Sterne über der Wüste - Ruth Maria Kubitschek - E-Book

Sterne über der Wüste E-Book

Ruth Maria Kubitschek

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Beschreibung

Nirgendwo sonst leuchten die Sterne so klar wie über der Wüste, sie sind zum Greifen nah. Sophie von Contard hat sich für ein Leben in Marokko entschieden. Mit ihrem Mann Muad wohnt sie im Draa-Tal am Fuße des Hohen Atlas. Muad ist ein außergewöhnlicher Mann, ein Sufi-Meister, ein Derwisch, der dafür lebt, die "Weisheit des Herzens" an seine Schüler weiterzugeben. Eines Abends weiß er, dass es für ihn an der Zeit ist zu gehen. Kurz vor seinem Tod fordert er Sophie auf, endlich den Mut zu haben, ihre Liebe zu leben, die nicht ihm, sondern seinem Bruder Tarik gilt. Tarik, der stolze Berber, hatte seinerzeit Sophies Herz gebrochen, sie war vor ihm geflüchtet, geradewegs in die Arme seines Bruders. Nun ist sie frei. So viele Jahre sind vergangen, so viele Worte ungesagt geblieben. Wird Sophie diesmal den Mut aufbringen, Tarik die Wahrheit zu sagen? Denn Sophie verbirgt noch ein größeres Geheimnis.

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Seitenzahl: 159

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Ruth Maria Kubitschek

Sterne überder Wüste

Roman

LangenMüller

Quellen:Idris Shah, Die Sufis, 1998, Diederichs Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random HouseReshad Feild, Ich ging den Weg des Derwisch, Düsseldorf/Köln 1977

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www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe: 2011 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München © für das eBook: 2012 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel Satz: Ina Hesse

Kommt, kommt,wer ihr auch sein mögt, Wanderer, Anbeter, alle, die ihr den Abschied liebt – Es ist ganz gleich. Kommt, auch wenn ihr eure Schwüre schon tausendfach gebrochen habt. Unsere Karawane heißt nicht Verzweiflung – Kommt, und noch einmal kommt!

Mevlana Celaleddin Rumi

1

Die Menschen bereuen ihre Sünden, der Auserwählte bereut seine Unachtsamkeit.

Dhu’l-Nun Misri

Sophie, wo bist du?« Muads warme, tiefe Stimme tönte durch die große Kasbah. »Sophie, bitte antworte!«, rief er erneut.

»Ich bin im Zimmer von Helena, um ihr gute Nacht zu sagen«, rief Sophie zurück.

»Hast du Lust, mit mir den Abendhimmel zu genießen?«

»Ja, natürlich, in zehn Minuten bin ich bei dir auf dem Dach.« Sophie war immer noch eine aparte Erscheinung, mit einem weichen Frauengesicht, hellen Haaren und außergewöhnlich grünen Augen, die aus einem tief gebräunten Gesicht strahlten, als ob sie von innen beleuchtet würden. Ihr Alter konnte man schwer schätzen.

Sie umarmte ihre Enkelin Helena, die gestern aus Wien in der Wüste Marokkos angekommen war.

Im Gegensatz zu ihrer Großmutter hatte sie langes dunkles Haar, das ihr junges frisches Mädchengesicht umrahmte. Schokoladenfarbene Augen, die lustig und offen in die Welt blickten, lächelten spöttisch ihre Großmutter an. »Du kannst ruhig zu Muad gehen, ich bin groß genug, um allein ins Bett zu finden.«

»Das nehme ich an«, antwortete Sophie humorvoll. »Ich habe dir das Buch Der Kosmos der Sterne für die Nacht mitgebracht. Vielleicht schaust du dir es an. Muad würde sich freuen, wenn du ihm einfach ein paar Fragen über seine geliebten Sterne stellen würdest. Die Sternwarte auf dem Dach ist für deinen Großvater mehr als ein Hobby. Du musst wissen, er bittet mich sehr selten, an seinen nächtlichen Abenteuern mit dem Sternenhimmel teilzuhaben. Es ist absolut sein Reich. Ich fühle mich geehrt, dass ich heute dabei sein darf.« Sie blickte zärtlich ihre Enkelin an. »Gute Nacht, mein Kind! Ich bin sehr glücklich, dich mal wieder hier zu haben. Schade, dass dein Vater nicht mitkommen konnte. In der letzten Zeit haben wir uns alle zu selten gesehen.«

»Aber Omi, Papa kann ja von der Klinik nicht so einfach weg wie ich aus der Schule.« Mit funkelnden Augen blickte Helena ihre Großmutter an. »Du und Großvater, ihr seid ja völlig out, jenseits von Gut und Böse. Aber Vater steht noch im Arbeitskampf.« In diesem Moment schaute Sophie in die Augen von Tarik.

»Helena, mein Kind, ich habe hier, fern von jeglicher Kultur, längst vergessen, dass wir out sind«, amüsierte sich Sophie. »Schlaf gut und träum schön. Du kannst heute Nacht ruhig das Fenster offen lassen, die Fliegen kommen erst um sieben Uhr in der Früh.« Sie ging in ihr Zimmer, um sich einen Schal zu holen, die Wüstennächte jetzt im Oktober wurden schon kühl.

Auf dem Weg dachte sie, dass die Ähnlichkeit Helenas mit Tarik auch Muad aufgefallen sein müsste. Die prächtige Terrasse auf dem Dach der Kasbah, die sich über das ganze Haus ausbreitete, hatte Muad zu einer privaten Sternwarte mit kostbaren Geräten ausgestattet. Der freie Blick über den Wüstenhimmel, ohne Lichter einer Stadt, war geradezu ideal, um die Bewegungen der Sterne zu beobachten. Muad sprach mit den Sternen. Selten lud er Sophie dazu ein. Er verbrachte viele Nächte da oben, um nach einem ausgeklügelten System die Sterne zu fotografieren. Da aber die Belichtung Stunden dauerte, um die Sterne so nahe wie möglich heranzuholen, schlief er oft auch dort.

Sophie fand Muad in der Mitte der Terrasse stehend, ruhig, fast meditativ den Sternenhimmel betrachtend. Er wirkte wie eins mit allem, was ihn umgab. Sophie blieb still stehen und betrachtete diesen immer noch schönen Mann, der ihr Mann war. Sein weißes Haar war noch in aller Fülle vorhanden. Sein männliches Gesicht zeigte noch die ursprünglich bäuerliche Abstammung der Berber, war aber durchglüht vom Geist seiner Seele. Sophie hatte auch heute immer noch das Gefühl, dass er, wenn er sie anblickte, tief in ihr Inneres schaute.

Es war eine klare Nacht, und der Sternenhimmel wölbte sich über ihnen wie ein kostbares indigofarbenes Gewand, mit funkelnden Brillanten durchwoben. Muad bemerkte sie, fasste nach ihrer Hand, und sie setzten sich in ganz breite Eisensessel. So verbunden, tauchten sie in die Stille der Wüstennacht ein.

Ob sie Muad erzählen sollte, dass ihre Enkelin sie beide als out und als jenseits von Gut und Böse bezeichnete?, überlegte Sophie. Sie wusste, dass weder Muad noch sie bestimmt nicht out waren; auch nicht jenseits von Gut und Böse, da es für sie nichts Gutes oder Böses gab.

Muad war bisher nicht nur ihr Mann, sondern auch ihr Lehrmeister. Muad selbst war ein Sufi-Meister, der über den Dogmen der Religionen stand. Obwohl er im Islam beheimatet war, lebte er in Frieden mit allen anderen Religionen, die er als junger Mann in Indien gelebt und studiert hatte. Seine Wahrnehmung war umfassend, und sie hatte das Gefühl, dass er hinter die Nebelwand sah, die uns von der geistigen Welt trennt. Die Menschen teilen durch ihr Denken die Welt in Gut und Böse ein. Muad stand über jeglicher Beurteilung.

»Du, meine liebe Sophie«, sagte er eines Tages, »du bist auf einem anderen Pfad in diesem Leben. Es ist nicht deine Aufgabe, auch nicht ansatzweise, den Weg eines Sufis zu gehen.«

Sie würde Helena erklären, dass man in der Wüste leben konnte, abseits zwar, aber man trotzdem mit dem Puls des Lebens verbunden war.

Die Ausbildung der jungen Menschen zu Sufis bei Muad war hart und führte die Schüler oft an ihre Grenzen. Er lehrte sie, ihre eigenen inneren geistigen Kräfte zu erkennen, zu erwecken, um diese dann zu einer neuen Energie zu bündeln. Muad zwang sie durch eine geistige Waschmaschine, um das allgemeine Haften an weltlichen Dingen zu lösen. Alles Trennende und Beurteilende in den Gedanken und Gefühlen sowie die verschiedenen Dogmen der Religionen wurden so aus ihnen herausgespült. Mit einem geistigen Sandstrahler reinigte er ihr Ego und heiligte es – dieses Ego, das wir zum »Überleben« brauchen. Er lehrte sie, es nicht wegzusperren und zu verachten, sondern es jeden Tag aufs Neue Gott zu übergeben. Derzeit lebten sechs Schüler bei ihnen, ihre Ausbildung war fast beendet. Sophie dachte mit Bedauern daran, dass diese jungen Männer sie bald verlassen würden.

Und wieder umfing Sophie die Stille, die sie oft als beunruhigend empfand. Die Stille tönte für sie und ließ sie nachts nicht schlafen. Sie dachte an den Titel eines Buches, Der Donner der Stille, welches sie irgendwann gelesen hatte. Hier auf der Terrasse der Kasbah, inmitten der marokkanischen Wüste, umgab sie beide der Donner der Stille.

Langsam wanderte ihr Blick in die Weite des sichtbaren Himmels. Geblendet von dem Licht der Milchstraße, die sich über ihr erstreckte, musste sie die Augen schließen. So viel Licht, so viele Sterne am Himmel machten es unmöglich, ein einzelnes Sternbild zu erkennen. Muad hatte ihr erklärt, dass unser Sonnensystem ein Teil der Milchstraße sei. Diese bestünde aus zwanzig oder mehr Millionen Sonnen innerhalb unserer eigenen Galaxie. Die nächste Galaxie Andromeda sei zwei Millionen Lichtjahre entfernt.

Für Sophie war dieses Sternenwunder nach wie vor unbegreiflich, und sie zog es vor, einfach die Schönheit des nächtlichen Himmels zu genießen.

Muad unterbrach die Stille. »Schau nach rechts, Sophie. Siehst du den Jupiter, dort im Osten? Er überstrahlt alle Sterne. In seiner momentanen Umlaufbahn ist er der Erde sehr nah. Erst in zwanzig Jahren werden wir ihn wieder so klar und funkelnd betrachten können.«

Sophie nickte stumm.

»Und da, weiter links in Richtung Tamegroute: Dort siehst du die Venus, ebenfalls zum Greifen nahe. Es wird eine bedeutende Zeit kommen, Sophie. Die Stellung dieser Sterne zeigt uns, dass es in den nächsten zwanzig Jahren große Veränderungen auf der Erde geben wird. Völker werden sich erheben, um ihre Freiheit zu fordern. Durch den Einfluss der Venus, die den großen Kriegsgott Mars von seiner Herrschaft abgelöst hat, werden sich in der Menschheit wieder Toleranz, Akzeptanz, Verständnis, gegenseitige Liebe und Respekt allem Leben gegenüber ausbreiten. Die verschiedenen Religionen werden sich auf ihren Ursprung besinnen, ihr Herrschaftsanspruch wird verlöschen. Es wird eine aufregende Zeit werden. Aber ich werde dann nicht mehr sein.«

Er ließ ihr keine Zeit, zu antworten. »Sophie, ich fühle, bald werde ich die Erde verlassen.« Zärtlich nahm er ihre beiden Hände. »Danke, dass du mir eine so liebevolle, treue Gefährtin warst. Glaub mir, Sophie, bei allem, was geschehen ist, war ich immer dankbar für alles, was ich mit dir erleben durfte.«

»Aber Muad, wieso sagst du so etwas? Geht es dir nicht gut?«, fragte Sophie erschrocken. »Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.«

Muad lächelte sanft. »Meine geliebte Sophie, es wird Zeit, dass ich gehe. Ich habe meine Verpflichtungen erfüllt, alle Bindungen aufgelöst.«

»Auch unsere Verbindung?« Sophie konnte kaum atmen. »Ja, Sophie. Auch unsere Bindung. Sei dir bewusst, dein Leben geht weiter. Es fängt überhaupt erst an. Ich bitte dich um eines: Halte mich nicht fest. Sei frei in deinen Entscheidungen!« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Du solltest bereit sein, Tarik die Wahrheit zu sagen! Du musst ihm sagen, dass er einen Sohn und eine Enkeltochter hat. Glaub mir, Tarik ist schwer genug geprüft. Er hat seine Frau und seine beiden Kinder verloren, vergiss das nicht. Das Pferd, auf dem er ritt, war zu wild, es hat ihn abgeworfen. Er hat Verletzungen davongetragen, die ihn bestimmt einsichtiger zurückgelassen haben. Sophie, in seinem Inneren ist er ein anständiger Mann. Ich habe ihn immer geliebt, meinen kleinen Bruder.«

Muads Worte drangen wie feine Nadelstiche in ihren Leib. Warum brachte sie nach so vielen Jahren selbst die Erwähnung von Tariks Namen völlig aus der Fassung?

Muad sprach weiter: »Vor meinem Clan und seiner Habgier kann ich dich nicht schützen, aber Tarik wird dir helfen, davon bin ich überzeugt. Durch deine Lebensklugheit wirst du auch dieses Abenteuer meistern.« Damit stand Muad auf und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Wir haben beide morgen einen schweren Tag. Meine Derwisch-Brüder kommen, und unsere Schüler werden uns verlassen. Findest du nicht auch, es war eine schöne Zeit mit den sechs jungen Leuten aus aller Herren Länder, die unser Leben bereichert haben? Ich habe sie so weit zu sich selbst und zu ihrer Göttlichkeit geführt, wie es mir möglich war. Mit deiner Hilfe, Sophie, dies werde ich nicht vergessen.«

Er nahm ihren Kopf in seine beiden Hände, sah lange in ihre Augen. »Gute Nacht, meine Liebe, ich schlafe heute im Zelt. Meine Geliebte. Ich habe in deinen Meeresaugen gebadet.« Er küsste sie liebevoll auf den Mund. Verbeugte sich mit der Hand auf seinem Herzen. »Ich danke dir!«, sagte er noch leise und ging die Treppe hinunter.

Sophie war nicht fähig aufzustehen. Der Boden unter ihren Füßen wankte. Er würde sie ohne Muad nicht tragen können. Wie ein Keulenschlag hatten sie seine Worte getroffen. Muad zu verlieren, ihren Schutz, ihren Fels, das wagte sie sich nicht vorzustellen.

Aber vor sich selbst konnte er sie auch nicht schützen. Wieso war dies alles geschehen? Tarik war zwei Mal wie ein Vulkan in ihr geordnetes Leben eingebrochen. Wieso war sie, die sich doch so stark glaubte, ihm gegenüber einfach schwach? Die Erinnerung an Tarik überschwemmte sie wie eine riesige Welle.

2

Die Geschichte der Liebe kannst du nur von der Liebe selbst hören. Sie ist wie ein Spiegel – stumm und sprechend zugleich.

Mevlana Celaleddin Rumi

Auf einem Fest in der Universität in Wien hatte Sophie Tarik kennengelernt. Auf einmal stand er vor ihr. Groß, dunkle, braune Augen, dunkles Haar, ein edles, schmales Gesicht, offenbar ein Araber. Sein Gesicht umrahmte ein kurz geschnittener dunkler Bart. Seine Haut sah aus, als ob er etwas länger in der Sonne gelegen hätte.

Sie standen einen Moment atemlos voreinander, was Sophie wie eine Ewigkeit vorkam.

Tarik fasste sich als Erster. »Darf ich mich vorstellen?« Er legte seine rechte Hand auf sein Herz, verbeugte sich leicht: »Tarik Aabi.«

Diese ungewöhnliche Art, sich vorzustellen, berührte Sophie.

Höflich fragte er: »Sind Sie allein hier?«

»Nein, ich bin mit meinen Freunden verabredet«, brachte sie mühsam heraus.

»Darf ich Sie an Ihren Tisch begleiten?« Er brachte sie zu ihren Freunden, von denen einer ihn kannte und ihn einlud, doch Platz zu nehmen. Er stellte ihn den anderen Studenten vor. »Leute, das ist Tarik Aabi, ein Berberscheich aus dem Hohen Atlas.«

Tarik verbeugte sich erneut und begrüßte die Gruppe in der Art der Berber. Sophie kam Othello in den Sinn, der auch ein Berberfürst gewesen sein soll und seine Frau Desdemona aus Eifersucht umgebracht hatte.

Tarik setzte sich neben sie, hatte keinen Blick mehr übrig für die anderen. Die körperliche Nähe dieses Mannes entzündete in ihr ein unbekanntes Feuer. Er legte wie absichtslos seinen Arm hinter sie auf die Bank. Sophie hatte nur noch den Wunsch, sich in diese Arme fallen zu lassen.

Er beugte sich ihr zu und sagte in noch gebrochenem Deutsch: »Habe noch nie in so hellgrüne Augen geblickt. Hat Ihnen jemand gesagt, dass Sie schön sind?« Sie wollte antworten: »Wie originell.« Die Worte blieben ihr jedoch im Hals stecken. Sie musste hier weg. Sie musste weg von diesem Mann.

Hartnäckig fragte er: »Was studieren Sie? Wie darf ich Sie nennen?«

»Ich heiße Sophie.«

»Und wie noch?«

»Contard.«

»Sophie Contard, was für ein schön klingender Name. Erzählen Sie mir, was Sie studieren?«

»Archäologie und Geschichte.«

»Interessant«, lächelte er.

Sie dachte, mein Gott, was haben die Berber für Männer … Sie atmete tief durch und fand ihre Sprache wieder. Ihre Neugier gewann die Oberhand. »Herr Aabi, was machen Sie hier in Wien? Was studieren Sie?«

»Mein älterer Bruder fand, dass ich nur in Wien Rechtswissenschaft studieren sollte, weil hier die Stadt mein Leben bereichern würde. Außerdem kann ich so oft wie möglich die Hofreitschule besuchen, um den Pferden nahe zu sein, mit denen ich aufgewachsen bin.«

»Sie wohnen im Hohen Atlas? Es muss ein beeindruckendes Gebirge sein.« »Nein, wir leben mehr am Rande des Gebirges bei Tamegroute. Da besitzt mein Clan Dattelpalm-Plantagen.«

Was sollte sie darauf antworten? Sie dachte nur, ich muss hier weg. Langsam stand sie auf.

»Entschuldigung, ich bin gleich wieder zurück.« Das war das erste Mal, dass sie vor ihm flüchtete. Doch Tarik wusste ihren Namen, ihre Fakultät und er hatte sie ein zweites Mal gefunden.

Jetzt, nach fünfzig Jahren, war Sophie, wenn sie daran dachte, zutiefst aufgewühlt. Selbst mit dreiundsiebzig Jahren brannte dieses Feuer, das Tarik damals in ihr entzündet hatte, noch in ihrem Leib. Wieso erlaubte sie sich, daran zu denken? Sie hatte den Mann Tarik mit vielen weißen Tüchern zugedeckt, um ihren Leib kühles Linnen gehüllt und gedacht, ich bin frei von dir. Frei von Tarik, das hatte sie sich fünfzig Jahre lang eingeredet. Jetzt stand dieser Name wieder im Raum. Jetzt sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Ihm sagen, dass Binjamin sein Sohn war? Ob Muad die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie seinen Bruder liebte und nach wie vor begehrte? Nein, Sophie, das ging zu weit!

Sie sprang auf. Solche Phantasien waren nicht erlaubt! Muad war der wunderbarste Mensch, aber hatte sie ihn je als Mann empfunden, den sie wollte? Natürlich habe ich ihn begehrt, sagte sie sich trotzig, schließlich sind wir seit dreiundvierzig Jahren verheiratet. Ja, verheiratet, aber sie beide hatten ihr eigenes Leben gelebt. Nur die letzten Jahre hier in der Wüste waren sie wirklich zusammen gewesen. War sie glücklich? Sophie, hör auf, so zu denken. Die innere Stimme in ihr, der sie vierzig Jahre nicht erlaubt hatte, die Wahrheit auszuspucken, ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Jetzt konnte sie ihre innere Lüge nicht mehr verdrängen.

Aber ich wollte an Muads Seite ein guter Mensch sein, seinen hohen Anforderungen genügen.

Ja, natürlich, du hast eine ruhige, sanfte, glückliche Ehefrau gespielt, meine Liebe. Muad hat recht, du warst ihm eine Gefährtin, mehr nicht.

Aber er hat mich doch geliebt.

Mehr, als du dir vorstellen kannst. Er hat den Mann in sich verleugnet, damit du Ruhe findest.

Wer spricht denn so in mir?, dachte sie empört.

Du, meine Liebe. Deine innere Wahrheit kannst du mit vielen weißen Tüchern zudecken, eines Tages schimmert sie durch die vielen Hüllen hindurch …

Immer noch saß sie unter dem strahlenden Sternenhimmel und erlaubte sich, verzweifelt zu sein. Ihr Leben würde bald vorbei sein. Sie hatte ihr Weibsein verraten, verleugnet, aus Angst vor dem Feuer, den Schmerzen, den Demütigungen, die die Liebe einer Frau zufügen kann. »Tarik!«, brach es aus ihr heraus. Sie schrie es laut heraus, schleuderte seinen Namen gegen dieses Firmament, das da zeitlos über ihr stand. Erschrocken lauschte sie hinaus in die Stille der Wüste. Von Ferne wehte der Wind Muads Gebete zu ihr. Also war er wirklich in seinem Zelt und würde dort die Nacht verbringen. Sie fühlte sich elend. Langsam, vorsichtig stand sie auf. Der Boden trug sie, aber das Gefühl war trügerisch. Später wusste sie nicht mehr, wie sie die Treppe hinuntergestiegen war, wie sie sich ins Bett gelegt hatte.

Als Sophie in ihrem kleinen Schlafzimmer die Augen schloss, überfielen sie wie Erinnyen die Erinnerungen. Tarik hatte sie damals aufgespürt, sie mit seinem intelligenten, männlichen Charme bezaubert. Sie kamen spätabends von einem Ausflug aus einem der Wiener Heurigenlokale, waren berauscht von der Gegenwart des anderen, und der Wein tat sein Übriges.

Sie ließen sich am Ufer der Donau nieder. Es war ihr klar, was jetzt geschehen würde. Das Unausweichliche, gegen das sie sich bis jetzt erfolgreich gewehrt hatte. Sie saß zusammengekauert, die Beine angezogen, auf der kleinen Decke. Tariks Hände fuhren über ihren Nacken. Er küsste ihren Haaransatz, und Schauer überliefen ihren Körper. Sie drehte den Kopf ihm zu und fiel in seinen Mund. Sie vergrub sich darin. Ihre Hände wühlten durch seine Haare. Wie eine Ertrinkende kam sie sich vor. Sie würde in diesem Mann versinken, ihr Ich auslöschen.

»Sophie«, flüsterte Tarik, »mein Mädchen mit den grünen Augen, ich liebe dich, hab keine Angst.«

Er zog sie aus. Sie spürte, dass er dies nicht das erste Mal tat, aber es war ihr egal. Sie wollte seinen Körper, seine nackte Haut. In diesem Moment beugte sich Tarik über sie, nahm sie in seine Welt, in sein Feuer, in seinen Atem, und sie sank, sank in eine tiefe Dunkelheit und wurde in ein Licht, in ein Feuer geschleudert, das ihr ganzes Sein verbrannte. Tarik schrie harte, männliche, unverständliche Laute, er raste über sie hinweg und im letzten Moment ergoss er seinen Samen auf ihren Bauch. Eine traurige schwere Süße erfüllte ihren Körper, ihr Sein, das, von diesem Mann durchdrungen, nie mehr so sein würde, wie es vorher war. Doch ihr wacher Verstand sagte ihr: »Er schläft mit vielen Frauen. Er passt auf«, und schon in der ersten Nacht meldete sich der Stachel der Eifersucht. Doch es war ihr egal.

Sophie wälzte sich in ihrem Bett. Ich will nicht an ihn denken. Aber ihre Gedanken blieben in der Vergangenheit hängen.