war ein echter Hingucker und zu dem verhältnismäßig günstigen Preis sicher schnell vom Markt. Den wollte, nein, den musste sie haben. Unbedingt. Den konnte sie sich nicht durch die Lappen gehen lassen. Sie forschte nach dem Standort des Verkäufers. Eine Nordseeinsel? Hanna rieb sich die Augen, doch da stand es immer noch schwarz auf weiß. Der Verkäufer oder die Verkäuferin befand sich auf Amrum. Ohne lange nachzudenken, schrieb sie eine Nachricht und erklärte, dass sie sehr interessiert sei. Es dauerte nur wenige Stunden, bis die Antwort eintraf. Der Schrank sei noch zu haben, aber es gebe bereits einige Interessenten. War ja klar. Jeder Verkäufer versuchte, potenzielle Interessenten zeitlich unter Druck zu setzen, um seine Ware möglichst schnell loszuwerden. Doch erst einmal musste sie darüber nachdenken, wo sie den Schrank unterstellen konnte. In ihrer Garage war gefühlt kein Zentimeter mehr Platz, seit sie ihren Kleinwagen gegen einen Kleintransporter eingetauscht hatte. Auf die Dauer war es zu mühselig gewesen, bei jedem Möbelstück einen Transporter zu mieten. Ein Auto mit Anhängerkupplung und dazu einem Anhänger wäre die zweite Lösung gewesen. Aber ein schwer beladener Anhänger war sicher schwieriger zu fahren, besonders rückwärts. Daher hatte sie von dieser Variante Abstand genommen. Außerdem fand sie Berta, wie sie ihre neue Errungenschaft getauft hatte, viel cooler, auch wenn die eine oder andere Delle und Roststelle nicht wegzuleugnen war. Aber die beiden aufgemalten Sonnenblumen an den Seiten hatten sie sofort angefixt. Vielleicht war einer der Vorbesitzer Anhänger der Hippie-Zeit gewesen. Was ihr durchaus recht war, denn die Blumen machten Berta zu einem Schmuckstück.

Schweißgebadet wälzte sie sich im Bett. Mit tiefen und gleichmäßigen Atemzügen versuchte sie, ihren Puls wieder unter Kontrolle zu bringen und das eben Erlebte zu sortieren. Sie hatte versucht, einen riesigen, unglaublich schweren Schrank auf einen alten Kutter zu hieven, und das ganz allein. Der Kahn hatte unter ihren Bemühungen erheblich geschwankt und am Ende hatte sie hilflos mit ansehen müssen, wie der Schrank über Bord kippte und in den Fluten versank. Hatte dieser Traum eine Bedeutung? Was wollte er ihr suggerieren? Dass sie keine Chance hatte, dieses schwere Möbel von der Insel zu bekommen? Oder sollte sie sich näher mit einem Transport des Schrankes auseinandersetzen? Das Ergebnis dieses Traums war tatsächlich, dass sie sich intensiv damit beschäftigte.

3

„Du bist nicht ganz dicht“, resümierte Larissa, nachdem Hanna ihr Vorhaben kundgetan hatte.

„Danke“, schnaufte Hanna, verschränkte vor Empörung ihre Arme vor der Brust und funkelte ihre Freundin verärgert an.

„Ich bin deine Freundin, ich darf dir das sagen“, erklärte Larissa ungerührt. „Wie willst du dieses Monsterding hierherkriegen? Ihn verschicken zu lassen, ist bestimmt megateuer.“

„Ich werde ihn gleich mitbringen, wenn er mir auch in echt so gut gefällt.“

„Das willst du deiner Berta zumuten? Hier ab und zu mal ein paar Kilometer hin und her mag ja noch ein paar Jahre funktionieren. Aber schwer beladen eine stundenlange Fahrt auf der Autobahn?“

„Ich … wir schaffen das. Du wirst schon sehen. Wir lassen uns doch nicht von ein paar Hundert Kilometern und einer Schifffahrt abschrecken. Wäre ja noch schöner.“

„Und wo willst du den Schrank hinstellen? Ich vermute, du willst ihn aufarbeiten.“

„Ich werde ihn irgendwo zwischenlagern müssen. Am besten in der Garage. Berta muss dann halt an der Straße parken.“

„Wenn das der Mormann spitzkriegt.“

„Wenn alle Stricke reißen, muss ich den Schrank eben im Auto lassen, bis ich eine Werkstatt für mich gefunden habe.“

Larissa schenkte von dem Weißwein nach, dem sie schon eine Weile zusprachen, und prostete Hanna zu. „Arme Berta.“

Hanna konnte es kaum glauben, aber sie war tatsächlich auf dem Weg an die Küste. Für den frühen Nachmittag hatte sie einen Besichtigungstermin ausgemacht. Obwohl sie früh um vier Uhr losgefahren war, kam sie langsamer voran als gedacht. Mittlerweile stand sie zum zweiten Mal im Stau. Dieses Mal direkt vorm Elbtunnel. Wenn sie den geschafft hatte, lag das Schlimmste hinter ihr. Hoffentlich erreichte sie die Fähre, die sie gebucht hatte, rechtzeitig. Sie wollte so schnell es ging ihren möglichen Deal hinter sich bringen.

Das war knapp gewesen. Als Letzte war sie auf die Fähre gefahren und kaum, dass sie die ihr zugewiesene Position eingenommen hatte, schloss sich hinter ihr die Reling und das Fährschiff legte ab. Die Zeit der Überfahrt wollte Hanna an Deck verbringen und zum Relaxen nutzen, damit sie später für die Rückreise wieder fit war.

Der Himmel war bedeckt und es fing leicht an zu nieseln. Sie zog die Kapuze ihres wattierten Anoraks über den Kopf, den Wollschal enger um den Hals und drückte sich in eine geschützte Ecke. Schon während der langen Autofahrt hatte es hin und wieder geregnet. Eigentlich machte ihr das nichts aus, aber sie wollte ungern durchnässt auf der Insel ankommen, andererseits die Überfahrt möglichst nicht im Innern des Fährschiffes hinter sich bringen. Denn ein bisschen Nordseeluft schnuppern tat ihr sicher gut. Es war wirklich schade, dass Larissa abgelehnt hatte, mitzukommen. Ihr Vater hatte Geburtstag und Hanna hatte keinen Tag länger warten wollen, weil sie fürchtete, dass die Besitzerin den Schrank anderweitig verkaufen könnte. Es hatte sowieso schon einiges an Überredungskünsten gebraucht, den Besichtigungstermin auf den heutigen Samstag zu legen, damit sie nicht extra Urlaub nehmen musste.

Nach einem kurzen Zwischenstopp auf Föhr fuhr die Fähre in Richtung Amrum weiter. Noch war die Insel nur ein schmaler Streifen am Horizont, doch den Leuchtturm der Insel konnte sie bereits erkennen. Nach und nach kamen immer mehr Reisende an Deck, um nicht zu verpassen, wie sie der Insel näher kamen. Als die Durchsage kam, dass sich die Autofahrer zu ihren Fahrzeugen begeben sollten, konnte Hanna sich kaum vom Anblick der Insel losreißen. Sie gab sich einen Ruck und eilte unter Deck. Sie war schließlich nicht hier, um Urlaub zu machen. Außerdem hatte sie es eilig.

Vom Hafen aus fuhr Hanna gen Norden. Bis zu ihrem Ziel in Norddorf sollten es gerade mal zwanzig Minuten sein. Sie spürte ein erwartungsvolles Ziehen in ihrem Bauch. In Kürze würde sie wissen, ob sich die lange Fahrt gelohnt hatte. Vor ihr tauchte das rot-weiß geringelte Wahrzeichen der Insel auf. Dass sie so dicht am Leuchtturm entlangfahren würde, hatte sie nicht erwartet. Am liebsten hätte sie spontan angehalten und wenigstens ein Foto gemacht, doch ihr Zeitplan war eng gesteckt. Vielleicht blieben ihr auf dem Weg zurück zum Hafen ein paar Minuten. Sie staunte. Die Insel war sogar bewaldet, und schon kam eine Windmühle in ihr Sichtfeld. Warum hatte sie sich vorab nicht ausführlicher mit der Insel beschäftigt? Zu Hause hatte sie keine Notwendigkeit dafür gesehen, weil ihre Reise nur einem Zweck diente – den Schrank zu kaufen.

Wo kam auf einmal dieses Rasseln her? Das hörte sich nicht gut an. Hatte sie Berta zu viel zugemutet? Hanna nahm den Fuß vom Gas, obwohl sie sowieso kaum mehr als siebzig Stundenkilometer schnell fuhr. Nur noch dieses kurze Stück, redete sie ihrem Gefährt in Gedanken gut zu. Du hattest doch schon auf der Fähre eine Ruhepause, jetzt musst du nur noch wenige Kilometer durchhalten. Endlich kam das Ortsschild von Norddorf in Sicht. Unter dem Ortsnamen stand Noorsaarep übb Oomram. Schon bei den anderen Orten, die sie passiert hatte, war ihr dieser Zusatz auf den Ortsschildern aufgefallen. Ob das Friesisch oder Nordfriesisch war? Sie hatte keine Ahnung, aber dieser Zusatz gefiel ihr. Sie hatte schon lange ein Faible für regionale Gegebenheiten, welcher Art auch immer. Nur noch zwei Straßenbiegungen. Vor einem einstöckigen Haus aus rotem Backstein blieb sie stehen. Angekommen! Hanna strich übers Armaturenbrett und atmete erleichtert durch. War doch gar nicht so schwer.

Einen Moment blieb sie sitzen, trank noch ein paar Schlucke aus ihrer Wasserflasche und schnappte sich dann ihre Tasche.

Gerda Heimann stand auf dem Namensschild. Hier war sie richtig. Noch ehe sie auf die Klingel drückte, schwang die Tür auf und eine korpulente Dame mit raspelkurzen schwarzen Haaren, knallrot geschminktem Mund und herzlichem Lächeln stand vor ihr. Sie trug ein auffällig gemustertes Kleid, das so gar nicht auf eine Nordseeinsel passen wollte.

„Ich bin Hanna Keller, wir hatten einen Termin.“

„Herzlich willkommen auf Amrum. Hatten Sie eine gute Anreise?“

„Ja danke. Es gab mal wieder Staus auf der A7, aber das kennt man ja.“

„Kommen Sie rein, der Schrank steht gleich in der Diele.“

Die Deckenleuchte im Flur spendete nicht wirklich ausreichend Licht, doch schon auf den ersten Blick war Hanna hingerissen. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und stellte die Taschenlampe an, um besser sehen zu können. Der Bereich um die Türschlösser herum war abgegriffen. Die eine oder andere Macke war zu erkennen. Aber ansonsten machte der Schrank einen soliden Eindruck.

„Ich trenne mich nur ungern, denn er gefällt mir wirklich gut. Allerdings ist er zu groß und kommt bei mir nicht so zur Wirkung, wie ich es gehofft hatte. Er stammt aus dem Haus meiner Großeltern und ich kenne ihn schon seit meiner Kindheit.“

Gerda Heimann redete ohne Punkt und Komma. Aber solange Hanna dadurch an Informationen kam, war ihr das recht.

„In der Anzeige stand was vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Woher haben Sie diese Information?“

„Es gibt eine uralte Aufnahme, so etwa um 1900, wo der Schrank im Hintergrund zu erkennen ist. Ich bin mir sehr sicher, dass es dieser ist. Gestern habe ich noch nach dem Bild gesucht, konnte es aber nicht finden. Dabei hüte ich seit Jahren die wenigen uralten Aufnahmen meiner Vorfahren. Wenn es für Sie wichtig ist, muss ich halt weitersuchen. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Irgendwo muss die Aufnahme ja geblieben sein.“

„Er ist zweiteilig?“

Gerda Heimann nickte. „Ist er. Es war trotzdem eine Plackerei, das Ungetüm hierherzubekommen. Zum Glück haben mir mein Neffe und einer seiner Freunde geholfen. Nur um festzustellen, dass die ganze Aktion umsonst war.“

Glücklicherweise ließ ihr die Besitzerin reichlich Zeit, sich das Möbel ausgiebig anzusehen. „Ich freue mich, dass Sie bis heute gewartet haben, ehe Sie ihn anderweitig verkaufen“, gestand Hanna.

„In Ihrer Anfrage konnte ich gleich Ihre Begeisterung herauslesen. Das gefiel mir. Ich möchte wirklich, dass der Schrank in gute Hände kommt und wertgeschätzt wird.“

„Das wird er auf jeden Fall. Hier und da ist etwas auszubessern, aber das ist bei so einem stolzen Alter nicht unüblich.“

„Sie sind also weiterhin an dem Schrank interessiert?“

„Unbedingt, und ich möchte ihn gleich mitnehmen.“

„Sie würden ihn aufarbeiten lassen?“

„Das mache ich selbst“, erklärte Hanna nicht ohne Stolz. „Ich habe in den vergangenen Jahren schon einiges restauriert.“

„Dann sind Sie vom Fach?“

„Ich mache das in meiner Freizeit. Sobald ich ein passendes Objekt entdecke, will ich es vor dem Aus retten und aufarbeiten.“

„Wie schön. In der heutigen Wegwerfgesellschaft ist das äußerst selten. Zudem sind es doch eher die Älteren, die sich für antike Möbel begeistern. Jedenfalls kenne ich keine jungen Menschen, bei denen es so ist. Außer bei Ihnen natürlich.“ Gerda Heimann lächelte Hanna an. „Kommen Sie doch ins Wohnzimmer, ich habe Kaffee gekocht und extra einen Käsekuchen gebacken. Da lässt es sich doch viel besser verhandeln. So viel Zeit haben Sie doch sicher.“

„Ich will heute noch zurückfahren und aufladen muss ich den Schrank auch noch. Haben Sie vielleicht jemanden, der mir dabei helfen könnte?“

„Heute noch? Was für eine Sünde, sich unsere schöne Insel nicht wenigstens ein kleines bisschen anzuschauen.“

Hanna zuckte mit den Schultern. „Es ließ sich nicht anders einrichten. Ich muss die Fähre um siebzehn Uhr fünfundzwanzig bekommen.“

„Ich rufe gleich mal meinen Neffen an. Zu dritt werden wir es hoffentlich schaffen, den Schrank in Ihr Auto zu hieven. Und falls nicht, wird bestimmt einer der Nachbarn mit anpacken. Aber in der Zwischenzeit haben wir Zeit für Kaffee und Kuchen. Kommen Sie.“

Hanna folgte Gerda Heimann ins Wohnzimmer, das erstaunlich modern eingerichtet war und so gar nicht zum Schrank im Flur passte. Vielleicht hatte sie das alte Stück auch nur aus Sentimentalität und der Erinnerung an die Großeltern übernommen.

Während sich Hanna den äußerst leckeren Käsekuchen schmecken ließ, merkte sie, dass sie tatsächlich hungrig war. Außer zwei belegten Brötchen und einem Apfel unterwegs hatte sie bisher nichts zu sich genommen. „Sehr lecker. Ich backe übrigens auch sehr gern, mache das aber selten, da ich nicht weiß, für wen ich backen soll. Alles allein aufzuessen wäre mir dann doch zu viel. Außerdem lässt mir das Restaurieren viel zu wenig Zeit für andere Dinge.“ Wieso erzählte sie so frei von der Leber weg aus ihrem Leben? Ihr Gegenüber schien die Gabe zu haben, dass man sich ihr allein durch ihre Herzlichkeit öffnete. Ansonsten war Hanna nicht so offen fremden Menschen gegenüber. Sie ließ sich ohne Einwand ein zweites Stück auftun. Noch ehe sie es aufgegessen hatte, klingelte es an der Tür.

Gerda Heimann erhob sich etwas schwerfällig. „Das wird Finn sein.“

Kurz darauf kam ein strohblonder Mann, mit schulterlangen Haaren, die ihm etwas wirr vom Kopf abstanden, zur Tür herein und nickte Hanna zu. Auf den ersten Blick wirkte er wie einer dieser Surfertypen, die den ganzen Tag auf ihrem Board standen und überall auf der Welt die Wellen ritten.

„Moin.“

Hanna schätzte ihn auf Mitte dreißig, also etwa in ihrem Alter.

„Das ist Hanna Keller aus … wo kommen Sie eigentlich her? Ach, ist ja auch egal. Wir werden uns vermutlich sowieso nie wiedersehen.“

„Ich komme aus der Nähe von Hannover.“ Schon wieder etwas, das sie ohne nachzudenken ausplauderte.

„Frau Keller möchte den Schrank gleich mitnehmen, und stell dir vor, sie restauriert sogar Möbel.“

„Soll vorkommen.“ Dieser Finn schien das glatte Gegenteil seiner Tante zu sein – nämlich äußerst wortkarg. „Ist der Transporter vor dem Haus Ihrer?“

Hanna nickte und erhob sich. „Wir können gleich loslegen.“ Sie zückte ihr Portemonnaie und zog einige Geldscheine heraus. „Hier ist die vereinbarte Summe für den Schrank und vielen Dank für den leckeren Kuchen, Frau Heimann.“

„Ich bedanke mich. Ich zieh mir nur mal eben etwas Passenderes an. In diesem Kleid wird das nichts.“

Dem stimmte Hanna insgeheim zu. „Ich geh schon mal raus und schließe das Auto auf.“

„Besser, Sie bauen die Schranktüren aus“, hörte sie eine männliche Stimme hinter sich, als sie gerade den Boden von Berta mit einer Decke auslegte. Weitere Decken und Spanngurte warteten auf ihren Einsatz. „Das hatte ich vor. Ich habe sogar mehrere Schraubenzieher mitgebracht.“ Mit ihrem Werkzeug eilte sie zurück ins Haus.

Die Schrauben der Türscharniere erwiesen sich als äußerst störrisch, doch nach einer Weile hatte sie es geschafft. Sie wickelte die Glastüren in Decken und lehnte sie gegen den Beifahrersitz, wo sie die kostbare Fracht im Blick hatte.

„Haben Sie eventuell Rollbretter, das würde einiges vereinfachen. Blöderweise habe ich meine vergessen.“ Wie hatte ihr das passieren können? Es war doch nicht das erste Mal, dass sie schwere Möbelstücke transportierte.

„Habe ich im Keller. Damit haben wir den Schrank auch in mein Haus gekriegt“, rief Gerda Heimann von der Haustür aus. „Kleinen Moment.“

Hanna schielte auf ihre Armbanduhr. Fast sechzehn Uhr. Allmählich mussten sie anfangen. Immerhin dauerte es, bis sie alles ordnungsgemäß verzurrt hatte, damit die Teile unterwegs nicht umkippten.

Es ging schneller als gedacht, denn kaum dass sie mit dem ersten Teil des Schranks vom Haus zum Wagen rollten, kam ein älterer Mann aus dem Nachbarhaus. „Wartet, ich helfe“, rief er übers Grundstück hinweg. Hanna atmete erleichtert durch, denn das Oberteil mithilfe von Frau Heimanns Neffen auf die Rollbretter zu stellen, hatte ihr beinahe den Atem geraubt.

„Hier ist noch ein bisschen Kuchen für die Rückreise“, hörte Hanna hinter sich, als sie gerade die rückwärtigen Türen ihrer Berta verriegelte.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen, ich habe noch genügend Proviant im Auto.“

„So ein kleiner Kuchen rutscht doch immer noch durch“, meinte Frau Heimann augenzwinkernd. „Wenn ich den allein essen muss, setzt sich noch mehr auf meine Hüften. Und die haben schon genug zu tragen.“

„Also gut. Vielen Dank.“ Hanna stellte das in Alufolie gewickelte Päckchen auf den Beifahrersitz. „So, dann hätten wir es.“ Sie reichte Frau Heimann, Finn und dem Nachbarn die Hand. „Herzlichen Dank für Ihre Hilfe.“

„Gute Fahrt“, rief Frau Heimann und winkte, als Hanna die Fahrertür öffnete.

„Danke.“

4

Krrrr krrrr. „Verdammt, Berta, was ist los mit dir? Mach jetzt nicht schlapp. Du hast die Herfahrt doch prima hingekriegt.“ Doch Berta gab außer ein paar Krächzern keinen Laut von sich. „Verdammter Mist!“ Hanna schloss die Augen und atmete ein paarmal tief ein und aus. Dann versuchte sie es noch einmal. Nichts. Berta blieb stumm. Schon tauchte dieser Finn neben der Fahrertür auf. Er klopfte gegen die Scheibe. „Probleme?“

Hanna kurbelte die Scheibe herunter und stieß einen frustrierten Laut aus. „Ich fürchte. Schon vorhin machte Berta so komische Geräusche.“

„Wer ist Berta?“, fragte Finn mit ratloser Miene.

„Mein Auto.“

„Sie haben diesem Schrotthaufen einen Namen gegeben?“

„Warum nicht?“, konterte Hanna lauter als beabsichtigt, denn ihr Auto als Schrotthaufen zu bezeichnen, war eine Frechheit.

„Soll ich mal?“, bot Finn an.

„Meinen Sie, ich könnte keinen Wagen starten?“ Allmählich ging er ihr auf den Keks, doch dann machte sie ihm Platz, schließlich wollte sie so rasch wie möglich los. Doch auch Finn war nicht in der Lage, Berta Leben einzuhauchen. „Vielleicht ist ja nur die Batterie leer.“

„Und wenn nicht?“ Hanna rutschte buchstäblich das Herz in die Hose. „Was mach ich denn jetzt? Wo krieg ich hier denn eine neue her?“

„Finn, ruf mal in der Autowerkstatt an. Vielleicht ist ja noch jemand dort und kann herkommen, damit Frau Keller geholfen wird“, schlug Gerda Heimann, die mittlerweile auch an der Fahrertür stand, vor.

Finn stieg wieder aus, ging ein paar Meter auf der Straße hin und her, während er telefonierte. Derweil versuchte es Hanna mit ein paar Streicheleinheiten am Armaturenbrett und leisem gut Zureden. Aber auch das nützte nichts.

Finn tauchte wieder neben Hanna auf. „Kann ’ne Stunde dauern, aber es kommt jemand.“

„Was? Eine Stunde? Wie soll ich dann heute noch nach Hause kommen?“

„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass diese Karre heute wieder fahrbereit wird?“

Hanna verzichtete auf eine Antwort.

„Kommen Sie erst mal wieder rein“, bot Finns Tante an, doch Hanna mochte Berta nicht im Stich lassen.

„Vielen Dank, ich warte hier.“

„Wie Sie wollen. Falls Ihnen langweilig wird, klingeln Sie einfach.“

Es dauerte nicht mal eine Stunde, in der Hanna die meiste Zeit die Straße hin und wieder her gegangen war, ohne wirklich etwas von der Umgebung wahrzunehmen, dann kam der Wagen einer Autowerkstatt angefahren.

„Moin, wo brennt es?“

Hanna schilderte dem Mann im Blaumann das Problem.

„Wenn wir Glück haben, ist es nur die Batterie. Ich messe sie mal durch und wir versuchen es mit Überbrücken.“

Doch auch das half nicht. „Die Batterie ist zu schwach. Sie brauchen eine neue. Aber ich vermute, da liegt noch mehr im Argen. Da müssen wir genauer nachschauen, bevor Sie sich damit auf die Rückreise begeben können. Der muss auf jeden Fall in die Werkstatt. Ich sehe mir das am Montag näher an.“

„Am Montag? Das ist nicht Ihr Ernst! Ich muss heute noch zurück“, protestierte Hanna.

„Da wird nichts draus, junge Frau. Wir haben schon zu.“

Das konnte doch nicht wahr sein. Hanna versuchte krampfhaft, aufsteigende Tränen wieder hinunterzuschlucken. Warum war sie auf die Idee gekommen, für einen Tag auf eine Nordseeinsel zu fahren? Alles nur, weil sie unbedingt das Teil haben wollte, das hinten auf der Ladefläche darauf wartete, nach Hause gefahren und aufgehübscht zu werden.

Gerda Heimann und Finn tauchten wieder auf.

„Danke fürs Kommen, Lars“, sagte Frau Heimann und klopfte dem Mechatroniker auf die Schulter. „Ich hoffe, wir haben dich nicht vom Sofa geholt.“

Hanna verstand nicht, was er antwortete, aber ihr wurde erst jetzt die Tatsache richtig bewusst, dass der Mann ihretwegen seine Wochenendruhe unterbrochen hatte.

„Sie haben nicht zufällig eine Ersatzbatterie dabei?“, versuchte sie noch mal ihr Glück. „Oder vielleicht eine in der Werkstatt? Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen, aber könnten Sie mir die bitte heute noch einbauen? Ich verspreche auch, dass ich zu Hause noch mal eine Werkstatt aufsuchen werde.“

„Nee, junge Frau. Ich lasse Sie nicht fahren, solange ich der Sache nicht auf den Grund gegangen bin. Das wäre reichlich fahrlässig. Nicht, dass Ihnen unterwegs etwas passiert.“

Hanna gab einen frustrierten Schnaufer von sich. Das konnte doch nicht wahr sein!

„Bleiben Sie doch einfach ein paar Tage auf unserer schönen Insel und nutzen die Zeit für einen Kurzurlaub.“

„Dafür habe ich keine Zeit. Außerdem muss ich am Montag wieder arbeiten. Mein Chef wird sich bedanken, wenn ich ihm mit einem unangemeldeten Kurzurlaub komme.“ Hanna wandte sich an den Mechatroniker. „Wie wollen Sie den Wagen in Ihre Werkstatt bekommen? Und wo ist die überhaupt?“

„Wir müssen ihn abschleppen. Das heißt, ich muss mit dem Abschleppwagen wiederkommen und ihn damit in die Werkstatt nach Süddorf bringen.“

„Das ist ganz in der Nähe vom Leuchtturm“, schob Gerda Heimann ein.

„Da ist ein schwerer Schrank drin“, gab Hanna zu bedenken.

„Der muss am besten raus.“

„Und wo soll ich damit hin?“

„Kindchen, wir bringen ihn einfach wieder rein.“

Hanna sah Gerda Heimanns Neffen an, dass der nicht begeistert war, das Teil wieder auszuladen. Sie selbst war es auch nicht. Mit vereinten Kräften schafften sie es dennoch.

Gerda Heimann winkte mit einer Flasche, als Hanna mit den beiden Glastüren ins Haus kam. „So, nun habt ihr beide euch eine Pause und ein Schlückchen verdient. Kommt ins Wohnzimmer.“

Hanna war so fix und fertig, dass sie sich einen Likör einschenken ließ, obwohl sie so etwas eigentlich nie trank. Aber mit irgendwas musste sie ihren Frust betäuben. Sie ließ sich sogar noch einen zweiten einschenken, obwohl das Zeug ziemlich süß und klebrig war.

Finn hatte sich keinen Likör aufschwatzen lassen und wollte sofort los.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich wüsste nicht, wie ich das ohne Sie geschafft hätte.“

„Kein Problem. Also dann, viel Glück mit dem Wagen.“

Mannomann, so viele Wörter in einem Rutsch waren den ganzen Nachmittag nicht über seine Lippen gekommen.

„Danke, Finn. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann“, verabschiedete die Hausherrin ihren Neffen.

„Wäre es ein Problem, wenn ich direkt vor dem Haus in meinem Wagen schlafe? Wegfahren kann ich ja leider nicht.“

„Sie können doch nicht …“

„Das wäre nicht das erste Mal.“ Allerdings hatte sie das vorige Mal mit Berta auf dem Grundstück von Bekannten kampiert, einen Schlafsack dabeigehabt und deren Bad nutzen können. Ob sie das Bad von der netten Frau Heimann benutzen durfte, wagte sie nicht zu fragen. Vielleicht gab es im Ort eine öffentliche Toilette und damit wenigstens ein Waschbecken. Dabei hatte sie nicht mal ein Handtuch, geschweige denn Waschutensilien dabei. Von Klamotten zum Wechseln ganz zu schweigen.

„Eine gute Freundin betreibt eine Pension ganz in der Nähe. Die rufe ich gern für Sie an. Auch sonst kenne ich eine Menge Leute, die Zimmer oder Ferienwohnungen vermieten.“

Puh, auf die Weise wurde diese Aktion weitaus teurer als geplant. „Ich hatte noch gar keine Zeit, darüber nachzudenken, was ich jetzt machen soll.“

„Ich würde vorschlagen, Sie machen erst einmal einen Spaziergang, atmen unten am Strand reichlich Meeresluft ein. Dabei lässt es sich viel besser denken. Und Sie werden merken, dass unsere Insel durchaus einen Aufenthalt wert ist. Der Kniep macht nämlich was mit einem, das werden Sie schon merken. Ich wette mit Ihnen, Sie werden bedauern, dass Sie bald wieder nach Hause fahren müssen.“

Was für ein Humbug. Außerdem hatte sie keine Ahnung, was der Kniep sein sollte, aber das war ihr auch egal. Dennoch nickte Hanna, denn sie mochte diese rührige Person nicht vor den Kopf stoßen. „Danke. Ich gehe dann mal.“

„Klingeln Sie einfach, wenn Sie zurück sind. Ich höre mich inzwischen um.“

5

Obwohl sie wusste, dass es zwecklos war, versuchte Hanna erneut, Berta zu starten. Auch minutenlanges gutes Zureden half nicht. Sie musste sich endlich damit abfinden, dass sie auf dieser blöden Insel gestrandet war. Oh verdammt … Hanna zog das Handy aus ihrer Tasche, suchte die Telefonnummer der Reederei heraus und stornierte die Reservierung für die heutige Rückreise. Höchste Zeit, Larissa zu informieren.

„Ich wusste gleich, dass das eine blöde Idee war“, kommentierte diese Hannas frustrierte Schilderung. „Aber du wolltest ja nicht auf mich hören.“

„Woher sollte ich wissen, dass Berta …“

„Setz endlich deine rosarote Brille ab und schau dir deinen fahrbaren beziehungsweise nicht mehr fahrbaren Untersatz genauer an. Jeder andere hätte dich ebenfalls für verrückt erklärt, damit stundenlang über die Autobahn zu zuckeln. Sei froh, dass du nicht unterwegs liegen geblieben bist.“

„Ich hatte mir eigentlich ein paar aufbauende Worte erhofft.“

„Die habe ich gerade nicht parat. Wie soll es nun weitergehen?“

„Wenn ich das wüsste. Ich muss erst mal abwarten, was die in der Werkstatt am Montag sagen.“

„Das heißt, du willst dir Urlaub nehmen und dableiben?“

„Ich hatte noch gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Sorry, aber ich musste einfach erst mal meinen Frust bei dir abladen.“

„Schon gut, dafür sind Freundinnen da. Wirst du Ärger mit deinem Chef kriegen, wenn du nicht zur Arbeit erscheinst?“

„Wenn wer krank wird, ist das auch meistens spontan.“

„Stimmt. Das wäre doch die perfekte Ausrede.“

Die sie garantiert nicht anbringen würde, denn sie wollte nicht schwindeln. Trotzdem war sie nicht sicher, wie ihr Chef ihr Fernbleiben aufnehmen würde.

„Was wirst du den Rest des Tages machen?“

„Als Erstes brauche ich Waschzeug, hab nicht mal eine Zahnbürste dabei. Und da heute Samstag ist, muss ich mich sputen, bevor hier alles dichtmacht.“ Erst als sie es aussprach, wurde ihr bewusst, dass es vermutlich längst zu spät war.

„Dann husch, husch, komm in die Puschen. Und halt mich auf dem Laufenden.“

„Mach ich. Tschüss.“

Damit sie nicht ziellos durch den Ort irrte, googelte sie nach einem Supermarkt in Norddorf. Zwar wurde sie fündig, doch der hatte bereits seit Mittag geschlossen. Als Krönung öffnete er erst Montagfrüh wieder. Verdammt. Hatte sich alles gegen sie verschworen? Während sie über eine andere Lösung nachgrübelte, packte sie den Kuchen aus, den Frau Heimann ihr für die Rückfahrt in die Hand gedrückt hatte. Süßes machte doch glücklich, vielleicht half ein Stückchen gegen ihren Frust. Während sie aß, googelte sie nach einer öffentlichen Toilette. Direkt am Strand fand sie eine, eine weitere gab es in der Ortsmitte. Also auf zum Strand, das hatte Gerda Heimann ihr ja sowieso ans Herz gelegt. Sie musste sich sputen, damit sie noch etwas vom Strand hatte und sich vielleicht noch im Ort umsehen konnte, bevor es dunkel wurde.

Mit ihrem Handy in der Hand folgte sie dem Weg, den ihr der Ortsplan anzeigte. Zehn Minuten später passierte sie ein Gebäude, wo sie auch gleich gewisse Örtlichkeiten entdeckte, die sie sofort aufsuchte. Hier konnte sie sich notdürftig frisch machen, für mehr reichte es mangels Utensilien nicht. Sie füllte ihre Wasserflasche auf und spülte auch gleich ihren Mund aus. Keine Zähne putzen zu können, war von alldem, was ihr gerade passierte, das Schlimmste und Ekeligste. Sie schüttelte sich innerlich und hoffte, nachher im Handschuhfach wenigstens einen Restbestand an Kaugummis zu finden.

Wow, was für ein Ausblick! Heller weißer Strand, der weder nach links noch nach rechts enden wollte. Selbst bis nach vorn ans Wasser war es ein gutes Stück. Einen so schönen Strand hatte sie nicht erwartet. Und die Dünenreihe, die sich zu beiden Seiten genauso unendlich ausbreitete, auch nicht. Für einen Augenblick vergaß sie ihre Misere und verlor sich in der Betrachtung ihrer Umgebung. Sie stieg die Stufen am Ende des Holzstegs hinab und machte sich auf den Weg zum Wasser, das sie magisch anzog. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch und die Kapuze über den Kopf, obwohl sie bereits eines ihrer obligatorischen Stirnbänder trug. Trotz des stürmischen Windes genoss sie es, durch den Sand zu stapfen. Dass dieser Tag tatsächlich noch etwas Schönes für sie bereithielt, hatte sie nicht erwartet. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, ein paar Tage auf dieser Insel ausharren zu müssen. Sie zückte ihr Handy und schoss ein paar Fotos, die sie später Larissa schicken wollte. Die würde Augen machen.

6

Schon von Weitem sah sie den Abschleppwagen, der ihre Berta bereits aufgeladen hatte. Das konnte doch nicht wahr sein. Nie im Leben hatte sie erwartet, dass das heute noch passieren würde. Sie winkte und rief, als sie sah, dass der Typ von der Werkstatt in sein Auto einstieg, rannte die Straße entlang, doch umsonst. Langsam fuhr er an und war bereits um die Ecke gefahren, bevor sie die Stelle, an der Berta gestanden hatte, erreichte. Atemlos stoppte sie ab. Der hatte nicht mal ihren Autoschlüssel gebraucht.

„Da sind Sie ja“, drang Gerda Heimanns Stimme in ihre wirren Gedanken. „Als ich ihm sagte, Sie wären vermutlich zum Kniep gegangen, trug er mir auf, Ihnen auszurichten, dass Sie Montagfrüh den Autoschlüssel in die Werkstatt bringen sollen.“

„Ich … ich wollte in meinem Auto schlafen.“

„Kindchen, das geht doch nicht. Es ist nachts viel zu kalt. Ich habe mich umgehört, aber kommen Sie doch erst mal wieder rein.“

Hanna folgte Frau Heimann ins Haus, was hätte sie auch sonst tun sollen?

„Was hat es eigentlich mit dem Kniep auf sich? Ich habe keine Ahnung, was das sein soll.“

„Das ist unser fantastischer Strand. Er heißt Kniep oder Kniepsand. Waren Sie dort?“

Hanna nickte. „Er ist wunderschön und so riesig.“

„Ja, nicht wahr? Er ist fünfzehn Kilometer lang und gilt als größte Sandkiste Deutschlands. Bis Mitte der Sechzigerjahre war er eine Sandbank, die schließlich langsam mit der Insel zusammenwuchs.“

„Das ist ja spannend“, gab Hanna zu.

„Das stimmt. Aber nun zu etwas weit Wichtigerem. Meine Freundin Jule hat tatsächlich noch ein Einzelzimmer frei. Es ist klein, aber fein und inklusive Frühstück. In Ihrem Fall würde sie das Zimmer auch tageweise abgeben. Ansonsten vermietet sie nur wochenweise. Es ist gleich ums Eck, im Dünemwai. Die Pension Jule können Sie gar nicht verfehlen. Also, was sagen Sie?“

„Was würde das kosten?“ Der Preis, den ihr Frau Heimann nannte, war annehmbar. Obwohl sie sich die Kosten gern erspart hätte, denn die Reparaturkosten würden ein erhebliches Loch in ihre Finanzen reißen, fürchtete sie. Aber hatte sie eine Alternative? Wohl eher nicht, denn sie hatte keinen Nerv mehr, selbst auf Zimmersuche zu gehen. Und am Strand schlafen war Anfang April auch keine Lösung.

„Wissen Sie zufällig, wo ich heute noch Waschzeug herbekomme? Nicht mal eine Zahnbürste habe ich. Der Supermarkt hat ja schon zu.“

„Eine Zahnbürste kann ich Ihnen mitgeben, eine neue Tube Zahnpasta ebenfalls. Seife hat Jule in den Zimmern. Und falls Sie noch etwas brauchen, wird sie Ihnen sicher gern aushelfen.“

Die Pension lag nur wenige Minuten von Gerda Heimanns Haus entfernt und wirkte gleich auf den ersten Blick einladend mit dem Reetdach und der Mauer aus Findlingen entlang des Grundstücks, aus deren Ritzen allerlei Steinkraut wuchs. Noch bevor sie die Haustür erreichte, öffnete die sich und eine rothaarige Frau winkte Hanna zu sich.

„Sie sind sicher die junge Dame, die händeringend eine Unterkunft sucht.“

Hanna nickte. „Ja, die bin ich. Eigentlich wollte ich längst auf dem Weg nach Hause sein, aber …“

„Gerda erzählte mir davon, dass Ihr Auto nicht so wollte wie Sie. Kommen Sie herein und herzlich willkommen in der Jule. Ich bin Jule Petersen-Stüber.“

Die Vermieterin lotste Hanna in ihre Küche, wo ein etwa zweijähriges Kind auf einer Decke auf dem Boden saß und jede Menge Spielzeug um sich verteilt hatte. Als Hanna in die Küche trat und dem Kind zuwinkte, schaute es sie mit großen Knopfaugen neugierig an. Das war eindeutig das Kind des Hauses, wie Hanna an der Haarfarbe erkannte, die der von Jule Petersen-Stüber glich.

„Könnten wir die Anmeldeformalitäten ausnahmsweise hier erledigen? Ich bin froh, dass Luisa gerade so lieb spielt, das sah vorhin deutlich anders aus. Wenn ich sie jetzt mit ins Büro nehme, ist es mit der Ruhe vermutlich gleich wieder vorbei. Setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen einen Tee oder etwas anderes anbieten?“

„Nein danke.“ Während Hanna sich auf einen Stuhl setzte und der Kleinen zusah, verließ die Hausherrin den Raum und kehrte kurz darauf mit Zettel, Stift und einem Schlüsselbund zurück.

„Ich schreibe mir Ihre Daten auf und gebe sie später in den PC ein. Wissen Sie schon, wie lange Sie bleiben werden?“

„Ich hoffe, dass die Werkstatt gleich am Montag die Reparatur hinkriegt. Mein Chef wird sich bedanken, wenn ich ihm gestehen muss, dass ich auf einer Nordseeinsel gestrandet bin.“

„Dann hoffe ich das Beste für Sie, obwohl ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn Sie länger bleiben könnten. Das Zimmer ist für eine Woche frei und das hätte ich normalerweise gern am Stück belegt. Aber in Ihrem Fall mache ich eine Ausnahme, sollte Ihr Auto schneller fertig werden.“

„Das ist lieb, vielen Dank.“

„Ihr Zimmer liegt im obersten Stock. Frühstück gibt es von sieben Uhr dreißig bis zehn Uhr. Möchten Sie Kaffee oder Tee? Irgendwelche besonderen Wünsche?“

„Wunderbar, dass ein Frühstück mit dabei ist. Kaffee bitte, besondere Wünsche habe ich nicht. Außer … na ja, ich habe keinerlei Gepäck dabei, weil ich nur etwas abholen und gleich wieder nach Hause fahren wollte. Zahnputzsachen hat mir bereits Frau Heimann gegeben. Aber ich habe keinerlei Sachen zum Wechseln dabei. Gibt es irgendwo auf der Insel heute oder morgen die Möglichkeit, etwas zu kaufen?“

„Leider nicht. Die Geschäfte öffnen erst am Montag wieder. Aber ich könnte Ihnen mit einem Oberteil aushelfen, wenn Sie mögen. Ich habe sogar noch unbenutzte Unterwäsche und Socken im Schrank.“

Unterwäsche von einer fremden Person ging ihr dann doch zu weit. „Sehr freundlich, vielen Dank. Ich denke, ich werde meine Unterwäsche und Socken später durchwaschen und auf der Heizung trocknen. Auf ein Oberteil komme ich vielleicht zurück. Es ist mir etwas unangenehm, solche Umstände zu machen.“

„Das macht doch keine Umstände. Ich helfe gern und bin immer für meine Gäste da, wenn Probleme auftauchen. Also machen Sie sich keine Gedanken. Ich zeige Ihnen jetzt erst mal den Frühstücksraum und unseren Wintergarten, wo Sie sich jederzeit aufhalten können. Dann gehen wir rauf aufs Zimmer. Hier bitte, die Schlüssel fürs Zimmer und die Haustür. Im Schuppen haben wir mehrere Räder stehen, falls Sie eine Fahrradtour machen möchten. Der Schlüssel dafür hängt am Bord neben der Haustür. Im Frühstücksraum finden Sie ein Regal mit Lesestoff.“

Das Zimmer war wirklich klein, höchstens zehn Quadratmeter, aber das reichte ihr völlig. Mit der maritimen Deko zu weißen Möbeln und der blau gestreiften Bettwäsche wirkte es sehr gemütlich und im Gegensatz zu ein paar Nächten in ihrer Berta beinahe luxuriös. Hanna trat ans Fenster und war überrascht, als sie auf die Dünenlandschaft blickte. Links davon schien ein kleines Wäldchen zu liegen. Morgen wollte sie sich die Umgebung genauer ansehen. Jetzt musste sie erst einmal etwas erledigen, das ihr schwer im Magen lag. Es war ihr unangenehm, den Chef am Wochenende zu stören, aber ihn bis Montagfrüh im Unklaren lassen, kam für sie gar nicht infrage. Zum Glück hatte sie seine Handynummer gespeichert. Mit einem schweren Seufzer wandte sie sich vom Fenster ab, setzte sich aufs Bett und scrollte sich durch die Kontakte.

Auf der Suche nach einer Lokalität, wo sie eine Kleinigkeit zu Abend essen konnte, schlenderte Hanna den Dünemwai entlang. Sie war heilfroh, dass ihr Chef sich verständnisvoll für ihre Lage gezeigt und ihre spontanen Urlaubstage abgesegnet hatte. Damit fiel ein schwerer Brocken von ihr ab und vielleicht konnte sie die paar Tage hier auf der Insel sogar ein bisschen genießen. Sie gönnte sich eine Pizza und ein Glas Rotwein, da sie ja nicht mehr fahren musste. Aber allein essen zu gehen, war auch irgendwie blöd. Daher kehrte sie ziemlich rasch zurück zur Pension, suchte sich im Frühstücksraum Lesestoff aus, um auf ihrem Zimmer in aller Ruhe endlich mal wieder ein Buch zu lesen. Die Zeit dafür hatte sie sich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr genommen, da sie meistens in ihrer Garage ihrer eigentlichen Leidenschaft nachging.

Vor der Zimmertür entdeckte sie eine kleine Kiste mit zwei T-Shirts, einem dicken Pullover mit Norwegermuster, drei Paar Socken, die noch die Pappschilder drum hatten, einem Packen Slips, ebenfalls nagelneu. Damit, dass Jule Petersen-Stüber ihr tatsächlich mit Kleidung aushalf, hatte sie nicht gerechnet. Als sie im Zimmer die Kiste auspackte, entdeckte sie noch einen Deoroller und eine Probetube Gesichtscreme. Vorhin hatte sie im kleinen Bad schon Duschgel, Seife, Kosmetiktücher und Shampoo gefunden. Mit all den Sachen kam sie bis Montag über die Runden und konnte nun das T-Shirt, das sie unter ihrer Strickjacke trug, zum Schlafen benutzen.

Dass hier auf der Insel alle so nett zu ihr waren, war Balsam für ihre Seele.

7

„Guten Morgen, Frau Keller“, begrüßte die Hausherrin Hanna, als sie kurz nach neun Uhr den Frühstücksraum betrat.

„Hanna, bitte, und gern auch du. Sonst komme ich mir uralt vor.“

„Okay, sehr gern. Ich bin die Jule. Hast du gut geschlafen?“

„Viel besser als befürchtet“, gestand Hanna und ließ sich zu ihrem Tisch führen.

„Wie, befürchtet?“ Jule sah Hanna mit gerunzelter Stirn an. „Ist was mit der Matratze oder dem Zimmer nicht in Ordnung?“

„Nein, nein, so war das nicht gemeint“, versuchte Hanna Jule zu beruhigen. „Aber aufgrund der gestrigen Vorkommnisse hatte ich damit gerechnet, mir die Nacht um die Ohren zu schlagen.“

Sie erntete ein Augenzwinkern. „Das macht sicher unsere fantastische Luft. Ich höre immer wieder von meinen Gästen, dass sie hier viel besser schlafen als daheim. Schön, dass es dir ebenso geht. Und nun entschuldige mich, damit ich gleich das Frühstück bringen kann.“

Es dauerte nicht lange und Jule kam mit einem Tablett und einer Kanne Kaffee zurück. „Lass es dir schmecken.“

Sich zurücklehnen und bedienen lassen zu können, hatte was. Auch wenn sie nicht der Typ war, der das unbedingt brauchte. Mit diesem leckeren Frühstück konnte der Tag nur besser werden als der gestrige. Obwohl sie noch gar nicht wusste, wie sie den Tag rumkriegen sollte. Zum Nichtstun war sie einfach nicht geschaffen. Aber sie konnte ja schlecht zu Gerda Heimann stiefeln und dort anfangen, am Schrank zu arbeiten. Die würde sich bedanken. Außerdem hatte Hanna nicht mal ein Blatt Schmirgelpapier dabei. Also blieb nichts anderes, als den Ort und die Insel zu erkunden.

„Das musst du nicht tun“, rief Jule und eilte Hanna entgegen, die das benutzte Geschirr auf dem Tablett in die Küche brachte.

„Es macht mir nichts aus. Ich bin es nicht gewohnt, bedient zu werden.“

„Umso mehr solltest du das genießen“, antwortete Jule mit einem Lächeln und Augenzwinkern. „Weißt du schon, was du heute unternehmen möchtest?“

„Ich habe mir noch keinen Plan zurechtgelegt. Apropos Plan. Hast du vielleicht einen Insel- oder Ortsplan für mich? Ich schätze, die Touristinfo wird heute ebenfalls geschlossen sein.“

„Na klar habe ich einen. Da ist sogar beides drin. Einen Busfahrplan habe ich auch, falls du in die anderen Orte fahren möchtest. Aber du kannst dir natürlich auch ein Rad nehmen, das hatte ich dir ja gestern schon angeboten.“

„Ich denke, als Erstes werde ich mir Norddorf genauer anschauen und noch mal zum Strand gehen. Alles Weitere wird sich später finden.“

„Falls du Verpflegung für unterwegs benötigst, kannst du dir gern noch Brötchen schmieren oder Obst mitnehmen. Mineralwasser kannst du dir ebenfalls aus den Kisten in der Ecke nehmen. Wir verrechnen das dann bei deiner Abreise.“

„Das hört sich perfekt an. Danke, Jule. Wo ist denn heute deine Luisa?“

„Mein Mann geht eine Runde mit ihr spazieren. Sie quengelte vorhin ein bisschen. Hoffentlich wird sie nicht krank. Das fehlte mir noch.“

„Da drücke ich dir die Daumen. Ich mach mich jetzt mal auf die Socken.“

„Wo du gerade Socken ansprichst. Benötigst du noch ein paar Kleidungsstücke?“

„Vorerst nicht. Meine Socken und Unterwäsche habe ich gestern noch durchgewaschen und auf der Heizung getrocknet. Ich danke dir ganz herzlich für das Notfallpaket, das du mir vors Zimmer gestellt hast.“

„Ich hatte doch versprochen, dass ich dir aushelfe. Ich mache das gern.“

In einer spontanen Geste umarmte Hanna Jule. „Ihr seid hier auf der Insel so nett und hilfsbereit. Danke nochmals.“

„Nun hör aber auf. Das gehört zum Service. Hauptsache, du fühlst dich wohl.“

„Das tue ich.“ Hanna winkte Jule von der Küchentür aus noch mal zu. „Hab du auch einen schönen Tag.“

Sie stürmte die Treppe hinauf, hatte es plötzlich eilig, an den Strand zu kommen, die salzhaltige Luft einzuatmen und aufs Meer zu blicken.

Es war unfassbar, aber sie spürte ein Kribbeln in sich aufsteigen, als sie auf dem Bohlenweg, der über den Strand führte, ihre Schuhe und Strümpfe auszog. Zwar war es mit kaum zwölf Grad reichlich frisch und windig dazu, aber die Sonne hatte sich inzwischen durch die Wolken geschoben und versprach, dass es ein klein wenig wärmer werden würde. Hanna krempelte die Jeans bis kurz unter die Knie auf und stopfte ihre Socken in die Schuhe. Gab es Schöneres, als barfuß über feinen Sand zu stapfen, das unendliche Meer im Blick? Das konnte sie sich in diesem Moment kaum vorstellen. Unten am Wassersaum blieb sie stehen. Brr, das war ja saukalt. Sie fröstelte, als sie den nassen Sand unter ihren Fußsohlen spürte. Ein paarmal schwappte das Wasser über ihre Füße und ließ sie erschaudern. Dennoch wollte sie noch ein paar Momente hier stehen bleiben. Sie zog ihren Wollschal enger und das Stirnband tiefer ins Gesicht, als könnte sie damit ihre Füße wärmen. Wenn sie das Larissa erzählte, die würde es nicht glauben, dass sie tatsächlich in der Nordsee stand. Sie zückte rasch das Handy und knipste ihre nackten Füße, als die gerade mal wieder vom Meerwasser überspült wurden. Die Aufnahmen schickte sie gleich weg. Larissa würde staunen.

Es waren nur wenige Menschen unterwegs und so weit entfernt, dass sie nicht mehr als kleine dunkle Punkte auf dem unendlichen Strand waren. Einzig die Silhouette eines Joggers vergrößerte sich langsam. Sie entschied sich, in die Richtung zu spazieren, aus der der Jogger kam, so hatte sie den Wind im Rücken, während er dagegen ankämpfte. Sie machte einen Schlenker nach links, um auf trockenem Sand laufen zu können, der allerdings kaum wärmer war. Inzwischen hatte der Sportler sie fast erreicht. War das …? Tatsächlich. „Guten Morgen, Finn“, rief sie ihm entgegen.

Irritiert sah er auf, drosselte seinen Lauf und trabte nun auf der Stelle. „Moin, ähm …“ Er grinste schief und sie sah ihm an, dass er in seinem Gedächtnis nach ihrem Namen forschte.

„Hanna“, half sie ihm auf die Sprünge. Warum sollte er sich auch den Namen dieser Verrückten merken, die nach Amrum gekommen war, um den alten Schrank seiner Tante zu kaufen?

„Stimmt. Entschuldigung, dass er mir nicht gleich einfiel.“

„Passt schon. Joggst du hier öfters?“

„Klar. Meist von Süddorf.“

„Ähm … Respekt.“ Sie hatte zwar keine Ahnung, wie viele Kilometer das hier am Strand entlang waren, aber sicher kamen einige zusammen. Sie würde die Strecke vermutlich nicht mal als Spaziergang schaffen. „Willst du etwa auch wieder zurücklaufen?“

„Habe noch was zu erledigen und fahre später mit einem Kumpel zurück.“

Sie gab sich einen Ruck, obwohl er auch an diesem Morgen nicht wirklich gesprächig war. Aber vielleicht hielt sie ihn auch von Wichtigerem ab, als mit ihr Small Talk zu halten. „Ich wollte mich noch für deine tatkräftige Hilfe gestern bedanken und es tut mir wahnsinnig leid, dass wir den Schrank wieder ausladen mussten.“

„Passt schon.“

„Ich möchte mich gern dafür revanchieren. Wie wäre es mit einem Kaffee und Kuchen in diesem Café im Ort?“ Ohne darüber nachzudenken, waren die Worte aus ihrem Mund gesprudelt und jetzt, wo sie sie ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie sich tatsächlich auf die Weise bei ihm bedanken könnte.

Finn sah an sich herunter und zog die Stirn kraus. „Bin verschwitzt.“

„Natürlich. Vielleicht am Nachmittag, falls es dir passt?“

Sein Gesicht verzog sich zu einem angedeuteten Lächeln. „Okay. Muss jetzt weiter, wird kalt.“

„Natürlich. Ich will nicht für eine Erkältung verantwortlich sein. Passt es um sechzehn Uhr?“

„Könnte ich schaffen.“

„Bestens. Ich habe nichts mehr vor heute, wo ich doch so unverhofft hier gestrandet bin.“

„Also dann …“ Und schon trabte er los, hob seine Hand zum Gruß, ohne sich noch einmal umzudrehen, wie Hanna bemerkte, als sie ihm nachsah.

Das war ja ein Ding. Der einzige Mensch, den sie hier an diesem riesigen Strand traf, war ausgerechnet Finn. Hoffentlich taute er am Nachmittag auf, sonst würde es eine zähe Unterhaltung zwischen ihnen beiden werden. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihn geduzt hatte. Aber da Finn nicht protestiert hatte, hoffte sie, dass das in Ordnung war.