Sternendiamant 1. Die Legende des Juwelenkönigs - Sarah Lilian Waldherr - E-Book
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Sternendiamant 1. Die Legende des Juwelenkönigs E-Book

Sarah Lilian Waldherr

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Beschreibung

Eine grenzenlos fantasievolle Reise beginnt. Fana ist 15 als ihr Leben plötzlich auf den Kopf gestellt wird: Sie ist ein Aurion – ein magiebegabtes Wesen. Von nun an soll sie das fliegende Schulschiff Simalia besuchen, um dort alles über ihre Kräfte zu lernen. Auf der Simalia verbergen sich jedoch jede Menge Geheimnisse. Außerdem gibt es da noch Kian, der viel netter ist, als es zunächst scheint und der Fana gehörig den Kopf verdreht. Am Ende des Schuljahrs stellt sich heraus: Fana ist die Tochter des bösen Juwelenkönigs. Wird es Fana und ihren Freunden gelingen, die Sternendiamanten seiner bösen Macht zu entreißen? "Sternendiamant. Die Legende des Juwelenkönigs" ist der erste Band der neuen Romantasy-Reihe über schicksalhafte Wendungen und fremde Mächte.

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Über dieses Buch

Ein funkelndes Fantasy-Epos!

Als Fana erfährt, dass sie ein Aurion, ein magiebegabtes Wesen, ist, steht ihre Welt plötzlich auf dem Kopf. Von einem auf den anderen Tag soll sie ihr Leben in Freiburg hinter sich lassen und das fliegende Schulschiff Simalia besuchen, um dort alles über ihre Kräfte zu lernen. Doch auf der Simalia verbergen sich jede Menge Geheimnisse – was hat es zum Beispiel mit dem schrecklichen Juwelenkönig auf sich, über den alle nur hinter vorgehaltener Hand sprechen? Und dann ist da noch Kian, der viel netter ist, als er zunächst zu sein scheint …

 

Der erste Band einer unglaublichen Reise ins Reich der Fantasie – wird es Fana und ihren Freunden gelingen, das Geheimnis der Sternendiamanten zu lüften?

Auszug aus dem Geburtsbuch der Aurions:

JADA TAMARA LANCASTER – geboren 26. September 1867 um 17:45 Uhr – Nottingham, England – 4200 g schwer – Magiko

Vater: Alister Maximilian Lancaster, Magiko mit magischen Kräften

Mutter: Katjana Lancaster, Magiko ohne magische Kräfte

Geburtstest durchgeführt von: Jackimo Leonardo Pellicano

Jadas Blut weist die typischen Magikomerkmale auf.

Der Magietest fiel negativ aus.

 

FANARINA LANCASTER – geboren 13. August 2000 um 02:10 Uhr – Freiburg, Deutschland – 3750 g schwer – Solix ohne magische Kräfte

Vater: unbekannt

Mutter: Jada Tamara Lancaster, Magiko ohne magische Kräfte

Geburtstest durchgeführt von: Jackimo Leonardo Pellicano

Fanarinas Blut weist die typischen Solixmerkmale auf.

Der Magietest fiel negativ aus.

1. Kapitel

Stöhnend bückte ich mich und lugte unter die nächste Bank. Sport war zwar nicht grundsätzlich Mord, doch der Sturz vom Barren hatte ganz schön gesessen.

Nichts.

Ich richtete mich langsam auf und drehte mich suchend im Kreis. Es musste doch irgendwo sein.

Ein paar Nachzügler eilten an mir vorbei ins Schulgebäude. Die Pause war seit fünf Minuten vorbei, und ich hatte Physik. Ausgerechnet! Ein Eintrag im Klassenbuch war mir sicher.

Hastig lief ich noch einmal den Schulhof ab. Mein treuer Begleiter konnte kaum vom Erdboden verschluckt worden sein. Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen die grelle Sonne. Da entdeckte ich es. Mein Skateboard stand verlassen an der Mauer neben einer Bank. Ein Glück, dass es niemand mitgenommen hatte. Ächzend klemmte ich es mir unter den Arm und lief Richtung Eingang.

Bescheuerte Sportstunde! Wieder spürte ich meinen Rücken. Ich streckte mich einmal, was so gut wie nichts brachte.

Ein Windstoß wehte mir die offenen Haare ins Gesicht. Achtlos strich ich mir die Locken hinters Ohr. Mein Blick wanderte über die Bäume in der Nähe des Hofes. Bis ich etwas sehr Seltsames entdeckte.

Stutzend blieb ich stehen und blinzelte. Einer der Bäume trug blaue Blätter, der andere violette, und der nächste glühte neongelb. Hatte der Chemieleistungskurs hier draußen herumexperimentiert? Sah richtig schräg aus. Kitschig wie im Regenbogenland.

Der Wind fegte einige bunte Blätter von den Zweigen. Aber sie segelten nicht zu Boden – sondern blieben mitten in der Luft stehen. Stirnrunzelnd beobachtete ich die Szene.

Ging so etwas überhaupt?

Nur ein paar Sekunden später schwebten sie um die Bäume herum, wirbelten, ja tanzten fast umher und sammelten sich dann wie ein Schwarm bunter Insekten. Einmal noch drehten die Blätter eine Runde um die Bäume, wobei sie sich zu einer Pfeilformation anordneten. Sie schwenkten direkt in meine Richtung und kamen auf mich zugeschossen. Viel zu verblüfft, rührte ich mich nicht vom Fleck. Ob sie durch mich hindurchflogen? Erst als mir das erste Blatt mit voller Wucht ins Gesicht klatschte, stolperte ich rückwärts und ließ mein Board fallen.

»Was zum …«

Mit einem Ruck riss ich das Blatt herunter. Aber seine Nachfolger hatten mich bereits erreicht und hefteten sich überall an mir fest, wie Magnete, die ihren Gegenpol fanden. Bald schon war ich über und über mit bunten Blättern übersät und sah wahrscheinlich wie ein wild gewordener Naturgeist aus. Die Blätter gaben ein reißendes Geräusch von sich, sobald ich daran zog. Als hätte jemand Kleister daraufgeschmiert. Das war doch völlig hirnrissig. So etwas gab es nicht!

»Verdammt, weg von mir!«

Wie verrückt zerrte ich an dem bunten Blätteranzug, der sich um meinen Körper gebildet hatte.

Ich kniff die Augen zusammen, als die Blätter langsam mein Gesicht bedeckten, und befürchtete, dass ich bald keine Luft mehr bekommen würde. Meine Arme waren bereits so fest an meinen Körper geheftet, dass ich sie nicht mehr bewegen konnte. Wenn das so weiterging, endete ich als Laubmumie.

Wie ein Ertrinkender schnappte ich noch einmal nach Luft, bevor mein Mund bedeckt wurde.

Doch plötzlich löste sich die Laubschicht von mir und fiel zu Boden. Einen Augenblick blieb ich stocksteif stehen.

Als ich die Augen wieder öffnete, waren die merkwürdigen Farben verschwunden. Die Bäume trugen grüne Blätter, die langsam herbstliche Töne annahmen. Auch der Blätterhaufen zu meinen Füßen wirkte ganz normal. Verwirrt blinzelte ich ein paarmal, aber es war alles wie immer. Ein wenig benommen kratzte ich mich im Nacken und konnte es nicht begreifen. Hatte meine Phantasie mir einen Streich gespielt? Vielleicht war ich kurz in einen Tagtraum verfallen. So etwas sollte es geben. Ich schüttelte den Kopf. Angreifende Blätter, was für ein Schwachsinn!

Der menschenleere Hof erinnerte mich daran, dass die nächste Stunde bereits begonnen hatte. Der Physikunterricht! Oh nein! Ich schnappte mein Skateboard, rannte quer über den Hof, wobei ich mir den Rücken hielt, und stürzte ins Schulgebäude.

 

»Dein Skateboard hättest du auch in der zweiten Pause holen können«, warf Ivy mir auf dem Nachhauseweg vor. »Du hast wirklich Glück gehabt. Nächstes Mal bekommst du bestimmt einen Eintrag.«

Ich seufzte.

»Kann nicht jeder so perfekt sein wie du«, murmelte ich.

»So hab ich das nicht gemeint«, lenkte Ivy ein. »Was hast du überhaupt so lange gemacht?«

»Musste mein Board erst suchen. Es ist ein Stück davongerollt«, log ich.

Die Geschichte von attackierenden, quietschbunten Blättern würde Ivy nur mit einem zweifelnden Blick quittieren. Darauf konnte ich verzichten.

Wir schlenderten den Weg entlang. Ich genoss die warme Sonne und freute mich, dass wir heute Nachmittag keine Schule und nur wenig Hausaufgaben aufbekommen hatten. Bis zum Libellenweg dauerte es eine gute Viertelstunde zu Fuß. Ivy und ich wohnten von klein auf einander gegenüber.

»Gehen wir heute Nachmittag in den Park?«, fragte ich Ivy.

»Ich kann nicht. Ich muss lernen.«

Dabei sagte ihr Blick, dass sie gern mitgekommen wäre. Sie übertrieb es mal wieder. Kein Wunder, dass die anderen Ivy als Streberin abstempelten.

»Das kannst du doch heute Abend machen. Außerdem ist Freitag«, versuchte ich sie zu überreden.

»Nein, das geht nicht. Ich … hab wirklich viel aufzuholen«, druckste Ivy herum.

Ich warf ihr einen Seitenblick zu. »Die Schule hat gerade erst angefangen.«

Wegen vier versäumter Tage machte sie so ein Theater? Typisch.

Entschlossen verschränkte Ivy die Arme.

»Na gut, ich geh allein«, sagte ich enttäuscht. »Werd es wirklich vermissen, dass jemand an mir herummeckert, wenn einer meiner Tricks schiefläuft.«

Ich zog eine Schnute, und Ivy kicherte.

»Streng dich an, damit ich das nächste Mal keinen Fehler mehr finde. Es soll auf jeden Fall noch bis nächste Woche so schön bleiben. Wir können vielleicht morgen zusammen hingehen.«

Obwohl Ivy selbst nicht skatete, hatte sie alle Tricks genau studiert und wies mich sofort zurecht, wenn auch nur mein Fuß ein wenig zu schräg stand. Manchmal nervte das total, aber andererseits war ich mit Ivys Hilfe ziemlich gut geworden.

Ich nickte.

»Klar. Wir können uns ein paar Fresspakete mitnehmen und es uns auf der Wiese bequem machen. Ich frag Mam, ob sie uns welche macht.«

»Klingt verlockend. Aber nur, wenn wir auch ein wenig lernen.«

»Wenn es unbedingt sein muss.«

Innerlich verdrehte ich die Augen. Sie konnte echt an nichts anderes denken.

Ivy ging langsamer und legte eine Hand auf ihren Magen.

»Alles in Ordnung? Ist dir wieder schlecht?«, fragte ich.

»Es geht schon«, murmelte Ivy, aber die Farbe wich aus ihrem Gesicht.

»Bist du sicher?«

»Ist okay.«

Ivy stützte sich kurz an der nächsten Hauswand ab, und ich blieb besorgt stehen. Möglicherweise war sie doch nicht so gesund, wie sie tat.

»Am besten, du legst dich ein bisschen hin.«

Ich nahm zur Sicherheit ihren Arm.

Da straffte Ivy sich bereits wieder und lief aufrecht weiter.

»Es ist weg. Du kannst mich loslassen, Fana. Dieses blöde Gefühl kommt manchmal noch zurück. Es ist aber nicht mehr so unangenehm wie vor ein paar Tagen.«

»Bleib lieber noch eine Weile zu Hause.«

»Auf gar keinen Fall!«

Ich zuckte die Achseln.

»Wenn du meinst.«

Wir erreichten den Libellenweg. Nummer sechzehn und siebzehn lagen etwa in der Mitte der kleinen, ruhigen Straße. Zwei gemütliche Häuser. Das von Ivys Familie war etwas größer als unseres – oder wirkte zumindest so, weil Ivy in einem breit gebauten, weißen Bungalow wohnte. Unser Haus hingegen ragte mit seinen zwei Stockwerken und dem Dachboden schmal in die Höhe.

Ivys Vater, Emilio Fernandes, saß, wie immer bei schönem Wetter, draußen im Garten, mit der Zeitung auf dem Schoß. Ivy sagte immer, dass er erst spätabends arbeite. Wahrscheinlich von zu Hause aus, denn ich sah ihren Vater nie das Haus verlassen. Entweder machte er es sich im Garten bequem, so wie jetzt, oder er hockte in seinem Sessel im Wohnzimmer, von wo aus er durch das riesige Fenster zur Straße hinausschauen konnte. Ab und zu kam es mir fast so vor, als beobachte er unser Haus, anstatt zu lesen.

Als Ivys Vater uns bemerkte, nickte er uns kurz zu.

»Hallo, Herr Fernandes«, sagte ich freundlich und lächelte, was er völlig ignorierte.

Stattdessen schaute er Ivy prüfend ins Gesicht. Die goldblonden, glatten Haare hatte Ivy von ihm, aber die dunkelblauen Augen musste sie von ihrer Mutter geerbt haben. An sie konnte Ivy sich allerdings nicht erinnern, denn ihre Mutter hatte die Familie früh verlassen. Diese Sache verband sie und mich auf gewisse Weise. Meinen Vater hatte ich auch nie kennengelernt – und mich interessierte der Mann, der meine Mutter hatte sitzen lassen, auch nicht sonderlich.

»Wie geht es dir, Ivy?«, fragte ihr Vater. »Ist dir noch schlecht?«

Ivy schüttelte den Kopf.

»Es ist nicht wiedergekommen.«

Ich machte den Mund auf, um zu widersprechen, aber Ivy warf mir einen warnenden Blick zu. Normalerweise log sie nicht. Anscheinend hatte sie keine große Lust, länger im Bett zu bleiben.

Ihr Vater nickte knapp.

»Kann ich Ivy heute Abend besuchen kommen?«, fragte ich höflich.

»Nein«, kam die Antwort bereits wieder hinter der Zeitung hervor.

Ich durfte Ivy nur selten besuchen. Meistens kam sie zu mir. Manchmal stellte ich mir vor, dass Ivys Vater in einem einsamen, verschlossenen Zimmer aufgewachsen war, weshalb er nun jede Gesellschaft verabscheute. Da konnte er übrigens meinem Großvater die Hand geben.

Ich schenkte der Titelseite einen finsteren Blick. Idiot.

»Wir können später telefonieren«, sagte Ivy schnell.

»Also schön.« Ich winkte ihr zu und überquerte die Straße zu unserem Haus.

Unseren Vorgarten könnte man glatt für die Landesgartenschau anmelden, so viel Mühe hatte sich Mam wieder einmal gegeben. Die Rosenhecke stand in voller Blüte, und in den kleinen Beeten wuchsen Hibiskus und Chrysanthemen, die ein hübsches Muster ergaben.

Ich kramte in meinem Rucksack nach dem Schlüssel und betrat den Flur. Im Haus war es still. Mam kam erst kurz nach vier von der Arbeit nach Hause. Ich zog meine Chucks aus, durchquerte das Wohnzimmer und stieg die Wendeltreppe nach oben. Mein Zimmer war wahrscheinlich das kleinste im ganzen Haus – mal vom Gäste-WC abgesehen. Den Rucksack stellte ich unter den Schreibtisch und lehnte mein Board gegen den Schrank. Hausaufgaben würde ich später machen.

Es sah seltsam aufgeräumt aus. Auf dem alten CD-Player und der Nachttischlampe lagerte keine dünne Staubschicht mehr, auf dem beigefarbenen Teppich fehlten die Krümel meiner nächtlichen Naschattacken, und mein Bett war neu bezogen. Frau Kowalski musste da sein. Wie aufs Stichwort hörte ich schon Großvaters Stimme draußen auf dem Flur.

»Nein, nein! Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie in meinem Zimmer nicht putzen sollen?«, blaffte er laut. »Fassen Sie bloß nichts an. Nein, auch nicht den alten Kelch!«

Neugierig öffnete ich die Tür und trat in den Flur. Großvater hatte Frau Kowalski am Arm gepackt und bugsierte sie etwas unsanft aus seinem Zimmer. Außer Mam durfte absolut niemand sein Zimmer betreten. Ich fragte mich oft, was er da drin wohl versteckte.

Frau Kowalski stammte aus Polen und sprach kein Wort Deutsch. Verständnislos schaute sie Großvater an, nickte aber schnell, als er sich vor ihr aufbaute, und huschte die Treppe nach unten ins Erdgeschoss. Nächstes Mal machte sie denselben Fehler wahrscheinlich wieder.

Großvater sah ihr schnaubend nach, bevor sein Blick auf mich fiel.

»Wo kommst du her?«

»Aus der Schule. Es ist schon halb zwei«, entgegnete ich.

Großvaters Bernsteinaugen bohrten sich in meine. Wobei die Bezeichnung Großvater gar nicht zu ihm passte. Es stimmte, er war der Vater meiner Mam, aber er sah nicht so aus. Ein Fremder würde ihn locker für einen Mann Mitte dreißig halten. Das weißblonde Haar perfekt zurückgekämmt, keine graue Strähne, keine Falten im Gesicht. Aufrechte Haltung, ernste Miene. Ein weißes Hemd unter einer roten Jacke, an der ein Monokel hing. Dass man so etwas heute noch benutzte! Großvater lief herum, als stamme er aus dem letzten Jahrhundert, und benahm sich wie ein Baron auf seinem Landsitz. Egal, wie streng Großvater auch guckte, ich konnte ihn nie wirklich ernst nehmen. Auf mich wirkte er wie ein Zeitreisender, der sich in die moderne Welt verirrt hatte.

»Schleich nicht auf dem Flur herum.«

»Ich schleiche nicht. Ich bin ganz normal gelaufen«, entgegnete ich und seufzte leise.

»Hast du deine Hausaufgaben erledigt?«, fragte Großvater knapp.

»Ich bin eben erst nach Hause gekommen.«

»Dann sieh zu, dass du damit anfängst. Vorher gehst du nicht aus dem Haus. Frau Kowalski hat etwas zu essen zubereitet. Hilf ihr mit dem Abwasch, wenn du fertig bist.«

Damit schlug er seine Tür wieder zu. Genervt streckte ich dem Türklopfer die Zunge heraus. Ein weiteres Relikt, so wie er.

Hunger hatte ich aber großen, also beeilte ich mich, in die Küche zu kommen.

Frau Kowalski wischte gerade die Fliesen. Seit sie bei uns arbeitete, hatte ich mich mit ihr auf eine Art Zeichensprache geeinigt. Also deutete ich auf den Herd, auf dem mehrere Kochtöpfe standen. Sie nickte lächelnd.

Mit einem vollen Teller verzog ich mich ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Gelangweilt zappte ich durch die Kanäle.

»Fanarina, mach den Fernseher leiser!«, bellte Großvater sofort die Treppe herunter.

Er verbrachte fast den ganzen Tag in seinem Zimmer. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er nur herauskam, um sich über mich zu beschweren. Mam sagte, er würde arbeiten. Wahrscheinlich bestand seine Arbeit darin, das Haus zu observieren und uns herumzukommandieren.

»Ich habe außerdem angeordnet, dass du Frau Kowalski helfen sollst!«

»Mach ich noch. Lass mich doch erst mal essen. Und nenn mich nicht Fanarina!«, rief ich zurück, schickte einen genervten Blick nach oben und drehte die Lautstärke der alten Röhrenkiste herunter.

Außer dem Fernseher gab es im Wohnzimmer noch ein breites Fenster mit Orchideen, Großvaters Sessel, den er so gut wie nie benutzte, und zwei Vitrinen, vollgestopft mit Mitbringseln aus fernen Ländern und Souvenirs für Mam. Am besten gefiel mir Großvaters Samuraischwert aus Japan.

Mam hatte einmal erzählt, Großvater sei in seiner Jugend viel gereist. Ich fragte mich, ob er zu der Zeit schon genauso ausgesehen hatte wie heute, und manchmal stellte ich mir vor, wie er in einem der ersten Autos, das mehr einer Pferdekutsche glich, durch die Straßen brauste.

Abgesehen von Großvaters Reisesouvenirs gab es in unserem Haus keine persönlichen Erinnerungsstücke – und nichts, was darauf hinwies, dass außer Mam, Großvater und mir weitere Familienmitglieder existierten. Keine Familienfotos aus vergangenen Zeiten, keine Briefe oder Erbstücke. Ich hatte einmal heimlich in Mams Zimmer danach gesucht. Weder bei ihr noch auf dem Dachboden fand ich etwas. Und wenn ich nachhakte, kam Großvaters berühmter Satz: »Frag nicht so viel!«

Als mein Teller leer war, brachte ich ihn zurück in die Küche und half Frau Kowalski brav, die Spülmaschine einzuräumen. Es dauerte nicht lange. Aber ich dachte überhaupt nicht daran, Großvaters Anweisung zu folgen und mich sofort an die Hausaufgaben zu setzen. Ich holte das Skateboard aus meinem Zimmer und sprang die Treppe hinunter.

»Was machst du wieder für einen Lärm?«

Erneut ging Großvaters Tür auf, und er erschien oben am Treppenabsatz.

Oh nein! Ausgerechnet jetzt!

»Wie oft habe ich dir bereits gesagt, dass du im Haus nicht herumrennen sollst?«

»Atmen ist aber erlaubt, oder?«

»Sprich nicht so mit deinem Großvater. Das geziemt sich nicht.«

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Wer benutzte heute denn noch Wörter wie geziemt?

»Hast du Frau Kowalski geholfen?«, fragte Großvater streng.

»Ja doch«, antwortete ich gereizt.

»Hausaufgaben?«

»Kann ich die nicht später machen? So schönes Wetter gibt’s bestimmt nicht mehr lange.«

»Erst wird gearbeitet, dann kannst du unternehmen, was du willst. Und fahr nicht wieder mit diesem Brett durch den Flur.«

»Skateboard«, verbesserte ich ihn, doch das interessierte Großvater kein bisschen.

Mit einem scharfen Blick wandte er sich um und knallte die Tür zu.

»Ja, natürlich, liebster Großvater«, säuselte ich und kreuzte die Finger auf dem Rücken.

Allerdings wusste ich, dass er mich eher in meinem Zimmer einschließen würde, als mich nach draußen zu lassen, bevor meine Hausaufgaben fertig waren. Sicher befand sich in dem Türklopfer ein Guckloch, durch das er den Flur heimlich beobachtete, denn er wusste immer, was hier vor sich ging.

Seufzend machte ich kehrt, setzte mich an meinen Schreibtisch und packte die Schulbücher aus.

 

Ich brauchte länger, als ich gedacht hatte. Bald brummte mir der Kopf, und als ich über meinem Geschichtsbuch brütete, begannen die Buchstaben zu tanzen. Das c in Bismarcks Namen machte sich selbstständig, trampelte über diverse Buchstaben hinweg und sprang auf dem i im Namen Kaiser Wilhelms herum. Ich schlug das Buch zu. Meine Konzentration lag bei null, und ich fing schon wieder an, mir komische Dinge einzubilden.

Unten im Wohnzimmer erklangen Schritte.

»Ich bin wieder da«, rief Mam die Treppe hinauf.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es bereits viertel nach vier war. Ich beschloss, die restlichen Hausaufgaben am Wochenende zu erledigen. Bevor die Sonne ganz verschwand, wollte ich auf jeden Fall noch ein wenig im Park üben.

Ich schnappte mein Skateboard und stieg die Treppe nach unten. Mams Tasche stand im Wohnzimmer, und ich hörte sie in der Küche hin und her laufen.

»Hi, Mam«, sagte ich und öffnete die Tür.

Das Skateboard ließ ich im Flur stehen.

»Hallo, mein Schatz. Wie war es heute in der Schule?«, fragte sie, während sie einen Teller mit Spaghetti in die Mikrowelle stellte.

»Ganz okay. Ivy ist wieder da.«

»Tatsächlich? Wie schön, dass es ihr besser geht.«

»Wie man’s nimmt.«

»Nicht?«, fragte Mam.

»Du kennst sie doch. Sie will nichts verpassen.«

Mam verdrehte die Augen, nahm mich in den Arm und drückte mir einen Kuss auf den Kopf, bevor sie ihren Teller holte und sich an den Küchentisch setzte.

»Sie sollte damit nicht leichtfertig umgehen.«

Wir sahen uns an und lachten.

»In der Hinsicht wird sie sich nie ändern«, sagte ich.

Mam trug eines ihrer Blumenkleider mit Margeriten und Veilchen darauf. Sie war wie Großvater groß und schlank und hatte auch seine Augen geerbt, nur dass ihre viel freundlicher schauten. Überhaupt merkte man beiden deutlich an, dass sie miteinander verwandt waren. Ein Fremder hätte sie allerdings eher für Geschwister gehalten, nicht für Vater und Tochter.

Mir hingegen sah man gar nicht an, dass ich zu dieser Familie gehörte. Meine kastanienbraunen Locken fielen wild über meine Schultern und meistens auch in mein Gesicht. Ich hatte dunkelgrüne Katzenaugen, dunklere Haut als Großvater und Mam, und ich war etwas kleiner geraten. Obwohl ich meinen Vater nie gesehen hatte, schlug ich wohl zumindest äußerlich ganz nach ihm.

»Ich geh in den Park, ein bisschen skaten«, teilte ich Mam mit und umarmte sie noch einmal fest.

»Hausaufgaben?«, fragte sie.

»Hab ich gemacht. Nur Geschichte nicht ganz, aber das kann ich am Wochenende fertig machen.«

»Gut, aber sieh zu, dass du pünktlich daheim bist. Du kennst doch Großvater.«

»Klar.« Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Bis später.«

»Ich hab dich lieb«, rief Mam mir hinterher, als ich aus der Küche stürmte.

»Ich dich auch.«

2. Kapitel

Bis zum Seepark war es nur ein Katzensprung.

Ich atmete tief durch und versuchte, meinen Kopf freizubekommen, der sich nach den Hausaufgaben immer noch zu schwer anfühlte.

Im Park war es dem Wetter entsprechend voll, und ich machte mich auf die Suche nach einem Ort, an dem ich ein paar einfache Skateboardtricks üben konnte. In der Nähe des Sees fand ich einen verlassenen runden Platz mit Bänken, der von einer Wiese umgeben war.

Obwohl ich schon lange Skateboard fuhr, hatte ich mich erst sehr spät an die Tricks herangewagt. Heute probierte ich meinen Kick- und Heelflip. Inzwischen hatte ich den Bogen gut raus. Zuerst kam der Kickflip. Ich nahm Schwung und zog den Fuß schräg nach rechts vorn. Dabei sprang ich hoch, sodass sich mein Board einmal um seine Längsachse nach links drehte. Sicher kam ich wieder auf. Super. Ivy wäre bestimmt zufrieden.

Der Heelflip funktionierte ähnlich. Nur dass sich das Board beim Sprung in die entgegengesetzte Richtung drehte. Ein bisschen wackelig landete ich, aber es funktionierte. Das musste noch besser werden! Konzentriert versuchte ich es noch einmal.

Alle anderen Gedanken pustete der Herbstwind aus meinem Kopf. Es gab nur noch mich und mein Skateboard. Der Schulstress fiel von mir ab. Auch der seltsame Vorfall mit den angreifenden Blättern rückte in weite Ferne. Ich fühlte mich vollkommen frei. Niemand sagte mir, was ich tun oder lassen sollte. Die Gespräche der Leute um mich herum verschwammen zu einem leisen Hintergrundgemurmel.

Jetzt klappten die Tricks perfekt, und ich war verdammt stolz auf mich. Es gab nichts Schöneres auf der Welt als Skaten.

Ab und zu bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie ein Spaziergänger kurz stehen blieb und mir interessiert zusah. Das spornte mich noch mehr an.

An diesem Tag fühlte ich mich unglaublich leicht auf meinem Board. Ein schwaches, angenehmes Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. Glücklich reckte ich das Gesicht in die Sonne, genoss die Wärme auf meiner Haut und lauschte dem Wind, der leise durch die Blätter rauschte. Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten, damit der Moment nie wieder vorbeiging. Das Kribbeln in meinem Bauch wurde immer stärker. Es kitzelte so sehr, dass ich breit grinste. Kurz hielt ich an, um tief durchzuatmen, als …

»Hicks!«

Ein bunter Schwarm Schmetterlinge entwich meinem Mund. Zum Glück stand ich gerade, sonst wäre ich vor Schreck vom Skateboard gestürzt. Verwirrt versuchte ich zu verstehen, was geschehen war. Schmetterlinge, die aus meinem Mund kamen? Unmöglich! Das bildete ich mir ein. Ich war so im Skatefieber, dass meine Phantasie mir Streiche spielte. Kopfschüttelnd griff ich nach meinem Board. Schmetterlinge, na klar! Was für dummes Zeug!

»Hicks!«

Ein Ruck ging durch meinen Bauch, das Kribbeln stieg meine Kehle hinauf, und wieder zwängte sich eine Wolke Schmetterlinge aus meinem Mund. Krampfhaft versuchte ich, ihn geschlossen zu halten. Zwecklos. Es waren zu viele. Die Flügel der Insekten schlugen hektisch gegen die Innenseiten meiner Mundhöhle, während sie versuchten, alle gleichzeitig nach draußen zu gelangen. Mit einem erstickten Aufschrei spuckte ich den letzten aus, der mit seinen Beinen über meine Zunge krabbelte. Mir war hundeschlecht. Was ging hier vor?

Ein vorbeischlenderndes Pärchen blieb stehen.

»Sieh nur, Martin. So schöne Schmetterlinge. Und das um diese Jahreszeit«, schwärmte die Frau mit weißem Sonnenhut.

»Die sehen richtig exotisch aus. Vielleicht sind sie aus dem Zoo entwischt«, vermutete ihr Begleiter.

»Und sie flattern alle um das Mädchen dort herum, als würde sie sie anziehen. Wie ungewöhnlich.«

Am liebsten wäre ich genau hier zusammengebrochen, in der Hoffnung, dass ich in meinem Bett wieder aufwachte. Ich schluckte und schaute mich unruhig um. Die Schmetterlinge mussten real sein. Aber wie kamen sie in meinen Körper? Vor meinem inneren Auge sah ich plötzlich Hunderte von Kokons, die sich in meinem Bauch eingenistet hatten. Das war zu viel. Mit einem Würgen sank ich auf die Knie und übergab mich. Keuchend holte ich Luft und rang um meinen Verstand. So etwas gab es nicht!

»Ach, du meine Güte! Was ist denn mit dir?«

Ich blickte auf und schaute in das besorgte Gesicht der Frau mit Sonnenhut, die neben mir auf dem Boden kniete.

Kein Laut kam über meine Lippen, als ich sie bewegte. Mit zitternden Armen stemmte ich mich hoch, doch meine Beine wollten mein Gewicht nicht tragen. Ich schwankte stark.

Die Frau stützte mich. »Du brauchst dringend einen Arzt. Du bist ja kreidebleich.«

Nein. Ein Arzt würde die Situation nur noch schlimmer machen. Was sollte ich sagen, wenn es sich wiederholte? Möglicherweise in den nächsten Minuten? Ich musste hier weg.

Abwehrend schüttelte ich den Kopf, griff nach meinem Skateboard, entwand mich dem Griff der Frau und stolperte davon.

Wo sollte ich hin? Wie eine Betrunkene taumelte ich durch den Park, das Skateboard fest an mich gepresst wie einen Rettungsring, der mich aus dieser absurden Lage ziehen konnte. Panisch blickte ich nach links und rechts und suchte nach einem Weg, der mich hier rausbrachte.

Nach Hause. Ich wollte heim.

Das war einfach unmöglich. Menschen spuckten keine Schmetterlinge! Was war mit mir los? Ich fühlte mich seltsam müde, und vor meinen Augen verschwamm die Umgebung immer wieder zu einem Bild aus Farbklecksen.

»Beruhige dich. Das kommt von dem Schock«, flüsterte ich mir kaum hörbar zu.

Viel Zeit blieb mir nicht. Verzweifelt presste ich die Hand auf meinen Mund, als das Kribbeln wieder einsetzte und stärker wurde. Leider half das wenig. Erneut entließ ich einige Schmetterlinge in die Freiheit.

Okay, ich musste schleunigst ein Versteck finden und hoffen, dass das, was immer mich da überfallen hatte, von selbst wieder verschwand. Kurzerhand kroch ich neben einer Bank in einen dichten Busch hinein, hinter dem ein Baum wuchs. Hier würde mich hoffentlich niemand so schnell entdecken.

Ich versuchte, tief in den Bauch zu atmen, um das Kribbeln zu vertreiben, aber da kündigte sich schon die nächste Ladung Schmetterlinge an. Sie flatterten hoch in die Luft und zu allen Seiten aus dem Busch hinaus.

Es klappte nicht. Erschöpft lehnte ich meinen Kopf gegen den Baumstamm und ergab mich den Schmetterlingsschwärmen, die im Minutentakt aus meinem Mund quollen. Meine Finger gruben sich in die weiche, kühle Erde, und der Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Mir war unglaublich heiß.

Was sollte ich nun tun? Für immer und ewig in diesem Busch sitzen bleiben?

Meine Kehle fühlte sich staubtrocken an, aber ich hatte nichts zu trinken mitgenommen.

Ich musste nach Hause. Aber wie sollte ich das in diesem Zustand schaffen? Um ganz sicherzugehen, dass ich nicht träumte, zwickte ich mir fest in den Arm.

»Aua!«

Es musste Realität sein. Langsam zog ich die Knie an, legte meine Arme darauf und vergrub mein Gesicht darin.

»Bitte, bitte hört auf!«, flüsterte ich, erfolglos.

Ich hob den Kopf, damit die Schmetterlinge nicht in meinem Schoß landeten.

Stimmen drangen entfernt zu mir. Vorsichtig lugte ich durch die Zweige. Vor meinem Versteck hatte sich eine kleine Gruppe Menschen versammelt.

»Ah!« und »Oh!« staunten sie und zeigten dabei auf die Schmetterlinge.

Hastig zog ich mich zurück und drückte mich wieder gegen den Baumstamm. Das Adrenalin schoss mir in die Adern. Wenn einer von ihnen auf die Idee kam, zwischen den Zweigen nachzusehen, war ich geliefert!

Verflixt! Sollten sie mich entdeckten, landete ich sicher als Hauptattraktion im nächsten Zirkus. Oder sie schleppten mich in ein wissenschaftliches Labor und schnitten mich auf. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Weniger Science-Fiction-Filme täten mir gut.

Allmählich ebbte der Schluckauf etwas ab. Das war meine Chance, hier zu verschwinden, bevor es wieder schlimmer wurde.

Auf dem Weg, den ich gekommen war, ging es nicht zurück, denn dort stand die gaffende Menge. Aber vielleicht auf der anderen Seite?

Im Zeitlupentempo rutschte ich um den Baumstamm herum und spähte durch die Blätter. Vor mir lag ein Stück Wiese. Ich krabbelte zwischen den Ästen hervor. Immer wieder blickte ich mich um, aber niemand beachtete mich. Langsam richtete ich mich auf.

»Hicks!«

Ein weiterer Schwarm Schmetterlinge. Ich zögerte nicht lange, schnappte mir mein Board und rannte los, quer über den Rasen. Am Rand der Wiese sprang ich auf mein Skateboard und bahnte mir einen Weg zwischen den Spaziergängern hindurch. Die Flüche und Beschwerden, die mir hinterherflogen, nahm ich gar nicht wahr.

Im Eiltempo raste ich die Straßen entlang. Nur noch um die nächste Ecke, dann war ich da.

Ich hielt die Luft an, um den Schluckauf zu stoppen, aber auch das half nicht. Als ich in den Libellenweg einbog, flatterten erneut Schmetterlinge gen Himmel.

Ivys Vater saß zu meinem Glück nicht mehr im Garten, und auch im Wohnzimmer fehlte jede Spur von ihm.

Voller Erleichterung riss ich das Gartentor auf. Hektisch durchwühlte ich meine Hosentaschen. Nein! Der Schlüssel musste noch auf meinem Schreibtisch liegen. Mein Finger fuhr zur Klingel, und drinnen wollte die Glocke nicht mehr verstummen.

»Kommt schon, macht auf …«, murmelte ich und warf einen ängstlichen Blick nach hinten, aber die Straße blieb leer.

»Hicks!«

Verdammt!

Mam riss die Tür auf.

»Was ist los? Warum klingelst du denn so stürmisch?«, fragte sie, als ich mich an ihr vorbeidrückte und durch das Wohnzimmer noch oben rannte.

»Alles okay«, versicherte ich ihr und nahm zwei Stufen auf einmal.

»Was denkst du dir dabei, so einen Lärm zu verursachen?«, empfing mich Großvater im ersten Stock.

Ohne Antwort schlüpfte ich in mein Zimmer und schloss demonstrativ die Tür.

Schritte draußen auf dem Gang.

»Nein, Vater. Lass sie allein.«

Das war Mam.

»Du hättest sie besser erziehen sollen«, beschwerte sich Großvater.

»Sie ist ein Teenager. Die haben solche Phasen.«

»Unsinn. Du hast dich nie so unhöflich verhalten«, meinte Großvater beinahe sanft.

»Das waren ganz andere Zeiten. Komm, setz dich zu mir ins Wohnzimmer und spiel eine Runde Karten mit mir. Das haben wir lange nicht gemacht. Und ich hab eine neue Orchidee aus dem Laden mitgebracht, die du dir unbedingt ansehen musst.«

Großvater brummte etwas Unverständliches, und wieder erklangen leise Schritte auf der Treppe. Dann kehrte Stille ein.

Innerlich dankte ich Mam tausendmal dafür, dass sie Großvater abgefangen hatte. Ihm einen Schwarm Schmetterlinge ins Gesicht spucken war das Letzte, was ich wollte.

Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen, verkroch mich unter meiner Decke und wartete. Aber es passierte nichts. Kein Schluckauf, keine Schmetterlinge.

Nach einer Dreiviertelstunde wagte ich mich mit dem Kopf unter der Decke hervor. Seltsam. Es hatte so urplötzlich aufgehört, wie es angefangen hatte. Was war das bloß gewesen? Meine Schläfen pochten, so angestrengt versuchte ich, eine Lösung zu finden. Es gab keine Erklärung. Niemand spuckte einfach Schmetterlinge. Genauso wenig, wie Blätter in einer Sturzflugformation auf einen zurasten und an einem kleben blieben. Egal, wie ich die Sache anging, ich kam zu keinem Ergebnis.

Müde rieb ich mir die Augen und ließ mich zurück aufs Bett sinken. In dem Moment klingelte unten das Telefon. Kurz darauf klopfte es an meiner Tür.

»Fana? Ivy ist dran.«

Ausgerechnet jetzt.

»Komm rein.«

Mam trat ein, strich mir liebevoll übers Haar und reichte mir das Telefon.

»Danke, Mam. Hi, Ivy. Genug gelernt für heute?«

Ich versuchte, unbeschwert zu klingen.

»Ja, ich denke schon.«

Ich setzte mich auf.

»Alles okay?«, fragte ich.

Ivys Stimme klang aufgeregt.

»Wie war es im Park?«, fragte sie, statt meine Frage zu beantworten.

»Ganz nett.«

Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, ihr zu erzählen, was im Park geschehen war, aber sie würde mich auslachen.

»Sag schon. Was gibt’s?«, hakte ich nach.

In der Leitung blieb es still.

»Ivy? Hey, bist du noch da?«

Sie holte tief Luft.

»Stell dir vor, ich werde die Schule wechseln«, platzte es dann aus ihr heraus.

»Was?«

Mit einem Schlag war ich hellwach. Ivy verließ das Wentzinger Gymnasium?

»Wieso? Wann? Warum?«, stammelte ich.

»Im Oktober. Papa hat mich heute Vormittag angemeldet.«

So, wie Ivy sich anhörte, konnte sie es kaum erwarten.

Meine Finger krampften sich um das Telefon.

»Das ist … toll. Und wohin gehst du? Ist die Schule in der Nähe?«, fragte ich und versuchte, einigermaßen gefasst zu klingen.

»Fana …« Jetzt zögerte Ivy, und aus ihrer Stimme wich die Fröhlichkeit. »Die Schule liegt nicht in Freiburg.«

Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich schluckte.

»Und wo dann?«

»Weit weg.«

»Wie weit?«

»Keine Ahnung, ich weiß es nicht genau.«

»In Deutschland?«

»Nein.«

»Ivy, lass dir doch nicht jeden Satz aus der Nase ziehen«, herrschte ich sie ungeduldig an.

Dabei wollte ich die Antwort eigentlich gar nicht hören.

»Viel weiß ich auch nicht«, gab sie zu.

»Aber du kannst nicht einfach gehen. Kommst du wieder? Oder zieht ihr etwa ganz weg?«, sprudelten die Fragen aus mir heraus.

»Papa bleibt hier. Nur ich gehe. Es ist … so eine Art Internat. Das ist eine große Chance für mich, verstehst du?«

Wahrscheinlich ein Internat für hochbegabte Schüler. Ich schickte ein paar Flüche nach drüben zu Ivys Vater.

»Dann sehen wir uns nur noch in den Ferien?«, fragte ich geknickt.

»Ich komme wahrscheinlich erst nächsten Sommer wieder. Vielleicht auch schon an Weihnachten«, sagte Ivy.

Mir schnürte es die Kehle zu. Was sollte ich bloß ohne Ivy machen?

»Wir können ja telefonieren, uns E-Mails oder Briefe schreiben. Ich kann mir auch einen Skype-Account einrichten …«, meinte ich halbherzig und zog die Knie an, um das dumpfe Gefühl in meinem Bauch loszuwerden.

»Mal sehen«, entgegnete Ivy zurückhaltend.

»Willst du da echt hin?«

»Ja, unbedingt.«

»Ich werde dich vermissen«, sagte ich leise.

»Du übertreibst. Ich bin schließlich nicht für immer weg«, versuchte Ivy mich aufzumuntern.

»Kann ich dich besuchen kommen?«, fragte ich.

»Ich glaube, das wird schwer möglich sein«, antwortete Ivy zögernd.

»Das ist unfair!«, rief ich.

Momentan überforderte mich das einfach. Nach den Ereignissen im Park stand ich sowieso komplett neben mir.

Ivy atmete hörbar aus.

»Na gut. Ich wollte dir das nur sagen«, meinte sie nun leicht gekränkt. »Wir sehen uns Montag in der Schule.«

»Ivy, warte!«

Aber da hatte sie bereits aufgelegt. Ich ließ den Hörer sinken und lehnte mich im Bett zurück. Diese Nachricht hatte mir heute gerade noch gefehlt. Am liebsten hätte ich mich hier verkrochen und wäre nie wieder herausgekommen. Konnte es noch schlimmer werden?

Langsam stand ich auf und ging ins Wohnzimmer hinunter. Zu meiner Überraschung spielten Großvater und Mam noch Karten. Großvater starrte verdrießlich auf sein Blatt. Wie es aussah, war Mam wieder mal dabei, zu gewinnen.

Mam blickte auf. »Alles in Ordnung, Schatz?«

Nein, es war überhaupt nichts in Ordnung. Der Nachmittag im Park reichte aus, um mich in die Psychiatrie einweisen zu lassen, und jetzt zog Ivy auch noch weg.

»Kind, deine Mutter hat dir eine Frage gestellt«, sagte Großvater missbilligend.

»Ivy wechselt die Schule«, antwortete ich und stellte das Telefon in die Ladestation.

Mam und Großvater tauschten einen Blick. Ich runzelte die Stirn. »Wusstet ihr davon?«

»Nun, es war abzusehen, dass es früher oder später passieren würde«, sagte Großvater und warf eine Karte auf den Stapel.

»Und ihr sagt mir kein Sterbenswort?«, brauste ich auf.

»Es gibt keinen Grund, deshalb die Stimme zu erheben«, ermahnte Großvater mich.

»Doch, den gibt es allerdings.« Finster schaute ich zwischen Mam und Großvater hin und her. »Hätte ich das früher gewusst, wäre ich wenigstens darauf vorbereitet gewesen!«

»Ivy wollte es dir unbedingt selbst sagen«, erklärte Mam.

»Weiß sie es auch schon länger?«, fragte ich gekränkt.

»Nein. Emilio hat mir vor zwei Tagen anvertraut, dass er sie in den nächsten Tagen ummeldet und es ihr dann sagt. Und dass Ivy bestimmt selbst mit dir darüber sprechen will«, sagte Mam.

Und wie sie das getan hatte! Zwei Minuten am Telefon, dann war das Thema für sie erledigt gewesen.

»Sie geht ja nicht für immer.«

Mam klopfte neben sich aufs Sofa, und ich ließ mich neben sie fallen und mich umarmen. Das tröstete mich ein wenig und tat richtig gut nach diesem grauenvollen Tag.

»Ivy ist sehr klug. Emilio will sie deshalb gern fördern«, sagte Mam.

»Im Gegensatz zu deiner Tochter«, brummte Großvater.

»Vater!« Mam klang empört und drückte mich automatisch enger an sich. »Hör auf, an Fana herumzumeckern. Wenigstens heute könntest du es lassen. Siehst du nicht, wie nah ihr das mit Ivy geht?«

Großvater schnaubte nur. Ihm schien eine Antwort auf den Lippen zu liegen, aber er sprach sie nicht aus.

Wortlos löste ich mich von Mam und stand auf.

»Fanarina!«, rief Großvater scharf, aber ich beachtete ihn nicht.

Sollte er doch meckern, soviel er wollte.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Mam aufstand, Großvater beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte und mir die Treppe hoch folgte.

»Großvater ist echt bescheuert«, beschwerte ich mich, in meinem Zimmer angekommen.

Mam seufzte schwer.

»Du weißt, wie er ist. Nimm es dir nicht so zu Herzen. Vater ist ein schwieriger Mensch.«

»Er kann mich einfach nicht leiden«, beklagte ich mich.

»Da liegst du falsch …«, setzte Mam an, aber ich ließ sie nicht aussprechen.

»Klar, deshalb nörgelt er dauernd an mir herum. Einen liebevollen Großvater stelle ich mir anders vor.«

Mam schwieg eine ganze Weile. Ihr Blick hatte beinahe etwas Trauriges. Dann nahm sie mich erneut in die Arme.

»Aber ich habe dich sehr, sehr lieb, mein Schatz.« Sie drückte mich noch fester an sich.

»Ich weiß«, sagte ich leise und erwiderte die Umarmung. Ohne Mam würde ich es in diesem Haus keine zwei Tage aushalten. Sollte ich ihr nicht doch von den Schmetterlingen erzählen? Schließlich ließ ich es bleiben. Mir stand nicht der Sinn nach Diskussionen über Teenagerphantasien.

»Ist sonst wirklich alles in Ordnung?«, fragte Mam noch einmal.

»Ja«, antwortete ich so überzeugend wie möglich.

»Gut, dann werde ich Großvater dieses Spiel gewinnen lassen, damit er bessere Laune bekommt und abgelenkt ist.«

Sie zwinkerte mir zu und gab mir einen Kuss. Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als sie mich losließ und zurück ins Wohnzimmer ging.

Erst jetzt bemerkte ich wieder, wie müde ich war. Schläfrig zog ich mir bequeme Sachen an und kuschelte mich unter meiner Decke zusammen.

»Hatschi!«

Unsicher hob ich den Kopf. Wieder ein komischer Anfall? Nervös wartete ich, ob es noch mal passieren würde. Aber es blieb bei einem einzigen Niesen, und ich verlor mich bald in traumlosem Schlaf.

 

Als ich wieder aufwachte, hatte ich mich ganz unter meiner Decke vergraben. Ich schob den Kopf hervor und warf einen Blick auf den Wecker. Halb acht. Draußen war es bereits dunkel. Eine gute Stunde hatte ich geschlafen.

Müde wollte ich mich aufsetzen, aber es ging nicht. Komisch. Gut, dann rollte ich mich eben aus dem Bett. Mein Rücken fühlte sich krumm an.

Auf allen vieren kroch ich Richtung Tür. Als ich fast da war, hielt ich inne. Mein Blick wanderte von der Tür zum Spiegel daneben. Ich ging näher heran. Aus dem Schatten wurde ein kleines rosa Ferkel, das mir entgegensah. Mit feuchter Schnauze und herabhängenden Ohren. Meine Augen wurden groß – die des Schweinchens auch. Das war doch nicht etwa …

Ein schriller Schrei entwich mir, aber aus meinem Mund kam nur ein lautes, hohes Quieken. Das durfte einfach nicht wahr sein. Es war das Niesen gewesen. Hundertprozentig. Es hatte mich in ein kleines, fettes Ferkel verwandelt!

»Was war denn das?«

Schritte kamen die Treppe herauf, aber ich rührte mich nicht. Die Tür ging auf, und Licht vom Flur drang ins Zimmer.

»Ein Ferkel?«

Ich fuhr herum und sah Mam vor mir stehen. Das hieß, ich sah ihre Füße, die in weißen Ballerinas mit lila Veilchen darauf steckten. Ich hob den Kopf. Von hier unten war sie noch größer als sonst. So fühlten sich also Zwerge.

»Mam, ich bin’s«, wollte ich sagen, doch aus meiner Kehle kam nur ein Grunzen.

»Na, wo kommst du denn her?«

Bevor Mam nach mir greifen konnte, drängte ich mich zwischen ihren Beinen durch und rannte den Flur entlang. Auf vier Beinen die Treppe hinunterzulaufen, erwies sich als äußerst schwierig. Nach der Hälfte stolperte ich über meine eigenen Füße und kullerte die restlichen Stufen nach unten.

»Halt. Bleib hier!«, hörte ich Mam rufen, aber ich dachte nicht daran.

Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, wohin sie mich brachte, wenn sie mich erwischte. Suchend schaute ich mich nach einem Ort um, wo ich mich verstecken konnte, bis ich mich – hoffentlich – wieder zurückverwandelte.

»Was ist das für ein Tumult hier?«, mischte sich nun Großvater ein.

Der hatte mir gerade noch gefehlt. Hastig steuerte ich auf das Sofa zu, zwängte mich darunter und war vorübergehend in Sicherheit.

»Da war ein Ferkel in Fanas Zimmer«, hörte ich Mams Stimme aus dem ersten Stock.

»Was? Das Kind hat ein Schwein mit nach Hause gebracht?«, donnerte er. »Kein Wunder, dass sie sich so seltsam benommen hat. Wie oft habe ich ihr gesagt, dass ich keine Tiere in diesem Haus dulde? Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht. Ihr Zimmer ist leer.«

»Das wird ein Nachspiel haben. Fangen wir das Tier ein!«

Polternde Schritte auf der Treppe. Mein kleines Herz pochte schnell gegen meinen Brustkorb, und ich unterdrückte ein Husten, als ich eine der Staubflusen einatmete, die unter dem Sofa herumschwirrten.

»Wo ist es hin?«, fragte Mam.

»Sicher versteckt es sich. Los, such überall. Auch hinter den Schränken«, ordnete Großvater an.

Ich kauerte mich zusammen. Sie durften mich auf keinen Fall finden.

Angespannt wartete ich. Einige Zeit lauschte ich ihren Schritten im Wohnzimmer und im Flur. Türen wurden geöffnet und wieder geschlossen. Dann kehrte Stille ein. Zur Sicherheit wartete ich noch einige Zeit, dann atmete ich innerlich auf. Wie es aussah, hatte ich Glück gehabt.

Doch da fegte plötzlich ein Besen unter dem Sofa hindurch und beförderte mich direkt vor Großvaters Füße. Mir blieb keine Zeit, um zu reagieren.

»Hab ich dich!« Triumphierend packte er mich unterm Bauch und hob mich hoch.

»Lass mich los!«, rief ich, aber aus meinem Mund kam nur ein lautes Grunzen.

»Hoffentlich gibt es in der Nähe einen Schlachter.«

Einen Augenblick erstarrte ich. Großvater wollte mich zu Schinken verarbeiten lassen! Panisch begann ich zu zappeln und mich zu winden, aber Großvater hielt mich fest umklammert.

»Nein! Mam, Großvater, ich bin es, Fana!«, versuchte ich es noch einmal, aber wieder waren nur quiekende Laute zu hören.

»Vater, bitte nicht«, rief Mam. »Das arme Tierchen. Es reicht doch, wenn wir es in einem Tierheim abgeben.«

Ich schenkte Mam einen dankbaren Blick. Alles war mir lieber als der Schlachter.

In diesem Moment spürte ich erneut ein Kribbeln in meiner Nase, das immer heftiger wurde.

»Hatschi!«

Großvater gab einen überraschten Laut von sich und ließ mich vor Schreck fallen. Mit einem Plumps landete ich auf dem Boden.

Ich sah an mir hinab. Zwei Arme, zwei Beine, meine Jogginghose fehlte, aber wenigstens trug ich noch meine Unterhose und mein Trägershirt.

Ein seliger Seufzer entfuhr mir. Ich war wieder ich! Erleichtert streckte ich die Beine aus und reckte mich und versuchte, ruhig zu werden. Das war haarscharf gewesen. Noch ein paar Minuten länger, und ich wäre womöglich zu Schinken verarbeitet worden. Innerlich zitterte ich immer noch. Da hatte ich wortwörtlich Schwein gehabt.

»Aber das … ist völlig unmöglich!«

Ich sah auf und blickte in die fassungslosen Gesichter von Mam und Großvater.

3. Kapitel

»Fana …« Mams Stimme war nur ein Flüstern. »Hast du im Park jemanden getroffen, der sich seltsam benommen hat? Ist dir etwas aufgefallen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das heißt, das Niesen eben …« Mam verstummte.

Ihr Gesicht war kreidebleich. Noch einmal öffnete sie den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Großvater legte die Stirn in Falten und starrte mich an. Es war beängstigend. Ich fröstelte langsam, nur in Unterwäsche, und schlang die Arme um die Knie, traute mich aber nicht, aufzustehen.

Draußen begannen Regentropfen gegen die Scheibe zu prasseln, und ein leises Donnern ertönte in der Ferne.

Mam zuckte zusammen, löste sich als Erste aus ihrer Starre und legte mir die Sofadecke um die Schultern. Durch den Stoff spürte ich ihre bebenden Hände. Langsam stand ich auf.

Großvater bewegte sich nun auch und kam auf mich zu. Er blieb genau vor mir stehen und fixierte mich mit einem düsteren Blick. Unglauben und Misstrauen lagen darin. Als wollte er in meinen Kopf sehen. Stumm hielt ich seinem Blick stand, fasziniert davon, wie intensiv seine Iris leuchtete. Das war mir bisher nie aufgefallen.

Großvater wandte sich ruckartig ab, machte auf dem Absatz kehrt und lief im Wohnzimmer auf und ab. Dabei ließ er mich keine Sekunde aus den Augen, wie eine Raubkatze ihre Beute.

»Ich … ich kann nichts dafür. Es ist einfach passiert. Keine Ahnung, wie«, stammelte ich, um das unangenehme Schweigen zu brechen.

»Das ist irrelevant«, entgegnete Großvater knapp. Er warf Mam einen Blick zu, den sie wortlos erwiderte.

Sie hatte einige Mühe, zu sprechen, als sie sich mir wieder zuwandte.

»Fana, hast du Schmerzen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

Verwirrt schüttelte ich erneut den Kopf.

»Ist so etwas schon mal aufgetreten?«, fragte sie weiter.

Kurz zögerte ich und nickte dann. Jetzt konnte ich mit der Wahrheit herausrücken. Nach meiner Verwandlung direkt vor ihren Augen war ohnehin alles egal.

»Heute Mittag im Park sind Schmetterlinge aus meinem Mund geflogen, und heute Morgen in der Schule wurde ich von Blättern angegriffen. Mam, werde ich verrückt?«

Ein schwaches Lächeln huschte über Mams Gesicht. »Nein, mein Schatz.«

Sie wollte noch etwas hinzufügen, strich mir dann aber nur sanft übers Haar.

Großvater sog scharf die Luft ein und schüttelte den Kopf.

»Aber was ist mit mir los? Das kann es doch gar nicht geben!«

Mam machte den Mund auf, schloss ihn wieder und tat es Großvater gleich, indem sie den Kopf schüttelte.

»Das kann einfach nicht sein«, flüsterte sie.

»Eben!«, stimmte ich ihr zu.

Aber Mam wandte sich an Großvater: »Er irrt sich nie! Pellicano lag in all den hundert Jahren niemals daneben!«

Pelli…was?

Großvaters Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen.

»Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass ihm ein so gravierender Fehler unterläuft«, sagte er langsam.

Ich verstand nur Bahnhof.

»Könntet ihr mich mal aufklären?«, mischte ich mich ein.

Mam wollte mir antworten, doch Großvater unterbrach sie.

»Untersteh dich, Jada. Solange wir keine Gewissheit haben, erfährt sie gar nichts!«

Also gab es tatsächlich Dinge, die mich betrafen, von denen ich aber keine Ahnung hatte.

»Ich musste heute Blätterattacken, Schmetterlingsanfälle und eine Schweineverwandlung über mich ergehen lassen, bekomme den Schock meines Lebens, und ihr wollt mir nicht erklären, warum?«

»Nein«, antwortete er schlicht, stemmte entschieden die Hände in die Hüften und unterzog mich einer erneuten Musterung. »Ich traue dieser Sache nicht. Es gibt nur einen Weg, diese Angelegenheit zu klären. Er muss den Test bei Fanarina wiederholen, so schnell wie möglich.«

Was für einen Test? In meinem Kopf tauchten immer mehr Fragezeichen auf.

»Ich will wissen, was los ist!«, versuchte ich es erneut.

»Nein!«, entgegnete Großvater. Sein Blick streifte meine nackten Beine. »Du brauchst etwas Anständiges zum Anziehen. In diesem Aufzug gehst du nirgendwohin!«

»Wohin denn?« Aber Großvater ignorierte auch diese Frage und sah Mam an.

»Jada, leih Fanarina bitte eines deiner Kleider.«

»Aber Mam ist viel größer als ich – und außerdem hasse ich Kleider«, protestierte ich.

Mam nickte mechanisch.

»Muss das sein?«, maulte ich.

Großvater warf mir einen strengen Blick zu.

Trotzig schaute ich zurück. Und wenn ich mich einfach weigerte? Ob sie dann mit der Sprache herausrückten?

Mam nahm meine Hand und zog mich in Richtung Treppe, während Großvater nach dem Telefon griff.

»Komm mit, Fana.«

Widerstrebend ließ ich mich von ihr in den ersten Stock führen. Mam suchte mir ein einfaches blaues Kleid mit Gummizug um die Taille und seidenen Bändern zum Schnüren oben an der Brust heraus. Eigentlich war es nicht einmal knielang, aber mir reichte es bis zu den Waden. Mam gab mir außerdem ein Paar weiße Ballerinas und band meine Haare zu einem Zopf zusammen, bevor sie mich zurück nach unten ins Wohnzimmer schob.

Großvater musterte mich von oben bis unten und nickte zufrieden.

»Ja, das sieht angemessen aus. Zieh die Schuhe an, Fanarina.« Er deutete auf die Ballerinas.

»Die passen mir nie im Leben« erwiderte ich, schlüpfte aber trotzdem hinein.

Wie vermutet, waren die Schuhe viel zu groß.

»Emilio wird uns fahren«, teilte uns Großvater mit.

Wo wollte er bloß hin? Wir selbst besaßen kein Auto, und es kam nur selten vor, dass Ivys Vater uns fuhr.

Ich blickte Großvater an und versuchte, in seinem Blick zu lesen. Er wirkte noch verschlossener als zuvor und scheuchte uns in den Flur. Überrascht stellte ich fest, dass Mams Schuhe sich plötzlich perfekt an meine Füße schmiegten. Aber nach dem heutigen Tag wunderte mich eigentlich so gut wie nichts mehr.

»Und wie reisen wir dann weiter?«, fragte Mam Großvater.

»Ich habe auch mit Johnson gesprochen. Er wird uns hinfliegen.«

Meine Augen wurden groß. Fliegen? Wo zum Teufel wollte Großvater hin? Musste der Test an einem speziellen Ort durchgeführt werden? Meine Gedanken wanderten zu dunklen Anstalten mit vergitterten Fenstern und gruseligen Kellern. Ob er mich in eine Klinik bringen wollte, aus der ich nie wieder herauskam?

Draußen goss es in Strömen, und Blitze erhellten die Nacht.

»Kommt! Sonst verpassen wir Johnson«, drängte Großvater und spannte seinen Regenschirm auf. Mam holte einen zweiten Schirm von der Garderobe, zog mich darunter, und wir eilten zur Tür hinaus auf das Auto von Ivys Vater zu, das bereits vor dem Gartentor auf uns wartete. Die Regentropfen prasselten gegen meine Beine und durchnässten die dünnen Ballerinas.

Ich schlüpfte mit Mam auf den Rücksitz, während Großvater neben Emilio Fernandes Platz nahm.

Die beiden nickten sich zu. Ivys Vater warf einen Blick in den Rückspiegel.

»Jada. Fanarina«, begrüßte er uns.

Er stellte keine Fragen, sondern ließ nur stumm den Motor an. Ob er wusste, worum es ging?

»Kann ich mich von Ivy verabschieden?«, fragte ich, als mein Blick auf den Bungalow fiel. Unsere Meinungsverschiedenheit hatte ihre Bedeutung verloren. Wer weiß, wann ich sie wiedersehen würde.

»Nein, unmöglich. Deine Situation bedarf einer eiligen Lösung«, antwortete Ivys Vater und bog auf die Straße ein.

»Großvater, bitte!«

»Alles zu seiner Zeit«, wies er mich ab. »Beeil dich, Emilio. Unser Flug wartet nicht.«

 

Die Stimme des Piloten riss mich aus einem Albtraum über vernarbte Doktoren und riesige Operationsbestecke und verkündete, dass wir in Kürze den Flughafen Rom–Leonardo da Vinci/Fiumicino ansteuerten und uns anschnallen sollten.

»Bringt ihr mich in eine Klinik?«, fragte ich Mam ängstlich.

Mam lächelte.

»Nein, wir besuchen … einen alten Bekannten deines Großvaters in Rom. Jackimo Pellicano.«

Rom also … Großvaters Bekannte wohnten nicht gerade gleich um die Ecke. In Rom war ich noch nie gewesen. Sicherlich eine tolle Stadt – wenn man nicht gerade dorthin reiste, um einen mysteriösen Test durchführen zu lassen.

Wenige Minuten später saßen wir im Taxi in Richtung Stadtzentrum. Niemand sagte ein Wort. Ich schaute aus dem Fenster, wobei man nachts kaum etwas erkannte. Nach einer halben Stunde Fahrtzeit kamen die ersten Häuser in Sicht. Häuser aus Sandstein, mit flachen Dächern und zugeklappten Fensterläden. Obwohl es schon kurz vor elf war, waren die Straßen belebt. Lautes Gelächter und Stimmen drangen dumpf durch die Autoscheiben. Je weiter wir fuhren, umso mehr Lichter erhellten die Nacht. Für diese Zeit schlenderten noch viele Menschen vergnügt durch die Gassen. Der Taxifahrer kam nur noch im Schritttempo voran, weil ständig jemand über die Straße eilte.

Großvater wurde zusehends ungeduldiger, bis er den Fahrer anhalten ließ und bezahlte.

»Das letzte Stück können wir zu Fuß gehen«, sagte er.

Wir bogen um eine Ecke und standen vor dem hell erleuchteten Trevibrunnen. Das Wasser floss über die Steine in das blaugrüne Becken. Die steinernen Figuren vor der Palastfassade gaben ein majestätisches Bild ab. Menschen drängten sich um das steinerne Becken. Überall leuchteten die Blitze der Fotoapparate auf.

»Fanarina, es wird nicht getrödelt!«, rief Großvater.

Schnell beeilte ich mich, Mam und ihn einzuholen.

Wir schlängelten uns durch die Menschenmasse und bogen in eine der kleinen Seitenstraßen ein.

Hier war es fast menschenleer. Das laute Rauschen des Wassers und das Stimmengewirr wurden immer leiser. In dieser Gasse brannten nur ein paar schwache Laternen und warfen ihre Schatten auf die Wände der alten Häuser. Die Stille, die sich auf uns herabsenkte, war unheimlich. Mir war, als starrten die langen Laternenschatten von den Wänden auf mich herab und verfolgten mich. Ich hielt mich dicht hinter Mam. Ab und zu warf ich einen Blick über die Schulter, denn mich beschlich das Gefühl, als folge uns jemand. Doch ich entdeckte niemanden. Mir jagte ein Schauer über den Rücken. Diese Gegend war unheimlich.

Vor einem der Häuser blieb Großvater stehen. Die Tür war halb aus den Angeln gerissen, und im Mauerwerk klafften große Löcher. Die Fensterscheiben fehlten, und es brannte kein Licht. Eine verlassene Bruchbude. Kaum vorstellbar, dass hier überhaupt jemand lebte.

Großvater griff nach dem rostigen Klopfer. Er drehte ihn zweimal im Kreis nach rechts, dann dreimal nach links. Augenblicklich veränderte sich die Tür. Aus dem schlichten Holzrahmen wurde eine stuckverzierte Tür aus Gold. In einer Vertiefung in der Mitte war ein Wappen eingeprägt. Zwei Ringe bildeten den äußeren Kreis, in dem sechs Sterne eine Krone in der Mitte einschlossen.

Mir klappte der Mund auf. Das grenzte an Zauberei! Wenn es nicht sogar ganz genau das war. Welches Geheimnis hatten Großvater und Mam jahrelang vor mir versteckt?

Trotzdem beruhigte mich die Tür. Dahinter würde sich kaum ein gruseliges Labor befinden, eher ein Palast.

Großvater klopfte. Kurz darauf öffnete uns ein kleiner Mann, etwa halb so groß wie ich, mit eng anliegenden Ohren, zurückgekämmtem Haar und einem breiten Mund. Fasziniert betrachtete ich ihn. Seine Haut wirkte wie aus Pergament, und sein Gesicht war von Falten übersät.

Der kleine Mann machte eine tiefe Verbeugung vor Großvater.

»Willkommen, Signor Lancaster«, sprach er mit rauer Stimme in brüchigem Deutsch.

»Wir möchten gern zu Signor Pellicano«, sagte Großvater knapp.

»Es ist schon sehr spät, Signore …«

»Das ist mir bewusst. Es ist aber unbedingt notwendig, dass ich heute noch mit ihm spreche. Es geht um eine sehr wichtige Angelegenheit!«, sagte Großvater und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

Einen Moment zögerte der kleine Mann. Unter Großvaters Blick schien er noch mehr zusammenzuschrumpfen.

»Ich werde sehen, was ich tun kann, Signore. Bitte kommen Sie herein.«

Er wich zur Seite und ließ uns eintreten.

Ich kam aus dem Staunen kaum heraus. Ein großer Saal mit weißen Marmorwänden empfing uns. Auf der rechten Seite standen Sessel und ein Sofa mit goldenen Bezügen um einen Glastisch herum, dessen Rand mit funkelnden Steinen besetzt war. Zu unserer Linken zogen sich Vitrinen die Wand entlang. Darüber hing ein langes Samuraischwert mit silbernem Griff, das dem Schwert in Großvaters Vitrine ähnelte. Am anderen Ende des Saals führte eine Treppe zwischen zwei breiten Säulen auf eine Galerie im ersten Stock.

»Bitte setzen Sie sich«, forderte der kleine Mann uns auf und deutete auf die Sessel.

Dann verbeugte er sich erneut und watschelte wie ein Pinguin die Treppe hinauf.

Ich nahm auf einem der Sessel Platz und versank in den weichen Polstern. Die Bezüge fühlten sich seidig an. Andächtig strich ich mit den Fingern darüber. Diese Möbel waren sicher wahnsinnig teuer. Wahrscheinlich war es das erste und letzte Mal in meinem Leben, dass ich in so einem Sessel saß. Im Vergleich zu dieser Halle kam mir unser Haus plötzlich sehr klein und schäbig vor.

»Überlasst das Sprechen mir«, wies uns Großvater an. »Und seid höflich. Fanarina, du wirst einen Knicks machen.«

»Aber ich weiß nicht, wie das geht.«

Großvater seufzte schwer. »Stell dich nicht so an. Steh auf!«

»Wieso? Empfängt uns ein König?«, fragte ich leicht sarkastisch.

Man begrüßte doch niemanden mehr mit einem Knicks! Großvater und sein verqueres Weltbild!

»Nein, aber das wird als höflich erachtet«, fuhr Großvater mich unwirsch an. »Und jetzt auf die Füße. Sofort!«

Ich verdrehte die Augen und stand auf.

»Gut, nun schieb den rechten Fuß hinter den linken, dabei leicht in die Knie gehen und den Kopf senken.«

Hörte sich gar nicht so kompliziert an. In der Praxis erwies es sich allerdings als nicht ganz einfach. Ich schwankte leicht und knickste unbeholfen.

»Das sieht ja aus, als stündest du auf einem schaukelnden Schiff. Noch einmal!«

Nach etwa zehn dieser bescheuerten Knickse kehrte der kleine Mann zurück.

»Signor Pellicano wird gleich bei Ihnen sein.«

Endlich ließ Großvater von mir ab, und ich sank erleichtert zurück in den weichen Sessel.

In diesem Moment kam auch schon ein Mann anmutig die Treppe herunter, und ich musste schon wieder aufstehen.

Ich stellte mich ein Stück hinter Mam und musterte den Mann. Seine schwarzen Haare reichten ihm bis zum Kinn, und er trug polierte Schuhe, eine schwarze Hose und ein feines, dunkles Hemd darüber. Seine wässrig blauen Augen richteten sich auf Großvater.

»Alister! Mit dir hätte ich nicht gerechnet. Willkommen!«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln und in perfektem Deutsch.

Er wirkte nicht älter als dreißig.

»Jackimo.« Großvater nahm seine ausgestreckte Hand entgegen und schüttelte sie. »Ich freue mich, dich wiederzusehen.«

Großvater lächelte sogar. Ein ungewohnter Anblick, wenn man tagtäglich sein griesgrämiges Gesicht sah.

»Es ist fünfzehn Jahre her. Bedauerlicherweise hast du dich dazu entschlossen, in Freiburg zu bleiben. Pass nur auf, dass du in deinem Zimmer nicht einstaubst.« Pellicano musterte Großvater mit einem jugendlichen Grinsen. »Aber wie es aussieht, bist du noch nicht an deinem Schreibtischstuhl festgewachsen.«

Mir gefiel Pellicanos lockere Art.

»Du siehst blendend aus, Jackimo«, entgegnete Großvater.

»Ich kann mich wirklich nicht beklagen. Du hast dich auch gut gehalten für dein Alter, mein Freund.« Pellicano klopfte Großvater auf die Schulter. »Mir ist, als wäre es gestern gewesen, dass wir als junge Kerle durch Japan reisten, mit unseren Schwertern trainierten und uns für die größten Samurai aller Zeiten hielten.«

Das Schwert in Großvaters Vitrine war also nicht nur Zierde. Ein Bild von Großvater in schwarzer Ninjakluft und mit wild schwingendem Schwert kam mir in den Kopf, und ich musste unweigerlich grinsen. Das passte gar nicht zu meinem altmodischen, mürrischen Großvater.