Steuerlose Städte: Ariagni - Stratis Tsirkas - E-Book

Steuerlose Städte: Ariagni E-Book

Stratis Tsirkas

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Beschreibung

Jerusalem, Kairo und Alexandria, drei Städte im Kriegszustand, sind die Schauplätze der drei Romane Der Club, Ariagni, Die Fledermaus, die zu den wichtigsten Werken der neugriechischen Literatur des 20. Jahrhunderts gehören. Das Zeitfenster der Handlung beträgt 23 Monate, von Juni 1942 bis Mai 1944, als die Revolte der griechischen Exilstreitkräfte in Ägypten und Palästina, die am Ende des zweiten Weltkriegs die Errichtung einer Regierung der nationalen Einheit anstrebten und gegen die griechische und englische royalistische Militärführung revoltierten, endgültig scheiterte. Mit seinem als work in progress verfassten Hauptwerk verfolgte Tsirkas das Ziel, das historische Versagen der Revolte von April 1944 zu verteidigen, auf die "die freie Welt keinen Grund hat, stolz zu sein, und die Historiker gerne vertuschen" (René Etiemble). Im Zentrum der Trilogie steht Manos Simonidis, ein griechischer Offizier und jungintellektueller Schriftsteller. Mitten im Krieg und im kulturellen und ideologischen Schmelztiegel des Nahen Ostens versucht er, der Dekadenz der Vorkriegswelt zu entgehen und sich von der ideologischen Starre seiner Parteifreunde zu distanzieren. Zweifel, Verluste, Freundschaft und Abneigung sowie die Liebe zu zwei Frauen begleiten seinen Weg bis in den griechische Bürgerkrieg hinein. Die drei Romane vermitteln die europäische Moderne nach Griechenland. Zugleich steht Tsirkas' Trilogie in intertextuellem Dialog mit der Poesie von Kavafis und Seferis. Er erschafft einen polyphonen narrativen Kosmos, ein System vielfältiger Stimmen und Perspektiven.

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Seitenzahl: 464

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Inhaltsverzeichnis

HINWEIS

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

ANHANG: Anmerkungen/Glossar

Stratis Tsirkas

Steuerlose Städte 2Ariagni

Roman

Übersetzung aus dem Griechischen von Gerhard Blümlein

Mit einem Anhang mit historischen Erläuterungen,

Anmerkungen und Glossar

Die Übersetzung der Trilogie wurde gefördert durch die A und A Kulturstiftung.

Foto: Mario Pontero

Originaltitel: Ακυβέρνητες Πολιτείες: Αριάγνη (2005 [1962]) Kedros-Verlag, Athen

Aus dem Griechischen übersetzt von Gerhard Blümlein

Lektorat: Beatrice Renauer

© 2016 Edition Romiosini/CeMoG, Freie Universität Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

Vertrieb und Gesamtherstellung: Epubli (www.epubli.de)

Satz und E-Book-Umsetzung: Kostas Kosmas, Bart Soethaert, Nikos Kaissas, Miloš Mijailović

Umschlaggestaltung: Freie Universität Berlin, Center für Digitale Systeme

E-Book ISBN 978-3-946142-05-8

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978-3-946142-10-2

Made in Germany

Online-Bibliothek der Edition Romiosini:

www.edition-romiosini.de

INHALTSVERZEICHNIS

Steuerlose Städte 2 - Ariagni

Anmerkungen/Glossar

Stratis Tsirkas

(eigentlicher Name: Jannis Chatziandreas) studierte Wirtschaft in Kairo und arbeitete ab 1929 als Buchhalter in Baumwollfabriken in Oberägypten, später als Chef einer Fabrik für Lederverarbeitung in Alexandria, wo er Konstantinos Kavafis kennenlernte. Er gehörte der kommunistischen Bewegung an und nahm aktiv teil am antifaschistischen Widerstand der griechischen Linken von Ägypten. 1963 ließ er sich in Athen nieder und starb dort 1980. Sein Hauptwerk, die Trilogie Steuerlose Städte, verfasste er teils in Alexandria, teils in Athen und beendete sie im August 1965.

HINWEIS

Steuerlose Städte war von Anfang an der Titel dieser ein wenig experimentellen Arbeit; als Schauplätze sollte sie Jerusalem haben, Kairo, Alexandria und Athen oder Paris, und die Zeit des 2. Weltkriegs oder noch etwas mehr umfassen. Aber heutzutage lässt einen das gespaltene Leben des Alexandriners keine Pläne mehr machen und sich nicht an Versprechungen binden. So erhielt der erste Teil einfach den Titel Der Club. Er war wenigstens insoweit selbständig, als er den Autor vor dem Vorwurf in Schutz nahm, er habe aus Gründen der Auflagenhöhe falsch informiert.

Eine weitere Überlegung war, den Hinweis voranzustellen, den Aragon in seiner Karwoche benutzte: Das ist kein historischer Roman. Jede Ähnlichkeit mit Personen, die gelebt haben, jede Gleichheit mit Namen, Orten und Details können nur reinem Zufall entspringen, und der Autor lehnt jede Verantwortung im Namen der ungeschriebenen Rechte der Phantasie ab. Schließlich jedoch verwarf er diesen Gedanken, weil er sicher war, dass der klassische Begriff Roman das Gleiche sagte und dazu lakonischer.

S. T.

(1. Auflage, 1962)

Die Ausgänge durch die Säle und die Kreuz- und Quergänge durch die Höfe mit ihren bunten Farben boten Wunder über Wunder. Da kommt man aus dem Hof in die Säle, aus den Sälen in die Säulenhallen, aus den Hallen wieder in andere Kammern und aus ihnen wieder in andere Höfe.

Herodot: Historien II 148

Doch müssen wir überlegen, wohin wir weitergehen,

nicht dass unser Schmerz es will und unsere hungernden Kinder

und die Kluft vom Zuruf der Gefährten am Strand gegenüber;

Jorgos Seferis: »Ein alter Mann am Flussufer«Kairo, 20. Juni 1942

ERSTES KAPITEL

Hunderte von Meilen hinter der Achten Armee »sputeten sich dienstbeflissen« Unteroffizier Mihail Saridis und ich an jenem schicksalhaften Sonntag des 13. Dezember 1942, um die 1. Griechische Brigade zu erreichen und uns an sie zu hängen, bevor sie die Küste der Großen Syrte hinaufzog. Rommel war ständig auf dem Rückzug. Um eine Berührung mit Montgomery zu vermeiden, schlug er fortwährend Haken; wenn man diese auf der Generalstabskarte sah, erinnerten sie einen jeden Moment daran, wie Recht doch die Beduinen hatten, als sie ihn sechs Monate zuvor den »Wüstenfuchs« getauft hatten. Aber wir kamen nur langsam vorwärts. Weder Michalis’ Erfahrung als Mechaniker noch meine Wut schafften es, unser Gefährt mehr als hundert Meilen am Tag voranzubringen. Es war unfassbar, wie viele Eimer Wasser diese Blechkiste schluckte, deren Aussehen und Farbe an einen Frosch und deren Tempo an eine Schildkröte erinnerten. »Wenn die Industriellen Mailands«, sagte Michalis, »Mussolini viele von diesen Klapperkästen als Zugfahrzeuge von Panzerabwehrkanonen angedreht haben, dann dürfen den Orden für den passiven Widerstand nicht nur die antifaschistischen Fiat-Arbeiter bekommen.«

Rechts von uns hatten wir das Mittelmeer in seiner ganzen Schönheit. Seit vorgestern hatten wir heitere Tage, auch wenn die Alliierten in ihren Verlautbarungen von »äußerst widrigen Wetterbedingungen« in Tunis sprachen, um für den stehengebliebenen Vormarsch eine Erklärung liefern zu können. Ein- oder zweimal packte ich den Eimer und schickte mich an, den Abhang hinabzusteigen und Meerwasser zu holen. Aber Michalis suchte mich zurückzuhalten: »Das hat doch keinen Sinn, Mensch, Simonidis, kapier das doch! In einer halben Stunde ist der Kühler zum Wegschmeißen.« DerFiatwar sein Beutestück von Alamein. Er hatte ihm die Kolben gewechselt, die Reifen geflickt, den löchrigen Tank geschweißt; er hatte sich für die Fahrt zur Brigade regelrechte Papiere ausstellen lassen; dank ihm rutschte auch ich durch die alliierten Posten und unterdrückte meine Ungeduld, an die Front zu kommen, um endlich mich selbst zu finden. Das ständige Zögern der Unseren in Jerusalem hatte mich der Gelegenheit beraubt, in der Schlacht von Alamein dabei zu sein. Glücklicherweise war ich nach einigen Stationen auf Michalis gestoßen: »Hör sich das einer an! Eben dahin will ich auch. Deswegen bastle ich ja an der ausgeleierten Kutsche herum.« Das Gespräch fand in Marsa Matruh statt, unter den Kasuarinen ander Straße,die zu den Salinen führt. »Mach besser deineSchulterklappendranundsetzdieMütze auf. Die Alliierten sind nicht wie die Unseren; vor Offizieren haben sie Respekt. Na,man muss ebenauchein bisschen bluffen. Ich werde den Chauffeur spielen, und die werden glauben, dass die kleine Limousinedeswegen ausderGarage geholt wurde,um denHerrnLeutnant andieFrontzu bringen.«

Anfangs wollte er mich auf keinen Fall ans Steuer lassen. »Mit deinen Temperamentsausbrüchen wirst du ihn mir sicher schikanieren. Mit ihm muss man sanft umgehen, aber du tust so, als hätte man dir Feuer unter dem Hintern gemacht: Wenn du’s eilig hast, steig doch auf einen der Alliiertenwagen; von denen winkt man dir sogar zu.« In der Tat: Kaum sahen uns Polen, Engländer, Australier und Freie Franzosen in ihren Limousinen, Lkws und anderen Fahrzeugen, wie wir über den Motor des Fiat-Schleppers gebeugt waren, hielten sie an und wollten mich mitnehmen. Aber Michalis wusste, dass ich nicht konnte. Man brauchte Zeit, um einen von denen einzuweihen. Einfach so ins erste beste Fahrzeug zu steigen wäre zu riskant gewesen. Als er schließlich einsehen musste, dass wir auch nachts zu fahren hatten, um irgendwann einmal zur Brigade zu stoßen, ging das Feilschen los. Ich versprach ihm alles Mögliche. Er ließ mich probeweise eine Stunde fahren, neigte dann den Kopf nach hinten und schlief so im Sitzen ein.

Die Nacht war mondlos, aber die Sterne leuchteten. Der Sand ringsum war kreideweiß, und die Straße hob sich als endloses schwarzes Band davon ab. Wenn wir ein Fahrzeug wahrnahmen, schalteten wir die blauen Standlichter ein, damit es uns nicht rammte, während hinten ständig ein Lämpchen brannte, wie eine glühende Zigarette, ein Signal für die Eiligen. Aber mir setzte die Kälte zu und dann die Müdigkeit. Ich bin mir nicht sicher, aber ich muss beim ersten Mal mit aufgerissenen Augen eingeschlafen sein, das Steuer fest umklammert. Neben dem Fiat ging mit raschem Schritt ein riesiger Kreuzritter einher, der seine Rüstung und seinen Brustpanzer hinter sich herschleifte. Er heftete seine Augen auf mich und erhob schützend seinen Säbel mit der Linken. Seine Rüstung hatte ich über dem Kamin eines Schlosses gesehen, das irgendein exzentrischer Franzose aus Alexandria mitten in der Wüste zirka sechzig Kilometer vor Alamein hatte errichten lassen. Dort hatte man mich an einen anderen Franzosen verwiesen, der in Bir Hakeim schwer verwundet worden war und mich möglichst nahe zur Grenze bringen sollte. Ich fand ihn in einem altertümlichen Sessel im Festsaal sitzen, wie er jede Minute von den Tagen oder Stunden auskostete, die er noch zu leben hatte. Er richtete seine strahlenden Augen auf die Rüstung und senkte sie dann zum Wimpel mit dem Lothringer Kreuz, der den Marmor des Kamins zierte: »Was glaubst du denn, Genosse. Wir sind Kreuzritter. Allerdings ist das Vorhaben in diesem Fall wirklich heilig.« Ich hatte ihm gesagt, ich käme aus Jerusalem. »Was für ein langer Weg, was für ein langer Weg«, sagte er in Gedanken versunken. »Vor wenigen Jahren war ich Royalist, Lehrling von Charles Maurras … Glücklicherweise Guernica … nicht das Ereignis – Picassos Bild im spanischen Pavillon.« Ich nickte zustimmend, um ihn nicht zu unterbrechen. Befriedigt, weil ich ihn verstand, lächelte er mir zu: »So sind wir Intellektuelle eben. Manchmal brauchen wir eine lebendige Erfahrung, um das Wesen der Dinge zu erspüren … Eure Nike im Louvre … Erinnerst du dich an ihre verstümmelten Schwingen? Hier, in diesem Sessel, hörte ich sie, wie sie mit ihren Schlägen die Grundfesten der Welt erschütterten. Es war neun Uhr vierzig in der Nacht des 23. Oktober, als die achthundert Geschütze von Alamein… « Er verstummte. »Warum sage ich dir das eigentlich? Ich habe hohes Fieber. Freuen wir uns lieber an dem Augenblick, der durch den Hals der Sanduhr gleitet… « Er hob die Apfelsine in seiner Hand und sog andächtig tief ihren Duft ein.

Während ich mich bemühte, mich an seinen Namen zu erinnern, werden wohl die unteren Schichten meines Bewusstseins in Bewegung geraten sein, und ich tauchte aus dem Tiefschlaf auf. Zornig rief ich seitdem immer, kaum hörte ich die Rüstung schleifen: »Manolis, du schläfst mal wieder«, und wachte auf.

Das geschah Freitag und Samstag Nacht. Am Sonntag erlebten wir die Morgendämmerung irgendwo in der Kyrenaika, zwischen Derna und Apollonia. Wir fuhren auf einer breiten, asphaltierten Straße am Rand einer Steilküste, während links von uns sich die bepflanzten Hänge des Dschabal Achdar hinaufzogen. Plötzlich füllte sich das Kabineninnere mit Rauch und Geruch von verbranntem Öl. Gut, dass Michalis fuhr. Er parkte rechts bei einem verfallenen Häuschen unter einer wilden Robinie, stellte den Motor ab. Schnell stiegen wir aus und öffneten die Motorhaube.

»Ich hatte Recht mit meinen Befürchtungen«, sagte er. Und den Beduinenkindern, die herbeiliefen, rief er auf Arabisch zu: »Jalla, ruch!«

Die stellten sich auf eine kleine Anhöhe und sahen uns schweigend zu.

»Weißt du, was du machen kannst?«, sagt er zu mir. »In den Trümmern findest du sicher eine Ecke und machst ein Feuerchen für einen Tee. Seit gestern haben wir nichts zu uns genommen. Dann kannst du ja ein bisschen pennen oder geh schwimmen, wenn’s dir Spaß macht. Ich habe sicher fünf, sechs Stunden zu tun, brauche aber deine Hilfe nicht. Du machst mich nur nervös.«

»Fünf, sechs Stunden«, sagte ich niedergeschlagen. »Dann ist die Sache wohl gelaufen.«

»Was sagst du denn da? Ich habe einem Genossen versprochen, ihm einen Schlepper für seine verwaiste Kanone zu bringen, und ich werde ihn ihm bringen, soll’s doch der Teufel holen! Hauptsache, wir kommen erst mal bis Bengasi. Da werden wir schon Ersatzteile finden.«

Da gab es nichts zu diskutieren. Ich kochte Tee und brachte ihn ihm heiß. Er kroch unter dem Fiat hervor, mürrisch und schmutzig, nahm mit seinen ölverschmierten Fingern den Zwieback, den ich ihm reichte, und tunkte ihn hinein. Ich verließ ihn und kletterte vorsichtig zum Strand hinunter. Auf halbem Wege setzte ich mich auf einen Felsen und steckte mir eine Zigarette an. Das Meer ächzte weich, grün, smaragden unter der goldenen Sonne. Hoch oben schienen mir Lerchen zu trällern; aber waren es wirklich welche? Ein Stück weiter bildeten die Felsen eine Art Amphitheater. Ich sah ein Möwenpaar schweben, dann stieß es auf das Meer hinunter, dessen Farbe sich in der Ferne in ein Indigo verwandelte.

Unter mir stöhnte das winterliche Meer und schäumte um die großen glänzenden Kiesel herum. »Warum, Manos, warum?« Wer sprach? Wer beklagte sich so bitter bei mir? Was suchte ich, was versuchte ich an diesen Küsten mit den Marmorbruchstücken einer vergangenen Welt zu erjagen? Würde ich mein Selbst wiederfinden, wenn ich die Brigade erreichte? Aber war es vor oder hinter mir, und ich vor ihm auf der Flucht? Wie kam es, dass ich meine heftige Neigung, jene heimlichen Versprechungen, dereinst ein oder zwei Bücher zu schreiben, die »bleiben sollten«, verraten hatte? Ich wollte jetzt in den Brigaden des Kreuzzugs ein beidhändiges Schwert schwingen – verspätet, innerlich gespalten, nutzlos! Warum nutzlos? Hatte der Wicht Recht, als er sagte, mein Platz sei vor der Remington zum Textetippen? Der Kämpfer … In Kairo hatte man mir seine letzte Nummer gegeben, die jetzt Michalis in der Tasche seines ölbeschmierten Soldatenmantels aufbewahrte.

»Na, was hältst du davon?«, fragte mich, als er sie mir gab, jener untersetzte Kerl mit den Sommersprossen, den alle Fanis nannten.

In dem Blatt wurde Bilanz aus der Rolle der 1. Brigade in der Schlacht von Alamein gezogen, unserer Toten gedacht und Heldentaten von Soldaten und Offizieren erwähnt. Der kurze und einfache Hauptartikel endete mit unmittelbar einleuchtenden Thesen: Sie waren klar und abgewogen. Auf der Rückseite jedoch wollte jemand Nachrichten von der 2. Brigade aus Palästina bringen. Ein wirres Geschreibsel: ein bisschen Korrespondentenbericht, ein bisschen Leitartikel, ein bisschen Tagesbefehl in einem Ton »überschäumender Begeisterung«. Ich erkannte die Hirngespinste des Wichts. Fanis saß mir gegenüber und wartete; er atmete mit dem charakteristischen Pfeifen derer, die einen Pneumothorax haben. Ich besah mir seine auf dem Marmortisch in der lokalen Konditorei übereinandergelegten Finger; sie waren schlaff wie die eines überfütterten Tuberkulosekranken. Ich sagte ihm meine Meinung, Positives wie Negatives, und fügte hinzu, dass solche Texte wohl allmählich weniger werden, da das Blatt ja nicht mehr in Jerusalem herauskomme. Fanis lachte laut; auf seinem leuchtenden Gesicht traten die winzigen Runzeln eines Menschen hervor, der viel gelitten hatte. Auf seiner Insel musste er Fischer oder Bauer gewesen sein. »Du kannst ihn wohl überhaupt nicht ausstehen«, sagte er, und seineAugen wurden plötzlich ernst. Ich hatte keine Personen erwähnt. Meine Differenzen mit dem Wicht hatte ich nur mit Garelas ein-, zweimal besprochen. Da Fanis sofort wusste, worum es ging, war er wohl eingeweiht. »Entschuldigung«, sagte ich zu ihm. »Ich sehe, was ich hier vor mir habe. Dieser Text ist ein Missklang nach den erhebenden Opfertaten, die weiter oben beschrieben werden. Er kommt mir vor wie ein Mensch, der irgendwo hochgeklettert ist und sich bemüht, klangvolle Sätze zu produzieren, um mich kleiner zu machen. Er spricht und spricht, wie ein Rumpfloser Kopf, glaubt aber an nichts.« »Pass auf«, sagt Fanis zu mir. »Möglicherweise glaubt er, kann sich aber nicht ausdrücken. Wir können nicht alle deine Bildung haben.« »Täusche dich nicht!«, sage ich. »Wie man spricht, wie man schreibt – das ist man. Da gibt es keine mildernden Umstände. Der Stil ist das untrüglichste Kriterium für deine Haltung dem anderen gegenüber, dem Menschen gegenüber. Wie sehr scherst du dich um ihn, respektierst du ihn? Da zeigt es sich. Sieh dir Makryjannis an… »Ich weiß«, unterbrach mich Fanis. »Haben wir im Gefängnis gelesen.« Schließlich gab er halben Herzens bekümmert zu, dass der Wicht in der Tat bisweilen versuchte, größer zu erscheinen, als er wirklich war. »Dann geht er auf Zehenspitzen, deswegen hinkt er.«

Wir wären an jenem Abend noch bis spät zusammengeblieben, aber er musste einen Politiker treffen, und wir trennten uns. Eigentlich hatte ich keine Lust, ihn gehen zu lassen. Auch wenn er wenig sprach. Vor allem hörte er zu, fragte, zögerte, fragte sich, wog ab, fragte wieder; auf diese Weise versuchte er einen, ohne dass man es merkte, auf den richtigen Weg zu bringen, den er selbst mitging. Kein Zähnezusammenbeißen, keine schlimmen Flüche. Als ich dann allein ging, ertappte ich mich beim Pfeifen – mitten in der Kälte der vorgerückten Nacht. Ich hatte die Statue von Ibrahim umrundet und stand jetzt da und betrachtete die graue Fassade des Opernhauses. Ich erinnerte mich an meinen Vater, der hier als junger Mann eine Vorstellung mit Eleonora Duse gesehen hatte. Wie böse war er auf d’Annunzio geworden, weil der sich nicht schämte, stolz wie ein kalabresischer Liebhaber in der Loge des Khediven Platz zu nehmen! Und dann der Begeisterungstaumel der Italiener, Levantiner, Griechen, als sie die Pferde ausspannten und den Landauer der »Diva« bis zum Shepherd’s Hotel zogen, nicht sehr weit weg. Das Gejauchze und die zertretenen Rosen mit den Pferdeäpfeln. Nichts hatte sich geändert. Hier der Vernichter der Peloponnes hoch zu Ross, den Rücken der Oper zugewandt, dort die Tränken für die Pferde der Droschken, das Geräusch der Hufeisen auf dem Stein, periodisch, abgehackt, wie eine Perle am Komboloi, welche die Zeit des Wartens zerstückelt; und der süßliche Duft des Klees, des stehenden Wassers im Bassin und von drüben der andere exotische und tückische, von den arabischen Akazien und Sykomoren des Esbekiyeh-Parks … Ich entledigte mich zweier englischer Soldaten, die stockbesoffen Geld von mir leihen wollten, und nahm Kurs auf mein Bett, das mich bei einem älteren Paar von der Insel Ikaria erwartete. Plötzlich blieb ich stehen. Sollte es Fanis gewesen sein, der unsere Leute in Palästina davon überzeugt hatte, dass meine »Thesen« zu den Offizieren richtig waren? War er aber schon seit damals in Kairo? Die »Thesen« hatte ich im Februar vorgetragen, und die Antwort kam im Juni; da teilte mir der Wicht mit, sie seien angenommen und der falsche Beschluss sei aufgehoben. Vier Monate brauchten sie von Kfar Jona nach Kairo und zurück? Es sei denn, der Wicht hatte eine Verzögerung versucht. »Möglich«, sagte ich mir. Seine Silhouette, seine Stimme, sein Geruch verdunkelten mir den Horizont.

Ich traf mit Fanis noch weitere Male zusammen, und eines Tages trug ich ihm mein Problem vor: Remington oder Front. Langsam, mit leiser Stimme, schickte er sich an, die Bedürfnisse des einen und des anderen Bereichs aufzuzählen. Der Reihe nach knickte er einen Finger ein: »Hier, schau jetzt, was dein Beitrag sein könnte.« Ich dachte kurz nach und antwortete ihm. Ohne Zeit zu verlieren, gab er mir einen Kontakt in Alexandria an: »Bleib eine Woche bei ihnen; die Genossen von der Marine wollen ihr eigenes Blatt herausgeben. Zeige ihnen mal, was du kannst, und geh dann an die Front, wenn dir so sehr daran gelegen ist.« Wir verabschiedeten uns einfach, als sähen wir uns am nächsten Tag wieder. Als ich aber um die Straßenecke biegen wollte, rief er mir zu: »Hast du mal diese Differenzen mit dem Genossen vor ihm und mit den anderen diskutiert?« »Nein«, sage ich zu ihm. »Das war ein Fehler«, sagt er zu mir. »Das weiß ich«, erwiderte ich und fügte hinzu: »Es wäre korrekter gewesen, es zu tun, obwohl es ergebnislos geblieben wäre.« Er konnte nicht verstehen, warum, und ich musste ihm das Problem in allen Einzelheiten darlegen. Um nicht auf der Straße zu stehen, gingen wir in ein kleines Café. Fanis schlürfte seinen Salbeitee, schnalzte mit der Zunge und sah mir in die Augen: »Einiges von dem, was du sagst, ist ernst zu nehmen. Es verliert aber seinen Wert, weil du ihn nicht leiden kannst. Wir brauchen noch andere Aussagen.« Was sollte ich ihm da sagen? »Stellt doch eine Untersuchung an, und wenn die beweist, dass ich parteiisch bin, ergreift Maßnahmen gegen mich.« Er schloss die Augen und dachte nach: »Wir haben anderes zu tun, mein Freund. Dafür ist jetzt keine Zeit. Außerdem brauchen wir eine Sitzung, die das beschließt. Auch er selbst muss benachrichtigt werden. Jedenfalls muss die Angelegenheit früher oder später in Anwesenheit aller Beteiligten bereinigt werden – wenn wir dann noch am Leben sind.« Ich schwieg. »Auf jetzt«, sagte er dann, »sonst verpasst du den Zug.« Aber in Alexandria wurde aus der Woche ein Monat. Immer gab es etwas, was einen reibungslosen Ablauf behinderte. »Bleib doch bis Weihnachten«, sagten sie zu mir. Inzwischen jagte die Brigade hinter Rommel her. Bis ich eines Tages wütend wurde und losbrüllte. Man ließ mich auf ein Landungsboot steigen, das nach Tobruk auslaufen würde. Die Sache scheiterte aber an der Kontrolle. An der Anlegestelle war ein Faschist: »Wohin will denn der da? Komm doch mal her!« Fast wäre das bös ausgegangen. Dann schickte man mich zum französischen Offizier von Bir Hakeim, dessen Name …

Auf dem Felsen, da war ich in Gedanken versunken. Ich reckte und streckte mich; meine Glieder waren eingeschlafen. Die Sonne hatte meine Knochen weich gemacht. Was war aus Michalis geworden? Ich truggelbeBiberpelzstiefelmit Kreppsohlen, und das Klettern auf den spitzen Steinen war ein Kinderspiel. Schnell war ich auf der Straße unterderwildenRobinie.Michaliswarnirgends.Ichriefnachihm.

»Komm her«, antwortete er mir aus der zusammengefallenen Bude. »Ich bin beim Rasieren.«

»Bereitest dich wohl für eine Hochzeit vor«, sage ich zu ihm und bereute es sofort, denn an den anderen Tagen war ich es, der ihn dazu anhielt, dass auch er immer rasiert war.

»Lass das jetzt. Um die Fahrt nach Bengasi komme ich nicht herum. Die Pleuelstangen müssen ausgetauscht werden. Ich springe auf ein Alliiertenfahrzeug, und zurück muss ich zusehen, dass mich ein Krankenwagen mitnimmt.«

»Bengasi ist zweihundert Meilen von hier«, sage ich zu ihm. »Du wirst lange brauchen. Außerdem kannst du Unannehmlichkeiten bekommen, dann Prost Neujahr!«

»Mach dir keine Sorgen, ich schaff das schon. Bevor es Abend wird, siehst du mich wieder. Was wirst du denn solange tun?«

Ich dachte nach, dachte nach.

»Ich warte hier auf dich«, sage ich.

»In Ordnung«, sagte er. »Das ist das Vernünftigste.«

»Warum bitten wir nicht einen von denen, uns abzuschleppen?«

»Du spinnst wohl«, sagt er. »Kaum merken die, was das für ein Bruchgefährt ist, geben sie ihm einen Tritt und befördern es zum Alteisen.«

Tatsächlich hatte man dort, wo die Küste ein Halbrund bildete, einige alliierte Militärlaster in die Schlucht stürzen lassen, wo sie verrosteten.

Michalis stieg zum Meer hinab und rieb sich mit Bimsstein ab, um das Öl und den Schmutz zu entfernen. Er zog sich wieder an, hüllte sich in seinen Mantel, hängte den Helm an die Achsel und wartete auf ein alliiertes Auto. Er hatte sich aber vorher versichert, dass ich einen Ausweis bei mir hatte.

»Du bist mir ja ein Schlingel«, sage ich. »Ich sehe dich schon, wie du heute Nacht ein Mädchen umarmst, während ich mich hier allein zu Tode friere.«

»Sei vorsichtig«, sagt er. »Mach nach Sonnenuntergang kein Feuer an, sonst könnte es uns schlecht ergehen. Kretas Flughäfen sind direkt über uns.«

»Jawohl, Herr General!«, sage ich.

»Tu, was ich dir sage«, sagt er.

Ein australischer Lkw mit Fässern kam vorbei. Michalis rief ihnen zu: »Greek, Bengasi.« Sie nahmen ihn sofort mit. Bevor er auf den hinteren Teil des Lkws sprang, blieb er einen Moment stehen und sah mich an. Ich verstand. Dasselbe dachte auch ich. Der Lkw könnte auch mich mitnehmen, wir würden das schon einrichten. Aber wer würde den Fiat bewachen? Michalis musste entscheiden. Hätte er mir ein Zeichen gegeben: »Komm!«, hätte ich das sofort gemacht. Aber er entfernte sich, und ich sah ihn, einmal, wie er mich militärisch grüßte, und das andere Mal, wie er nach unten zeigte, das heißt »heute Abend«.

Die Beduinenkinder, die für Michalis Wasser zum Rasieren herbeigeschleppt hatten, riefen mir zu: »Maja« (Wasser). Ich gab ihnen den Eimer. Alle zusammen liefen sie davon, durch die Bäume der Anhöhe auf der anderen Seite der Landstraße. Bald darauf kehrten sie mit dem Wasser zurück. Sie deuteten mir an, dass es trinkbar war. Ich nahm es in den Mund und spürte, wie eine Zange meine Zähne umklammerte: Es war eiskalt. Ich ging in die Ecke, wo ich den Tee gekocht hatte, sammelte kleine Zweige, schichtete sie zwischen zwei Backsteinen aufeinander, holte ein bisschen Benzin von dem Fiat und besprengte das Holz damit.

»Tee, Tee!«, riefen die Kinder und klatschten Beifall.

»Habt ein bisschen Geduld!«, sagte ich auf Griechisch zu ihnen.

Während das Wasser heiß wurde, holte ich meine Rasiersachen und den Taschenspiegel, das Kochgeschirr, die Dosen mit dem Zucker und dem Tee. Die Kinder hatten sich rings um mich aufgestellt und sahen zu. Als ich die Backen aufblies, damit die Rasierklinge die Stoppeln besser schnitt, bliesen auch sie ihre Backen auf. Dann gossen sie Wasser aus, sodass ich mich waschen konnte, und auf ein Zeichen von mir setzten sie sich mit gekreuzten Beinen hin und warteten. Ich tat reichlich Zucker in das Kochgeschirr, ich wusste, sie mochten ihn schwarz und süß, wie gekochten Most. Jedes Kind schlürfte zwei Schlucke, gab dann das Kochgeschirr seinem Nebenmann und rieb sich den Bauch, womit es mir zu verstehen gab, dass es ihm geschmeckt hatte. Flugs holte ich ihnen auch ein wenig Zwieback. Wir wurden Freunde.

Später allerdings wurden sie mir lästig. Sie wollten Zigaretten haben, riefen Wörter, die ich nicht verstand, hoben ihre Galabija, pinkelten kichernd um mich herum. Als sie auf den Fiat stiegen, wurde es mir zu viel.

»Jalla, ruch!«, rief ich nun meinerseits.

Verlegen standen sie da, um sich zu vergewissern. Ich tat so, als wollte ich einen Stein aufheben. Enttäuscht drehten sie mir den Rücken zu und entfernten sich äußerst würdevoll. Bald darauf hörte ich, wie sie sich unten am Meer balgten und jagten. Dann waren sie weg. Da überkam mich die Langeweile. Ich wollte nicht auf der Landstraße stehen, weil Leute von der Militärpolizei hätten vorbeikommen und mich nach dem Wie und Warum fragen können. Ich setzte mich in den Fiat, den das verfallene Häuschen verbarg. Ich erinnerte mich, dass wir eine veraltete Zeitung aus Alexandria dabei hatten. Ich suchte im Seitenfach, fest entschlossen, nun auch das Feuilleton zu lesen, das ich übersprungen hatte. Zum Vorschein kam aber ein Packen Briefe. Kaum hatte ich angefangen zu lesen, blickte ich auf die Unterschrift: Ariagni Saridou, Michalis’ Mutter. Sofort steckte ich ihn wieder zurück.

»Ariadni«, verbesserte ich ihn, als er mir ihren Namen zum ersten Mal anführte. »Nein, ich sage das ganz richtig: Ariagni von Naxos. Von dort stammt sie. Ein englischer Hellenist, der bei uns in der Nachbarschaft wohnt, versicherte mir, dass sie ihren Namen besser als die Studierten ausspricht.« »Und wie heißt dein Vater? Theseus?« »Nein, Dionissis. Was gibt’s da zu lachen?« Wie hätte ich es ihm erklären sollen? Ich stellte mir den Engländer vor, wie er aufgrund dieser Zufälle in Grübeleien versinkt, und ich fand das lustig. Ich versuchte, meinen Fauxpas wiedergutzumachen: »Ich habe mal einen Dionissis kennengelernt, der immer mit einer roten Weinnase herumlief.« »Auch meiner trinkt gern, aber lieber Ouzo. Wenn er betrunken ist, merken wir das daran, dass er boshaft wird und sich mit allen anlegt.« Sein Vater war Kellner, alter Gewerkschaftler, war bei einem Streik sogar von einer Kugel am Schenkel verwundet worden. Sie wohnten in Kairo in einem Viertel mit einfachen Leuten, in der Nähe des Palastes. Vier Jungen und zwei Mädchen, Zwillinge. Die Mutter hatte jung geheiratet, mit sechzehn. »Bei Gott, Simonidis, ich sage das nicht, weil es meine Mutter ist: Sie ist jetzt fünfundvierzig und noch taufrisch. Und tapfer. Als sie zwanzig und schwanger war, rettete sie einen ägyptischen Demonstranten vor den englischen Maschinengewehren, einen Riesenkerl. Bis heute hat er ihr das nicht vergessen.«

Im Eimer war nur noch wenig Wasser. Von den Kindern keine Spur. Sie wohnten sicher auf einem Hof hinter dem Wald. Ich öffnete eine Fleischkonserve und aß. Den Zwieback tunkte ich ins Wasser. Die Luft war warm geworden und flimmerte über der Erde und den Felsen. Die Lider wurden mir schwer. Ich nahm meinen Meinen Tornister als Kopfkissen und rollte mich auf dem Doppelsitz des Fiats zusammen. Vor dem Einschlafen übte ich Selbstkritik: »Manolis, du hast Fanis die Angelegenheit nicht angemessen dargelegt. Du hättest fragen müssen: Aktion oder Kunst? Aber du wagtest es nicht, wusstest, was er dir antworten würde. Eine andere Antwort ist heute nicht möglich. Und doch benötigt dieser Kreuzzug der einfachen Menschen Schriftsteller und Dichter, um sich zu artikulieren; damit allen bewusst wird, wie großartig er ist. Andernfalls gerät er in Vergessenheit. Du wirst sagen, das kann warten, etwas anderes ist jetzt vordringlicher. Und wer hindert uns daran, beides zu machen? Niemand. Nur: Einer allein kann nicht beides gut machen. Er muss wählen.« Ich erinnerte mich an Jean-Richard Bloch in Paris zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs: »Es ist ein kaum lösbares Problem. Was ist besser? Das Leben zu leben oder es niederzuschreiben? Sich auf alles zu stürzen, was gerade vorbeikommt, oder stehenzubleiben, um es zu beschreiben? Es ist viel packender, hinter den Ereignissen her zu sein; dann aber zerfließt alles, du hältst nichts in der Hand. Sie auf Papier zu bannen ist der einzige Weg, um sie vor dem universalen Schiffbruch der Zeit zu retten; aber auch dann gleitet alles vorbei, an nichts bist du beteiligt…«

Ich erwachte, die Sonne war untergegangen und hinterließ nur einen rosa Pinselstrich tief hinten am Horizont. Über dem grauen, bleiernen Meer summte ein Goldkäfer. Das Geräusch setzte aus und begann von neuem. »Dornier«, sagte eine Stimme in mir. Hatte ich das Brummen der deutschen Transportflugzeuge erkannt oder mich getäuscht? Plötzlich schoss eine Flamme aus den Trümmern hervor. Händeklatschen und Lachen. Die Beduinenkinder hatten mein Essgeschirr und die anderen Gerätschaften gestohlen und kochten Tee. »Die Dornier!«, dachte ich. Schreiend verließ ich fluchtartig den Fiat. Das Flugzeug flog mit viel Lärm tiefer, über das Amphitheater der verrosteten Lkws. Es begann, seine Bomben kurz nacheinander fallen zu lassen. Sie waren klein und gehörten zu denen, die wir »Wildtaubeneier« nannten. Ich lief zu dem verfallenen Häuschen und suchte Deckung, breitete die Arme aus und fiel mit dem Bauch auf die Kinder. Ein grüner Schein, ein fürchterlicher Krach und der Windzug … Der Windzug, der die Lampe auf dem Bild von Picasso zu löschen drohte. Ich wusste es: Ich war verwundet oder krank. Dieses Blut und die Schreie und das Durcheinander. Jedes Mal, wenn ich Fieber hatte, besuchte mich dieser Albtraum mit der Lampe, wie sie mir die Schläfen ansengte, an meiner Zunge klebte und dann seitlich mit ihrem Glas auf meiner Brust … Das gleiche Gefühl hatte ich auch in Premeti auf dem Albanienfeldzug gehabt. Und jetzt hier bei Apollonia. Und weiter landeinwärts das antike Kyrene. Die ganze Welt kann zum Grab werden, die ganze Welt.

ZWEITES KAPITEL

Der Amtsdiener, behängt mit Orden des letzten Krieges, gab Robby ein Zeichen, den Pfad zwischen den tropischen Sträuchern zu nehmen, an der Dépendance des Amts für Orientalische Angelegenheiten vorbeizugehen und durch die kleine Gittertür an der Ostseite des Nils hinauszugehen. Man erwartete wohl irgendeine wichtige Person und hatte ihr das große Botschaftstor vorbehalten. Er überreichte dem Attaché den Bericht (»Endlich! Um wie viel später wäre er denn fertig gewesen, wenn Sie ihn in der normalen Größe angefertigt hätten?«) und stieß beim Hinausgehen auf Lady Thomson. Sie war parfümiert und in Eile:

»Robert! Was machen Sie denn hier? Verschwinden Sie schnell, Seine Exzellenz ist wütend auf Sie… «

Seine Exzellenz, ihr Mann. Sitten im Krieg. Es würde die Mühe lohnen, diese zu beobachten, ohne dass dies einem den nüchternen Sinn für die Dinge verdirbt. Er hatte die Beziehungen mit der vorigen Exzellenz abgebrochen, um just seine Ruhe zu finden. Aber der Krieg, die Pflicht und so weiter und so weiter.

»Dr. Richards«, rief ihn Lady Thomson mit unterdrückter Stimme, gerade als er in den Chiffrier-Korridor einbog. »Haben Sie etwas von der armen Nancy gehört?«

»Nicht viel. Aber es geht ihr schon wieder besser, es geht ihr schon wieder besser… «

Der Wächter am kleinen Tor korrigierte seine Haltung und wurde rot dabei. Etwas war ihm unangenehm, aber was? Die Fenster des Gebäudes gegenüber waren geschlossen. Passanten waren nicht zu sehen, auch keine Polizisten und Limousinen auf der zum Ufer parallel verlaufenden Straße. Außer jenem kleinen Gauner, der weglief, ohne hinter sich zu blicken; stolz schwenkte er eine Blechbüchse. Kippensammler. Mit abwesendem Gesichtsausdruck knallte der Posten seine Stiefel und seinen Gewehrkolben auf den Boden. Erstes Highlander-Bataillon der Königin. Sieben Monate in der Sandhölle. Er konnte ihn verstehen, er konnte ihn sehr gut verstehen.

Hinter der Brüstung fiel das Ufer sanft ab, mit dichtem Rasen bewachsen. Darum kümmerten sich die Botschaftsgärtner. Auch wenn die Grenze des Extraterritorialbereichs am Eisentürchen verlief. Die Bedürfnisse der Ästhetik und die Finessen der Diplomatie. Aber welch ein romantisches Liebeslager in der Nacht! Militärgericht und so weiter. Man braucht zwei, der eine steht Schmiere. Ach was, dann verliert das alles doch seinen Reiz. Allein; allein unter dem Auge Gottes. Und das ewige Rauschen des Nils füllt die Ohren; die entfernten Rufe der Bootsleute in der Nacht; das matte Gebrüll der modernen Stadt mit der gedämpften Kriegsbeleuchtung. Der Schauder einer realisierbaren Glückseligkeit durchfuhr ihn.

Ein Nordwind wehte.AnderEngstellederInselRoda neigten sich die Feluken mit den Lateinsegeln zur Seite. Ein Flussschiff, beladen mit Baumwollballen, fuhr majestätisch den Nil hinab. Rund um das Ufer der Insel Gezira spiegelte sich der Himmel. Die Dattelpalmen wiegten sich träge, und der Wind zerteilte das Blattwerk der Eukalyptusbäume wieeinKamm,derverschiedene Scheitel ausprobiert. Robby betrat wiederdenFußgängersteignebendemEisengitterderBotschaft. Er sah eine Regierungslimousine in der Einfahrt verschwinden. Unter ihrem Wetterschutzhäuschen aus Stroh präsentierten die Posten das Gewehr. Er überquerte den kleinen Platz und ging ins Haus gegenüber. Der Pförtner erhob sich respektvoll. Es war ein altes, imposantes Mietshaus mit Marmorstufen und abstoßenden Gipskaryatiden, die sich unter den Balkons der Fassade krümmten. Der Aufzug schloss sichlautlosundglittsanftnachoben.Man hatte ihn eingebaut,indemman einen Teil des Lichtschachts der Garküchen dafür geopfert hatte; er war eng. Zwei Männer passten gerade hinein. Peter wohnte im vierten Stock, also auf der Dachterrasse. Dort waren einmal die Waschstube und Zimmer für das Personal gewesen, aber der Eigentümer vereinte die Räume und bildete so zwei Wohnungen, die er zu Wucherpreisen vermietete – es war schließlich Krieg. Robby drückte auf den Knopf des vierten Stocks; er stellte sich General Wilson mit seinem mächtigen Bauch in dieser Büchse vor. Nein, der würde die Treppe nehmen; er brüstete sich immer, ein starkes Herz zu haben. Oben, in der Türeinfassung der danebenliegenden Wohnung, war ein gemaltesKreuzmit einer Kerzenflamme zu sehen. Griechen. Warum hatte er noch nie darauf geachtet? Es musste vomletztenOsterfest stammen.

Peter bat ihn herein und schloss schnell hinter ihm ab. Er trug einen Morgenmantel aus Kamelhaar und einen blauen Schal; obwohl zwei elektrische Öfen in seinem Büro brannten, bibberte er. Malaria, ein Souvenir von Mykene. Auf seinem Tisch, geöffnet wie beim letzten Mal, das von der Zeitung Proïa verlegte Lexikon, die Synonyme von Vlastos und das Griechisch-französische Wörterbuch von Pernot.

»Mein lieber Robby, ich habe schlimme Nachrichten von Kurt.«

»Ich weiß. Man hat es mir unten gesagt.«

»Haben sie dir gesagt, wie?«

»Ich wollte nicht fragen. Mir genügt, dass er in einem Lager in Kenia gestorben ist.«

»Aber seine eigenen Landsleute haben ihn umgebracht, ich meine, die anderen, die inhaftierten Nazis.«

»Ich will nichts davon hören.«

»Sie haben ihm bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, Robby.«

»Peter, um Himmels willen!«

»Entschuldigung. Wir hatten getan, was wir konnten.«

»Ich weiß.«

»Er wollte das Lager absolut nicht verlassen. Man könnte sagen, er suchte förmlich den Tod von ihrer Hand.«

»Ich weiß, ich weiß, ich weiß.«

Pause.

»Was gibt es sonst noch für Neuigkeiten von da unten?«

»Nichts. Der Große Bär ist wütend auf mich.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Nein. Gwendolyn hat es mir gesagt.«

»Zu Recht.«

»Sie hätten mich in Jerusalem lassen sollen. Meine Sendungen hast du gehört. Sind sie jetzt besser?«

»Gwendolyn glaubt, du könntest hier nützlicher sein.«

»Das ist gelogen, und du weißt das auch. Man hat mich aufgrund einer Beschuldigung von Winter zurückgerufen.«

»Hattest du keinen Kontakt zu griechischen Antifaschisten?«

»Mit einem, aber nie haben wir über die Lage in Griechenland, über den Guerillakrieg und derartiges gesprochen. Er war ein Mann von Welt, keineswegs indiskret.«

»Das glaube ich dir. Winter jedoch ist nun einmal so, wie er ist. Die unteren Klassen haben eben unseren Ehrenkodex nicht.«

»Und jetzt soll ich zu einem zweiten Winter werden.«

»Du übertreibst. Man hat von dir einen Bericht alle zehn, fünfzehn TageüberdaspsychologischeKlima der Stadt verlangt, wie du es wahrnimmst. Du aber gibst ihnen Ausschnitte aus irgendeinem Roman.«

»Ja, aber wie willst du den Puls einer Stadt fühlen, wenn du ihre Menschen nicht kennst? Hat man die Vorgeschichte der Gegebenheiten, ergeben sich die Folgerungen von allein, wie mathematische Gleichungen. Mit Vermutungen können sich von mir aus Pfuscher beschäftigen.«

»Tut mir leid, Robby. Da wird einiges auf dich zukommen. Willst du wissen, mit was für Bemerkungen man deinen letzten Bericht versehen hat? Der Große Bär schrieb: ›Verrückt, völlig verrückt, verschont mich mit diesem Mann.‹ Der Handelsattaché: ›Text beziehungslos. Nutzlos. Soll aufhören.‹ Presseattaché: ›Text beziehungslos. Aber sehr gut geschrieben.‹ Der Attaché für Orientalische Angelegenheiten: ›Text beziehungslos. Vielleicht in Zukunft von Nutzen.‹ Der Militärattaché: ›Papierkorb!!!‹ Geheimdienstattaché: ›Sehr, sehr interessant. Erbitte Abschrift.‹

»War das der Text, den ich über Naboulion geschrieben habe?«

»Ja, Robby. Warum bist du eigentlich so subjektiv geworden? Wen interessieren schon deine Liebesgeplänkel mit den Straßenjungen in deiner Nachbarschaft?«

»Oberst Davis vom Intelligence Service, wie du siehst. Naboulion ist doch so ein reizender Junge. Warum willst du ihn nicht mal kennenlernen?«

»Komm zu dir, Robby. Wir haben Krieg, entschuldige, dass ich daran erinnere. Mein Napoleon bereitet mir genug Kopfschmerzen.«

»Na und?«

»Musterexemplar eines Söldners.«

»Und du lässt es dir gefallen, dass man ihm Geld und Waffen schickt. Ich verstehe dich natürlich. Wir können uns nicht alle in einen Kurt Stötlin verwandeln.«

»Sucht jetzt der Eliot-Anhänger die Gesellschaft der Romantiker? Da steht uns ja bis zum Ende dieses Krieges noch einiges bevor… «

»Esel, dummer Esel«, sagte Robby lachend und packte ihn liebevoll am Nacken.

Masochismus: Das war Kurts Laster. Robby hätte das merken müssen, als er ihn über die Dichtung Swinburnes reden hörte. Auch der hatte also seinen Vampir! Er nahm keine Einladung zum Tee an, weil er sie nicht erwidern konnte. Wohnte in einer Gasse in Balaxa in einer Waschküche. Nicht einmal das: in einem Dachterrassenklo; das Loch des Abtritts bedeckte er mit einem Brett, das in Form eines Tennisschlägers zugeschnitten war. Möbel? Asketische Einfachheit: eine Strohmatte, ein bloßer Backstein als Kopfkissen, ein Spirituskocher, kleine Lipton-Büchsen mit Tee und Zucker und zwei leere als Tassen, ein Seifenrest, der am Hals des niedrigen Wasserhahns sein Gleichgewicht zu halten suchte, in der Ecke verstaubte Notenhefte und darauf ein kleines schwarzes Harmonium. Zement. Ohne Fenster oder Luke. Gefängnis. Er musste bei halboffener Tür schlafen. Im Winter fror er jämmerlich, im Sommer schmorte er. Und doch meinte er, glücklich zu sein. Er lief mit einer Galabija herum, aber nicht barfuß. Trug Allerweltssandalen, wie sie die armenischen Pantoffelmacher anfertigen. Er war sehr blond, sehr groß, sehr schmal, hatte einen Adamsapfel, den die Rasierklinge immer zum Bluten brachte. Er ging stets schräg durch den belebten Basar, wobei er sich mit der Schulter einen Weg bahnte und sein linkes Bein etwas nachzog.

Sie sprachen Französisch miteinander, eine eher diplomatische Lösung. Auch wenn seine Aussprache seltsam war. Ihre Blicke hatten sich getroffen, als Ariadni Saridis ein Stück Kernseife vom Regal entwendete und in ihren Beutel steckte. Kurt lächelte. »Tausendundeine Nacht«, sagte er auf Französisch. »Hier hüllen sich auch die größten Untaten in einen Märchennebel.« Sie gingen zusammen hinaus und die Gasse hoch. »Sehen Sie nur das goldene Licht, das auch die banalsten Dinge idealisiert. Eine Petroleumfunzel, rußgeschwärzt. Und doch glänzt sie wie Aladins Wunderlampe. Meinen Sie nicht auch? Schauen Sie nur, wie die Männer gestikulieren, hören Sie ihr freimütiges Lachen. Wie strahlen ihre Augen voller Gescheitheit und Sinnlichkeit, als erlebten sie wachen Sinns ein Wundermärchen…« Er blieb vor dem Tablett eines Zuckerbäckers stehen, nahm mit seinen schwächlichen Fingern eine geschälte Mandel und aß sie. »Nehmen Sie noch eine«, sagte der Araber freudig. »Was für ein Volk«, sagte er. »Wie sehr gefallen ihm die bunten Gläser, die glänzenden Kleider. Ihre Witze, wenn sie um Mitternacht in greller Beleuchtung wach bleiben. Und ihre schmachtende Musik, die nie endet und von der man nie weiß, woher sie kommt.« Und als sie zu dem höher gelegenen Viertel kamen, hob er die Augen und betrachtete den Himmel. Er war tief an jenem Abend. »Und ihre natürliche Einfachheit in Liebesdingen, die Parfums, die Gewürze, die Sorbetts, die halbverborgenen Frauengesichter, das weiseste Aufputschmittel … Sehen Sie sich diese Minarette an. Symbole. Riesige Phalloi, um das Urgesetz des Lebens zu preisen.«

Als Robby ihn eines Abends nach acht eigentlich nicht mehr erwartete, taucht plötzlich Soliman auf und sagt: »Haben Sie die Klingel gehört? Es ist der verrückte Deutsche, der immer mit einer Galabija herumläuft.« Er führte ihn sofort in den kleinen roten Salon mit den Samtvorhängen. »Ich weiß, die Zeit ist unpassend. Aber für eine Tasse Tee wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Er hatte seit dem Vortag nichts gegessen. Unglaublich genügsam war er. Zwei Tropfen Milch und ein Stück Zucker, meinte er, würden ihm alle benötigten Kalorien liefern, um bis zum nächsten Tag sein Leben zu fristen. Das gefiel Soliman, der ihm bis zu diesem Moment durch mangelnde Aufmerksamkeit seine Antipathie gezeigt hatte.

Im Lauf des Gesprächs erinnerte sich Kurt an Ariadni. Er hatte sie am selben Nachmittag gesehen, wie sie in diese Straße zog und Robbys Nachbarin sein würde. »Ist es nicht komisch, dass sie Ariadne heißt und bisher im Labyrinth wohnte!« »Ah, bei Ihnen heißt es auch Labyrinth?« »Aber passt es nicht dazu? Dieser Häuserblock, von der Balaxa-Straße bis zu Ihrer, muss einer der ältesten Kairos sein. Wie viele Europäer können sich da durchfinden?« »Ich schon. Zum Alter: Die Bauweise der alten Häuser zeigt nicht, dass sie lange vor der Besetzung Napoleons errichtet wurden.« »Noch etwas Komisches: Dieser halbnackte kleine Araber, der Naboulion. Sechs Kinder reichen ihr wohl nicht, und sie hat auch den noch, der sich an ihren Rockzipfel hängt!« »Reiner Zufall, mein Lieber. Sie lassen sich von ›Ariadne‹ faszinieren und stellen Hypothesen auf.« »Nicht alle Deutschen können gut Altgriechisch. Ich studierte Mathematik, als ich eingezogen wurde.« »Wie alt waren Sie da?« »Siebzehn. Glücklicherweise kam nach wenigen Monaten der Waffenstillstand. Ich war bei der Artillerie. Aber was ich da gesehen habe, genügte, um den Krieg hassen zu lernen. Ich wurde zum Vegetarier, Theosophen, Nudisten und was weiß ich noch sonst. Haben Sie mal vom Wandervogel gehört? Wir waren in Gruppen, Mädchen und Jungen über zwölf, und durchwanderten Deutschland. Ohne Ziel, ohne Führer. Der Stärkste ging vorneweg und bahnte den Weg. Ein Schwarm umherziehender Vögel. Wir schlugen keine Wurzeln, erkannten weder Staat noch Eltern an. Wir glaubten an unsere eigenen Prinzipien, vor allem an die Kameradschaft. Ungefähr vier Jahre verbrachte ich auf diese Weise. Dann blieben ich und zwei Freunde übrig, und wir lebten weitere zehn Jahre so. Und wir hätten dieses Leben fortgeführt, wenn nicht die Hitlerjugend den Wandervogel hätte vereinnahmen wollen. Dem kam ich zuvor und ging. In Hamburg schifften wir uns ein. Romain Rolland wies uns mit seinem Buch über Gandhi das gesuchte Paradies. In Port Said wollten wir nicht einmal an Land gehen, um einen Stadtbummel zu machen. Ich wenigstens hatte von Ägypten keine Ahnung, war gleichgültig. Und da, mitten in der Hitze und der lähmenden Mittagszeit, sahen wir jemanden auf einem Minarett. Das beeindruckte uns sehr. Die Zeit mit menschlicher Stimme anzusagen. Ich stieg vom Schiff, um mehr zu erfahren. Und bin nicht mehr weggegangen.« »Die menschliche Stimme also.« »Das und die Sonne. Gottes ewiges Lächeln.« »Und die Finanzen?« »Anfangs glaubte ich so wie in Deutschland leben zu können. Ich verstehe etwas von Musik. Aber in Kairo sah ich ein, dass ich doch nicht so frei war. Ich erregte Anstoß bei – den Europäern. Der lutherische Pastor nahm mich beiseite und ermahnte mich, als ich in seine Kirche ging, die des Heiligen Andreas von Bulako. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass das dortige Harmonium seit Jahren kaputt war und niemand es reparieren konnte. Ich schlug ihm einen Versuch vor; bei Erfolg würde ich jeden Sonntag spielen und bekäme ein Gehalt. Aber eine Bedingung stellte ich: Von nun an sollte in der Kirche nur noch Bach zu hören sein. Und so verdiene ich seit 1933 zwei Pfund im Monat. Vier Jahre mal vierundzwanzig, ich habe sie also bisher ungefähr einhundert Pfund gekostet. Außerdem einen dunklen Anzug, der in der Kirche aufbewahrt wird und den ich anziehe, wenn ich sonntags in der Früh hingehe; ich will ja keinen Anstoß erregen…«

»Im Grunde verstehe ich ihn«, sagte Peter und erriet aus Robbys mürrischer Miene, dass er noch über Kurt nachdachte. »Wir haben gut reden! Alle haben wir einen Ehrenpakt mit unserer Nation unterschrieben und dürfen ihn nicht brechen. Er war fanatisch deutsch und wusste, dass er die Freiheit, die wir ihm boten, mit Dienstleistungen zu erkaufen hatte.«

»Du hast ihn nicht so gut gekannt, Peter. Fanatisch war er, aber nicht so, wie du ihn dir vorstellst. Wenn ich ihm von den Bestialitäten der Hitlerleute erzählte, hörte er mir mit einer sonderbaren Gelassenheit zu. Er zeigte keine Gewissensbisse. ›Ich verstehe sie. Ich könnte einer von ihnen sein. Sie sind wie verrückt in den Tod verliebt. Wie ich in das Leben. Würde man mir Hitler übergeben und mir erlauben, ihn straflos zu töten, um zwei, drei Millionen Menschenleben zu retten, würde ich ihm die Tür aufmachen und ihn gehen lassen. Wir haben kein Recht dazu. Jedes Leben ist heilig.‹ Stell dir das mal vor, Peter! Nur ein Mal ließ er mich dorthin hochkommen, wo er wohnte, in der Balaxa-Straße, um mir eine Bach-Fuge auf seinem kleinen Harmonium vorzuspielen. Er ließ mich auf seiner Strohmatte Platz nehmen und beugte sich über den Spirituskocher in der Ecke, um Tee zu kochen. Plötzlich sehe ich voller Schrecken, wie ein paar Fühler unter dem Klobrett hervorkommen: Es war eine Kakerlake so groß wie mein Finger. Ich fuhr hoch und wollte sie zertreten. Er packte meine Beine und hinderte mich. ›Nein. Lassen Sie sie leben. Auch sie hat eine Seele.‹ Ich weiß nicht, ob es nur meine Phantasie war, aber du kannst sicher verstehen, dass sein Tee einen unangenehmen Geruch verströmte. Er gab mir das Heft mit den Fugennoten, und ich konnte nichts von seinem Spiel begreifen.«

Ein listiger Glanz erschien in Peters Augen, als wollte er etwas sagen. Aber er spitzte die Ohren. Jemand öffnete die Eingangstür mit einem Schlüssel. Seine gelbe, durchscheinende Haut wurde rosa. Eine ahnungslose Frau stürzte erregt ins Zimmer.

»Peter, mein Goldschatz«, sagte sie auf Griechisch und hielt inne.

Robby stand auf. Sie war dunkelhaarig, hatte große intelligente Augen. Ihre Pumps ließen sie größer erscheinen. Die grauen, fein gesponnenen Strümpfe verliehen ihr reizvolle Waden. Das schwarze Trikot saß wie angegossen an ihrem zierlichen Körper. Sie trug eine doppelte Kette aus echten Perlen. Ihre Haut hatte noch nicht jenen mattgoldenen Flaum der attischen Frauen eingebüßt. Ihre stark geschminkten, vollen Lippen glänzten, der Zahnschmelz war makellos. Eine aufkommende Eifersucht stieß Robby ab. Diese Frau hatte etwas Katzenhaftes an sich:

»Sag mir, wann du kommst. Omelett kann man kalt nicht essen.«

Peter nahm eine schicksalsergebene Miene an.

»Dr. Robert Richards. Ich habe bereits von ihm gesprochen«, sagte auch er auf Griechisch. »Darf ich vorstellen: Frau Dora Mertakis, Frau des früheren Ministers. Wir sind Nachbarn.«

»Oh, Peter, sag mal«, warf jene jetzt auf Englisch ein, »ich habe wohl einen bösen Fauxpas begangen, nicht?«

»Keineswegs, keineswegs. Robert ist mehr als ein Freund. In Oxford wohnten wir im selben Zimmer.«

»Wenn ich mich nicht irre«, sagte Robby mit verhaltener Gehässigkeit, »hat Ihr Gatte eine Zweitwohnung in einem neuen Mietshaus in der Kasrelnil-Straße. Ich weiß das, weil sich dort, wie man mir sagte, alle wichtigen Vertreter der Liberalen treffen.«

»Genau«, sagte Dora und taxierte ihn mit halbgeschlossenen Augen. »Die Wohnung in der Kasrelnil-Straße benutzen wir als politischen Treffpunkt.«

»Setzt euch doch«, sagte Peter. »Warum steht ihr denn noch?«

»Aber nur für einen Moment. Wegen des Essens hast du mir noch nicht geantwortet. Ah, Dr. Richards, kommen Sie doch auch und leisten Sie uns Gesellschaft. Es gibt nichts Besonderes: Spaghetti, Pilzomelett, Salat, Granatäpfel mit Zucker und Cognac. Aber Peter hat eine Flasche Capri-Wein aufgestöbert, rubinrot, traumhaft.«

»Danke, meine Dame. Ich nehme die Einladung an, wenn Sie mich die Spaghetti zubereiten lassen.«

»Was sagen Sie da? Sie wollen in meine kleine Küche?«

Peter klappte die Wörterbücher zu.

»Gehen wir. Ich will nur noch mein Öfchen mitnehmen.«

Dora und Robby gingen voraus.

»Lösen Sie mir ein Rätsel«, sagte Robby an ihrer Türschwelle. »Sie sind doch seit höchstens einer Woche hier. Wie also konnte das Auferstehungskreuz dahin kommen?«

»Bravo! Wie viele Romane haben Sie schon geschrieben?«

»Ich versuche mich am ersten. Aber was hat das damit zu tun?«

»Ihre Beobachtungsgabe. Aber ich will Sie nicht auf die Folter spannen: Wie Sie wissen, ist es in dieser Zeit besser, unsere Namen nicht an der Wohnungstür anzubringen. Damit unsere Besucher nicht bei Peter klingeln und ihn belästigen, geben wir ihnen dieses Erkennungszeichen.«

Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Dora fügte Teller und Besteck für die dritte hinzu. Würde Herr Mertakis woanders essen? Robby ging in die Toilette, um sich die Hände zu waschen und öffnete vorsichtig das Medikamentenschränkchen. Weder dort noch auf dem Regal konnte er Rasierzeug entdecken. Und hinter der Tür hing nur ein einziger Bademantel.

Der Capri-Wein war wirklich exzellent. Beim Obst angelangt, war die Stimmung dermaßen aufgeräumt, dass man übereinkam, die Förmlichkeiten beiseitezulassen.

»Robby hat mich nach dem Kreuz gefragt«, begann Frau Mertakis.

»Ah«, antwortete Peter rasch, »alles Aberglauben. Dora war, ich kann’s dir ja anvertrauen, in der Organisation, die von den Italienern in Athen ausgehoben wurde. Sie besteht darauf, dass, wenn unser Mann ein Kreuz auf die Tür des Apartments, wo er sich versteckt hielt, gemalt hätte, der italienische Offizier nicht aus Versehen bei ihm geklingelt hätte.

»Aber das ist doch vor mindestens neun Monaten passiert«, sagte Robby.

»Und woher weißt du das?«, fragte Dora.

»Ein Major hat es mir in Jerusalem gesagt. Allerdings ein bisschen anders: Im Apartment daneben war eine Frau mit ihrem Freund, und ihr Mann schickte den Italiener, um sich zu rächen. Er sagte auch, ihrem Nachbarn wäre nichts passiert, aber die Frau wies ihn mit Morsezeichen an der Zwischenwand auf die Gefahr hin, und der verbrannte eilends seine Papiere. Der Rauch verriet ihn.«

»Entschuldige«, sagte Dora zu ihm, bevor er ausgesprochen hatte. »Ich mache euch einen Kaffee. Sprich ruhig weiter. Auch in der Küche kann ich dich gut hören.«

Peter zitterte.

»Mein Malaria-Anfall«, sagte er. »Ich bekomme ihn immer nach dem Essen.«

Er nahm das Kabel seines Öfchens aus der Steckdose und ging in seine Wohnung schlafen, ohne Dora etwas zu sagen.

Bald kam sie mit dem Kaffee. War ruhig, mit einer leichten Ermüdung, die sich am Rand der Lippen abzeichnete.

»Hieß dein Major Jassemis?«, fragte sie.

»Dann stimmt das also?«

»Der hat den Italiener geschickt. Jetzt bin ich sicher. Er war schrecklich eifersüchtig.«

»Aber wie bist du davongekommen?«

»Mit ein bisschen…«

Und sie tat so, als zählte sie Goldmünzen.

»…Wir haben den italienischen Stadtkommandanten bestochen. Nur, dass jetzt der arme Peter … Er bekam einen Schock. Kann ich verstehen. Wie konntest du das wissen, Robby? Dienstag, siehst du. Ein Unglückstag.«

Sie setzte sich auf den kleinen Diwan, warf ihre pechschwarzen Haare nach hinten und legte ihre Beine übereinander. Streckte ihm zwei angegilbte Finger hin und bat mit halbgeschlossenen Augen um eine Zigarette.

»Du rauchst nicht? Das hätte ich mir denken können. Wie könntest du sonst so rosa Backen haben?«

Der Nachmittag ging zu Ende, Dora gähnte und antwortete lustlos. Robby verabschiedete sich und ging nach Hause. Er nahm den Weg über Garden City, blieb ständig vor den Villen stehen und versuchte, ein wenig Bewegung zu entdecken, ein wenig Leben hinter den geschlossenen Wintergärten und den Fenstern. Er durchquerte das Ministerienviertel mit den Palmen und den großen, krumm gewordenen arabischen Akazien. Totenstille. Das Geologische Museum, geschlossen. Am ebenerdigen Bahnübergang der Strecke nach Heluan hielt er länger inne und beobachtete die Schüler der französisch-katholischen Schule, die aus dem Unterricht kamen. Schwarze Schulkittel, rote Knie und auf der Brust der Besten Medaillen, die an Bändern in den französischen Farben hingen. Ein junger Frère kam barhäuptig heraus und pfiff zornig auf einer Trillerpfeife ein paar Kindern, die herumschrien, kaum hatten sie die Schule verlassen. Die Limousinen luden die Kinder der Reichen ein und fuhren lautlos davon.

Auf der Straße mit der Moschee gelangte Robby zu den oberen Vierteln. Dort war sein Haus. Er stieg drei Stockwerke hinauf. Die Vorzüge und Nachteile des Rauchens. Er sagte Soliman, er solle ihm einen Tee machen. Vom Fensterchen seines Bades konnte er die Trümmerwelt des Labyrinths überblicken. Aber eine ganz entgegengesetzte Stimmung trieb ihn auf den Westbalkon, der auf die Straße mit der Moschee blickte. Er war nicht missmutig, eher lyrisch-melancholisch, ohne zu wissen, warum. Ah, Kurt. Sein Masochismus. Er wollte jetzt nicht daran erinnert werden. Das hätte ihn zu weit weggeführt. Nur eine kurze Seelenmesse. Die geopferte Generation des letzten Krieges. Wandervögel, ein Schwarm brauner Schwingen reist, reist in einer Anhäufung gewaltiger Wolken, mal weißen, mal grauen. Material für die Divisionen Hitlers. Freier des Todes. Und die geopferte Generation des jetzigen Krieges? Wer weiß, wie sie aussehen würde.

»Allahu akbar!« Robby beugte sich vor und sah den blinden Muezzin, der auf dem engen Minarettumgang die Nachbarschaft zum Abendgebet rief. Die Gläubigen vollzogen ihre Waschungen mit dem Wasser in den Kannen, die aufgereiht vor der Moschee standen. Aus den Gassen kam ein Joghurtverkäufer mit einem provisorischen Holztablett auf dem Kopf. Seine Stimme hatte sich schon geraume Zeit aus dem Labyrinth genähert, melodisch und zugleich abgehackt, wie ein klagendes Bellen: »Jaa-o! Jaaaa-o!« Die Araberinnen traten auf die Hausschwelle und riefen ihre Kinder mit singender Stimme: »Tolba, Hassan, Filfil, Mensch, wo steckst du denn?« Und von den Balkonen riefen die Frauen: »Markos, Nikolas, Virginia, kommt!« Es war wie die erste Sirene eines Dampfers, der zur Abfahrt bereit liegt. Die Fledermäuse kamen plötzlich heraus, als würde sie der Wind gebären, flatterten herum oder tauchten zwischen die Balkone mit blinder Beharrlichkeit. Das Gestänge einer Markise quietschte. Der Himmel war tiefblau geworden, und auf den Dachterrassen färbte sich die aufgehängte Wäsche teils rosa, teils veilchenblau. Das Basilienkraut der Nachbarin schickte sich an, seinen Duft auszusenden. Die Hunde bellten. Wieder riefen die Mütter ihre Kinder. Ein Gaslaternenanzünder ging auf der Boustani-Straße zu den oberen Vierteln hoch; er hielt etwas wie ein Schwert mit einer blauen Flamme an der Spitze. Wo das honigfarbene Licht nicht hingelangte, wurde es immer dunkler. Die offenen Fenster in den Kellerwohnungen und im Erdgeschoss wurden nacheinander hell, golden oder gelb, von den Petroleumlampen, welche die Frauen drinnen anzündeten. Ein Radverleiher kniete auf dem Bürgersteig und versuchte erfolglos, eine Azetylenlampe zum Leuchten zu bringen. Die Lampe zischte, rauchte, gab eine Flamme von sich, flupp! Und erlosch. Die Nacht senkte sich schnell herab.

DRITTES KAPITEL

Dieses verlassene Haus mitten im Herzen des Labyrinths hatte eine bewegte Geschichte. Ariagni hatte die ungefähre Chronik von Naboulions Mutter gehört, wenn jene zum Waschen kam; danach saß sie nachts allein da und bemühte sich, eine gewisse Ordnung in die Ereignisse zu bringen.

Vor Jahren war bei einem jener in Kairo seltenen und sehr heftigen Regengüsse plötzlich das Dach abgesackt. Das Wasser stürzte hinunter und riss Steine und morsche Balken hinab und zertrümmerte das Gitterfenster. Da schickte der Hodscha den schielenden Moscheediener zur nächsten Polizeistation, um diese zu informieren. Aber vielleicht verstand man nicht, was er ihnen sagen wollte, man fühlte sich nicht zuständig oder man war einfach fahrlässig; jedenfalls erschien niemand von staatlicher Seite. Nach Monaten kam Scheich el Chara vorbei, der mit dem Hodscha auf Kriegsfuß stand, und machte Letzterem den Vorwurf, ihn