Stille Sainte-Victoire - Cay Rademacher - E-Book
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Stille Sainte-Victoire E-Book

Cay Rademacher

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Beschreibung

Der April in der Provence ist warm, sonnig, grün – und mörderisch. Capitaine Roger Blanc steht vor einem auf bizarre Weise getöteten Mann, ausgerechnet im Schatten der Sainte-Victoire, dem Berg, den Cézanne auf vielen Gemälden verewigt hat. Das Opfer: Roland Dallest, ein Bauingenieur aus Lyon, der die Statik eines Staudamms untersuchte, ein gewissenhafter, friedliebender Mann, der erst seit drei Wochen im Midi arbeitete. Für seinen Tod scheint zunächst niemand ein Motiv zu haben. Aber Blanc findet rasch heraus, dass dessen Zwillingsbruder Christian ganz in der Nähe zu tun hat: ein berühmter Paläontologe, der seit Jahren Dinosaurierknochen an der Sainte-Victoire entdeckt. Ein schrecklicher Irrtum des Täters? Wollte der Mörder eigentlich den bekannten Wissenschaftler töten und verwechselte diesen mit dem zufällig anwesenden Zwillingsbruder? Nach und nach stößt Blanc auf Geheimnisse rund um den Staudamm – und auf die Geheimnisse der Paläontologen, die sich einen gnadenlosen Wettkampf um Fossilien, Geld und Ruhm liefern. Und schon bald sehen er und seine Kollegen Marius und Fabienne mehr Verdächtige, als ihnen lieb ist … Mord in der Provence - Capitaine Roger Blanc ermittelt: Band 1: Mörderischer Mistral Band 2: Tödliche Camargue Band 3: Brennender Midi Band 4: Gefährliche Côte Bleue Band 5: Dunkles Arles Band 6: Verhängnisvolles Calès Band 7: Verlorenes Vernègues Band 8: Schweigendes Les Baux Band 9: Geheimnisvolle Garrigue Band 10: Stille Sainte-Victoire Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 485

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Der April in der Provence ist warm, sonnig, grün – und mörderisch. Capitaine Roger Blanc steht vor einem auf bizarre Weise getöteten Mann, ausgerechnet im Schatten der Sainte-Victoire, dem Berg, den Cézanne auf vielen Gemälden verewigt hat. Das Opfer: Roland Dallest, ein Bauingenieur aus Lyon, der die Statik eines Staudamms untersuchte, ein gewissenhafter, friedliebender Mann, der erst seit drei Wochen im Midi arbeitete. Für seinen Tod scheint zunächst niemand ein Motiv zu haben. Aber Blanc findet rasch heraus, dass dessen Zwillingsbruder Christian ganz in der Nähe arbeitet: ein berühmter Paläontologe, der seit Jahren Dinosaurierknochen an der Sainte-Victoire entdeckt. Ein schrecklicher Irrtum des Täters? Wollte der Mörder eigentlich den bekannten Wissenschaftler töten und verwechselte diesen mit dem zufällig anwesenden Zwillingsbruder? Nach und nach stößt Blanc auf Geheimnisse rund um den Staudamm – und auf die Geheimnisse der Paläontologen, die sich einen gnadenlosen Wettkampf um Fossilien, Geld und Ruhm liefern. Und schon bald sehen er und seine Kollegen Marius und Fabienne mehr Verdächtige als ihnen lieb ist …

© in medias res

Cay Rademacher, geboren 1965, ist freier Journalist und Autor. Seine Provence-Serie umfasst zehn Fälle, zuletzt Geheimnisvolle Garrigue‹ (2022). Bei DuMont erschienen auch seine Romane aus dem Hamburg der Nachkriegszeit: ›Der Trümmermörder‹ (2011), Der Schieber‹ (2012) und ›Der Fälscher‹ (2013). Außerdem veröffentlichte er die Kriminalromane Ein letzter Sommer in Méjean‹ (2019), ›Stille Nacht in der Provence‹ (2020) und ›Die Passage nach Maskat‹ (2022) sowie das Sachbuch ›Drei Tage im September‹ (2023). Cay Rademacher lebt mit seiner Familie bei Salon-de-Provence in Frankreich.

CAY RADEMACHER

STILLE SAINTE-VICTOIRE

Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc

Von Cay Rademacher sind bei DuMont außerdem erschienen:

Der Trümmermörder

Der Schieber

Der Fälscher

Mörderischer Mistral

Tödliche Camargue

Brennender Midi

Gefährliche Côte Bleue

Dunkles Arles

Verhängnisvolles Calès

Verlorenes Vernègues

Schweigendes Les Baux

Geheimnisvolle Garrigue

Ein letzter Sommer in Méjean

Stille Nacht in der Provence

Die Passage nach Maskat

Drei Tage im September

E-Book 2023

© 2023 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Karte: Kartografie Angelika Solibieda, Cartomedia Karlsruhe

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-8321-8282-3

www.dumont-buchverlag.de

Les montagnes se replient;

Le livre de la terre se ferme.

Ein Toter im Schatten der Sainte-Victoire

Capitaine Roger Blanc hatte in seiner Karriere zwar schon einige Mordopfer gesehen – aber nie zuvor einen Mann, dem ein spitzer Stein in die Brust gestoßen worden war. Er beugte sich über den Toten, ohne ihn anzurühren. Mindestens 1,85Meter groß, schätzte er, hager, kurze graue Haare, stark und dicht wie bei einer Drahtbürste, leicht sonnengebräunte Haut. Er trug schwarze Arbeitsschuhe, deren Vorderseite mit Stahlkappen verstärkt war, dazu Jeans, ein kariertes Hemd, darüber eine beige Outdoorjacke mit vielen Taschen. Neben seinem Kopf lag ein brauner Sonnenhut, genau das Modell, wie es Indiana Jones in den legendären Hollywoodfilmen getragen hatte, vermutlich war er beim Sturz vom Haupt gerutscht. Über Hemd und Jacke hatte sich ein großer roter Fleck ausgebreitet. Blanc blickte neugierig und misstrauisch auf das Objekt, das die tödliche Verletzung verursacht hatte: Es war ein ockerfarbener Stein, der ihn an die Spitze einer Hacke erinnerte. Er konnte nicht einschätzen, wie groß er war und wie tief er in den Oberkörper eingedrungen sein mochte. Die Mordwaffe war mit bereits eingetrocknetem Blut besudelt, auf einer Seite erkannte er bei genauerem Hinsehen eine Reihe feiner Einkerbungen, die Widerhaken glichen.

Doktor Thezan wird Schwierigkeiten haben, den Stein aus dem Leib des Toten zu ziehen, dachte er. Blanc stand auf und sah sich um. Der Boden war felsig, die mürben Steine schimmerten grau unter einem Teppich aus ockerrotem Sand. Ginster- und Wacholdersträucher wuchsen aus Gesteinsspalten, die Blüten von wilder Iris leuchteten hier und dort gelb aus dem Unterholz. Über ihm wölbten sich die Zweige von Fichten und Aleppo-Kiefern, einen Hang weiter glaubte er, Tannen zu erkennen. Flüchtig fragte er sich, wie diese nordischen Bäume hierhergekommen sein mochten. Vielleicht lag es an diesem Berg: Einige Hundert Meter nördlich stand die Montagne Sainte-Victoire vor dem wolkenlosen Himmel, eine von der Zeit zernarbte Pyramide aus hellgrauem Fels mit einem riesigen dunklen Gipfelkreuz, auf seltsame Art zugleich schroff und einladend. Ein tausend Meter hoher Solitär, der bewundert werden wollte. Cézanne hatte die Sainte-Victoire gemalt, zu jeder Jahreszeit, bei jedem Licht, immer anders, immer gleich. Gut möglich, dass der Tote genau dort lag, wo der Maler vor mehr als hundert Jahren seine Staffelei aufgestellt hatte. Zwei Raubvögel kreisten im Aufwind, kleine schwarze Kreuze, die sich noch ihre Gräber suchten. Blanc atmete tief ein. Es war erst der 9.April, doch die Welt roch schon nach Sommer. Ein leichter, warmer Südwind rauschte durch die Baumnadeln, die Luft duftete nach Rosmarin und Thymian und süßlich nach Wasser. Zu seiner Linken leuchtete der Lac de Bimont, in der Mitte war der Stausee tintenblau, zu den Ufern hin, wo versunkene Felsen durch das klare Wasser schimmerten, wechselte die Farbe zu einem geradezu irrealen Türkis.

Die ersten Gendarmen, die am Tatort eingetroffen waren, hatten per Funk bereits einige Angaben zum Opfer durchgegeben: Roland Dallest, zweiundvierzig Jahre alt, Ingenieur, nicht vorbestraft, kein Eintrag in irgendeiner Datenbank der Gendarmerie, ein unauffälliger Bürger. Es gab keinen Zeugen für den Mord, keinen Verdächtigen, keine heiße Spur. Eine Kollegin von Dallest hatte die Gendarmerie alarmiert. Nachdem der Mann nicht zur Mittagspause erschienen war, hatte sie sich auf die Suche nach ihm gemacht, und als sie ihn endlich gefunden hatte, war es schon für jede Hilfe zu spät gewesen. Einige uniformierte Gendarmen hatten den Tatort inzwischen abgesperrt, was aber eigentlich überflüssig war, denn zu dieser Mittagsstunde waren keine Schaulustigen da. Drei Kriminaltechniker in weißen Ganzkörperschutzanzügen durchsuchten die Umgebung, schienen aber nichts Verdächtiges zu finden.

»Dallest hat seit etwa drei Wochen am Lac de Bimont gearbeitet«, sagte Blancs Kollegin Sous-Lieutenant Fabienne Souillard und starrte dabei auf ihr iPhone, durch das sie sich in einem Tempo, mit dem Blanc nie mithalten würde, bereits etliche Informationen besorgt hatte. »Sein Ingenieurbüro hat eine Website, auf der Dallest ein paar Fotos und Daten gepostet hat. Er untersucht die Stabilität des Staudamms, was immer das bedeuten mag. Scheint aber Routine zu sein, solche Analysen werden offenbar alle paar Jahre gemacht.«

Blanc betrachtete das Bauwerk, das den See begrenzte, eine lange, bogenförmig geschwungene, aus der Entfernung makellos wirkende Betonbarriere. »Der Mann ist in der Nähe seines Arbeitsplatzes umgebracht worden«, meinte er nachdenklich, »aber ob das etwas mit seinem Job zu tun hatte?«

Lieutenant Marius Tonon, Blancs bester Freund unter den Gendarmen, deutete auf die Tatwaffe und schüttelte skeptisch den Kopf. »Der Mörder wollte sein Verbrechen inszenieren. Auf so eine Idee musst du doch erst einmal kommen. Typen, die ihre Opfer mit einem Stein töten, schlagen ihnen damit gewöhnlich den Schädel ein. Hier liegen Millionen Brocken herum, mit denen du jemandem den Kopf zertrümmern könntest. Aber ein Stein, den du deinem Opfer wie einen Dolch in die Brust rammen kannst?« Er blickte sich demonstrativ um. »Ich sehe keinen zweiten. Wahrscheinlich musst du ziemlich lange danach suchen. Also hat sich das der Mörder genau überlegt, und er hat sich vorbereitet. Das war keine spontane Tat. Was aber könnte ein spitzer Stein mit einem Staudamm zu tun haben?«

»Das ist kein Stein. Sondern ein Zahn.«

Blanc und seine Kollegen drehten sich erstaunt um. Sie hatten nicht gehört, wie Doktor Fontaine Thezan von hinten an sie herangetreten war. Die Gerichtsmedizinerin schob ihre große Sonnenbrille ins Haar und küsste Blanc zur Begrüßung auf die Wangen, die anderen beiden bedachte sie mit einem angedeuteten Nicken. In einigen Schritten Abstand nahm Blanc einen jungen, bärtigen Mann wahr, der, halb neugierig, halb verlegen, im Schatten einer Pinie wartete. Er hatte diesen Mann noch nie gesehen, vermutete aber, dass er der neueste in der langen Reihe jüngerer Liebhaber der Medizinerin war. Die meisten Gendarmen wussten längst um ihre Vorlieben und tolerierten Fontaine Thezans jeweilige Begleiter, solange sie dem Tatort nicht zu nahe kamen.

Blanc räusperte sich. »Bei allem Respekt, Doktor, aber das Objekt sieht aus wie ein Stein.«

»Es ist ein Stein, gewissermaßen.« Fontaine Thezan deutete auf die Tatwaffe. »Sehen Sie die winzigen Widerhaken an der Innenseite? Es handelt sich um einen fossilierten Fangzahn.«

Blanc blickte auf den Zahn und versuchte, sich einen Kiefer voller solcher Zähne vorzustellen. Einen Kopf, der zu diesem Kiefer passte. Und einen Körper zu diesem Kopf. »Wir sind in der Provence, nicht in Jurassic Park«, murmelte er schließlich fassungslos.

Die Gerichtsmedizinerin bedachte ihn mit einem milde spöttischen Blick. »Irrtum. Wir sind in Jurassic Park.« Sie deutete auf den Berg. »Im Schatten der Sainte-Victoire werden seit Jahren Überreste von Dinosauriern ausgegraben, wussten Sie das nicht?«

Blanc und Marius schüttelten die Köpfe.

Fabienne hatte bereits ihr Handy gezückt und sah mit großen Augen auf das, was Google ihr anzeigte. »Sie wollen andeuten, dass jemand Dallest mit einem T-Rex-Hauer erdolcht hat?!«

»Soweit ich mich erinnern kann, werden Fossilien von Tyrannosauriern ausschließlich in Amerika gefunden«, erklärte Fontaine Thezan gelassen, während sie sich blaue Gummihandschuhe überstreifte. »Aber ich bin sicher, dass uns ein Paläontologe erklären kann, zu welcher Art dieser Zahn gehört. Es handelt sich auf jeden Fall um einen Raubsaurier.« Sie deutete noch einmal auf die Widerhaken. »Solche Zähne finden Sie heute noch im Gebiss von Carnivoren, zum Beispiel von Haien. Dieser Zahn wurde von der Natur geschaffen, um Körper zu zerfleischen. Wenn Sie mich nun bitte einen Augenblick lang ungestört arbeiten lassen?«

Sie traten zurück, damit die Gerichtsmedizinerin den Toten untersuchen konnte. Fontaine Thezan nutzte ihr Handy als Diktiergerät, um ihre Beobachtungen aufzuzeichnen. Sie sprach dabei allerdings so leise, dass Blanc sie nicht verstand. Gelegentlich machte sie auch ein Foto mit dem Apparat. Anschließend tastete sie das Opfer mit routinierten und raschen, aber behutsamen Bewegungen ab. Sie besah sich die starr gen Unendlichkeit gerichteten offenen Augen des Toten, untersuchte eingehend seine Hände. Schließlich packte sie den Zahn und zog mit erstaunlicher Kraft daran. Er kam mit einem leise schabenden Geräusch aus dem Brustkorb, vermutlich hatte das Fossil an einer Rippe gerieben. Marius sah fort, Fabienne sog die Luft scharf ein. Blanc betrachtete den vom Blut schwarzrot gefärbten Zahn, den Fontaine Thezan ihnen entgegenhielt.

»Er ist fünf bis sechs Zentimeter lang, schätze ich«, sagte sie, »ich werde ihn später im Labor ausmessen.«

»So lang wie die Klinge eines kleinen Springmessers«, bemerkte Blanc.

Die Medizinerin betrachtete das Objekt. »Lang genug jedenfalls. Die Haut ist unser Panzer«, fuhr sie fort. »Sie müssen fünfzig Newton Kraft aufwenden, um mit einem Objekt die Haut eines Menschen zu durchdringen – vorausgesetzt, dieses Objekt ist spitz, so wie zum Beispiel dieser Zahn. Hat man diese Barriere erst einmal überwunden, benötigt man danach viel weniger Kraft, um das Objekt tiefer in den Körper zu treiben. Im Brustraum reicht es aus, das Objekt nur drei Zentimeter tief einzudrücken, um tödliche Verletzungen hervorzurufen. Dieser Zahn hier steckte etwa vier Zentimeter tief im Oberkörper und hat vermutlich das Herz getroffen. Endgültig werden wir das selbstverständlich erst wissen, wenn der Tote bei mir auf dem Seziertisch liegt.«

»Ist Ihnen sonst noch etwas Besonderes aufgefallen?«

Sie deutete auf seinen Kopf. »Dallest trug ein Hörgerät in jedem Ohr. Beide Geräte sind eingeschaltet. Vermutlich hat er dank dieser Hilfsmittel besser gehört als der Durchschnitt der Männer seines Alters.«

»Keine Chance, dass sich jemand ungehört an ihn herangeschlichen hat?«

»Es wäre zumindest schwierig gewesen.«

»Hat er denn weitere Verletzungen?«, wollte Blanc wissen.

»Soweit ich das bei der ersten Beschau feststellen kann: nein.«

»Also hat sich Dallest nicht einmal gewehrt?«

Fontaine Thezan zögerte mit einer Antwort. »Seine Hände zeigen keine typischen Abwehrverletzungen wie Stiche oder Schnitte«, erklärte sie schließlich. »Andererseits ist diese Art Verletzung vor allem für Opfer typisch, die sich mit bloßen Händen gegen scharf geschliffene Klingen wehren. Aber ein Saurierzahn? Sehen Sie ihn sich an: Er ist spitz, und es gibt diese Widerhaken, aber die Seiten sind nicht messerscharf. Wenn Sie da mit der Hand zupacken, um eine Verletzung abzuwehren, werden Sie möglicherweise gar nicht verwundet. Ich fürchte, darüber existiert noch keine medizinische Veröffentlichung.« Sie lächelte schmal. »Ich denke, ich sollte darüber einen kleinen Fachaufsatz verfassen. Vorsätzliche Tötung mit Hilfe eines fossilen Zahns. Meine Kollegen werden überrascht sein.«

»Mörder lassen sich immer wieder etwas Neues einfallen«, brummte Blanc. Ein Saurierzahn … Er fragte sich beunruhigt, ob sie es mit einem Psychopathen zu tun hatten. Und was würden die Journalisten aus dieser Geschichte machen? Bald war Ostern, er hatte sich auf ruhige Feiertage mit Paulette gefreut, eh merde.

»Sie können den Körper ins Krankenhaus überführen lassen, mon Capitaine«, sagte Fontaine Thezan und gab zugleich dem unter dem Baum wartenden jungen Mann einen Wink. »Ich bereite die Obduktion vor. Morgen haben Sie meinen Bericht.« Sie hob den blutigen Zahn, den sie noch immer in der behandschuhten Rechten hielt. »Soll ich mich darum kümmern?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich könnte einen befreundeten Paläontologen nach der Dinosaurierart fragen.«

Als wäre das wichtig, wollte Blanc schon antworten, doch dann besann er sich eines Besseren. Wenn man die Art kannte, dann wusste man vielleicht auch, wo das Fossil gefunden worden sein könnte, und das wiederum war vielleicht eine Spur. Er schüttelte den Kopf und holte einen verschließbaren Plastikbeutel aus der Jackentasche. »Packen Sie das Beweisstück bitte hierhinein, Doktor«, bat er. »Vielleicht treibe ich einen Zeugen auf, der mir mehr dazu sagen kann.«

Fontaine Thezan legte den Zahn vorsichtig in den Beutel und verabschiedete sich.

»Apropos Zeugen«, meinte Marius. »Wollen wir uns jetzt mit der Ingenieurin unterhalten, die Dallest gefunden hat? Es geht ihr nicht besonders gut.«

Ein Beamter führte sie zu einem Felsbrocken im Schatten einer Pinie, der wie eine Bank geformt war. Eine arabischstämmige, schöne Frau erhob sich, als sie näher kamen. Ende zwanzig, schätzte Blanc, ihre langen Haare waren blondiert, sie trug drei goldene Armreife um das linke Handgelenk, auffällige Ringe an fast jedem Finger, einen hellen Seidenschal und eine blaue Bluse mit einem provenzalischen Muster aus kleinen gelben Zikaden, dazu Jeans und dieselbe Art Arbeitsschuhe wie Dallest. Aus ihrer linken Jeanstasche ragte ein Paar Arbeitshandschuhe hervor, wie Bauarbeiter sie trugen, aus der rechten Tasche leuchtete der metallische Kopf einer Taschenlampe.

»Ich bin Samia Zerfaoui«, stellte sie sich vor. Sie sah nicht aus, als hätte sie geweint, doch ihre Stimme zitterte.

»Sie haben Monsieur Dallest gefunden?«, vergewisserte sich Blanc.

»Ja. Wir haben vormittags am Staudamm gearbeitet. Roland wollte dann noch schnell etwas erledigen, während ich die letzten Messergebnisse eingetragen habe. Wir hatten uns auf dem Parkplatz neben dem Damm verabredet, weil wir mit dem Auto zum Mittagessen nach Aix-en-Provence hinunterfahren wollten, das sind ja bloß ein paar Minuten, machen wir fast jeden Tag. Ich habe auf Roland gewartet. Er ist immer sehr pünktlich, er ist halt Ingenieur.« Sie lächelte, bis ihr auffiel, dass sie im Präsens von ihm gesprochen hatte. Sie schluckte schwer. »Na, jedenfalls habe ich mich schon gewundert, dass er um zwölf Uhr nirgendwo zu sehen war. Also habe ich ihn angerufen, aber ich bin nach dem fünften oder sechsten Klingeln bloß bei seiner Mailbox gelandet.«

Blanc blickte seine Kollegen an. Niemand hatte ein Handy beim Toten gefunden. Er winkte einen jungen Gendarmen herbei. »Würden Sie meinem Kollegen bitte die Nummer von Dallest geben?«, bat er Samia Zerfaoui. Nachdem sie das getan hatte, schickte Blanc den Mann zu den Kriminaltechnikern zurück. »Vielleicht ist das Handy unter irgendeinen Busch gerutscht oder in eine Felsspalte, was weiß ich. Rufen Sie die Nummer an und hören Sie sich um. Hoffentlich finden Sie das Handy so. Wir müssen es auf jeden Fall sicherstellen.«

Er wandte sich wieder an die junge Frau. »Schließlich haben Sie sich auf die Suche nach Ihrem Kollegen gemacht. Wann etwa?«

»Direkt nachdem ich ihn nicht erreicht hatte. Das sieht Roland überhaupt nicht ähnlich, dass er nicht ans Handy geht. Ich habe befürchtet, dass er vielleicht irgendwo mit dem Fuß umgeknickt ist. Wissen Sie«, sie lächelte traurig, »Roland ist in seinem Job zwar ständig auf Baustellen, aber eigentlich ist er in seinem tiefsten Innern ein Mann geblieben, der sich drinnen am Schreibtisch wohler fühlt als draußen in der Natur. Er ist manchmal ein wenig linkisch.«

Fabienne blickte sie mitfühlend an. »Wie lange hat es gedauert, bis Sie Ihren Kollegen gefunden haben?«

Samia Zerfaoui schloss die Augen. »Sein Anblick war schrecklich«, flüsterte sie schließlich. Dann straffte sie sich. »Ich weiß es nicht genau. Zehn Minuten? Fünfzehn? Nicht sofort jedenfalls, aber ich musste andererseits auch nicht sehr lange suchen.«

»Seit wann sind Sie und Monsieur Dallest Kollegen?«, wollte Marius wissen. Er hatte eine väterliche Art, Zeugen zu befragen, und seine Sie-können-mir-alles-anvertrauen-Miene aufgesetzt.

»Wir sind seit einem Vierteljahr Partner«, antwortete Samia Zerfaoui.

»Partner?«

»Geschäftspartner«, setzte sie rasch hinzu, die Röte schoss ihr ins Gesicht. »Wir sind Bauingenieure. Roland hat einige Jahre in einem großen Büro gearbeitet und hatte es satt, noch länger Angestellter zu sein. Ich kam frisch von der Uni und, eh bien, ich wollte schon immer auf eigenen Beinen stehen. Wir haben uns zufällig getroffen und vor drei Monaten in Lyon unser eigenes Büro gegründet. Wir analysieren Gebäude auf ihre Sicherheit hin. Auf die Statik, den Zustand der Bausubstanz, solche Sachen. Wir untersuchen Fußgängerbrücken, Treppen, Unterführungen. Alle Arten öffentlicher Bauten, wir werden von Städten oder Départements dazu beauftragt.«

»Waren Sie das erste Mal am Lac de Bimont?«, fragte Marius.

»Ja. Die Analyse eines Staudamms kommt wirklich nicht jeden Tag vor. Das hier ist der wichtigste Auftrag, den wir bislang bekommen haben, gewissermaßen unser Durchbruch. Wenn wir diesen Job gut erledigen, dann werden wir in ganz Südfrankreich weitere Großaufträge erhalten, Autobahnbrücken, Bahnhofshallen, jedenfalls komplexe Herausforderungen.«

Und lukrative, dachte Blanc und betrachtete Samia Zerfaoui unauffällig. Seit er in der Provence lebte, hatte er schon mehrere Frauen wie sie getroffen, Ärztinnen, Anwältinnen, Managerinnen: Töchter von Immigranten aus dem Maghreb, klug und enorm ehrgeizig, die wussten, dass sie in Frankreich eine Chance hatten, die ihre Mütter, Großmütter, die überhaupt nie zuvor Frauen ihrer Familien gehabt hatten. Töchter, die lernten und studierten und arbeiteten, um frei zu sein. Und Samia Zerfaoui hatte sich nicht allein als Araberin unter Franzosen durchsetzen müssen, sondern auch als Frau in der Männerwelt der Ingenieure. Sie war Ende zwanzig, hatte schon ihr eigenes Büro, sie arbeitete an einem wichtigen Auftrag – doch jetzt lag der Mann, mit dem zusammen sie das alles aufgebaut hatte, tot im Staub. Ein Wunder, dass sie Haltung bewahrte.

Der junge Gendarm, den Blanc fortgeschickt hatte, kehrte zurück. »Wir haben immer wieder versucht, die Nummer anzurufen, mon Capitaine«, meldete er, »doch da klingelt kein Handy rund um den Toten. Wir haben auch noch einmal alles gründlich abgesucht und nichts gefunden.«

»Vielen Dank, Brigadier«, erwiderte Blanc und wandte sich dann wieder Samia Zerfaoui zu. »Wissen Sie, wo Monsieur Dallest gewöhnlich sein Handy bei sich trug? In der Hosentasche? Oder in einer Tasche seiner Jacke?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Roland trägt seine Sachen immer in einer Ledertasche mit sich herum. Ein schwarzes Modell, sieht aus wie eine Aktentasche, hat aber einen Gurt, mit dem man sie über der Schulter tragen kann. Er hat darin immer die Papiere bei sich, die für seinen jeweiligen Auftrag wichtig sind, vor allem also Baupläne. Dazu ein paar Notizhefte und Stifte, ein Maßband, seine Geldbörse, die Schlüssel, eigentlich alles. Und natürlich auch sein Handy.«

Blanc blickte den Brigadier fragend an. Der schüttelte den Kopf.

»Sind diese Unterlagen in der Tasche wertvoll, Madame Zerfaoui?«, fragte Marius.

Sie blickte ihn verständnislos an. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, sind das zum Beispiel vertrauliche Dokumente? Dokumente, die Unbefugte nicht sehen dürfen? Dokumente, für die jemand ein Verbrechen begehen würde, um sie in die Hand zu bekommen?«

»Mais non!« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Für den Job am Staudamm haben wir Kopien der alten Baupläne bekommen und andere technische Unterlagen. Die Originale liegen im Archiv von Aix, die kann jeder einsehen, nichts davon ist geheim.«

»Und der übrige Inhalt von Dallests Tasche? Ist der womöglich wertvoll?«, wollte Fabienne wissen. »Trug er zum Beispiel viel Geld mit sich herum?«

»Ich will nicht behaupten, dass ich weiß, was Roland jeden Tag alles in seine Tasche gepackt hat, aber er hatte auf jeden Fall nie viel Bargeld dabei. Und sein Handy war schon ziemlich alt und … also, das waren wirklich alles nur ganz gewöhnliche Dinge«, schloss sie traurig. Es war, als würde ihr gerade bei der Erinnerung an diese alltäglichen Sachen erst richtig bewusst werden, dass Dallest nun für immer fort war.

Blanc spürte, dass sie nun doch am Ende ihrer Kraft war. »Wo wohnen Sie, Madame?«

»In Lyon. Aber für die Zeit der Arbeiten am Staudamm hat sich jeder von uns beiden über Airbnb eine kleine Wohnung in Aix besorgt.«

»Ich werde einen Kollegen bitten, Sie dorthin zu fahren. Erholen Sie sich ein paar Stunden. Später holen wir Sie ab und protokollieren Ihre Aussagen noch einmal auf der Station.«

Sie nickte schwach. »Ich weiß gar nicht, was jetzt aus dem Büro werden soll«, sagte sie gedankenverloren.

»Eine letzte Frage habe ich noch«, meinte Blanc behutsam. »Sie haben vorhin gesagt, dass Sie und Ihr Kollege vormittags am Staudamm gearbeitet haben. Doch Monsieur Dallest hatte danach noch ›etwas zu erledigen‹. Was genau haben Sie damit gemeint?«

»Roland wollte zu seinem Bruder Christian. Der arbeitet ganz in der Nähe, eine Viertelstunde Fußmarsch durch die Hügel Richtung Sainte-Victoire. Roland wollte Hugues Vallauri dort treffen, der ist nämlich häufig bei seinem Bruder. Monsieur Vallauri ist Rentner, der schon ewig in der Region lebt und als ehrenamtlicher Naturschützer arbeitet. Außerdem ist er so etwas wie ein Heimatforscher. Der Staudamm von Bimont ist in den Vierzigerjahren gebaut worden. Roland meinte, es würde bei unseren Auftraggebern gut ankommen, wenn wir in unseren trockenen technischen Bericht ein paar Einzelheiten der Baugeschichte einfließen lassen. Er hat gehofft, dass ihm Vallauri diese Einzelheiten erzählen würde, von den Bauarbeitern damals lebt außer ihm sonst niemand mehr.«

Blanc notierte sich den Namen und blickte Samia Zerfaoui fragend an. »Und was hat Monsieur Vallauri ausgerechnet mit Roland Dallests Bruder zu tun? Ist Christian Dallest auch Bauingenieur? Oder Heimatforscher?«

Samia Zerfaoui lachte kurz auf, trotz allem. »Ein Heimatforscher der besonderen Art, könnte man sagen. Vielleicht haben Sie ihn sogar schon mal im Fernsehen gesehen. Christian arbeitet seit Jahren am Fuß der Sainte-Victoire. Er ist Professor für Paläontologie an der Universität Aix-Marseille. Er gräbt Fossilien aus.«

Blanc glaubte sich verhört zu haben. »Das ist … ein erstaunlicher Zufall«, murmelte er.

»Ja. Soweit ich weiß, ist das das erste Mal, dass die Brüder am gleichen Ort arbeiten. Christian gräbt schon ewig an der Sainte-Victoire. Aber da es hier weit und breit keine Brücken oder so etwas gibt, wäre Roland niemals in diese Gegend gekommen, wenn wir nicht den Staudamm-Job bekommen hätten. Ich habe …«, sie zögerte, schloss die Augen, seufzte schwer, »ich hoffe, Sie sehen mir das nach, aber ich habe einen Augenblick lang geglaubt, dass es Christian ist, den ich tot im Unterholz gefunden habe. Bitte halten Sie mich nicht für herzlos, aber ich kenne Roland halt sehr gut, Christian dagegen habe ich bloß zwei- oder dreimal gesehen, also steht mir Roland viel näher. Ich habe Roland gefunden und wusste sofort, dass er es ist. Und doch habe ich eine Sekunde lang gehofft, dass er es nicht ist. Absurd, nicht wahr? Es tut mir leid. Na, jedenfalls habe ich dann die Hörgeräte gesehen. Roland trug schon lange welche, Christian braucht so etwas nicht. Ansonsten kann ich die beiden kaum auseinanderhalten. Roland und Christian Dallest sind nämlich Zwillingsbrüder.«

Indiana Jones

Zwillingsbruder … Während Blanc mit Fabienne und Marius auf dem Wanderweg, den Samia Zerfaoui ihnen beschrieben hatte, durch den Wald ging, spukte das Wort in seinem Geist: Zwillingsbruder, Zwillingsbruder, Zwillingsbruder.

»Alles in Ordnung mit dir?« Er hörte Fabiennes Stimme wie aus weiter Ferne. Sie blickte ihn besorgt an.

Blanc nahm sich zusammen. »Ja. Ich habe nur … nachgedacht.«

Fabienne sah einen Moment lang so aus, als wollte sie darauf etwas erwidern, unterließ es dann aber.

»Ich will ja keine vorschnellen Schlüsse ziehen«, brummte Marius, »aber ich habe das dumme Gefühl, dass der Fall teuflisch kompliziert ist.«

»Komplizierte Sachen sind nichts für Männer. Zum Glück habt ihr mich«, erwiderte Fabienne.

»Gib es uns!«, rief Blanc, etwas zu bemüht locker. Er wollte das Gespräch in diesen Bahnen halten, dienstlichen Bahnen gewissermaßen, bloß jetzt nichts Privates.

Sie nickte nachdenklich. »Beide Zwillingsbrüder arbeiten unterhalb der Sainte-Victoire, nur ein paar Minuten Fußmarsch voneinander entfernt. Sie sehen sich so ähnlich, dass man sie kaum unterscheiden kann. Voilà, daraus ergeben sich zwei Aufgaben für uns. Aufgabe eins: Wir suchen selbstverständlich den Mörder von Roland Dallest. Aufgabe zwei: Möglicherweise hat der Mörder die Brüder verwechselt und wollte eigentlich Christian Dallest umbringen. Wir müssen also auch den potenziellen Mörder von Christian Dallest suchen, obwohl der Mann noch lebt. Klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach. Wir müssen in zwei Richtungen ermitteln.«

»Marius hat recht«, warnte sie Blanc. »Keine vorschnellen Schlüsse. Wir haben Christian Dallest noch nicht einmal gesehen.«

»Geht es dir wirklich gut?«, fragte Fabienne. »Du bist ein bisschen blass um die Nase.«

»Ich fühle mich ausgezeichnet«, log Blanc. Zwillingsbruder. Er zwang sich, nicht mehr an dieses verdammte Wort zu denken, und deutete nach vorne. »Wir sind da.«

Sie gelangten auf ein höher gelegenes Plateau, das einen oder zwei Kilometer von dem Platz entfernt war, an dem Roland Dallest den Tod gefunden hatte. Rötliches und hellgraues Geröll bedeckte den Boden, es wuchsen nur wenige Bäume, die Sträucher waren niedriger. Alles hier war trockener als an dem Ort, der doch nur einige Minuten Fußmarsch hinter ihnen lag. Hier zwitscherten keine Vögel; vielleicht klang deshalb das Summen der Bienen besonders laut, die wie winzige Derwische um den blühenden Rosmarin tanzten. Auch schien der Wind hier stärker zu sein, manchmal wirbelte er kleine Staubfahnen auf. Selbst die Sainte-Victoire wirkte aus dieser Perspektive anders, niedriger, langgestreckter, nicht länger eine Pyramide, dachte Blanc, sondern eine wild gezackte archaische Festungsmauer. Die Sonne stand nun tiefer im Westen und zeichnete Schattenbänder auf die Bergflanken, die dadurch dunkler und irgendwie schwerer wirkten. Die Sainte-Victoire war keine Verheißung mehr, keine Aufforderung zum Gipfelsturm, sondern eine Grenze: bis hierher und nicht weiter.

Sie sahen etwa zehn Frauen und Männer, die im Staub saßen oder knieten, manche hatten sich sogar lang hingestreckt. Sie bearbeiteten den Boden mit Spachteln, Kellen, Pinseln, kratzten, schabten, bliesen Staub fort, niemand achtete auf die Neuankömmlinge. Im Zentrum der Grabung arbeitete ein kniender Mann, der aussah, als wäre der Tote von unten auferstanden. Blanc hielt inne und beobachtete Christian Dallest: Seine Jeans war vielleicht etwas zerschlissener als die des Bruders, sein Hemd war blau statt grün kariert, er trug Trekking- statt Arbeitsschuhe, und die Haut auf seinen nackten Unterarmen war eine Spur tiefer sonnengebräunt. Doch derselbe Körper, dasselbe Gesicht, dieselben Haare, dieselbe Outdoorjacke und, vor allem, dieselbe auffällige Kopfbedeckung. Christian Dallest trug einen Indiana-Jones-Hut, er sah aus wie das Klischee eines abenteuersüchtigen Forschers, der in der Einöde uralten Schätzen nachjagte. Die Krempe warf einen Schatten, der seine Ohren verdeckte. Aus dieser Entfernung konnte Blanc unmöglich erkennen, ob er Hörgeräte trug oder nicht. Eine Verwechslung, dachte er spontan, es war wirklich wahnsinnig leicht, die beiden Brüder zu verwechseln.

Dallest sah auf, entdeckte Blanc und seine Kollegen und bedachte sie mit einem misstrauischen Blick, bevor er sich erhob und auf sie zukam. Er bewegte sich auf mühelos wirkende Art und Weise, wie ein gut trainierter Sportler. Die anderen Forscher bemerkten die Gendarmen nun auch, musterten sie kurz, wandten sich dann rasch wieder ihren Fossilien zu oder was auch immer sie aus der Erde kratzten. Sie überließen es Dallest, sich um die Fremden zu kümmern, er war eindeutig der Boss hier.

Blanc atmete tief durch. Nun folgte der beschissenste Teil seines Jobs. Er präsentierte seinen Gendarmerie-Ausweis, stellte sich und seine Kollegen vor und sagte dann, wobei er sich bemühte, sachlich und doch mitfühlend zu klingen: »Monsieur Dallest, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Bruder gestorben ist.«

Dallest sprach oder tat einige Sekunden lang gar nichts. Er starrte Blanc bloß an, es war nicht einmal klar, ob er überhaupt begriff, was ihm da gerade gesagt worden war. Blanc räusperte sich schließlich und teilte ihm so behutsam wie möglich das Notwendigste mit: Wann und wo Roland Dallest gestorben war und dass es sich bedauerlicherweise wohl um Mord handelte.

Endlich holte Christian Dallest tief Luft. »Sie sollten hier nicht mit Baseballcap herumlaufen, typischer Anfängerfehler.« Er deutete auf Blancs von unzähligen Sonnenstunden hellblau ausgebleichte Kappe der New York Yankees.

»Pardon?« Blanc blickte Fabienne und Marius Hilfe suchend an.

»Die Kappe schützt bloß Augen und Gesicht, aber nicht die Ohren und den Nacken. Sie werden sich hier noch einen Sonnenbrand holen.«

Fabienne formte mit den Lippen lautlos ein Wort: Schock.

»Professor Dallest …«, begann Marius.

Doch da hob der Paläontologe abwehrend die linke Hand und strich sich zugleich mit der rechten kurz über die Augen. »Bitte verzeihen Sie mir«, murmelte er. »Ich bin nicht ganz bei Sinnen.« Er sah sie wieder an. »Roland ist tot?«

Blanc erzählte die Geschichte geduldig ein zweites Mal.

»Das …« Christian Dallest stockte und setzte neu an. »Ich habe Roland noch heute Vormittag gesehen. Er wirkte kerngesund.«

»Das war er vermutlich auch«, erklärte Marius sanft. »Es ist ihm leider Gewalt angetan worden.«

Erst jetzt schien Dallest wirklich zu begreifen, was das hieß. »Aber warum …?«, stotterte er. Er war unter der Sonnenbräune blass geworden und schwankte. Fabienne trat einen Schritt näher, bereit, ihn jederzeit aufzufangen.

»Wer hat das getan?«, keuchte Dallest.

»Wir werden das herausfinden«, versicherte Blanc. Er fragte sich, ob es allein der Schock der Todesnachricht war, der den Professor so sehr erschütterte. Die meisten Angehörigen fragten in einer vergleichbaren Situation nach Einzelheiten am Tatort, selbst vermeintlich trivialen wie dem Wetter, oder ob das Opfer die Augen geschlossen hatte oder nicht. So als würde ihnen erst der Detailreichtum der Nacherzählung eines Verbrechens das Unbegreifliche bestätigen. Doch Dallest hatte sich nicht nach Einzelheiten erkundigt, sondern zuerst nach dem Motiv, dann nach dem Täter. Ob er womöglich schon daran dachte, dass der Mordanschlag eigentlich ihm gegolten hatte? Blanc musste ihn befragen, solange der Schock noch frisch war. Auch wenn das zynisch war – jemand, der sich noch nicht wieder ganz gefangen hatte, gab vielleicht Dinge preis, die er mit klarem Kopf eher verschweigen würde. Er suchte einen Punkt, an dem er möglichst unauffällig beginnen konnte, und deutete auf seine alte Baseballcap. »Sie haben übrigens recht: Ich spüre schon einen leichten Sonnenbrand im Nacken«, log er.

Christian Dallest starrte ihn einen Moment verwirrt an, dann erinnerte er sich wieder und nickte zerstreut. »Sie sind wohl nicht von hier. Genau wie mein Bruder.«

»Er trug denselben Hut wie Sie.«

Wieder blickte der Paläontologe erstaunt auf, dann brachte er ein trauriges Lächeln zustande. »Stimmt. Jetzt erinnere ich mich wieder.« Er nahm seinen Hut ab, drehte ihn in den Händen und zeigte Blanc eine Metallnadel, die im Stoff steckte. Blanc las den Schriftzug auf dem Anstecker: Indiana Jones. »Meinen ersten Hut haben mir Freunde geschenkt, als man mich zum Assistenten am Institut für Paläontologie der Universität Aix-Marseille ernannt hat, für die war das ein Scherz. Mon Dieu, war mir das peinlich, als ich damit das erste Mal auf einer Grabung aufgekreuzt bin! Aber es war eben ein Geschenk, und ich hatte es meinen Freunden versprochen …« Seine Stimme verlor sich, er starrte Richtung Sainte-Victoire, doch Blanc war sich nicht sicher, ob er den Berg überhaupt sah. »Eh bien, am Ende des Tages hatte ich jedenfalls keinen Sonnenbrand. Und ich hatte bemerkt, dass die eine oder andere Studentin diesen Hut recht …, na, sagen wir: kleidsam fand. Also habe ich ihn fortan doch jeden Tag getragen. Und als er schließlich ganz zerknautscht war, habe ich einen neuen gekauft und dann noch einen und noch einen. Inzwischen nehme ich immer drei oder vier Hüte mit, wenn ich eine neue Grabung beginne. Es muss der von Indiana Jones sein, was anderes kommt mir nicht auf den Kopf. Ich finde, jeder richtige Professor muss einen Spleen haben. Der Hut ist gewissermaßen mein Markenzeichen geworden. Einmal habe ich einen meiner Studenten gefragt, warum keiner von ihnen so einen praktischen Hut trägt. Er hat mir geantwortet, dass niemand mich so plump imitieren möchte.«

»Hat Ihr Bruder Sie imitiert?«, fragte Fabienne.

Christian Dallest schüttelte den Kopf. »Mein Bruder ist fünf Minuten jünger als ich. Vielleicht bin ich deshalb der Typ geworden, der immer rauswill, und er ist der, der lieber zu Hause bleibt. Wir machen darüber jede Menge Witze. Machten«, korrigierte er sich und atmete durch. »Na, jedenfalls ist Roland heute Morgen zu mir auf die Grabung gekommen und hatte nichts auf dem Kopf. Typisch für ihn. Der arbeitet jetzt seit drei Wochen unten am Staudamm, aber er denkt immer noch, dass die Sonne da nicht stärker brennt als in seinem Büro. ›Ist doch erst April‹, hat er gesagt, als ich ihn darauf angesprochen habe. Da habe ich ihm einen Hut aus meinem Vorrat geschenkt, damit er keinen Sonnenstich bekommt.«

Das Markenzeichen des Professors, dachte Blanc. In welchem Alter wurde man Assistent am Institut für Paläontologie, wann wurde man dort Professor? Angenommen, Dallest war mit Mitte zwanzig Assistent geworden, dann trug er diese Art Hut jetzt seit ungefähr zwanzig Jahren. Lange genug, dass jeder Kollege an der Universität davon wusste. Lange genug auch, dass überhaupt jedem, der mehr oder weniger regelmäßig die Gegend der Sainte-Victoire besuchte, dieser Hut und sein Träger aufgefallen sein musste. Denn wer sonst würde in der Landschaft Cézannes herumlaufen wie der junge Harrison Ford? Roland Dallest hingegen war zum ersten Mal überhaupt in dieser Gegend und das erst seit drei Wochen und wohl meistens am, auf oder sogar im Staudamm, jedenfalls nicht unbedingt da, wo ihn viele Leute zu Gesicht bekamen. Und er hatte nie zuvor so einen Hut getragen. Jeder, der Roland Dallest mit dem Hut an diesem Vormittag auf seiner letzten Wanderung durch das Buschwerk gesehen hatte, hatte ihn deshalb wohl mit Christian Dallest verwechseln müssen.

Blanc zog den Plastikbeutel mit dem Zahn aus seiner Jackentasche. »Das ist die Tatwaffe. Wissen Sie, was das ist?«

Jetzt musste Fabienne den Professor doch stützen, sonst wäre er zu Boden gesunken.

Christian Dallest stammelte etwas, das Blanc nicht verstand. Er beugte sich näher zum Professor, doch er verstand ihn immer noch nicht, vielmehr: Er verstand die Worte, begriff aber deren Sinn nicht: »Arcovenator escotae.«

»Ist das ein Dinosaurier?«, riet er.

Dallest nickte schwach. »Ein Raubsaurier aus der späten Kreidezeit«, sagte er. »Stellen Sie sich einen Tyrannosaurus Rex vor, nur etwas kleiner. Wobei ›kleiner‹ relativ ist. Arcovenator war wohl etwa sieben Meter lang und wog eine Tonne. Dem wollen Sie nicht beim Waldspaziergang begegnen. Die liefen hier einst überall herum.«

Blanc sah sich verwundert um. Er hatte vor hundert Jahren mit seinen Kindern im Kino Jurassic Park gesehen und noch früher, wie jeder richtige Junge, in seiner Dinosaurierphase Bücher über die urzeitlichen Reptilien verschlungen. Bilder von üppigen Dschungeln und Brontosauriern in tropischen Sümpfen stiegen vor seinem geistigen Auge auf. Nicht gerade das, was sich ihm darbot, wenn er auf die Montagne Sainte-Victoire blickte.

Der Professor hatte sich wieder in der Gewalt und erriet, was ihm durch den Kopf ging. »Der Berg ist vor fünfzehn Millionen Jahren entstanden, geologisch gesprochen war das gewissermaßen vorgestern«, erklärte er und klang dabei erschöpft. »Da waren die Dinosaurier schon seit etwa fünfzig Millionen Jahren ausgestorben. Als sie hier noch lebten, war Südfrankreich ein gigantisches Flussdelta, feucht, sumpfig, riesige Bäume, Magnolien und Farne überall. Dinosaurier, Riesenkrokodile, Farnwedel, Baumblätter, alles sank in den Schlamm, und manche Überreste wurden dann über die Äonen zu Stein. Das Land ist wirklich ein Traum für Paläontologen. An der Sainte-Victoire sowie bei Velaux und im Tal des Flusses Arc, der hier ganz in der Nähe verläuft, und noch weiter im Norden Richtung Alpilles und Luberon – es gibt Dutzende Fundstellen. 1869 hat Philippe Matheron bei Arbeiten am Tunnel de la Nerthe zufällig den ersten Saurier entdeckt: Rhabdodon, ein Pflanzenfresser, gewissermaßen das Rind der Kreidezeit. Ich vermute, sie haben hier in großen Herden gegrast. Und die Raubsaurier waren die Wölfe ihrer Zeit, sie haben die Pflanzenfresser gejagt. ›Arcovenator‹ bedeutet ›Jäger aus dem Arc‹ und ›escotae‹, eh bien«, er zuckte mit den Achseln, »das ist …«

»Escota!«, rief Marius verblüfft. »Die Autobahngesellschaft!«

Christian Dallest nickte. »Ich habe damals bei Pourrières gegraben, das ist im Département Var. Escota hat dort die A8 gebaut, und wir durften das Terrain untersuchen, bevor die Bagger anrückten. Das Unternehmen hat die Grabungen finanziert. Ich habe die Fossilien entdeckt und nach unserem Sponsor benannt. Das erleichtert gewisse Verhandlungen, wenn mal wieder eine Straße gebaut wird und man gerne vorher das Erdreich durchsuchen möchte. Wir finden übrigens seither auf vielen Grabungen in Südfrankreich Reste von Arcovenator.«

»Wir haben dieses Fossil leider nicht auf einer Grabung gefunden«, meinte Blanc, »sondern im Körper Ihres Bruders.« Er erklärte ihm so schonend wie möglich, wie genau Roland Dallest zu Tode gekommen war.

Der Bruder des Opfers starrte ihn lange an. »Das ist ein Albtraum«, flüsterte er, »ein absurder, grotesker, schrecklicher Albtraum.« Doch man sah ihm an, dass er selbst nicht glaubte, dass er gerade träumte, sondern sehr genau wusste, wie grausam real das alles war. »Wer tut so etwas Bestialisches?«

»Um das herauszufinden, müssen wir Sie leider in dieser schweren Stunde befragen«, erwiderte Marius einfühlsam.

»Ich habe Roland diesen Zahn geschenkt, ich erkenne ihn daran wieder.« Der Professor deutete auf eine winzige Einkerbung des Fossils, die Blanc gar nicht aufgefallen war. »Das war vor drei Monaten, als er sein Büro eröffnet hat. Es sollte ein Glücksbringer sein.« Er hatte jetzt Tränen in den Augen, holte umständlich ein Papiertaschentuch aus einer der vielen Taschen seiner Outdoorjacke und wischte sich damit über das Gesicht. »Verzeihung«, murmelte er.

»Sie haben ihm diesen Zahn geschenkt?«, vergewisserte sich Fabienne. »Trug Ihr Bruder ihn seither immer bei sich?«

»Soweit ich weiß, ja. An einem Lederband um den Hals, wie ein Amulett. Eigentlich ist der Zahn schon beinahe zu groß für so eine Art Schmuckstück, und schwer ist er auch. Aber mein Bruder hat darauf bestanden. Das war vielleicht sein neuer Spleen.« Der Professor seufzte. »Roland ist durch und durch Ingenieur, aber damit sieht er aus wie ein Schamane. Sah er aus«, korrigierte er sich.

»Wer wusste von diesem Fossil?«, fragte Marius.

Christian Dallest zuckte mit den Achseln. »Ich. Meine Frau Marjorie. Seine Partnerin Madame Zerfaoui. Und vermutlich jeder, der Roland begegnet ist. Der Zahn fiel ja schon auf.«

Blanc hatte zum Handy gegriffen und rief einen der Kriminaltechniker an. »Haben Sie beim Toten ein Lederband gefunden?«

»Ja, mon Capitaine. Ein zerrissenes Band, circa dreißig Zentimeter lang. Es lag unter dem Nacken und der oberen Rückenpartie des Toten. Wir haben es entdeckt, als die Leichenträger den Körper angehoben haben.«

Blanc bedankte sich und beendete das Gespräch. Roland Dallest hatte die bizarre Waffe, mit der man ihn ermordet hatte, für jedermann sichtbar um den eigenen Hals getragen. Aber war nicht selbst das ein Indiz dafür, dass sich der Mörder geirrt hatte? Müsste man nicht glauben, dass von den Zwillingsbrüdern Dallest der Paläontologe derjenige war, der einen Saurierzahn bei sich trug, nicht der Ingenieur?

Blanc deutete mit einer Geste in die Landschaft. »Bitte zeigen Sie mir, was Sie hier machen, Professor«, bat er.

Das Grabungsfeld war ein steiniges Plateau mitten in der Garrigue, vielleicht so groß wie ein Fußballfeld, vermutete Blanc, obwohl es schwer war, die Dimensionen zu schätzen. Auf dem gelblich-grauen Fels wuchs kein Baum, kein Busch, nicht einmal ein Grashalm. Er fragte sich, ob dieser Flecken Erde schon immer blank unter der Sonne gelegen hatte oder ob die Forscher vor ihrer Arbeit alle Pflanzen herausgerissen hatten. Der Boden war uneben, manche Stellen glänzten wie poliert, anderswo blies jede Windböe kleine gelbe Staubfahnen auf. Mitten im Terrain gab es eine etwa einen Meter tiefe und zehn Meter weite Senke. Dort sah man einen jungen bärtigen Mann, der Stoffgewebe über etwas legte, das Blanc für einen Felsbrocken gehalten hätte. Dann strich er feuchten Gips darüber.

»Durch Eingipsen sichern wir das Objekt für den Transport ins Labor«, erklärte Christian Dallest.

»Was für ein Objekt?«, fragte Marius erstaunt.

»Den Caput femoris eines Titanosauriers.«

»Caput femoris eines Titanosauriers, ah ja«, brummte Marius. »Darauf hätte ich auch selbst kommen können.«

Einige Meter weiter goss eine junge Frau Wasser aus einer Plastikflasche über einen Stein. Manche Stellen verfärbten sich daraufhin dunkler als andere – und wie durch ein Wunder erkannte Blanc plötzlich einen im Stein eingeschlossenen Schädel, zumindest ein Fragment davon: eine Augenhöhle, einen Teil der Stirn, ein Bruchstück vom Oberkiefer.

»Ein Rhabdodon«, sagte die Frau, als sie seinen Blick bemerkte. »Wir haben auf dieser Kampagne ein praktisch vollständig erhaltenes Skelett geborgen, was sehr selten ist. Meistens finden wir nur ein paar Knochen.« Sie erhob sich, klopfte sich den Staub aus der Kleidung und reichte ihm die Hand. »Marjorie Dallest.«

Blanc stellte sich und die Kollegen vor. Er schätzte sie auf Anfang dreißig, sie war kräftig, trug Hose und Jacke in Tarnfarben, wie Jäger oder Soldaten, dazu einen weißen Seidenschal, sie hatte lockige, schwarze Haare, lebhafte braune Augen. Sie wirkte, als hätte sie noch nie im Leben Make-up aufgetragen, dafür war ihre Haut mindestens so gebräunt wie die des Professors, dessen Nachnamen sie trug.

»Sie sind Monsieur Dallests Gattin?«, vergewisserte er sich höflich.

»Wir sind schon seit acht Jahren verheiratet«, sagte Christian Dallest, bevor sie antworten konnte, in seiner Stimme schwang Stolz mit.

»Was führt Sie zu uns?«, fragte sie und sah ihn aufmerksam, vielleicht sogar misstrauisch an. Wie jemand, der sich vor dem Besuch der Gendarmerie in Acht nimmt, fuhr es Blanc unwillkürlich durch den Kopf. Er berichtete ein drittes Mal von dem Mord an Roland Dallest.

»Wie schrecklich«, sagte sie, als er geendet hatte, aber das klang eher wie eine Floskel. So, als dächte sie, dass man irgendeine Äußerung der Erschütterung von ihr erwartete.

»Kannten Sie Roland Dallest gut?«, fragte Fabienne.

Marjorie Dallest legte ihre Hand kurz auf die ihres Mannes, nahm sie wieder fort und zuckte mit den Achseln. »Er ist mein Schwager. War mein Schwager. Eh bien. Christian und ich haben ihn hin und wieder in Lyon besucht. Man sieht sich auf Familienfeiern. Wobei, Roland ist nicht so der Familienmensch, keine Frau, keine Kinder, er ist eher ein Eigenbrötler. War ein Eigenbrötler. Nett, aber, na ja, ein Ingenieur halt und …« Sie suchte nach Worten.

»Ein Zahlenmensch?«, soufflierte Marius.

»So ungefähr. Oder nicht ganz. Sagen wir eher: Ich werde nervös, wenn ich länger als zehn Minuten in einem Büro hocken muss. Roland wird nervös, wenn er länger als zehn Minuten sein Büro verlassen muss. Wir standen uns nicht wirklich nahe, dazu waren wir zu verschieden. Roland ist ganz anders als Christian.« Sie bedachte ihren Mann mit einem raschen, schwer zu deutenden Blick.

»Haben Sie die Brüder je einmal verwechselt?«, wollte Blanc wissen.

Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Nie! Sie sind einfach … eh bien, ich kann das nicht beschreiben. Ich habe einfach immer gespürt, wer wer ist, verstehen Sie?«

Blanc nickte verständnisvoll. »Außerdem hat es sicherlich auch geholfen, dass Roland Dallest Hörgeräte trug, sein Bruder aber nicht.«

»Hörgeräte?« Marjorie Dallest sah ihn verblüfft an. »Mais oui, das hatte ich vergessen. Selbstverständlich. Aber ich habe Christian und Roland auch ohne diese Knöpfe im Ohr auseinandergehalten.«

Der Bärtige winkte. »Marjorie? Ich bin so weit.« Er deutete auf den Gips, der inzwischen ausgehärtet war.

»Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte sie zu Blanc. »Ich muss meinem Kollegen helfen, das Fossil zu bergen.«

»Selbstverständlich.« Blanc sah den beiden zu, wie sie den eingegipsten Knochen vorsichtig anhoben und zu einem Zelt trugen, das am Rand der Ebene aufgeschlagen war. Marjorie Dallest bewegte sich behutsam, aber sicher. Eine Frau, die es gewohnt war, vorsichtig zu sein. Sie wirkte konzentriert und so in ihre Aufgabe vertieft, als hätte sie die Nachricht vom Mord schon wieder vergessen. Und auf eine schwer zu bestimmende Weise wirkte sie sogar erleichtert, dachte Blanc. Erleichtert über den Tod ihres Schwagers? Oder erleichtert darüber, dass die Gendarmen nicht wegen einer ganz anderen Sache bei der Grabung aufgekreuzt waren? Jedenfalls hatte sie nicht einen Moment daran gedacht, ihren Mann nach der Todesnachricht seines Bruders in den Arm zu nehmen, zu trösten, ihm auch nur ein einziges aufmunterndes Wort zu schenken.

Christian Dallest räusperte sich. »Marjorie und Roland haben sich wirklich selten gesehen«, sagte er entschuldigend. »Außerdem kennt sich meine Frau mit Dinosauriern besser aus als mit Menschen. Manchmal denke ich, dass in ihren Augen die Fossilien lebendiger sind als wir.« Er lachte kurz und freudlos auf. »Mit einem Titanosaurus sind wir sogar ins Fernsehen gekommen. Ein Pflanzenfresser, riesiger Rumpf, langer Hals, tonnenförmige Beine, genau so, wie Karikaturisten ihn zeichnen, wenn sie einen Dinosaurier darstellen sollen. Mit dem Reporter hat Marjorie zunächst kaum drei Worte gewechselt. Aber als er sie bat, den Saurier zu beschreiben, da hat sie losgelegt, als wäre sie ein Talkshow-Profi. Unser Exemplar war mindestens zwölf Meter lang, aber sie hat es so anschaulich geschildert, dass jeder Zuschauer am Ende der Sendung gedacht haben muss, wir hätten den größten Dino aller Zeiten gefunden. Von diesem neuen Exemplar«, er deutete auf das Zelt, in dem Marjorie und der Mann verschwunden waren, »haben wir bislang leider noch nicht so viel geborgen, dass sich wieder ein Fernsehteam zu uns bemühen würde. Eigentlich erst einen Knochen.«

»Caput femoris«, brummte Marius.

»Das obere Ende des Oberschenkels«, erklärte Dallest, »der runde Kopf, der ins Hüftgelenk passt. Haben Sie auch, bloß viel kleiner.«

Blanc hatte das Gefühl, dass er so ausführlich über alte Knochen redete, um sie abzulenken. Vielleicht von der kaltherzigen Reaktion seiner Frau, vielleicht von etwas anderem. »Professor«, sagte er, »wie gut kennen Sie Madame Zerfaoui?«

Er hob die Schultern. »Ich habe sie das erste Mal vor drei Monaten getroffen, als sie und Roland ihre Büroräume in Lyon eingeweiht haben. Es gab eine kleine Feier. Seit die beiden unten am Staudamm zu tun haben, sind wir uns auch ein-, zweimal über den Weg gelaufen. Sympathische Frau.«

»Hat Ihr Bruder mal mit Ihnen über Madame Zerfaoui gesprochen?«

Dallest schüttelte den Kopf. »Roland hat nie über Frauen gesprochen. Zumindest nicht mit mir. Wie Marjorie schon sagte: Er war ein Eigenbrötler.«

»Vielleicht standen sich die beiden trotzdem auch privat näher?«

Christian Dallest lachte überrascht auf. »Roland? Nein.« Er räusperte sich, weil er wohl selbst merkte, dass dies ziemlich respektlos, sogar verächtlich geklungen hatte. »Ich glaube nicht, dass die beiden eine Affäre hatten. Aber ausschließen kann ich das nicht. Roland und ich haben nicht über solche Dinge gesprochen.«

»Mit ›solchen Dingen‹ meinen Sie Frauen?«, vergewisserte sich Fabienne mit bissiger Stimme.

»Genau«, erklärte der Professor ohne jeden Anflug von schlechtem Gewissen. »Auch wenn das für Sie vielleicht seltsam klingen mag: Roland und ich haben nie über unser Privatleben gesprochen. Bei ihm lag das wahrscheinlich daran, dass es kein Privatleben gab.«

»Und woran lag es bei Ihnen?«, fragte Fabienne.

»An meinem Taktgefühl«, erklärte Christian Dallest völlig ironiefrei. »Ich bin, eh bien, sagen wir, mir gelingen hin und wieder einige Dinge im Leben. Meine Ehe, meine Professur. Es wäre taktlos, solche Dinge gegenüber jemandem herauszustellen, dem solche Erfolge nicht vergönnt sind.«

»Ihr Bruder war immerhin Ingenieur und hatte sein eigenes Büro gegründet. Das würde ich nicht gerade ›erfolglos‹ nennen«, sagte Marius erstaunt.

»Wenn Sie meinen.«

Blanc fand die Arroganz des Professors ebenfalls schwer erträglich, doch wollte er vermeiden, dass sich die beiden Kollegen davon zu sehr provozieren ließen. Er beschloss, das Thema zu wechseln. »Kennen Sie«, er sah in seinen Notizblock nach dem Namen, »Hugues Vallauri? Madame Zerfaoui sagte, dass Ihr Bruder ihn auf Ihrer Grabung treffen wollte.«

»Ich wünschte, er hätte Hugues getroffen, vielleicht würde er dann noch leben.« Dallest atmete tief durch. »Hugues ist so alt, man könnte denken, der hat hier noch die Dinosaurier durch die Sümpfe streifen sehen. Er hat immerhin schon auf dem Bau des Staudamms von Bimont gearbeitet, damals hat sich noch niemand etwas dabei gedacht, Vierzehnjährige bei solchen Projekten einzustellen, heute würde das Jugendamt die Polizei rufen. Na, jedenfalls ist Hugues kein Wissenschaftler. Aber er ist schon seit mehr als zwanzig Jahren Witwer, die Kinder sind längst aus dem Haus, er ist Rentner – seither kümmert er sich als ehrenamtlicher Naturschützer um die Gegend hier. Er verdient nicht einen Sous dabei, aber er arbeitet gewissermaßen offiziell für den nationalen Wanderverband. Er kümmert sich im Auftrag der Fédération Française de la Randonnée Pédestre darum, dass die Wanderwege richtig markiert sind, achtet darauf, dass niemand mitten in der trockenen Garrigue ein Grillfeuer entzündet, er stoppt die Jäger, die außerhalb der Saison auf Kaninchen und Vögel schießen. Hugues kennt hier jeden Strauch und jeden Stein, von den Vororten von Aix bis hinauf zum Gipfel der Sainte-Victoire. Jedes Mal, wenn wir hier graben, reden wir mit ihm. Hugues gibt uns Tipps, wo wir suchen könnten, zeigt uns die besten Wege zu unzugänglichen Stellen, und über die Jahre hat er selbst einen gewissen Blick für Fossilien bekommen. Letztes Jahr hat er ein ganzes Nest gefunden.«

»Ein Dinosauriernest?«, unterbrach ihn Fabienne.

»Denken Sie nicht an Vögel, obwohl Dinosauriereier schon eine gewisse Ähnlichkeit mit Straußeneiern aufweisen. Denken Sie eher an Krokodile oder Alligatoren. Dinosaurier haben ihre Eier in den Schlamm am Ufer der Sümpfe gelegt, vermutlich, weil es im Sumpf so gestunken hat, dass mögliche Nesträuber die Eier nicht riechen konnten. Sie haben die Eier nicht vergraben, sondern in einer Art Mulde deponiert. Manche Gelege sind trotzdem verschüttet worden, und dann tauchen sie siebzig, achtzig Millionen Jahre später als Fossilien wieder auf. Wir haben in den letzten zwanzig Jahren rund um die Sainte-Victoire mehr als dreihundert Eier von mindestens fünf verschiedenen Saurierarten gefunden. Jedenfalls ist Hugues gerne auf unseren Grabungen, hat dabei sein Auge trainiert und findet nun ebenfalls hin und wieder Dinosauriereier, die ein Laie bloß für Steine halten würde. Er ist häufig bei uns. Und da der alte Herr kein Handy besitzt, hat man eine ganz gute Chance, ihn bei uns anzutreffen, wenn man mit ihm reden will. Nur leider nicht heute.«

»Ihr Bruder ist also bloß auf Verdacht zu Ihnen gekommen?«, vergewisserte sich Blanc.

»Genau. Er kam vom Staudamm hoch, weil er hoffte, er könnte Hugues hier treffen. Aber der ist schon am frühen Morgen kurz auf der Grabung gewesen, danach wollte er die Markierungen eines Wanderweges erneuern oder wegmachen, ich erinnere mich nicht mehr. Er war auf jeden Fall nicht mehr da. Roland wollte ihm nachgehen, um ihn im Wald zu suchen, und da er keinen Hut hatte, habe ich ihm einen von meinen gegeben, bevor er sich in die Natur aufgemacht hat. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Ich habe nur gesagt: ›Man sieht sich‹. Ich habe ihm nicht mal nachgeblickt, sondern mich umgedreht und wieder auf den Boden gekniet, um einen Knochen freizukratzen …« Seine Stimme verlor sich.

»Was hätte Ihr Bruder mit Monsieur Vallauri besprechen wollen?«, fragte Marius.

Der Professor räusperte sich. »Das weiß ich nicht genau. Roland hat gesagt, dass Hugues der letzte noch lebende Bauarbeiter des Staudamms von Bimont ist. Er wollte ihn nach einigen Details fragen, für seinen Bericht. Ich habe aber keine Ahnung, was genau er damit meinte. Roland ist … Roland war Ingenieur und ziemlich stolz darauf. Also, ich glaube nicht, dass er sich mit einem Mann, der seinerzeit ein vierzehnjähriger Hilfsarbeiter auf dem Bau gewesen ist, über technische Einzelheiten austauschen wollte. Roland hätte Hugues, was das anging, vermutlich gar nicht ernst genommen. Ich glaube eher, dass es um so etwas wie persönliche Anekdoten ging, Erinnerungen, vielleicht ein paar alte Fotos, damit Roland damit seinen doch ziemlich trockenen Bericht verschönern könnte. Ich gehe ins Fernsehen und halte Fossilien in die Kamera. Roland kopiert einen Haufen alter Schwarz-Weiß-Fotos in sein Gutachten. Am Ende geht es immer ums Geld. Wir sichern uns die Gunst der Sponsoren für unser nächstes Projekt.«

»Ist Ihnen an diesem Vormittag noch irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen, Professor Dallest?«, fragte Blanc. »Haben Sie vielleicht jemanden gesehen, der sonst nicht in dieser Gegend anzutreffen ist?«

Dallest lachte hart. »Sie meinen Menschen, die hier nicht hingehören? Das kann man so sagen.« Er nahm den Hut ab und kratzte sich am Kopf. Blanc hätte schwören können, dass seine grauen Haare auf den Millimeter genauso kurz geschnitten waren wie die seines ermordeten Bruders. Hatten sich die beiden beim selben Friseur verabredet? Oder machte man das einfach automatisch, ganz ohne nachzudenken, wenn man Zwilling war, dass man selbst trivialste Dinge gewissermaßen doppelt und auf gleiche Weise erledigte?

»Alphonse war heute Morgen hier, Alphonse Péchenard. Ein Kollege.«

»Ein Paläontologe wie Sie?«, fragte Marius.

»Ungefähr, ja.« Dallest räusperte sich. »Er ist nicht Professor, sondern arbeitet am Musée des Dinosaures in Espéraza, das ist am Pyrenäenrand bei Carcassonne. Da gibt es eine große Fundstelle. Aber Péchenard gräbt seit zwei Jahren hin und wieder auch in Velaux. Das ist nah am Tal des Flusses Arc, einige Kilometer von hier entfernt. Das war vor vielen Millionen Jahren derselbe Sumpf, in dem die Dinosaurier lebten.«

Marjorie Dallest kam aus dem Zelt zurück und gesellte sich zu ihnen. Sie musste vom Zelt aus alles mitgehört haben, denn sie mischte sich ungefragt ins Gespräch ein. »Alphonse hat in Velaux einen Titanosaurier ausgegraben, das größte Exemplar, das man bislang in Europa freigelegt hat. Den ›Giganten der Garrigue‹ hat ein Journalist ihn genannt.«

Ihr Mann schnaubte verächtlich. »Das hat nichts mit Wissenschaft zu tun.«

»Das Skelett war zu achtzig Prozent erhalten, das ist enorm viel. Wir haben bei unserem Titanosaurier nur vierzig Prozent gefunden«, erwiderte Marjorie Dallest mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.

»War Monsieur Péchenard damit auch im Fernsehen?«, fragte Blanc.

Dallest lachte hart auf und schüttelte den Kopf. »Alphonse hat das Charisma einer Tablette Doliprane.«

Seine Frau sah aus, als wollte sie auch darauf etwas erwidern, schwieg dann jedoch. Sieh an, dachte Blanc. Dallest bringt es mit seinem Titanosaurier bis in die Abendnachrichten. Péchenard findet einen größeren und besser erhaltenen Saurier, aber für den interessiert sich niemand, und Professor ist er auch nicht geworden.

»Was wollte Ihr Kollege denn heute Morgen hier?«, sagte er. »Velaux ist doch, wie viel, dreißig, vierzig Kilometer entfernt?«

»Alphonse wollte angeben. Er hat behauptet, er sei zufällig in Aix gewesen, und da habe er einen Abstecher zu uns gemacht. Aber eigentlich war das ein Vorwand, um uns zu sagen, dass er unten in Velaux einen einmaligen Fund gemacht haben will.«

»Eine neue Dinosaurierart?«, riet Fabienne.

»Zum Beispiel. Oder den größten Saurier seiner Art. Irgendetwas Spektakuläres«, erklärte Marjorie Dallest. »Paläontologie ist nicht nur Wissenschaft, sondern auch Wettkampf: Jedes Team versucht, den schönsten, größten, besterhaltenen Dinosaurier zu finden. Damit macht man sich unsterblich.«

»Und Monsieur Péchenard hat heute Morgen behauptet, dass er so ein Exemplar in Velaux gefunden hat?«, hakte Blanc nach.

»Das hat er behauptet«, bestätigte Dallest und wirkte nicht sehr froh darüber. »Alphonse hat gesagt, dass sie Knochen gefunden haben, die wirklich einmalig sind. Und dass sie noch Wochen brauchen werden, um sie freizulegen, so viele sind es. Ich habe ihn beglückwünscht und ihm gesagt, dass ich demnächst mal bei ihm vorbeischauen werde, um mir die Fossilien anzusehen.«

»Und dann?«, fragte Marius, nachdem der Professor nicht weitersprach.

»Nichts. Alphonse hatte wohl mehr Enthusiasmus erwartet. Aber Sie sehen ja, dass wir hier auch nicht untätig sind. Ich konnte unmöglich alles stehen und liegen lassen, um mit ihm nach Velaux zu eilen, wie er sich das wohl vorgestellt hatte. Na, jedenfalls ist er unverrichteter Dinge davongestapft.«

»Wohin?«, fragte Blanc.

»Richtung Staudamm. Neben dem Lac de Bimont gibt es den einzigen großen Parkplatz weit und breit.«

»War Monsieur Péchenard allein unterwegs?«

»Ja.«

Blanc warf Marius und Fabienne einen raschen Blick zu. Ein anderer Paläontologe, ein Rivale, eine Enttäuschung, vielleicht gar Demütigung. Und dann begegnet dieser Péchenard womöglich irgendwo unter den Eichen und Pinien einem Mann, den er für Christian Dallest halten musste …

»Wissen Sie, wo wir Monsieur Péchenard erreichen können?«

Dallest holte sein Handy heraus, öffnete die Navigations-App und zeigte ihnen eine Stelle in der Natur, etliche Kilometer neben dem Städtchen Velaux. »Das Gelände gehört zwar noch zum Gebiet der Gemeinde, aber dort wohnt niemand. Ich schicke Ihnen die Koordinaten, wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben.«

Blanc nickte und hatte dreißig Sekunden später die Daten in seinem Apparat. Er würde Péchenard so bald wie möglich einen Besuch abstatten. »War Péchenard der einzige unangekündigte Besucher an diesem Morgen?«

»Nein, leider nicht. Meistens graben wir hier ungestört, niemand verirrt sich bis zu uns hoch. Aber manche Tage sind verhext, da denkt man, man ist auf dem Gare Saint-Charles in Marseille. Martini war zum Beispiel auch da.« Als der Professor merkte, dass Blanc nicht auf den Namen reagierte, hob er entschuldigend die Hand. »Pardon, Sie sind nicht vom Fach. Das passiert mir immer, wenn ich länger auf einer Grabung bin: Ich rede dann mit allen Leuten so, als würden sie ihr Leben den Dinosauriern widmen. Ange-Toussaint Martini, der Name sagt Ihnen selbstverständlich nichts. Aber wir Paläontologen verehren ihn – oder fürchten ihn, je nachdem, aber es gibt niemanden, der nicht zumindest von ihm gehört hat. Martini ist der bedeutendste Fossilienhändler der Welt. Nicht, dass es sehr viele Händler gäbe, die einem ein T-Rex-Skelett verkaufen könnten.«

»Aber Monsieur Martini könnte das?«, hakte Blanc nach.

»Martini hat im Laufe seiner langen Karriere schon eine ganze Herde verkauft.«

»Ist das nicht illegal?«, fragte Fabienne verwundert. »Wenn ich einen antiken Marmorkopf oder eine Goldmünze aus dem Boden grabe, dann darf ich die doch auch nicht einfach so verhökern, oder?«

»Bei Dinosauriern ist das anders«, erklärte Dallest. »Solange es nicht einmalige Exemplare sind, darf man die schon an Museen oder Sammler verkaufen. Wenn ich morgen das Skelett eines weiteren Rhabdodon finde, dürfte ich es übermorgen verkaufen, so viele Rhabdoden hat man bereits in der Provence entdeckt.«

»Wir haben Martini schon etliche Fundstücke verkauft«, ergänzte Marjorie Dallest, was ihrem Mann seinem Gesichtsausdruck nach nicht sonderlich zu gefallen schien. Sie ignorierte das und deutete auf den Kopf, den ihre junge Kollegin mit Hilfe des Wassers im Stein sichtbar gemacht hatte. »Der wird auch unter dem Hammer landen, da bin ich mir sicher. Ein Skelett finanziert gewissermaßen das nächste: Mit dem Verkauf von weniger bedeutsamen Fossilien besorgen wir uns das Geld für die folgende Grabungskampagne. Sie wissen ja selbst, wie es um die öffentlichen Finanzen bestellt ist. Mit den paar Euro vom Staat allein könnten wir das hier nicht organisieren.« Sie machte eine weit ausholende Geste, die die freigelegte Fläche Erde, das Zelt, irgendwie sogar die ganze Gegend um die Sainte-Victoire umfasste.

Als würde sie das alles leiten, nicht ihr Mann, dachte Blanc. »Warum war Monsieur Martini heute Morgen bei Ihnen? Wollte er Ihnen ein paar Knochen abkaufen?«

»So, wie Sie das formulieren, klingt das irgendwie, als wären wir Leichenschänder«, brummte Dallest. »So weit sind wir noch nicht. Das Schädelfragment, von dem Marjorie gesprochen hat, kann er gerne haben, aber ich fürchte, das interessiert ihn kaum. Zu klein, zu unspektakulär. Martini war da, um uns gewissermaßen über die Schulter zu sehen. Er wollte wissen, an welchen Funden wir sonst noch arbeiten. Und ob wir ihm demnächst etwas wirklich Gutes anbieten können.«

»Können Sie?«, fragte Marius freundlich.

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir sind noch nicht so weit«, wiederholte Dallest ausweichend.