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In einer Welt, in der Renaissance auf nordische Mythologie trifft, erwarten Sie neun außergewöhnliche Charaktere, deren Schicksale sich auf unerwartete Weise verweben: Der weise, aber stille Druide Zerax findet im Trolldom-Wald ein junges Paar - tot und auf unerklärliche Weise mit einem Baum verschmolzen. Eine düstere Macht scheint im Norden zu erwachen, und er muss Jarl Hakon um Unterstützung bitten. Der brillante, aber maßlos überhebliche Graf Cyrill von Echmond sieht seine Chance gekommen, als Prinz Heeron erkrankt. Mit Charme, Intelligenz und der einen oder anderen Intrige, sowie der Hilfe seines Freundes, dem streitbaren Heiler Jason Lamar, plant er, den Prinzen zu heilen - und sein Haus zurück in den Hochadel zu führen. Tief unter der Erde leben die letzten neunundneunzig Stoner - ein Volk, das Erz abbaut und sich am Dampf besonderer Beeren berauscht. Als eine dunkle Vision sie zwingt, eine Heimat im ewigen Eis zu suchen, machen sich ausgerechnet der eigenwillige Vendark und die organisierte Ellis auf die gefährliche Reise. Die kluge Kaufmannstochter Helin wird von ihrem Vater auf die "Thalias Zorn" geschickt. Was zunächst nach Zwang aussieht, entwickelt sich zu einer Reise in die eigene Freiheit. Zwischen brutalen Schiffsritualen und neuen Bekanntschaften muss sie nicht nur ihre Position an Bord finden, sondern auch sich selbst. Der junge Xavier ter Généraux, Sohn eines Baders, träumt davon, ein großer Medicus zu werden. Nachdem ihm die "Wunderheilung" eines traumatisierten Hünen gelingt, zieht es ihn und seinen Patienten aufs Meer - in der Hoffnung, beim berühmten Medicus Cederick Allyn in die Lehre gehen zu können. Ein mysteriöser Junge erwacht ohne Gedächtnis im Bauch eines Schiffes. Begleitet von einem ungewöhnlichen Gefährten - einem Drachenjungen - schlägt er sich durch Cursa. Doch wer ist er wirklich? Und warum ist er auf einem lasethischen Schiff erwacht? Die neugierige Elfe Rhialona ist ihrer arrangierten Hochzeit entflohen, als sie auf den fahrenden Geschichtenerzähler Hans Bernwardt trifft. Ihre gemeinsame Reise führt sie zu vergessenen Spuren ihres Volkes - und zu Gefühlen, die für Elfen höchst ungewöhnlich sind. "Stimmen der Macht" ist Fantasy für Erwachsene, die Wert auf komplexe Charaktere und überraschende Wendungen legen. Erleben Sie eine Geschichte voller bissigem Humor, prickelnder Erotik und magischer Momente. Tauchen Sie ein in eine Welt, in der nicht alles so ist, wie es scheint, und in der selbst die Helden manchmal herrlich scheitern dürfen. Der erste Band der Elvinta-Saga führt Sie in eine faszinierende Welt voller Details und Geheimnisse. Treffen Sie Charaktere, die so lebendig sind, dass Sie sie am liebsten auf ein Bier einladen würden - auch wenn das bei manchen keine gute Idee wäre. Entdecken Sie eine Geschichte, die klassische Fantasy-Elemente neu interpretiert und Sie bis zur letzten Seite in ihren Bann zieht.
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Seitenzahl: 899
Veröffentlichungsjahr: 2024
© 2024 Christian Kolatzki
Coverdesign von: Sebastian Bertele
Satz & Layout von: Sebastian Bertele
Karten von: Luise Kindervater
Verlagslabel: Gang-Gang Cockatoo
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, postalisch zu erreichen unter:
tredition GmbH, Abteilung “Impressumservice”, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland und per E-Mail unter [email protected].
Hardcover ISBN 978-3-384-41905-7
Taschenbuch ISBN 978-3-384-41904-0
eBook ISBN 978-3-384-41906-4
Für Ryan, Robert, Roswitha.
Und für Sebastian.
»… und der Wind erzählte mir von Wärme, Vertrauen und Glück – von Liebe gar. Aber der Wind lügt.«
— Lord Seymour von Wintersteen —
Haben Mylady noch einen Wunsch, bevor ich mich in die Einsamkeit meiner Kammer zurückziehe?«
Der alte Diener hatte diesen Blick aufgesetzt. Müde Augen, von Tränensäcken getragen, in denen doch noch immer der Schalk vergangener Tage funkelte. Für einen kurzen Moment glaubte die Gräfin Mitleid in diesen Augen ablesen zu können. Das Sonnenlicht, dass den hellen Salon durchflutete, glättete in diesem Augenblick seine Falten, wie Spachtelmasse die Löcher in einer Wand, und ließ ihn jünger erscheinen, als die zweiundsiebzig Sommer, die er schon gesehen hatte. Sie nahm einen Schluck Rotwein aus dem Kristallkelch und verzog sofort das Gesicht. Das Zeug schmeckte wie Essig.
»Ja«, murmelte sie. »Finde den Mann, der uns diesen Fusel verkauft hat und sorge für dessen qualvolles Dahinscheiden.« Sie atmete tief durch. »Alternativ wäre es auch eine Option, dass Du mir eine Flasche mit cursischem Rotem bringst und anschließend tot umfällst.«
Nun schmunzelte Joel, während es der Gräfin gelang ihren übertrieben mürrischen Gesichtsausdruck beizubehalten. Es gehörte zu ihren Kernkompetenzen, die Dienerschaft aufzumuntern und Joel war ein dankbarer Abnehmer ihrer mehr oder weniger subtilen Späße.
Der Diener nickte und verließ den Hellen Salon, der seinem Namen heute Ehre erwies. Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg über den Balkon in das geräumige Zimmer, als die Gräfin mit der rechten Hand über die Platte des gediegenen Schreibtischs strich. Die leichten Wellen der Maserung hatten fast etwas sinnliches und versprachen zeitlose Schönheit. Sie atmete bewußt durch die Nase aus. Dann trat sie hinaus auf den Balkon.
Raphaela Echmond ließ ihren Blick über die weiträumige Gartenanlage schweifen. Die Apfelbäume und die Fächerblumen zeigten bereits erste Blüten. Schon bald würden Gelbtau, Kirschbäume und die unzähligen weiteren Pflanzen folgen. Ein Blick nach links zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Das weißfilzige Greiskraut trieb ebenfalls erste Blüten und so erhob sich das Gold in mitten des Silbers, wie die Waage im Wappen des Hauses Echmond. Der Garten war ihr ganzer Stolz, auch weil sie, trotz fortgeschrittenen Alters, noch immer die meisten Arbeiten persönlich erledigte. Theo war ein lieber Kerl und brauchte das Einkommen, um all die hungrigen Mäuler zu stopfen, die er gezeugt hatte, aber als Gärtner war er fast untauglich.
Wenn man will, dass etwas wahrlich gelingt, muss man sich in der Regel eben selbst kümmern. Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Kelch. Der Wein war bitter auf ihrer Zunge. Dieses Zeug war wirklich ungenießbar; sie würde sich nie wieder auf de Vries Weingeschmack verlassen. Es wurde Zeit, dass der alte Diener die neue Flasche brachte.
Joel. War da tatsächlich Mitleid in seinem Blick? Kennt er mich wirklich so gut?
Der alte Diener war längst mehr als ein einfacher Angestellter geworden. Er war ein Freund und vielleicht der letzte wertvolle Mensch, der ihr geblieben war. Joel konnte in ihrem Gesicht lesen und hinter ihre Fassade blicken. Doch er war noch viel mehr als das. Während sie sonst nur auf würdelose Menschen zu treffen schien, die nichts als ihren eigenen Vorteil suchten, war Joel ein Mann dem sie leidlich vertrauen konnte. Natürlich war absolutes, grenzenloses Vertrauen eine Dummheit; besonders wenn der Gegenüber kein Blutsverwandter war.
»Euer Garten ist wirklich prächtig, Mylady.« Sie stieß einen kurzen, hellen Schrei aus. Joel war so leise hinter sie getreten, dass sie ihn nicht hatte kommen hören. Beinahe wäre ihr der Weinkelch, aus echtem Bergkristall, aus der Hand geglitten. Sie atmete tief durch, bevor sie sich langsam umdrehte und in die blau-grauen Augen des Dieners blickte.
»Ich hoffe, Du hast Dir vor diesem Mordversuch genau überlegt, in wessen Dienste Du nach meinem plötzlichen Ableben treten möchtest.« Joel stand da, steif wie gewohnt, mit einem runden Tablett in der rechten, auf welchem sich die gewünschte Flasche und der persönliche Weinkelch des alten Dieners, mit der kleinen, charakteristischen Stelle am Rand, wo etwas Glas abgebrochen war.
»Es tut mir leid. Niemals lag es in meiner Absicht Mylady zu erschrecken. Ich hoffe inständig, Mylady verbleiben ausreichend Lebenszeit, um mir vergeben zu können.«
Sie schmunzelte und beobachtete, wie er ihr von dem cursischen Roten einschenkte. »Bei Appendis, das hoffe ich ebenso – in Deinem, wie auch in meinem Interesse.« Mit einer einladenden Handbewegung bot sie ihm an, auf einem der beiden alten Stühle Platz zu nehmen. Sie waren aus weißem, thulischem Knochenholz.
Thula. Persönlich war sie nie dort gewesen, aber diese Stühle sangen ein Lied von Weite, Kälte und Kraft – einer Bodenhaftung, mit der sie sich identifizieren konnte. In Eihnardt war ein solches Mobiliar eher selten anzutreffen. Sie waren ein Geschenk ihres einzigen Sohnes. Geschmack hat der Rabauke; zumindest was Möbel angeht.
Joel nickte, bevor er Platz nahm und sich selbst etwas Rotwein einschenkte. »Danke, Mylady, für diesen edlen Tropfen, den Ausblick und den Genuss den ich empfinde, wenn ich in Eurer Gesellschaft sein darf.«
Sie deutete ein Nicken an und erhob ihr Glas.
»Trinken wir auf das Wohl Eihnardts und darauf, dass die Götter Theelem dem Wankelmütigen ein wenig Energie einhauchen mögen.«
Ein helles Klirren ertönte, als die beiden Kelche aneinander stießen und Joel sich räusperte: »Es tut mir leid, Mylady mitteilen zu müssen, dass es noch immer keine Nachricht von Eurem Sohn gibt.«
Sie senkte das Haupt und sah in ihren Weinkelch. »Das habe ich auch nicht anders erwartet, Joel. Cyrill ist äußerst beschäftigt. Seine Geschäfte scheinen gut zu laufen. Es ist eine Ewigkeit her, dass er mich um finanzielle Unterstützung ersucht hat. Zudem konnte er bereits einige Schriftwerke in der Bibliotheka veröffentlichen. Er ist so ein kluger und kreativer Junge.«
»… und wohl auch der überheblichste im gesamten Königreich«, ergänzte der Diener, was die Lady Echmond mit einem weiteren Schmunzeln quittierte.
»Bescheidenheit und Demut gehören wahrlich nicht zu seinen Tugenden«, räumte sie ein. »Aber so muss man wohl auftreten, wenn man es in Almarena zu etwas bringen will. Die Hauptstadt ist gnadenlos und bestraft jene, die sich hinten anstellen.«
»Vermutlich ist es noch immer sein höchstes Ansinnen, das Haus Echmond zurück in den Hochadel zu führen.«
Sie bestätigte mit einem dezenten Nicken. »Ja, ich hoffe, er zerbricht nicht daran. Wir haben uns damals für den falschen König entschieden und müssen nun mit den Konsequenzen leben. Eine Rückkehr in den Hochadel ist dem Haus Echmond verwehrt. Für immer.« Sie senkte den Blick und fischte eine kleine Fliege aus ihrem Weinkelch, setzte sie auf dem Tisch ab und nahm einen weiteren Schluck.
Joel murmelte etwas, das nach Zustimmung klang, bevor er seinerseits von dem edlen Roten kostete. »… und doch kann es Cyrill weit bringen. Zumindest scheint er die richtigen Kontakte zu pflegen. Er trifft Heiler, Adelige und sogar Senatoren, wie man mir zutrug.«
Wieder nickte Raphaela Echmond und ihre blauen Augen musterten den alten Diener. »Du bist gut informiert. Für einen Diener gar beeindruckend gut. Ich selbst bin nicht minder erstaunt darüber, dass der hohe Senator Simon O’Connor persönlich eine freundschaftliche Beziehung zu meinem Sohn unterhält. Möge dessen Weisheit sich auf Cyrill übertragen. Doch der Heiler wurde mir als fanatischer Irrer beschrieben und meine Sorge ist daher eher gewachsen. Nicht jeder Gebildete erteilt auch weisen Rat.«
Der Diener schwenkte seinen Weinkelch und schien diesen nachdenklich zu betrachten. »Nicht selten werden auch Gebildete, gar Weise auch als Irre oder Fanatiker diffamiert, weil sie eine Wahrheit sagen, welche die Herrschenden nicht hören wollen. Natürlich vermag ich nicht zu sagen, zu welcher Sorte Heiler der Medicus Jason Lamar zu zählen ist, aber ich schätze Euren ehrenwerten Sohn in derart ein, dass er solches zu beurteilen vermag.«
Ein Lächeln umspielte die Lippen der Lady Echmond, an deren Gesicht die Zeichen der Zeit nicht vorüber gegangen waren. Sie war froh, auch im fortgeschrittenen Alter noch über eine stabile Gesundheit zu verfügen, auch wenn sich im Verlauf der Jahre Sorgenfalten auf ihrer Stirn gebildet hatten und ihr schulterlanges Haar größtenteils ergraut war. Dafür war ihr Lächeln noch immer das eines kleinen Mädchens, das, wie schon in Jugendtagen, den großen Worten und Bevormundungen der Heiler misstraute.
Die Heilkundigen logen mehr mit ihren verdrehten Worten und ihrem gefährlichen Halbwissen, als Joel, wenn er versuchte zu erklären, warum der Wein leer war. Cyprien hatte das gewusst und er hatte recht behalten. Der Medicus Gerolf, der in den Diensten der ehrenwerten Familie de Vries stand, hatte kaum die Leiden ihres geliebten Gatten mildern können. Ihm wahrhaft zu helfen, war er nie im Stande gewesen. Und doch musste sie innerlich einräumen, dass sie den Heilkundigen Lamar nicht beurteilen konnte. Weder als Medicus, noch als Mensch.
»Ich weiß, dass ich Cyrill mehr Vertrauen entgegenbringen sollte und doch ist das Herz einer Mutter immer voller Sorge. Er ist doch mein einziges Kind. Mein kleiner Rabauke.«
Joel schmunzelte. »Euer kleiner Rabauke sieht bald seinen vierzigsten Sommer, Mylady. Vielleicht hat er Almarena auch als seine neue Heimat erwählt, weil er eine Herausforderung braucht und die Gefahr sucht, vor der Ihr ihn zu schützen trachtet. Er ist wahrlich intelligent, weitsichtig, ausgezeichnet im Umgang mit dem Rapier und er trägt seine Arroganz wie einen Schutzmantel, den niemand zu durchdringen vermag.«
Raphaela Echmond schnaubte etwas, das nach Zustimmung klingen sollte. Joel schien Cyrill noch besser zu kennen, als sie erwartet hatte. Macht und Einfluss des Hauses Echmond mochten tief gefallen sein, aber sie wollte sich nicht beschweren. Noch durfte sie dieses herrliche Anwesen ihr Zuhause nennen. Der Garten vermochte ihre Augen immer wieder aufs Neue zu erfreuen, auch wenn die verschwommenen Flecken in ihrem Blickfeld die Farben immer mehr überdeckten. Noch immer waren fast siebzig Angestellte in ihren Diensten verblieben. Über dreißig Feldarbeiter, genau fünfzehn Männer und Frauen in Küche, Garten, Handwerk und Dienerschaft und sogar zwanzig Soldaten, die der Grafschaft Echmond die Treue hielten, obwohl ihr Sold nicht gerade üppig ausfiel. Die Einnahmen deckten so eben die Ausgaben, was aber kein Problem für die alternde Gräfin darstellte. Das Gold, dass sie überall in Haus und Grundstück versteckt hatte, gab ihr Sicherheit und sollte Cyrill ihr Ableben versüßen, wenn ihr Tag einmal kommen würde.
Haus Echmond gehörte nicht mehr zu den vierzig Familien des Hochadels des Königreichs Eihnardt. Nun gut. Und doch ließen sich die Nachteile mit den Worten des Verlustes von Einfluss, Reputation und Macht recht einfach zusammenfassen. Allesamt Dinge nach denen die Gräfin von Echmond nicht mehr strebte. Sie begnügte sich nur allzu gerne mit Ruhe, Abgeschiedenheit, der Dokumentation ihrer Gedanken, einem grünenden Garten und finanzieller Sicherheit. Das Spielbrett der Macht hatte sie bereits vor geraumer Zeit verlassen. Wenn es bei Cyrill nur auch so wäre …
Sie atmete tief durch. Joel erhob sich und stellte seinen leeren Kelch auf das Tablett. Passend zum Aufsetzen des Glases vernahm Rafaela klackende Schritte von draußen.
Was ist denn jetzt schon wieder?
Neris Nepomuk, der Hauptmann ihrer Garde, trat durch den Salon zu ihnen auf den Balkon. »Mylady mögen mir die Störung verzeihen, aber es erscheint mir bedeutend Euch mitteilen zu dürfen, dass eine Besucherin angekommen ist und ..ähem.. erwartet von Euch empfangen zu werden.
»Nun. Da ich keinerlei Besuch erwarte, ist diese Erwartung zumindest interessant. Sicher seid Ihr auch geneigt mir den Namen der Besucherin zu offenbaren«, stellte die Gräfin Echmond trocken fest.
»Selbstverständlich.« Das Gesicht des Hauptmanns zeigte die typische, leichte Rotfärbung; wie immer, wenn sie ihn neckte. »Es handelt sich um die Lady de Winter.«
Sie konnte kaum verhindern, dass ihr Mund sich öffnete und sich ihre Gesichtszüge verfinsterten. Was, um Mammons Willen, wollte die Lady de Winter von ihr? Raphaela Echmond versuchte sich zu erinnern, wann sie die Frau aus dem Hochadel zuletzt gesehen hatte. Es musste bei dem großen Turnier in Almarena gewesen sein. Das war sicher fünf oder gar sechs Sommer her. Davor bei Theelems Krönung, welche noch deutlich länger zurück lag. Sie erinnerte sich an eine edel gekleidete Dame, mit düsterer Aura und eindrucksvollen, dunkelgrünen Augen. Die Frau war äußerst vermögend, berechnend und auf eine gefährliche Art empathisch.
Raphaela stand auf, prüfte mit beiden Händen den Sitz ihrer Haare und nickte. »Nur herein mit der jungen Lady! Joel wird Euch begleiten.«
»Na großartig«, murmelte der alte Diener, bevor er mit dem Hauptmann das Zimmer verlies.
Die Gräfin nahm einen Schluck Rotwein und fragte sich erneut, was die Lady de Winter motiviert haben könnte, ihr hier draußen auf dem Land einen Besuch abzustatten. Ihr berühmter Minztee war es sicher nicht. Ein Blick zurück in den Salon reichte, um festzustellen, dass alles ordentlich und sauber war. Sie schüttelte ihren Kopf — wie schaffte es Joel nur immer wieder die leeren Gläser verschwinden zu lassen, ohne, dass sie es bemerkte? Der Gedanke, dass die Gräfin de Winter sich das Maul über ihr Anwesen zerreissen könnte, war wohl eher unbegründet oder zumindest übertrieben, aber nichtsdestotrotz drängend.
Wieder Schritte – diesmal die vertrauten von Joel, die von seinem leicht schlurfenden Gang zeugten und das dynamische Klacken fremder Stiefel. Die Stiefel von Cara de Winter.
Ein süßlicher Geruch drang in Raphaelas Nase. Einnehmend – aufdringlich.
Joel räusperte sich, als wäre sein Eintreten für die Gräfin Echmond eine Überraschung und Raphaela spielte mit. Nur langsam nahm sie ihren Blick von ihrem Garten und wendete sich dem Diener zu. »Ja, bitte?«
»Mylady. Ich kündige Euch die hohe Gräfin Cara Allegra de Winter, aus dem ehrenwerten Hause de Winter an.«
Raphaela Echmond lächelte einladend. »Mylady! Welch gelungene Überraschung!« Sie stellte den verbliebenen Weinkelch auf dem kleinen Tisch ab und trat zwei Schritte in den Salon.
Erst jetzt ging die Lady de Winter aus dem Schatten des alten Dieners. Sie war noch auffälliger gekleidet, als Raphaela es in Erinnerung hatte. Vielleicht hatte die Mode in Almarena auch jede Zurückhaltung verloren und kleidete Henker und Adel in gleicher Gewandung. Die hohen, schwarzen Stiefel reichten ihr bis über die Knie und liefen in ungewöhnlichen Krempeln aus. Die ebenfalls in schwarz gehaltene eng anliegende Hose hätte auch einem reitenden Boten gut gestanden und in ihren rot-schwarzen Umhang war mehrfach das Wappen des Hauses de Winter eingenäht. Das dunkle Augenpaar auf rotem Grund wirkte auf Raphaela wahrhaft bedrohlich. Augen, die sie lesen; durchdringen wollten, um ihr bis tief in die Seele zu schauen. Augen, die trachteten hinter ihre Geheimnisse zu blicken; Augen, die sie aussaugten. Das tiefe Grün der echten Augen der Cara de Winter sang im Prinzip das gleiche Lied. Wir sehen Dich! Wir durchschauen Dich! Die Gräfin aus dem Hochadel schien kaum zu altern. Obwohl sie etwas älter als Cyrill sein musste, wirkte sie fast jugendlich frisch; was auch an den Sommersprossen um ihre Nase herum liegen mochte, den roten Lippen, wie auch an dem schwarzen Haar, welches sich seidig auf ihrem Umhang verlor. Und doch war dieser Stock das wohl auffälligste Accessoire: Ein schwarzer Gehstock mit einem auffälligen Xolifen, der als Knauf diente. Diese Dame war wahrhaft exaltiert, wenn man das Wort schräg vermeiden wollte.
Die Gewandung ist das Eine – Geschmacksache, dachte Raphaela, aber dieser süßliche Gestank grenzt an Körperverletzung. Eine Kombination aus Myrrhe, fremdländischen Rosen und verfaulten Früchten drang in ihre Nase. Was immer Cara de Winter für dieses Parfum bezahlt hatte, es war zu viel gewesen.
»Liebe Freundin!« Es gelang Cara tatsächlich sie zu umarmen und sie dennoch kaum zu berühren. »Wie schön es hier draußen bei Euch auf dem Lande doch ist.« Sie trat hinaus auf den Balkon und Raphaela folgte ihr, nachdem sie Joel bedeutet hatte, eine weitere Flasche Wein zu bringen. Inständig hoffte sie, dass der alte Diener den richtigen Wein bringen würde. Den Sonnentropfenaus dem Hause san Marco. Cursa war berühmt für seine Reben und die Familie san Marco hütete eine lange Tradition. Der Sonnentropfenwar der zweitbeste in Raphaelas Weinkeller und das Zweitbeste war für die Lady de Winter gerade gut genug.
Cara de Winter atmete tief durch. »Ich hatte fast vergessen, wie herrlich es auf dem Land sein kann. Ich liebe diese reine Luft. In Almarena ist es irgendwie immer stickig und die Gerüche verstehen es, die Nase einer Lady zu beleidigen.« Sie lachte kurz auf und strahlte die Lady Echmond an. »Seit zwei Sommern bin ich fast nur noch bei Hofe, müsst ihr wissen, und das ist wahrlich nicht immer angenehm. Almarena ist laut und häßlich, aber vor allem ist es der Gestank, an den ich mich nicht gewöhnen mag.« Sie machte eine kurze Pause, während Raphaela verständig nickte. »Euer Garten ist ein Traum! Er ist so … perfekt. Nennt mir niemals den Namen Eures Gärtners! Ich könnte wohl kaum der Versuchung widerstehen, den Mann abzuwerben.« Sie lächelte, legte ihren Stock auf den kleinen Tisch und setzte sich ungebeten, während sie sich die roten Lederhandschuhe auszog. »Ihr habt es wahrlich gut getroffen, werte Freundin. Haus Sonnenturm ist ein Ort der Ruhe und des Friedens. Zudem hat es Euer Minztee zu einschlägiger Berühmtheit gebracht.«
Raphaela strich ihren Rock glatt, bevor sie sich ebenfalls setzte. »Mylady sind zu gütig. Darf ich Euch eine Tasse davon anbieten? Er ist köstlich und versteht es Körper, wie Geist zu beleben.«
Erneut lachte die Lady de Winter laut auf. »Liebe Freundin, nennt mich doch bitte Cara. Ich bestehe darauf! Wenn Ihr mich einladen wollt, würde ich allerdings das Getränk bevorzugen, das Ihr auch selbst gewählt habt.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den Weinkelch, der vor Raphaela auf dem Tisch stand. »Ich werde schon morgen nach Laseth reisen, wo ich auf derlei Köstlichkeiten wohl verzichten muss.«
Wie bestellt, trat Joel auf den Balkon und zeigte den edlen Damen das Etikett der Weinflasche. »Sonnentropfen – san Marco – Cursa«. Die Lady de Winter nickte und der Diener schenkte ein. Zunächst dem hohen Gast und dann der Dame des Hauses. Dann verbeugte er sich und verschwand wieder, ohne ein Wort zu verlieren.
»Ihr reist nach Laseth, Cara, wie spannend. Ihr führt ein beneidenswert aufregendes Leben«, stellte Raphaela Echmond fest.
»Ach. Zuviel der Anerkennung, liebe Raphaela. Aber etwas spannend ist es schon. Ich war bereits in der letzten Frühzeit dort. Im Sommer ist es in Laseth unerträglich heiß, müsst Ihr wissen. Ich habe Freunde dort, die mir das Land und die Traditionen näher gebracht haben und nun habe ich mich entschlossen, mehr über Ezzonin Erfahrung bringen zu wollen.«
»Ezzon, den Gott der Wüstenmenschen?«
»Ganz recht. Der Glaube spielt eine größere Rolle in Laseth und er scheint irgendwie tiefer, wertvoller, zu sein, als bei uns. Ich meine – ich bitte Euch! Seht Euch unsere Götter an! Appendis. Justenia. Mammon. Rein zufällig orientieren sie sich an den bedeutendsten Wünschen und Ängsten der Menschen. Aber gibt Mammon den Reichtum denen, die es sich verdient haben? Hat Appendis das Leben von Lord Evergarden geschützt, dem letzten wahren Lord, dem wir noch immer unsere Form der Anrede verdanken? Oder ist Justenia gerecht, wenn sie einem albernden Senat immer mehr Rechte zuspricht, während diese dem Adel sukzessive entzogen werden? Dem Adel, der dieses Reich erst zu dem gemacht hat, was es heute ist.« Cara seufzte, um anschließend an ihrem Weinkelch zu nippen.
Auch die Lady Echmond nahm einen winzigen Schluck. »Fragen, die mich überfordern, fürchte ich. Ich war nie ein sonderlich gläubiger Mensch. Vielleicht gibt es die Götter. Vielleicht haben die Menschen sie aber auch gesucht, um Trost zu finden oder die Verantwortung für ihr Leben mit höheren Wesen zu teilen.«
Cara de Winter klatschte mehrfach, sanft in die Hände. »Bravo, Raphaela! In Euch steckt eine Philosophin. Nur wenige Menschen stellen sich diese Fragen, wie mir scheint. Dabei ist es so wichtig, die richtigen Fragen zu stellen. Findet Ihr nicht?«
Raphaela biss sich kurz auf die Unterlippe. Sie hatte bereits mehr über sich und ihre Gedanken preisgegeben, als vorgesehen. Die Lady de Winter war äußerst geschickt und dufte keinen Moment unterschätzt werden. Ihr Einfluss reichte weit und auch wenn Raphaela für sich persönlich keine Konsequenzen aus dieser kleinen Konversation fürchtete, musste sie doch auch an Cyrill denken, dem Macht, Einfluss und Ansehen wichtig waren. Äußerst wichtig. »Ich habe viele Sommer gesehen, werte Cara, und ich habe mir viele Fragen gestellt. Manche werden wohl für immer unbeantwortet bleiben. Doch sagt; wie geht es Euch? Welche Fragen sind es, die Euch beschäftigen?«
»Ich? Ich erfülle lediglich meine ureigenen Aufgaben.« Die Lady de Winter bemühte sich um ein unschuldiges Lächeln. Es misslang. »… und die sehe ich darin, die Position des Adels zu stärken. Seit die Familie Geesthacht über Eihnhardt herrscht, ist viel passiert. So viele Veränderungen. Gute, wie … eher bedauerliche. Es ist wundervoll, dass Theelem die internen Zwistigkeiten weitgehend beilegen konnte. Auch der anhaltende Friede mit den anderen Kontinenten ist ein wesentlicher Verdienst des Königshauses. Reger Handel mit Cursa und Laseth lässt unser Königreich schöner erblühen denn je zuvor und sogar die Barbaren haben unsere Küstenstädte seit geraumer Zeit nicht mehr überfallen. Vielleicht sollte mich meine nächste Reise nach Thula führen?« Sie lachte und während der unschuldige Blick noch aufgesetzt gewirkt hatte, mutete dieses gehässige Lachen authentisch an.
Raphaela Echmond versuchte mitzulachen; doch das wollte ihr nicht so recht gelingen. Also nahm sie einen weiteren Schluck Wein und schenkte dann persönlich nach. Erst der Lady de Winter und dann sich selbst. Sie hoffte inständig, dass die Frau aus dem Hochadel weniger Rotwein vertrug als sie selbst; doch das war nicht wahrscheinlich. Bei Hofe wurde gewiss mehr vergorene Getränke konsumiert, als in Haus Echmond. Sie wünschte sich ihren Sohn an ihrer Seite. Cyrill würde diese falsche Schlange ganz sicher unter den Tisch trinken.
Während die Weinkelche aneinander stießen und dieses typisch klirrende Geräusch verursachten, sprach Cara de Winter weiter. Offensichtlich hörte sie sich selbst gern reden. Gut so. »So viel gutes ist geschehen und doch seht ihr mich besorgt, liebe Freundin. Der hohe Senat von Almarena gewinnt stetig an Macht und Theelem sucht es nicht zu verhindern – im Gegenteil – er fördert diese gefährlichen neuen Strukturen.« Sie schüttelte dezent mit dem Kopf, bevor sie an ihrem Weinkelch nippte.
»Wie das?« Raphaela war etwas irritiert. »Der König, sein Rat und die jeweiligen Flügel des Senats machen die Gesetze und nur dem König und dem Hochadel ist es gestattet Bürger für das hohe Amt eines Senators vorzuschlagen. Oder sehe ich das zu naiv?«
»Nein, nein; meine Beste. Ihr seid gut informiert und doch kennt Ihr das Flüstern hinter den Mauern des Bronzepalast nicht.« Cara de Winter atmete hörbar aus und schüttelte erneut den Kopf, wobei Strähnen ihres schwarzen Haars in ihr Gesicht fielen. »Es gibt Gerüchte, dass künftig nicht nur der Adel und seine Majestät vorschlagen dürfen; sondern auch der Senat selbst, wie auch …« Sie seufzte, bevor sie fortsetzte. »… wie auch das einfache Volk von Almarena.« Sie machte eine Pause. Vielleicht, um erneut vom Wein zu kosten – vielleicht aber auch, um ihren Worten zusätzlich mehr Bedeutung zukommen zu lassen. »Stellt Euch das nur einmal bildlich vor, meine Liebe. Der hohe Senator Franz Hufhalter, ehemals Schmied oder der von Justenia ermächtigte Senator Kellos Salami, vorher Schlachter bei den königlichen Schlachtereien. Mir wird schlecht bei diesem Gedanken. Zum Glück ist es noch nicht soweit und, bei Justenia, es wird Wege geben das zu verhindern.« Sie atmete tief durch. »Liebe Freundin, seid Ihr spontan? Bitte! Seid meine Reisebegleiterin und folgt mir für die Tage, die vor uns liegen. Noch am Abend möchte ich das edle Haus Orton erreichen. Die gute Eliza wird nicht minder überrascht sein, als Ihr. Und dann geht es weiter. Weiter in das geheimnisvolle Sultanat Laseth – eine andere Welt. Ich wünschte so sehr, dass wir die Vorteile der beiden Kontinente vereinen könnten. Ein Reich, mit einem starken Herrscher, blühenden Landschaften, Vorsprung in Forschung und Heilkunst und nicht zuletzt mächtigen Adelsfamilien, die das Gerüst einer gesunden Gesellschaft bilden – bilden müssen. Kommt Raphaela! Wie lange habt Ihr Haus Echmond nicht mehr verlassen?«
Die Gräfin Echmond rieb sich die Nase, um aufzuzeigen, dass sie überlegte und tatsächlich überlegte sie – überlegte, um eine Absage an den Wunsch der Gräfin aus dem Hochadel irgendwie neutral und plausibel klingen zu lassen. »Ihr habt mich tatsächlich neugierig gemacht, Cara. Ein Teil von mir würde nur allzu gern Eurem Aufruf folgen, um gemeinsam mit Euch die Welt zu entdecken, um Abenteuer zu erleben, die mir zuvor stets verboten waren.« Sie atmete tief durch. »Doch leider habe ich Pflichten und eine Verantwortung, derer ich mich nicht entziehen kann. Mein Sohn hat sich angekündigt. Cyrill bedeutet mir alles, müsst Ihr wissen und ich habe ihn eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Der Junge ist über den Tod seines Vaters nie wirklich hinweg gekommen und er lebt dessen unrealistischen Wunsch nach einer Rückkehr in den Hochadel. Cyrill hatte stets nur den Wunsch, den Bedürfnissen seines ehrenwerten Vaters zu entsprechen. Die beiden pflegten eine … wie soll ich sagen … merkwürdige Beziehung zueinander. Eine Art Liebe, die ich nie verstanden habe.«
Die Gräfin de Winter nickte verständig. »Die Liebe einer Mutter ist unendlich und ich verstehe natürlich, dass Euer Sohn in Euren Gedanken absolute Priorität genießt. Selbst in Almarena hat sich Euer Junge einen Ruf erworben. Er gilt als geistreich, witzig und äußerst geschäftstüchtig. Der Handel mit einem Lasethi soll ihm ein kleines Vermögen eingebracht haben. Bewundernswert. Er wäre ein Senator nach meinem Geschmack. Ein Mann, dem Worte wie Adel und Tradition noch etwas bedeuten. Die richtigen Beziehungen scheint er zudem zu pflegen.«
Raphaela ließ sich ihre Verärgerung darüber, dass Cara de Winter über die Geschäfte ihres Sohnes besser Bescheid zu wissen schien als sie selbst, nicht anmerken. »Vielen Dank, Cara! Eure Worte werden Cyrill mehr freuen, als irdische Güter es je könnten. Ich hoffe, Ihr findet auf Eurer Reise Inspiration, Glück und Erkenntnis.«
»Auf ein besseres Eihnardt!« Cara de Winter flüsterte diesen Satz fast zärtlich, während sie ihren Weinkelch erhob. »Auf ein besseres Eihnardt!«, wiederholte Raphaela, als die Gläser aneinander klangen.
Unerwartet plötzlich erhob sich die Lady de Winter und ergriff ihren schwarzen Gehstock. »Ich will Euch nicht länger aufhalten, werte Freundin. Noch bevor sich die Sterne zeigen, möchte ich die Grafschaft Orton erreicht haben. Auch Raphaela löste sich von ihrem Stuhl und nahm die gereichte Hand entgegen. Die Dame aus dem Hochadel legte ihren Stock erneut auf dem Tisch ab und legte ihre zweite Hand auf die sich berührenden Hände; wohl um ein Gefühl von Verbundenheit zu suggerieren. »Denkt daran, liebe Freundin: Adel verpflichtet! Wenn niemand bereit ist unseren Stand zu schützen, müssen wir das selbst übernehmen und Hilfe annehmen, auch wenn sie aus unerwarteter Richtung kommt. Wie war doch gleich die Losung Eures ehrenhaften Hauses? Wäge und entscheide. Wie treffend. Grüßt mir Euren wundervollen Sohn!« Sie lächelte. Ein aufgesetztes Lächeln, dachte Raphaela, während sie die Gräfin de Winter zur Tür des Salons begleitete.
»Bemüht Euch nicht, meine Liebe! Ich finde selbst hinaus.« Schon hatte sie die Tür geöffnet und wäre fast gegen Joel gestoßen, der mit einem leeren Silbertablett im Flur stand. Raphaela ertappte sich bei der Frage, ob der alte Diener gelauscht haben könnte. Doch das war ein absurder Gedankte. Joels Gehör war mit ihm alt geworden und man musste schon laut und deutlich sprechen, wenn man sich mit ihm in einem Zimmer befand.
Die Lady de Winter schritt an ihm vorüber, wobei der Gehstock in ihrer rechten im Rhythmus ihrer Schritte mitwippte ohne den Boden zu berühren. Raphaela und ihr Diener blickten ihr nach.
Ich werde lange lüften müssen, um den Gestank aus dem Salon zu bekommen..
Auf dem Balkon füllte Joel erneut ihren Weinkelch, während sie beobachteten wie Cara de Winter in ihre Kutsche stieg. So viel Wein hatte Raphaela Echmond lange nicht mehr getrunken. Sie befürchtete, dass sie am kommenden Tag Kopfschmerzen haben würde. Doch noch war der aktuelle Tag nicht vorbei.
»Joel, bring mir meine Schreibutensilien! Ich gedenke noch heute eine kleine, neue Geschichte zu verfassen. »Sehr wohl.« Der Diener nickte. »Darf ich fragen, worüber Mylady zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch schreiben werden?«
»Nur eine kurze Geschichte. Eine Geschichte über Hochverrat.«
»Nur die Nornen weben Dein Schicksal. Du kannst sie anflehen, bedrohen oder versuchen, sie zu bestechen. Es ändert nichts.«
— Oran, der Weise —
Es war ein Flüstern. Eigentlich war es ein zweifaches Flüstern. Das eine wohnte im Schnee. Nur Narren glaubten wohl, dass der Schnee einfach still da lag und die Erde bedeckte. Doch in der Tat bewegte er sich; wenn es wärmer wurde und erst recht, wenn die Kälte wieder anzog. So wie jetzt. Hörte man zu; öffnete man seinen Geist, so konnte man ihn flüstern hören. Ein Knistern, ein Wispern unzähliger Kristalle; eine Sprache die wohl nicht einmal die Nornen verstanden. Doch das lautere; das eindrückliche Flüstern kam aus seinen eigenen Gedanken. Es war ein Flüstern aus ferner Vergangenheit oder aus anderer Welt. Ein Flüstern das ein Versprechen mit sich trug. Ein Versprechen, dass er nicht hören wollte.
Eirik nahm sich noch einen Becher Met und schritt dann wieder unruhig vor der Langhalle auf und ab. Drinnen schliefen die Gefährten und Familien. Seine Familie hatte er vor fünf Jahren bei der großen Hungersnot fast vollständig verloren. Nur Firuna war ihm geblieben. Seine wundervolle Tochter. Damals war sie erst elf Jahre alt gewesen. Ein Wunder, dass sie überlebt hatte. Manchmal waren die Nornen gnädig. Doch heute war Firuna nicht heim gekommen.
Die Nacht war sternenklar. Und doch konnte Eirik nicht viel sehen. Nur tiefer Schnee so weit sein Auge reichte und über den fernen Bergen flackerten die vertrauten Lichter. Grün, blau, violett schimmerten sie, verschwanden zwischendurch, um dann ihren wilden Tanz fortzusetzen. Die Götter mochten den Vinter feiern. Doch Eirik hatte kaum einen Blick für dieses Schauspiel. Er starrte in die Richtung, in der der Trolldom-Wald lag. In diese Richtung war Firuna nach dem Morgenmahl gegangen. Sie hatte sich fast aufgedrängt, Eiriks neue Klinge aus Hammerlind abzuholen. Botein, der Schmied der Nachbarsiedlung, war der beste seines Faches. Zumindest kannte Eirik keinen besseren. Deshalb hatte er sein Schwert dort bestellt und heute sollte es fertig sein.
Vermutlich wollte sie es unbedingt selbst abholen, um in Hammerlind auf Ingwir zu treffen. Der war der Sohn von Alkor, dem Herjan des Ortes. Firuna hatte es nie ausgesprochen, aber ihr Interesse an Ingwir war offensichtlich.
Eirik schnaubte bei dem Gedanken an den Vater ihres Schwarms. Alkor hatte sich zwar zur See bewiesen; war eine eindrucksvolle Erscheinung, wie auch lautstark in seiner Rede. In der Tat. Doch im Grunde war er ein Feigling. Eirik hätte seine Meinung in einem Thing kaum begründen können, aber sein Gefühl und seine Erfahrung täuschten ihn selten. Ingwir hingegen war ein guter Junge und Eirik hatte kein Problem damit, dass Firuna diesen Recken für sich erwählt hatte. Eigentlich konnte man Ingwir noch keinen Recken nennen. Er war noch jung und hatte bislang keine echte Gelegenheit sich zu beweisen.
Leise knirschende Schritte im Schnee rissen Eirik aus seinen Gedanken. Zerax, der Druide sah ihn mit seinen durchdringenden grünen Augen an.
»Sie ist noch nicht zurück«, stellte der alte Freund fest.
»Nein.« Eirik schaute auf seine Lederstiefel und dann wieder zu Zerax. »Ich muss sie suchen.«
Zerax zog die linke Augenbraue hoch, wie er es immer tat, wenn er eine Entscheidung anzweifelte. »Es ist so finster, dass Du kaum Deine Stiefel sehen kannst. Dein Pferd wird sich fast zwangsläufig den Hals brechen.«
»Dann gehe ich eben zu Fuß und nehme eine Fackel!«, erwiderte Eirik dunkel und trotzig. Zerax starrte in den Wald. Der Umhang des Druiden blähte sich im aufkommenden Wind. »Du gehst nicht allein mein Freund. Unheil könnte uns erwarten. Ich spüre eine dunkle Präsenz. Der Tod spricht aus den Wurzeln des Trolldom-Waldes. Ich werde Dich begleiten.«
Eirik blickte dem Freund direkt in die Augen. Da er fast einen Kopf größer war, schaute er auf Zerax hinunter. »Das hier scheint meine Angelegenheit zu sein. Du musst Dich wegen mir nicht in Gefahr begeben!«
»Das tue ich nicht«, versicherte der Druide, »ich bin nicht in Gefahr.«
Eirik verstand nicht wie der Druide das meinte, hatte aber auch keine Lust auf eine Vertiefung des Gesprächs. Nicht jetzt. Nicht heute.
Schweigend legten die Gefährten ihre Waffen an. Eirik schnallte sich sein bewährtes Langschwert um und positionierte den Sax an der rechten Seite seines Gürtels. Während er sich in den dicken Fellmantel kämpfte, sah er zu Zerax hinüber. Der Druide nahm sich seine Sichel, von der Eirik wusste, dass sie schärfer war als die meisten Schwerter der Sippe. Nachdem er seinen tiefblauen Umhang festgezurrt hatte, strich Zerax sanft über die eingeritzten Runen in seinem Druidenstab. Dabei wirkte er noch nachdenklicher als sonst. Das war gut. Die Gedanken, das Wissen und die Hellsicht des Druiden hatten schon viele Leben gerettet. So Tyar will, wird es heute das Leben von Firuna sein. Jeder der Freunde nahm sich eine Fackel und dann gingen sie, ohne weitere Worte zu verlieren, in die Dunkelheit den Wurzelpfad in Richtung Hammerlind.
Zerax hatte sich den Beinamen »der Stille«, in der Tat verdient. Eirik hatte dem Gefährten nie gesagt, dass er ihn in mehrfacher Hinsicht bewunderte; aber vermutlich wusste er es. Kaum ein Mann würde wohl mit dem Wissen des Druiden mithalten können. Er verstand das weite Meer, wie auch die Geheimnisse des Waldes und auch die Menschen. Es war, als könne er in alles und jeden hineinschlüpfen, um so zu tiefen Erkenntnissen und wahrhaftigem Verständnis zu kommen. Dabei schien ihn nichts aus der Ruhe bringen zu können. Natürlich konnte er auch traurig, verärgert oder fröhlich gestimmt sein und doch bewies er stets eine gewisse Gelassenheit und Ruhe, die sich insbesondere in seiner Stimme widerspiegelte. Niemals wurde der Druide laut.
Doch nicht nur der Druide war still. Auch der Wald erschien ihm in dieser Nacht ungewöhnlich ruhig zu sein. Keine Eule, kein Waldkauz war zu hören, kein Rascheln im Unterholz, durch Mäuse oder Schneekatzen verursacht. Selbst die hohen Tannen und die weißen Knochenbäume schienen den sanften Wind zu ignorieren, um sich der Stille anzupassen. Nur das knarzende Geräusch, das ihre Stiefel auf dem Schnee verursachte, drang an seine Ohren.
Als sie in Hammerlind eintrafen, war es noch immer Nacht, aber bald schon würde der Morgen grauen. Bekannte Gesichter eilten ihnen entgegen. Das halbe Dutzend wurde von Alkor angeführt.
»Mein Sohn ist fort!«, brach es atemlos aus dem Anführer heraus.
»Wie meine Tochter«, entgegnete Eirik. »Sie wollte gestern mein neues Schwert bei Botein abholen.«
»Und das hat sie auch getan«, mischte sich der muskulöse Schmied ein. Botein war genauso hühnenhaft wie Eirik. Die Narbe, die von seinem linken Auge bis zu seinem Kinn verlief, verlieh ihm ein brutales Äußeres.
»Wo könnten sie sein?«, fragte Eirik in die Runde. »Nicht im Dorf! Wir haben ganz Hammerlind auf den Kopf gestellt.« Das war die stets etwas zitternde Stimme des roten Ulf. Nun sprachen alle einen kurzen Moment wild durcheinander, bis Zerax leise das Wort ergriff. Der Druide wurde weit über die Grenzen von Schildberg und Hammerlind hinaus geachtet. Sein Wort hatte Gewicht. »Ich kann mir vorstellen, dass der tapfere Ingwir Firuna ein Stück in den Wald begleitet hat. Wir sollten in diese Richtung suchen!« Mit seinem Druidenstab wies er in Richtung Trolldom-Wald. Alkor nickte düster. »So sei es! Holt Pferde und Waffen! Wir brechen sofort auf!«
Fackelträger und die Hundeführer mit ihren Seguisern gingen voran. Es folgten ein dutzend Kämpfer von denen fünf den Weg zu Pferd antraten. Alkor, der Herjan, Granulf, der Schamane von Hammerlind und Asbjörk, der einzige Berserker der Gegend. Auf einem Raubzug an der Küste von Eihnardt hatte Eirik selbst erlebt wozu der rothaarige Krieger imstande war. Damals waren sie in einen Hinterhalt geraten. Noch bevor der Schildwall formiert war, wurde Asbjörk von einem Armbrustbolzen in der Schulter getroffen. Er hatte gelächelt, während er sich den Bolzen aus dem Fleisch gezogen hatte. Mit der blutverschmierter Hand hatte er in sein eigenes Gesicht gegriffen. Die feindlichen Schützen schienen wie erstarrt zu sein. Als der erste endlich dabei war einen Bolzen nachzulegen, war Asbjörk schon vor ihm, hob den Mann hoch und riss ihm den Arm aus dem Gelenk. Nur einen kurzen Moment später hatte er seine Kriegsäxte gezogen und pflügte damit durch die feindlichen Reihen. Es war wie eine Initialzündung für die Gefährten gewesen, die dann gemeinsam unter lautem Gebrüll in die Schlacht gestürmt waren.
Unwillkürlich fasste Eirik an die Narbe an seinem Kinn, die er als Erinnerung an diesen Tag davongetragen hatte. »Habt ihr auf eurem Weg durch den Wald nichts gehört oder gesehen?«, wandte sich Alkor fragend an ihn?« Eirik blickte den Herjan nicht an, als er antwortete. »Nein. Keine Hinweise auf Firuna und Ingwir. Nichts ungewöhnliches. Nur Zerax sprach von einem Gefühl.« »Was für ein Gefühl?«, wollte der Anführer wissen.
Zerax sprach leise und mit Bedacht. »Eine große Macht wohnt diesem Wald nun inne. Eine Bedrohung geht davon aus. Viele Tage und Nächte meines Lebens habe ich allein in der Natur verbracht, um eins mit ihr zu werden. Doch heute, in diesem Wald, fühle ich mich der Natur nicht mehr verbunden. Etwas will meine Gedanken aussperren und uns fern halten von diesem Ort. Es wird mächtiger, je näher wir kommen.«
Nun mischte sich Granulf ein. Es war bekannt, dass der Schamane den Druiden nicht ausstehen konnte und das beruhte auf Gegenseitigkeit. »Hast Du Dir die falschen Kräuter in die Suppe gemischt?«, fragte er mit einem spöttischen Grinsen. »Deine Naturgeister haben diesen Ort vor tausend Jahren verlassen. Vielleicht hat es sie nie gegeben.« Zerax blieb so ruhig wie gewohnt. »Spüre in Dich hinein! Öffne Deinen Geist, Granulf! An diesem Morgen werden wir all unsere Kräfte brauchen.«
Raben krächzten und eine Eule war zu hören, als die Gruppe die ersten Bäume des Trolldom-Waldes passierte. Es war, als würde der Wald langsam erwachen. Warum schreit die Eule jetzt, statt in der Nacht, wo es zu erwarten gewesen wäre?
Eirik hörte die Männer keuchen. Es war anstrengend durch den hohen Schnee zu stapfen, auch wenn der Wald von Hammerlind aus schnell zu erreichen war. Die Sicht war nun deutlich besser als auf dem Hinweg und schon bald mochte sich die Sonne zeigen. Zerax hatte vorgeschlagen, in die Richtung zu gehen, die seinem Gefühl den größten Widerstand leistete. Eirik versuchte sich vorzustellen, wie sich das für seinen Freund anfühlen musste. Sich dorthin zu begeben, wo alle Sinne schrieen genau das nicht zu tun. Doch die meisten Nordmänner kannten wohl ein ähnliches Gefühl. Wenn der Geruch von Blut, Feuer und Rauch in der Luft lag. Wenn Schwerter und Äxte auf Schilder schlugen. Wenn der Schmerz nicht mehr fern war. Das Gefühl vor der Schlacht.
Nun schlugen auch die Hunde an. Tjark und der junge Giedi hatten Probleme die vier Seguiser an den Leinen zu halten. Tjark fluchte und brüllte Befehle, doch die jagderfahrenden Tiere führten sich auf, als sei ein Dämon in sie gefahren.
Erste Sonnenstrahlen schimmerten durch die kahlen Bäume und zwei Rehe nahmen Reißaus, als sie auf die Lichtung kamen. Eirik kannte diese Stelle. Es erschien ihm wie eine Geschichte aus einem anderen Leben, als er Lina hier an einem Spätsommertag geliebt hatte, noch bevor sie sein Weib geworden war. Er spürte, dass Zerax ihn ansah und blickte zu dem Druiden hinüber. Was bedeutete der Ausdruck in seinem Gesicht? War da Sorge? Mitgefühl? Es war nicht einfach in dem Gesicht des Heilers zu lesen. Meistens war seine Mimik reglos; ausdruckslos. Obwohl er schon deutlich mehr als fünfzig Vinter gesehen hatte, zeigte das Gesicht des Druiden kaum Falten, bis auf eine tiefe Furche auf der Stirn, die zwischen den Augen endete. Der schmale Mund verlieh ihm etwas ernstes und nachdenkliches. Auffällig waren nur diese smaragdgrünen Augen, die Eirik auch jetzt zu durchdringen schienen. Unter der Kapuze seines Umhangs lugte eine Strähne des weißen Haarschopfes hervor. In dem Gesicht von Zerax vermochte man nur etwas zu deuten, wenn Zerax das erlaubte.
»Verfluchte Biester!«, hörte man Tjark brüllen. Die Seguiser waren kaum noch zu halten. »Lasst sie los.« Zerax sprach leise, wie immer. Tjark und Giedi blickten zu Alkor. »Macht schon! Aber verliert sie nicht aus den Augen!« Der Herjan hatte sich im Sattel aufgerichtet und spähte mit düsterem Blick über die Lichtung. Die Hunde rasten los. Zumindest soweit der tiefe Schnee dies zuließ. Alkor preschte auf seinem Hengst an den Hundeführern vorbei, dicht gefolgt von Granulf und Asbjörk. Eirik wechselte noch einen kurzen Blick mit Zerax, bevor sie den anderen Reitern nach eilten. Auf halbem Weg kam ihnen der kleinste Seguiser entgegen. Er hatte den Schwanz zwischen den Hinterbeinen eingeklemmt und rannte jaulend Giedi entgegen, der den Fußtrupp mit großen Schritten anführte. Die anderen Hunde fanden sie an einer gewaltigen, alten Eiche.
Alkor schrie. Ein grauenvoller Schrei. Wie aus einer anderen Welt.
Eirik sah zuerst Ingwir oder das was einmal Ingwir gewesen war. Der Leib des Jungen war verdreht und schien irgendwie teilweise in dem Baum zu sein. Blut war in den Schnee gesickert. Ingwirs Mund stand offen, als hätte er im Moment seines Todes noch etwas sagen wollen. Eirik begann innerlich zu zittern. Kurz schaute er zu Zerax, fand aber auch dort keinen Halt.
Er zwang sich wieder zu der Eiche zu blicken. Direkt neben Ingwir lag sie. Firuna. Sein Kind. Sein Mädchen. Ihr rechter Arm schien bis zur Schulter von der Eiche aufgesogen zu sein. Sonst war ihre Haut fast blau. Die Kälte, dachte Eirik. Das viele Blut. Langsam stieg er von seinem Pferd ohne den Blick von seiner Tochter zu lösen. Ihre Augen erschienen ihm friedlich zu ruhen. Sie war so schön. So gut.
Auch die anderen Männer waren inzwischen aus den Sätteln und standen neben ihm im Schnee, während der Rest der Gruppe herbeigeeilt kam. Mit zitternden Händen berührte Eirik das Gesicht seiner Tochter. Sanft strich er über ihre Wange. Er fühlte sich ruhig; sicher was zu tun war. Er sah Alkor vor seinem toten Sohn knien, Asbjörk, der die Langaxt gezogen hatte, als gäbe es einen Feind zu bekämpfen. Er hörte die Raben schreien und spürte wie der Wind an seinem Mantel zerrte. Er sah Firuna als kleines Mädchen, tanzend zu der Melodie einer Spieluhr. Er konnte sie lachen hören. Dann sah er sie weinend am Ufer stehen, als er mit dem Drachenboot fort gen Süden musste und er spürte ihre Umarmung bei seiner Rückkehr. Er hatte ihr diese Kette mitgebracht. Wo war die Kette mit dem Amulett? Tanzende Drachen. Eirik spürte eine Hand auf seiner Schulter. Zerax.
»Die Drachen sind fort«, sagte er ruhig zu dem Druiden. Zerax nickte stumm. Langsam erhob sich der alternde Recke. Auch Alkor stand mittlerweile wieder auf seinen Beinen.
Niemand sprach, bis Granulf das Wort ergriff. »Gewaltige Mächte waren hier am Werk und haben zwei unserer Kinder von uns gerissen und in Tyars Reich erhoben. Noch in der kommenden Nacht werde ich einen Geist anrufen und seine Hilfe erflehen, auf das wir gegen diese dunkle Macht bestehen mögen. Doch nun sollten wir eilig aufbrechen. Die Nornen haben ein solches Schicksal nicht für uns ausersehen, doch wenn wir hierbleiben, werden auch wir den Tod finden!«
Alkor stand Unsicherheit in den Augen oder war es gar Hilflosigkeit. »Wir können Ingwir nicht nach Hause bringen. Der Baum hat …« Der Herjan brach seinen Satz ab und sah zu seinen Recken. Wieder war es Granulf, der eine Antwort auf die noch nicht gestellte Frage hatte. »Wir werden Ingwir holen, aber zunächst müssen wir vorbereitet und gerüstet sein! Der Jarl muss hiervon erfahren! Er wird uns Unterstützung gewähren. Ich habe dich stets gut beraten Alkor. Wir müssen diesen Ort verlassen!« Panik schwang in der kehligen Stimme des Schamanen mit.
Zerax zeigte keine Regung, aber Eirik wusste, dass der Druide den Schamanen in diesem Moment abgrundtief verachtete. Alkor murmelte einen stillen Fluch und gab dann den Befehl zum Aufbruch. Seine donnernde Stimme hallte über die Lichtung. »Nie waren wir tiefer getroffen und doch werden wir am Ende siegreich sein! Wenn es sein muss, werde ich jeden einzelnen Baum hier ausroden lassen. Gehen wir zurück. Hm. Doch wir vergessen und vergeben nicht!« Zustimmendes Gemurmel bei seinen Leuten, die sich dann langsam für dir Rückkehr nach Hammerlind bereit machten. Alle schienen etwas verwirrt zu sein, doch die meisten waren wohl froh den Ort des Grauens verlassen zu dürfen.
Alkor saß bereits wieder zu Pferd, als er auf Eirik herab schaute. »Beweg Dich heim alter Mann! Morgen werden wir uns gemeinsam beraten. Jarl Hakon wird uns Krieger schicken und Granulfs Geist wird uns den Weg weisen.«
Eirik hielt die linke Hand auf seinen Schwertgriff gestützt und hatte die rechte parallel auf den schweren Ledergürtel gelegt. Seine Stimme war ruhig, aber bestimmt. »Ich gehe nirgendwo hin. Mit meinem Schwert und mit meinem Schild werde ich den Mörder meiner Tochter erwarten.«
»Sei nicht starrsinnig Eirik! Vielleicht kommt das, dass dies hier getan hat nie mehr an diesen Ort zurück.« Alkors ausladende Geste beschrieb den Wald hinter der Lichtung. Eirik schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Nun. Vielleicht nicht. Aber an unsere Feuer, in unsere Hallen wird es wohl sicher nicht kommen.« Granulf mischte sich ein: »Eirik, du Narr! Deine Waffen werden diesen Feind nicht besiegen können! Er wird dich töten, bevor du deine Hand zu deinem Schwert führen kannst oder du wirst hier jämmerlich erfrieren!«
Eirik betrachtete den Schamanen. Granulf war eine hagere Gestalt, doch für einen Nordmann nicht sonderlich groß. Der Mann war Mitte dreißig und wirkte eher etwas älter. Seine Haut war blass, die schwarzen Augen lagen in tiefen Höhlen und sein linker Mundwinkel zuckte manchmal unwillkürlich. Die rechte Körperhälfte des Schamanen war mit schwarzen und grünen Bildern übersäht, welche tief in die Haut eingestochen waren. Das galt auch für die linke Gesichtshälfte, in der der Mund auch jetzt wieder zuckte. »Sterben werde ich also?« Eirik lächelte matt und schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin schon tot.« Als er sein Schwert aus der Lederscheide holte, bemerkte er wie Granulf ein kleines Stück zurück wich. Er nahm seinen Schleifstein, ließ sich neben der Eiche nieder, lehnte sich an und begann damit sein Schwert zu schärfen. Alkor wiederholte seinen Befehl zum Abzug. Diesmal etwas lauter. Seine Recken machten sich auf den Weg. Nur der junge Giedi zögerte kurz. »Wenn ich irgendetwas …« »Beweg deinen Arsch!«, erklang die Stimme des Herjans und auch Giedi folgte dann, mit gesengtem Haupt.
Wenig später waren sie allein. Eirik unternahm keinen Versuch Zerax davon zu überzeugen den Ort des Grauens zu verlassen. Er kannte den Druiden zu lange und zu gut. Während sich Eirik stumpf und routiniert um seine Waffen kümmerte, begutachtete der scharfsinnige Heiler die alte Eiche und die in ihr verwobenen Leichen. »Etwas wurde mit einem Messer in den Baum geritzt. Vielleicht ein halbes Herz.« Gedankenverloren strich Zerax die Einkerbungen mir einem Finger nach. Dabei summte er leise eine Melodie, die Eirik irgendwie an seine Kindheit erinnerte.
»Hell stand der Stern, hoch über dem Pfad,
als die Frau aus dem Dorf ihren Heimweg antrat,
die Zahl der Schritte vor ihr, machte das Herz ihr kalt,
und so kam sie vorbei am verzauberten Wald.
Wenn ich folge dem Pfad, der dort schwindet im Licht,
dann bin ich im Dorf, bis der Morgen anbricht.
Ach, es sind nur Geschichten, wie die Steine so alt,
sprach sie und ging in den verzauberten Wald.
Nebel und Licht und Stimmen im Wind,
die locken und rufen und sonderbar sind,
Hüte Dich Wanderer, weiche, gib Acht
und betritt nicht den Wald der Zauber bei Nacht!«
In seinem Kopf verschwammen und vermischten sich Bilder von Firuna und aus seiner eigenen Lebensgeschichte. Er erinnerte sich an die Worte seines Vaters, den er so bewundert hatte. »Alles was man häufig tut, dass kann man später immer gut!«, pflegte Thorgan Isaaksson stets zu sagen. Also hatte Eirik jeden Morgen mit Schwert und Schild geübt. Wenn es viel Arbeit gegeben hatte, war er eben früher aufgestanden, um seine Kampfübungen zu absolvieren. Als er 11 Jahre alt war, waren Bogen, Axt und Sax als weitere Waffen hinzu gekommen. Die Mühen hatten sich gelohnt. In seiner ersten Schlacht hatte Eirik sechs Feinde erschlagen und selbst lediglich eine kleine Schnittwunde davon getragen. Die ganze Welt hatte er gesehen. Er war mit Orm, dem Händler, gereist; hatte an den Küsten von Cursa Elfen gesehen, die es in Thula nicht gab. Nicht mehr. Zoran, der Zerstörer hatte sich auf ihn verlassen können. Sowohl in den Kriegen gegen Eihnardt, wie auch in der Schlacht der Jarls auf den Feldern von Thula. Auf dem Drachenboot war er auf gigantischen Wellen geritten und in Laseth hatte er ein Mädchen geliebt, deren Schönheit ihm fast körperliche Schmerzen bereitet hatte. Er hatte an Palmen empor geschaut, während seine Finger im Sand gegraben hatten. Eine Träne rann Eirik über die faltigen Wangen. Nichts davon würde Firuna je erleben.
»Nach kaum hundert Schritt, schloss sich um sie der Wald;
Wo kam sie her? Wo ging sie hin? Sie verirrte sich bald.
Vom Pfad aus gesehen, schien der Weg doch so klar.
Wie kam es, dass alles nun sonderbar war?
Sie fand nicht zurück und sie folgte dem Licht,
voraus in den Bäumen, sie erreichte es nicht.
Mit jedem Schritt, den sie tat, wich es gleichsam zurück,
und führte sie fort durch den Wald Stück um Stück.
Nebel und Licht und Stimmen im Wind,
die locken und rufen und sonderbar sind,
Hüte Dich Wanderer, weiche gib Acht
und betritt nicht den Wald der Zauber bei Nacht.«
Zerax hatte sich zu ihm gesetzt und der Druide trug eine nachdenkliche Mine. »Eine alte Saga spricht von Bergtrollen, die Menschen in Pflanzen verwandeln können, wenn ihr Lebensraum massiv bedroht wird. Diese Trolle erreichen gigantische Größe und sind nicht durch einen Mann zu besiegen. Zudem besitzen sie magische Energie, was eine Erklärung dafür wäre, dass Ingwir und Firuna Teil der Eiche geworden sind. Und doch ist die Geschichte in sich nicht schlüssig.« Eirik’s Stirnrunzeln ermunterte den Druiden weiter zu erzählen. »Diese Trolle wurden in den Schriften zuletzt vor über vierhundert Jahren erwähnt. Sie seien friedliebende Wesen, die ihre außergewöhnliche Kraft und ihre besonderen Fähigkeiten nur in extremen Situationen anwenden würden. Situationen, welche die Natur und somit den natürlichen Lebensraum der Trolle bedrohen würden. Alle Weisen und Wissenden, jeder Druide, Schamane, Heiler, Magier oder Medicus in der uns bekannten Welt würde wohl eine Existenz solcher Wesen leugnen. In der Tat. Auf Grund meiner Untersuchungen vor Ort, halte ich eine Existenz dieser Wesen jedoch nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich.«
»Aus Nebeln und Schatten trat eine Gestalt,
sternweiß und schön, die dunklen Augen uralt,
Komm Menschenfrau, lieg bei mir diese Nacht,
Ich zeig Dir Träume und Zauber bis der Morgen erwacht.
Ein Kuss Deiner Lippen kostet mich wohl ein Jahr;
die Nacht in Deinem Arm, macht weiss mir das Haar.
Fee, Troll und Elf treibt mit uns nur sein Spiel,
lass mich geh’n guter Geist, weil leben ich will.«1
Wie war nochmal das Ende des Liedes? Eirik erinnerte sich nicht, aber die Melodie spielte immer weiter in seinem Kopf. Der besorgte Gesichtsausdruck von Zerax, dem Stillen, passte dazu. »Du bist in unmittelbarer Lebensgefahr, Eirik!«
Die alten Freunde schauten sich lange in die Augen. Eirik ließ sich Zeit mit einer Antwort. »Am Arsch!«, sagte er dann.
»Am Arsch!« So waren zwei Dinge erreicht. Der Druide musste schmunzeln, was nicht zu häufig vorkam und er gab es endgültig auf Eirik von seinem Vorhaben abzubringen und übernahm sogar die erste Wache.
Doch Eirik konnte in der fortschreitenden Dämmerung keinen Schlaf finden. Der Wind blies heftig und wehte immer wieder Schnee in sein Gesicht. Der lange Mantel vermochte es kaum ihn zu wärmen. Der Vinter war noch einmal mit Macht zurückgekehrt. Vermutlich ein letztes Aufbäumen, bevor Schnee und Kälte dem Grün weichen würden. Die Kälte konnte er gut ertragen. Er hatte sehr viel Schlimmeres erlebt. Quälender waren die Gedanken an seine Tochter. Das tote Mädchen lag nur wenige Schritte von ihm entfernt und war teilweise zu Holz geworden, wie eines der Spielfiguren, die er ihr geschnitzt hatte, als sie noch klein war. Wieder erschien Firuna vor seinem geistigen Auge. Ihr Kopf bewegte sich langsam zu der Melodie, die ihm noch immer nicht aus dem Kopf gehen wollte.
Ein Geräusch, ein Knistern ließ Eirik zu seinem Schwert greifen. Es hörte sich an, als sei morsches Holz unter einem Stiefel zertreten worden. Fast war er selbst erstaunt, wie schnell er kampfbereit auf den Beinen stand. Zerax stand direkt neben ihm, den Druidenstab erhoben. Er wirkte gelassen, aber wirkte Zerax nicht immer gelassen? Der Druide hatte die linke Hand erhoben. Offensichtlich um zur Ruhe zu mahnen. Zwischen den Bäumen trat der junge Giedi hervor. Er hatte die Augen weit aufgerissen und spontan alles fallen gelassen, was er in den Händen getragen hatte. Die kampfbereiten Gefährten mochten einen furchterregenden Anblick für einen jungen Recken bieten. Er selbst war gar für einen Nordmann eine beeindruckende Erscheinung. Größer als die meisten anderen und so breit wie ein Bär. Die Falten und Narben in seinem Gesicht, die nur teilweise vom rotblonden Haar verdeckt wurden, ließen ihn deutlich brutaler erscheinen, als es sein eigentlicher Charakter zulassen wollte. Sein kleinerer Gefährte mochte in seiner Kutte mit der Kapuze aussehen wie Ginguir, der leibhaftige Tod.
Nachdem sie Giedi erkannt hatten, ließen die Freunde die Waffen sinken. Der junge Hundeführer atmete tief durch, bevor er abwechselnd zu Zerax und zu Eirik blickte. »Es tut mir leid, dass ich nicht gleich bei Euch geblieben bin. Ich bin eigentlich kein Recke, der vor einer Gefahr davon läuft. Doch jetzt bin ich hier!«
Wie so oft, fand Zerax die richtigen Worte: »Danke Giedi! Du bist der mutigste deiner Sippe. Und doch hatte Alkor Recht. Es war vernünftig diesen Ort zu verlassen. Warum bist Du zurückgekehrt?«
Stolz breitete der junge Krieger aus, was er mitgebracht hatte. Warme Decken, einige spitze Pfeile, Feuerstein, gutes, frisches, gebratenes Wildfleisch und warmen Met. Eirik nickte und Zerax lächelte den Hundeführer freundlich an »Deine Gaben sind gut wie Dein Herz, Giedi, Sohn des Gander. Doch nach diesem Mahl, solltest Du uns wieder verlassen. Du bist Alkor und Hammerlind verpflichtet – nicht uns. Die Zeit, zu der Du gebraucht wirst wird kommen. In der Tat.«
Gemeinsam nahmen sie die Mahlzeit ein. Giedi bot Eirik vom süßen Honigwein an, doch der lehnte zunächst ab. »Ich bin nicht hier, um zu feiern, sondern um zu töten!« Doch schließlich nahm er doch einen kräftigen Schluck, um sich aufzuwärmen.
Der Met tat gut. Der warme Honigwein rann seine Kehle hinunter und beruhigte zeitgleich seinen angespannten Körper, wie seinen Geist. Er spürte wie seine Seele mehr davon verlangte und doch lehnte er einen weiteren Becher ab. Er wollte hellwach und kampfbereit bleiben. Mit Zufriedenheit bemerkte er, dass auch Zerax sich gefühlte Ewigkeiten bei seinem zweiten Becher aufhielt. Eirik konnte fast alles ertragen oder aushalten, nur das Warten und die Ungewissheit machte ihn langsam mürbe.
Nachdem Giedi wieder gegangen war, übernahm Eirik freiwillig die nächste Wache. Das kleine Feuer war gelöscht und die Kälte drang durch Kleidung und Felle. Die Dunkelheit brach über den Wald herein und Eirik war nicht so an die Geräusche der Natur gewöhnt, wie Zerax, der sich im Schlaf sichtlich durch intensive Träume quälte. Doch er war erfahren und kampferprobt. Ruhig führte er Übungen durch, die ihn wach und geschmeidig halten sollten. Mit ausgestrecktem Schwert bewegte er sich langsam und fliessend durch die Kälte. Er verstand es die Geschwindigkeit zu variieren und seine Muskeln zum richtigen Zeitpunkt anzuspannen und wieder zu entspannen. Es fühlte sich gut an und zudem war es ein probates Mittel gegen die Hilflosigkeit.
Und doch war da dieses Gefühl, dass Tyar ihn zu sich rief. Das Gefühl, dass Ginguir kommen würde, um ihn zu holen. Eirik begrüßte dieses Gefühl. Der Tod vermochte nicht ihn zu bedrohen. Nicht mehr. Er würde Ginguir nicht bekämpfen, sondern mit offenen Armen entgegen treten. Es gab wohl zwei Arten von Energie. Die eine, die einem Mann Sinn geben wollte und die nun erloschen war und jene, die die Macht der Bewegung aufrecht erhielt und die noch immer durch seine Adern floss. Er bewegte sein Schwert in fließenden Bewegungen und fast ohne es selbst zu bemerken fügte er den Sax hinzu und wurde in der Übung stetig schneller und präziser. Es war als würde er eine Stufe empor schreiten, als würde er besser, stärker und effektiver, mit jeder einzelnen Bewegung, die er vollführte. Doch wichtig erschien es ihm kaum. Wichtig war nur der Tod des Mörders seiner Tochter. Egal ob dieser Mörder ein Mensch, ein Elf oder ein Troll war – Eirik hatte ein Geschenk vorbereitet. Das Geschenk der Schmerzen und der ewigen Dunkelheit.
Das Schwarz der Nacht zog sich nur langsam zurück, als der alternde Recke sich noch einmal ihr Versteck anschaute. Es war gut gewählt. Sie waren von weitem kaum zu erkennen und doch in leicht erhöhter Lage, was ihnen im Angriffsfall einen Vorteil verschaffen sollte. Eirik konnte sowas beurteilen. So viele Kämpfe in all den Jahren. Seine Gedanken verloren sich wieder in früheren Tagen. Firuna. Er hörte Kinderstimmen. Ein lachendes Mädchen. Sie spielte mit der kleinen Puppe, die ihre Mutter ihr gebastelt hatte und sie strahlte ihn an. Solch ein strahlendes Lächeln …
Firuna.
Nein. Das geschah im Hier und jetzt. Eirik schaute auf und löste die Sicherung an seinem Gürtel. Das Schwert zu einem Drittel aus der Scheide gezogen, trat er vor. Er sah Emil und Ida, zwei Kinder aus Hammerlind, wie sie kichernd Zweige aus den Bäumen abbrachen und dann sah er es.
Das Monster mochte fast doppelt so hoch wie ein normaler Recke sein. Der Kopf wirkte irgendwie deformiert, die übergroßen Hauer standen schräg in gewaltigen Kiefern. Riesige Muskeln zeichneten sich an Armen und Beinen ab. In der rechten Hand schwang es eine überdimensionale Kriegskeule.
Die Kinder bemerkten erst jetzt die Gefahr. Sie schrieen zeitgleich aus Leibeskräften. Als ob das irgendetwas nützen würde.
Kinder.
Eirik trat vor. »Probier«, es doch lieber mit mir!«, donnerte seine Stimme über die Lichtung. Das Wesen blickte nun in seine Richtung. Ida und Emil hörten auf zu schreien und rannten los. Das Monster machte ein Geräusch, dass dem Knurren eines großen Hundes nicht unähnlich war. Es rollte die gewaltigen Schulterblätter, hatte den Schädel leicht angewinkelt und betrachtete Eirik einen Moment lang aus dunklen Augenhöhlen.
Eirik hielt Schild und Schwert kampfbereit. Noch nie hatte er sich einem Gegner gegenüber klein gefühlt. Aber spielte das eine Rolle? Er war sich sicher, dass er den Mörder seiner Tochter direkt vor Augen hatte. Die Waffen leicht abgesenkt ging er vorwärts. Das Wesen reagierte mit einem grollenden Schrei und setzte sich in Bewegung. Kurz bevor die Kontrahenten aufeinander trafen senkte sich die Kriegskeule in brutaler Geschwindigkeit. Doch Eirik war noch schneller. Sein Ausfallschritt gelang und er versenkte sein Schwert tief in der rechten Wade des Gegners. Das Monster schrie vor Schmerz laut auf, als der Nordmann sein Schwert kraftvoll aus der geschlagenen Wunde befreite. Schon befand sich Eirik hinter seinem Gegner und trieb den Stahl tief in das Rückenmark des Wesens. Noch während es fiel, langte es mit der freien Hand nach Eirik, packte zu und riss ihn hoch. Eirik’s Schwert flog im hohen Bogen davon.