Stimmen - Ursula Poznanski - E-Book + Hörbuch

Stimmen Hörbuch

Ursula Poznanski

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Beschreibung

Endlich da: Nach «Fünf» und «Blinde Vögel» der dritte Thriller von Bestsellerautorin Ursula Poznanski! Er hatte die Zeichen gesehen. Er sah sie seit Jahren schon und hatte immer wieder versucht, die Menschen zu warnen, doch nie wollte jemand ihm glauben. Sie hatten ein Opfer dargebracht. Auf keinen Fall durften sie ihn hören. Sie wissen, wer du bist. Menschen, die wirr vor sich hin murmeln. Die sich entblößen, Stimmen hören: Die Psychiatriestation des Klinikums Salzburg-Nord ist auf besonders schwere Fälle spezialisiert. Als einer der Ärzte ermordet in einem Untersuchungsraum gefunden wird, muss die Ermittlerin Beatrice Kaspary versuchen, Informationen aus den Patienten herauszulocken. Aus traumatisierten Seelen, die in ihrer eigenen Welt leben. Und nach eigenen Regeln spielen …

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Zeit:7 Std. 46 min

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Ursula Poznanski

Stimmen

Thriller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Endlich da: Nach «Fünf» und «Blinde Vögel» der dritte Thriller von Bestsellerautorin Ursula Poznanski!

 

Er hatte die Zeichen gesehen. Er sah sie seit Jahren schon und hatte immer wieder versucht, die Menschen zu warnen, doch nie wollte jemand ihm glauben.

 

Sie hatten ein Opfer dargebracht.

Auf keinen Fall durften sie ihn hören.

Sie wissen, wer du bist.

Über Ursula Poznanski

Ursula Poznanski wurde 1968 in Wien geboren. Sie war als Journalistin für medizinische Zeitschriften tätig. Inzwischen widmet sie sich ganz dem Schreiben und lebt mit ihrer Familie im Süden von Wien.

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. KapitelVorwort zum NachwortNachwortDanksagungenLeseprobe «Fremd»Leseprobe «Schatten»

Prolog

Er hatte die Zeichen gesehen. Er sah sie seit Jahren schon und hatte immer wieder versucht, die Menschen zu warnen, doch nie wollte jemand ihm glauben.

Jetzt war es passiert. Sie hatten ein Opfer dargebracht.

Er umkreiste vorsichtig die Liege, darauf bedacht, leise zu sein.

Auf keinen Fall durften sie ihn hören.

Sie wissen, wer du bist.

Er duckte sich unter dem bedrohlichen Flüstern, den scharfen Zischlauten. Schüttelte den Kopf, immer schneller, immer heftiger.

Was hast du getan?

«Nichts», murmelte er. Aber konnte er sicher sein? Es war Gift im Essen, man mischte ihm Drogen hinein, schon seit Monaten. Das waren sie.

Die Verborgenen. Die Unsichtbaren. Die ihn immer begleiteten, ohne sich zu erkennen zu geben.

Ich weiß genau, was du denkst.

Seine Unterlippe begann zu beben. Manchmal, wenn er weinte, verschwanden sie. Als hätten sie bekommen, was sie wollten.

Vorsichtig streckte er eine Hand aus und berührte das Bein in der weißen Hose –

Jetzt fasst er ihn an!

Echt. Leinen. Er strich leicht darüber, zog dann die Hand zurück, als hätte ihn jemand schroff zurechtgewiesen. Dann schwiegen sie endlich. Sie.

Die Gesellschaft. Die geheimen Brüder.

Welche Angst ihm allein diese Worte einjagten.

Hosenscheißer, kleiner Hosenscheißer.

Sie wissen, wer du bist.

Wir wissen, wer du bist.

Jetzt fasst er ihn an.

Die Messer machten ihm zu schaffen. Sie ließen ihn zweifeln. War doch alles nur Einbildung? Bisher hatte er nur Dinge gehört, die angeblich nicht existierten. Vielleicht sah er sie nun auch.

Wahn, wie Dr. Plank das nannte. Eine Halluzination.

Ja, das wäre gut, diesmal. Halluzination.

Was hast du getan?

«Gar nichts», wimmerte er. «Überhaupt nichts habe ich getan, das müsst ihr doch gesehen haben.»

Da unten war Blut. Es hatte eine Spur gezogen, von der Wunde über den weißen Kittel hinweg, seitlich hinunter über die Liege und bis auf den Boden. Dort war jetzt ein See, ein kleiner See, dessen Ränder zu einem krustigen Ufer anzutrocknen begannen.

Wir wissen, wer du bist.

Du nutzloser kleiner Hosenscheißer.

Er starrte auf die Lache, dann wanderte sein Blick höher, blieb an dem Tropfen hängen, der sich am Rand der Liege bildete und voller, immer voller und schwerer wurde.

Bis er fiel. Ins Rot, ins tiefe Rot.

Leck es auf.

Plötzlich hatte er riesige Angst, dass er gehorchen würde.

Komm, mein Kleiner, leck es auf.

Die Stimme war schmeichelnd und herrisch zugleich. Er kannte sie und fürchtete sie wie sonst fast nichts auf der Welt. Sie sprach nicht oft zu ihm, und noch seltener verlangte sie etwas, doch wenn sie es tat, konnte er sich ihr kaum widersetzen.

Er trat einen Schritt zur Seite, ans obere Ende der Liege. Konzentrierte sich auf den Kopf, der dort lag, das Gesicht mit dem offenen Mund und den halb geschlossenen Augen.

«Sie wissen, wer du bist», sagte er heiser. Es tat ihm gut, die Worte einmal selbst zu sprechen. «Sie haben dich geholt, und mich werden sie auch holen. Bald.»

Leck es auf. Jetzt.

Er drehte sich zur Seite, schlug sich die Hände gegen den Kopf, immer schneller, immer fester.

Leck. Es. Auf.

Langsam ging er in die Knie. Krabbelte folgsam auf den See zu. Erst als er direkt davor war, zögerte er. Der Geruch …

Gift.

Er fasste sich an den Hals. Diesmal würde er sterben, niemand war da, um ihm zu helfen. Sie würden ihn aus ihren Verstecken beobachten, ihm dabei zusehen, wie er zuckte und sich wand und vor Schmerzen brüllte, und sie würden lachen.

Und wenn er um Hilfe rief? Wenn er laut schrie, würde jemand kommen. Wer weiß, vielleicht würde man ihm erklären, dass das, was er sah, nicht existierte. Dass es eine neue Form von Wahn war, so wie nur er ganz allein hörte, was er hörte. Man würde seine Dosis erhöhen, aber das war besser, als zu tun, was diese eine, besondere Stimme von ihm verlangte.

Also hockte er sich hin, auf die Fersen, und holte tief Luft. Sein Schrei war erst ein dünnes Winseln, dann ein Röhren, dann ein Brüllen. Er schrie, bis er keine Luft mehr in den Lungen hatte und schwarze Punkte vor seinen Augen tanzten.

Hechelnd sah er sich um. Es war niemand gekommen.

Nur die Stimme war noch da, diese ganz spezielle Stimme. Sie sagte ihm, was zu tun war.

Schließlich gehorchte er.

1. Kapitel

Das Heft schwebte so dicht vor Beatrices Gesicht, dass sie einen Schritt zurücktreten musste, um in dem Gewirr aus Rot und Blau etwas erkennen zu können.

«So sieht jede seiner Arbeiten aus. Es muss sich etwas ändern, Frau Kaspary.» Die Lehrerin seufzte einen dieser geplagten Pädagogen-Seufzer. «In seinem Sozialverhalten hat Jakob sich wirklich gebessert, aber was Form und Ordnung angeht, braucht er noch sehr viel Hilfe.»

Beatrice griff sich das Heft und blätterte ein paar Seiten zurück. Ja, überall das gleiche Bild. Die vorgedruckten Zeilen schien Jakob für unverbindliche Vorschläge zu halten, manche Worte waren kaum zu entziffern.

Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, den Sonntag seinen Schulaufgaben zu widmen, statt eine Fahrradtour mit Picknick zu unternehmen.

Sie blickte hoch, die Klassentür stand offen. Da war er, gemeinsam mit Alex und Lukas. Jeder von ihnen hatte einen Stapel Sticker in der Hand. Es waren sichtlich harte Verhandlungen bezüglich möglicher Tauschgeschäfte im Gange.

«Ich werde mich bemühen, seine Aufgaben zu kontrollieren», sagte Beatrice. «Aber eigentlich hatte ich gehofft, das würde Melanie von der Nachmittagsbetreuung übernehmen. Wissen Sie, ich möchte mit meinen Kindern in ihrer Freizeit eigentlich lieber andere Dinge tun, als gemeinsam über Schulheften zu hängen.»

Das bemühte Lächeln der Lehrerin reduzierte sich um etwa die Hälfte. «Die Nachmittagsbetreuung kann nur ergänzen, die Eltern aber nicht ersetzen. Melanie muss sich um fünfzehn Kinder kümmern, und Jakob braucht mehr Förderung als andere. Ich weiß, Frau Kaspary, Sie haben einen sehr anstrengenden Beruf, aber …»

Beatrices Handy läutete. Jede Wette, das war der anstrengende Beruf, der sein Recht einforderte.

«… aber wenn Sie ein bisschen mehr auf Jakobs Arbeitsweise achten könnten, wäre das sehr gut. Was er jetzt verpasst, wird er später nur schwer aufholen können.»

Das Handy steckte in ihrer Tasche. Ein Blick hinein, und man wusste sofort, woher Jakob seinen Hang zum Chaos hatte.

«Florin», zeigte das Display an. «Entschuldigen Sie bitte einen Moment.» Beatrice wandte sich zur Seite. «Guten Morgen! Ist es wichtig? Ich bin gerade …»

«Hallo, Bea, tut mir leid. Ja. Wichtig. Die Psychiatrie des Klinikums Salzburg-Nord hat eben angerufen – es gibt dort einen Toten. Ziemlich sicher keine natürliche Todesursache. Soll ich dich holen, oder treffen wir uns da?»

Sie überlegte kurz. «Treffen wir uns direkt dort. Ich beeile mich.» Beatrice legte auf und hob der Lehrerin gegenüber bedauernd die Schultern. «Ich gebe mein Bestes, versprochen. Aber jetzt muss ich leider los.»

«Das habe ich schon verstanden», entgegnete die Frau ungnädig. «Na gut. Ich hoffe, ich habe mein Anliegen deutlich machen können.»

O ja, überdeutlich. Beatrice schüttelte der Lehrerin die Hand. «Wenn ich Jakob das nächste Mal in die Schule bringe, unterhalten wir uns weiter, ja?»

Dann ging sie, ohne eine Antwort abzuwarten. Weiteres Futter für ihr schlechtes Gewissen war das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnte.

 

Sie liefen den schwarz-weiß gekachelten Gang entlang, knapp hinter dem Arzt her, der sie in Empfang genommen hatte.

Beatrice hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie war außer Atem, weil sie ihr Auto in der Nähe der Einfahrt geparkt und das weitläufige Krankenhausgelände danach laufend durchquert hatte, auf der Suche nach dem Psychiatriepavillon, der sich natürlich am äußersten Rand der Anlage befand. Ein weißes, vierstöckiges Gebäude.

Sie nahm sich zusammen und schloss zu dem Arzt auf, der beinahe rannte. Als könne er es gar nicht erwarten, ihnen zu zeigen, was er ihnen bereits am Telefon beschrieben hatte.

«Gerd?» Florin, der sich knapp neben ihr hielt, schien mit seinen Bemühungen, Drasche von der Spurensicherung zu erreichen, endlich Erfolg zu haben. «Ja, ich bin’s. Hör zu, du musst ins Psychiatrische Therapiezentrum des Klinikums Salzburg-Nord kommen, wir haben hier einen Toten. Beeil dich. Wie bitte? Nein, natürlich halten wir uns zurück. Bis gleich.»

Er steckte das Handy in die Jackentasche und warf Beatrice einen schnellen Blick zu. «Zehn Minuten, sagt er, er ist gerade erst aufgestanden. Und ansonsten will er das Übliche.»

Dass sie nichts anfassten. Am besten nicht einmal atmeten, sobald sie sich dem Tatort näherten, um nur ja nichts zu verunreinigen.

Sie erkannten den Raum, um den es sich handeln musste, von weitem, schon an den vier uniformierten Kollegen, die sich rund um den Eingang postiert hatten. Trotzdem drehte sich der Arzt, dessen Namen Beatrice in der Eile nicht verstanden hatte, zu ihr um und deutete auf die Tür. «Da drin ist er.» In seinem Gesicht spiegelte sich eine merkwürdige Mischung aus Bedauern und Erwartung. «Mir fällt das nicht leicht, er war ein Kollege, den ich sehr geschätzt habe. Jung, talentiert, vielversprechend.»

Beatrice spürte Florins Blick. Er wartete darauf, dass sie nickte, dass sie ein Zeichen dafür gab, dass sie bereit war.

Sie räusperte sich. «Lassen Sie uns reingehen.»

Es war ein Untersuchungsraum, klein und fensterlos, aber in freundlichen Farben eingerichtet. Ein Stuhl, bespannt mit grünem Stoff, ein gelber Vorhang, um den Untersuchungsbereich bei Bedarf abzuschirmen.

Und … eine Liege.

Beatrice trat zwei Schritte näher. Der Mann, der dort ausgestreckt lag, war jung, höchstens Anfang dreißig. Sein weißer Kittel war blutgetränkt, vor allem an Kragen und Brust. Etwas Metallenes steckte in seinem Hals – kein Messer, nein. Es war ein dreikantiges Stück Stahl, das aussah wie ein Teil von etwas anderem. Wie etwas, das man im Baumarkt fand.

Das war das grausigste Detail an dem Bild, das sich ihnen bot, aber nicht das merkwürdigste. Viel seltsamer war das, was auf den Körper des toten Arztes drapiert worden war. Ein Kamm, der quer über seinem Bauch lag. Ein Kugelschreiber, der zwischen den Fingern seiner rechten Hand steckte, als sei er während des Schreibens gestorben. Und fünf quietschbunte, transparente …»

«Plastikmesser?», sagte Florin ungläubig.

Tatsächlich. Beatrice erlebte einen flüchtigen Moment der Unwirklichkeit, als ihr klarwurde, dass zu Hause, in irgendeinem Küchenschrank, die gleichen Messer lagen. Kindersicher, zum Verzweifeln stumpf und nur zum Streichen von Margarine oder Nutella geeignet.

Eines davon steckte im offenen Mund des Toten, zwei lagen überkreuzt auf seiner Brust, eines auf Nabelhöhe und das letzte in seinem Schritt. Rot, blau, gelb und grün.

Sie wollte eben fragen, ob der Arzt eine Erklärung für das Arrangement habe, da fiel ihr Blick auf ein weiteres verstörendes Detail.

Es war reichlich Blut geflossen, und einiges davon auf den Boden. Doch die Lache hatte die Form eines Halbmondes, es sah aus, als habe jemand versucht, sie wegzuwischen, und wäre dabei gestört worden.

Der Arzt war ihrem Blick gefolgt. «Ja, das erkläre ich Ihnen gleich. Ich möchte nur vorab etwas loswerden, das mir sehr wichtig ist.» Er legte die gefalteten Hände vor den Mund und schloss die Augen. «Wir sind hier in einer psychiatrischen Klinik, und damit wäre für achtundneunzig Prozent der Bevölkerung die Sachlage klar: Einer der Verrückten ist endgültig durchgedreht und hat seinen Arzt getötet.» Er schluckte und sah erst Florin, dann Bea bittend an. Seine Augen waren von einem so ungewöhnlich dunklen Blau, dass sie sich fragte, ob die Farbe echt war.

«Aber unsere Patienten sind nicht aggressiv. Keiner von ihnen hat eine kriminelle Vorgeschichte. Wenn sie je irgendwem etwas angetan haben, dann nur sich selbst. Ich halte es für ausgesprochen unwahrscheinlich, dass einer von ihnen Dr. Schlager getötet hat.»

Florin, der längst angefangen hatte, sich Notizen zu machen, blickte hoch. «Sie können davon ausgehen, dass wir uns nicht von Vorurteilen leiten lassen, Doktor Vasinski.»

Vasinski, genau, das war der Name gewesen. Beatrice sagte ihn sich in Gedanken vor, während sie das aus dem Hals ragende Stahlstück näher betrachtete. Noch etwas war hier merkwürdig …

«Florin?»

Er drehte sich zu ihr um, dieses leichte Lächeln auf den Lippen, das, wie sie beschlossen hatte, ihr allein gehörte. Er sah sonst niemanden so an. «Die Spuren», sagte er. «Nicht wahr?»

«Ja. Es sieht aus, als hätte er schon hier gelegen, als man ihm dieses Ding durch den Hals gebohrt hat. Nirgendwo sonst im Raum ist Blut.»

Eine Untersuchungsliege, die zur Schlachtbank geworden war. Vermutlich. Genaueres würde die Spurensicherung ihnen sagen können.

Wenn die eiligen Schritte, die sich über den Gang näherten, bereits Drasche gehörten, war er wirklich schnell. Doch der Mann, der mit Schwung den Raum betrat, ähnelte ihrem Kollegen überhaupt nicht.

Hochgewachsen, der kahle Schädel von einem dunklen Haarkranz umgeben, in dem sich bereits deutlich graue Strähnen abzeichneten. Grau auch die Augen, die Brauen darüber ungewöhnlich buschig.

Er schüttelte erst Beatrice, dann Florin die Hand. «Professor Alexander Klement. Ich bin der Leiter dieser Abteilung und stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Doktor Christian Vasinski kennen Sie bereits? Er ist mein stationsführender Oberarzt.»

Er gab dem Genannten ein schnelles Zeichen, und dieser schloss die Tür.

«Ich habe die Station räumen lassen, deshalb bin ich auch jetzt erst hier. Aber Sie müssen verstehen, wir arbeiten hier mit Traumapatienten. Mit Menschen, die so furchtbare Dinge durchgemacht haben, dass sie nicht mehr imstande sind, ihr Leben ohne Hilfe weiterzuführen.» Der Blick des Professors glitt kurz zu dem Körper auf der Liege hinüber. «Wir spezialisieren uns auf die schwersten Fälle. Wer hier behandelt wird, ist am Tiefpunkt angelangt. Ganz unten. Wir setzen unsere gesamte Expertise ein, um diesen Patienten wieder auf die Beine zu helfen, also kann ich keinesfalls riskieren, dass noch einer von ihnen den toten Dr. Schlager zu Gesicht bekommt.»

Beatrice öffnete den Mund zu einer Frage, doch Florin kam ihr zuvor. «Noch einer?»

«Ja.» Der Professor legte die Stirn in Falten. «Einer meiner Patienten hat die … die Leiche gefunden. Es hat ihn außerordentlich mitgenommen, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.»

Allerdings. Was Beatrice sich noch vorstellen konnte, war, dass der besagte Patient wohl kaum daran gedacht hatte, etwaig vorhandene Spuren nicht zu zerstören. Drasche würde toben, hoffentlich nur innerlich.

«Wo sind die Patienten jetzt?»

«In den Therapieräumen ein Stockwerk über uns. Sie sind gut betreut, und die wenigsten werden etwas mitbekommen haben. Manche von ihnen reagieren sehr empfindsam auf Veränderungen im Tagesablauf oder in der Atmosphäre, und beides wird sich nicht verhindern lassen.» Klement blickte kopfschüttelnd zu Boden. «Mein Gott. Ich begreife es nicht. Bevor Sie mich fragen – ich habe wirklich keine Erklärung für das, was passiert ist. Kollege Schlager ist … er war noch nicht lange hier, hat sich aber als ausgesprochen kompetent und umgänglich erwiesen. Man braucht auch Talent für die Psychiatrie, wissen Sie? Er hatte es.»

Die Tür sprang auf, herein kam Drasche, bereits im weißen Overall und mit den blauen Schuhüberziehern an den Füßen. «Hier sind zu viele Leute», stellte er statt einer Begrüßung fest. Hinter ihm tauchte Ebner auf, ebenfalls in Schutzkleidung und mit Kameratasche.

«Wir sind gleich weg, Gerd.» Florin besah sich einige Sekunden lang den Kugelschreiber, den der Tote zwischen den Fingern hielt. Dann nickte er den beiden Ärzten zu. «Können wir uns draußen weiter unterhalten?»

«Selbstverständlich.» Professor Klement ließ Beatrice an der Tür den Vortritt. «Wir gehen in mein Büro.»

Ein lautstarkes Aufstöhnen ließ sie herumfahren. Unter anderen Umständen wäre Drasches entgeisterter Blick amüsant gewesen.

«Wer war das?»

Der Professor hob die Augenbrauen. «Wer war was?»

«Hat jemand sich bemüßigt gefühlt zu putzen?» Anklagend wies Drasches behandschuhter Zeigefinger auf die zur Hälfte weggewischte Blutlache. «Haben Sie hier übermotiviertes Reinigungspersonal? Verdammt, das darf doch nicht wahr sein.»

Beatrice fragte sich, ob Professor Klements überaus verständnisvoller Blick echt oder seiner beruflichen Routine geschuldet war. «Nein», erklärte er in ausgesucht höflichem Ton. «Das war keine Putzfrau, sondern einer unserer Patienten. Er hat Dr. Schlager gefunden, unglücklicherweise.» Der Professor hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. «Bis jemand von uns hier war und ihn herausholen konnte, hatte er die Hälfte des Bluts schon aufgeleckt.»

2. Kapitel

Das Büro des Professors hätte auch das eines Firmenvorstands sein können. Cremefarbene Ledersofas, ein Teakschreibtisch von der Größe eines Segelbootes und moderne Gemälde in Weiß, Bronze und Erdtönen an den Wänden, farblich perfekt auf den Rest der Einrichtung abgestimmt.

Sie setzten sich, lehnten den angebotenen Kaffee ab und warteten, bis die Sekretärin das Zimmer wieder verlassen hatte.

«Erzählen Sie uns bitte, wann und wie genau der Tote gefunden wurde», begann Beatrice und wandte sich dabei an beide Ärzte gleichermaßen.

Professor Klement nickte Dr. Vasinski zu, der sich räusperte und mehrere Sekunden lang überlegte, bevor er zu sprechen begann. «Ich war im Dienstzimmer und hatte gerade meinen Computer eingeschaltet, da habe ich den Schrei gehört. Zuerst war ich nicht beunruhigt, es ist hier nicht ungewöhnlich, dass Patienten schreien, aber normalerweise ist sofort jemand dort, entweder Arzt oder Pflegepersonal, um sich zu kümmern.» Vasinski betrachtete seine ineinander verschränkten Hände. «Diesmal nicht. Also dachte ich, ich sehe selbst nach. Es hat länger gedauert, bis ich Trimmel gefunden habe, denn er hatte mittlerweile aufgehört zu schreien, und ich musste jeden Raum auf dem Gang absuchen.» Die blauen Augen des Arztes suchten Beatrices Blick und hielten ihn fest. «Da hatte er die Anweisungen schon fast zur Gänze ausgeführt.»

«Die Anweisungen?»

«Ja. Wissen Sie, kindliche Traumata können, wenn sie nicht behandelt werden und der Verlauf ungünstig ist, zu manifesten psychischen Erkrankungen führen. Im Fall von Walter Trimmel handelt es sich dabei um paranoide Schizophrenie.»

«Wahnvorstellungen?», hakte Florin ein.

«Ja. Er fühlt sich verfolgt, und er hört Stimmen, die ihm alles Mögliche einflüstern, unter anderem, dass man ihm hier das Essen vergiftet. Er kann nicht unterscheiden, ob wirklich jemand mit ihm spricht oder ob es eine akustische Halluzination ist.» Vasinski lehnte sich zurück und fuhr sich durchs Haar. «Diesmal hat eine der Stimmen ihm befohlen, das Blut aufzulecken. Er hat sich erst gesträubt, aber dann hat er es getan.»

Die Vorstellung ließ Beatrices Magen verkrampfen. Als Klement vorhin Drasche gegenüber erstmals erwähnt hatte, was mit dem Blut passiert war, war Beatrice davon überzeugt gewesen, der Betreffende habe das freiwillig getan, aus einem seiner Krankheit entspringenden Bedürfnis heraus.

Wie furchtbar musste es sein, zu so etwas gezwungen zu werden. Von Stimmen, die der eigene Kopf einem vorgaukelte.

«Wo ist Herr Trimmel jetzt? Bei den anderen Patienten?», fragte sie.

Nun ergriff wieder Klement das Wort. «Nein. Eine unserer Ärztinnen kümmert sich um ihn und bemüht sich um Schadensbegrenzung. Eigentlich hatten wir Herrn Trimmel nämlich in zwei Wochen wieder in seine Wohngemeinschaft zurückschicken wollen.» Eine Krankenschwester brachte ihnen die Personalunterlagen von Dr. Max Schlager. Dreiunddreißig war er erst gewesen. Noch ein knappes halbes Jahr hatte ihm gefehlt, dann hätte er seine Ausbildung zum Facharzt abschließen können. Auf dem Foto, das der Akte beigefügt war, wirkte Schlager sogar noch jünger, was vielleicht an einer widerspenstigen blonden Strähne lag, die über seine Stirn fiel.

«Was können Sie uns außerdem über ihn erzählen?» Florin sprach Klement und Vasinski zugleich an. «Dinge, die nicht in seiner Akte stehen?»

Vasinski kam seinem Chef mit der Antwort zuvor. «Er war sehr ehrgeizig. Kannte jede aktuelle Studie, knüpfte Kontakte zu anderen Zentren, arbeitete mehr, als von ihm verlangt wurde. Gleichzeitig lagen die Patienten ihm wirklich am Herzen, das war unübersehbar.»

«Ja, er hatte ein sehr gutes Gespür für die Menschen», meldete Klement sich zu Wort. «Sie schenkten ihm Vertrauen, was in unserem Beruf von größter Wichtigkeit ist.»

Also ein perfekter Jungpsychiater, dachte Beatrice. Dr. Vasinskis forschender Blick irritierte sie. Er sah sie schon die ganze Zeit unverwandt an. Fast als würde er sich an sie erinnern, aber nicht mehr genau wissen, woher.

Wenn das so war, irrte er sich. Sie vergaß keine Gesichter. Und seines hätte sie sich auf jeden Fall gemerkt, schon der Augen wegen.

«War Schlager beliebt unter seinen Kollegen?» Sie hatte sich an Dr. Vasinski gewandt und sah ihm demonstrativ in die Augen.

«Er hatte keine Feinde, wenn Sie das meinen. Auch keinen Streit, und er war noch zu jung, um den Oberärzten in die Quere zu kommen.» Vasinski schlug die Beine übereinander. «Ich denke, im Kollegenkreis werden Sie den Täter nicht finden.»

«Ein gutes Stichwort», warf Florin ein. «Wer hatte heute auf der Station Nachtdienst?»

«Das war ich.» Dr. Vasinski zuckte mit den Schultern. «Wenn Sie wissen wollen, ob ich ein Alibi habe – kein richtiges. Ich wurde zweimal zu Patienten gerufen, das können sowohl der Pfleger als auch die Schwester bezeugen, die ebenfalls Dienst hatten. Robert Erlacher und Tamara Fischer, ich bin sicher, beide stehen Ihnen gern Rede und Antwort.» Er seufzte bedauernd. «Aber dazwischen habe ich geschlafen, und egal, was man über uns Ärzte so sagt, ich war alleine.»

Er war glatt, dieser Vasinski, fand Beatrice. Und er fühlte sich eine Spur zu sicher.

Sie wandte sich an den Professor.

«Wir würden gern mit dem Mann sprechen, der Max Schlager gefunden hat», erklärte sie.

Wie erwartet war Klement nicht begeistert.

«Wir mussten ihn sedieren. Er war desorientiert und panisch – ich möchte nicht, dass sich sein Zustand durch eine zusätzliche Stresssituation weiter verschlechtert.»

Beatrice wechselte einen schnellen Blick mit Florin. Auf eine Befragung des Mannes zu verzichten hieße, gleich zu Beginn der Ermittlungen eine riesige Lücke zuzulassen.

«Und wenn Sie dabei wären?» Beatrice machte keinen Hehl daraus, wie dringend dieses Gespräch für sie war. «Bei der Vernehmung psychisch kranker Personen muss ohnehin eine Vertrauensperson anwesend sein. Meinetwegen auch gern zwei.»

Professor Klement schürzte die Lippen und richtete die Akte des toten jungen Arztes parallel zu den Tischkanten aus. «Gut», sagte er schließlich. «Wir versuchen es. Aber ich werde sofort unterbrechen, wenn ich den Eindruck habe, dass Sie die Grenzen des Verantwortbaren überschreiten, oder wenn ich sehe, dass es Herrn Trimmel schlechter geht.»

 

Das Zimmer lag auf der rechten Seite am Ende des Ganges. Vasinski ging voran, klopfte leise mit den Fingerknöcheln an die Tür und drückte sie auf. Wenige Sekunden später winkte er Beatrice und Florin herein.

«Herr Trimmel? Hier sind die beiden Polizisten, die gerne mit Ihnen sprechen möchten. Beatrice …» Er stockte.

«Beatrice Kaspary», sprang sie ein. «Und das ist mein Kollege, Florin Wenninger.» Sie nahmen Trimmel gegenüber Platz, dessen Blick starr auf die Tischplatte gerichtet war, auf einen Punkt knapp vor seinen ineinandergekrampften Händen. Ein kleiner Mann mit schütterem Haar.

Die Ärztin, die zu seiner Rechten saß, lächelte erst Florin, dann Beatrice zu. «Es wird gehen, denke ich. Nicht wahr, Walter?»

Ihr Ton war bestärkend und warm, obwohl Beatrice nicht entging, dass ihre Hände zitterten, fast unmerklich, aber doch. Sie bemerkte Beatrices Blick, und ihr Lächeln vertiefte sich. «Mein Name ist Leonie Plank. Ich bin Walter Trimmels behandelnde Ärztin. Max Schlager und ich haben in den letzten Monaten eng zusammengearbeitet, mir geht sein Tod sehr nahe. Aber über all das werden wir später noch sprechen, denke ich.»

Sie rückte ihre Brille zurecht, deren Rahmen das Dunkelbraun ihres kurz geschnittenen Haars aufnahm. Praktisch, nannte Beatrices Mutter diese Art von Frisur.

«Walter? Meinst du, du kannst mit den Polizisten reden?» Plank legte eine Hand auf seinen Arm, und Trimmel erschauerte.

«Sie wissen, wer ich bin», murmelte er.

Beatrice war nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte, und suchte den Blick der Ärztin, die sanft den Kopf schüttelte.

«Sie wissen, wer ich bin», wiederholte Trimmel und sah aus seinen wässrig blauen Augen auf. Seine Unterlippe bebte. Er fuhr mit der Zunge darüber, in kleinen, zuckenden Bewegungen.

Beatrice gelang es, nicht wegzusehen. «Wer weiß das, Herr Trimmel?»

Er zögerte, warf einen Seitenblick auf Plank, dann noch einen zu Klement und Vasinski, die sich im Hintergrund hielten. «Die geheimen Brüder», wisperte er. «Sie waren es, sie haben den Doktor umgebracht.»

Es fiel Beatrice nicht leicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Also nur die wahnhaften Vorstellungen eines kranken Menschen, der völlig in den Zerrbildern gefangen war, die sein Hirn ihm vorgaukelte.

Neben ihr beugte sich Florin ein Stück vor. Behutsam genug, damit Trimmel nicht zurückwich. «Warum sind Sie denn in den Behandlungsraum hineingegangen? Hatten Sie vorher etwas gesehen? Oder gehört?»

Der Mann schluckte. Seine Hände lösten sich voneinander, fuhren zu seinem Kopf, pressten sich gegen die Ohren. Zwei Sekunden lang, drei, dann sanken sie wieder zurück auf die Tischplatte.

«Ich habe Marie gesucht.» Seine Worte waren undeutlich und schwer zu verstehen. «Weil sie fort war. Manchmal versteckt sie sich. Aber vor mir hat sie keine Angst, und zweimal habe ich sie schon in dem Untersuchungszimmer gefunden, deshalb war ich dort …» Er hatte leiser und leiser gesprochen, das letzte Wort war kaum noch hörbar gewesen.

«Wer ist Marie?», erkundigte Beatrice sich, mehr an Doktor Plank gewandt als an Trimmel, dessen Hände eben wieder in Richtung Ohren wanderten.

«Eine unserer Langzeitpatientinnen.» War es Einbildung, oder schwang in der Antwort ein leichter Widerwille mit?

«Ich denke, über sie sprechen Sie besser mit Professor Klement.»

Bestätigendes Räuspern aus dem Hintergrund. Beatrice drehte sich nicht um, sie wollte den Blickkontakt zu Trimmel nicht verlieren. «Sie sind also in den Untersuchungsraum gegangen», nahm sie den Faden wieder auf. «Haben Sie dort jemanden gesehen?»

Erst nickte Trimmel, nur um sofort innezuhalten und den Kopf zu schütteln. Am Ende zuckte er mit den Schultern. «Dr. Schlager. Aber die anderen waren auch da.»

«Welche anderen?»

Er wollte es nicht sagen, sie konnte es ihm ansehen.

«Die geheimen Brüder?», soufflierte Florin.

Trimmels Augen leuchteten auf. «Ja! Hören Sie sie auch?»

Florin lauschte in den Raum. «Sind sie denn jetzt hier?»

Gequält verbarg Trimmel das Gesicht in den Händen. «Das sind sie immer. Immer.»

Sie ließen ihm Zeit. Nach mehr als einer Minute hob er den Kopf und atmete zitternd aus. «Ich höre sie jeden Tag, aber sie verstecken sich. Wenn Sie mich also fragen wollen, ob ich einen von ihnen gesehen habe – nein. Das habe ich nicht.»

Er hat Angst, dachte Beatrice. Wie furchtbar musste es sein, seinen eigenen Sinnen nicht trauen zu können. Dinge wahrzunehmen, die für niemanden sonst existierten.

«Aber Doktor Schlager haben Sie gesehen, nicht wahr?»

Er schloss matt die Augen. Nickte.

«Können Sie uns beschreiben, was Ihnen alles aufgefallen ist? Was genau?»

Für einen Moment verzog sich Trimmels Gesicht, als würde er gleich zu weinen beginnen. Doch als er sprach, war seine Stimme ruhig. «Sie haben ihn geopfert.»

Plank, die immer noch eine Hand auf dem Unterarm ihres Patienten liegen hatte, beugte sich ein Stück zu ihm. «Wer, Walter? Wer hat Doktor Schlager geopfert?»

«Na … sie. Die geheimen Brüder. Sie haben ein … Ritual mit ihm durchgeführt, und –» Er stockte. Sah an Beatrice vorbei, vermutlich nahm er Blickkontakt mit Professor Klement auf. «Blut», flüsterte er.

«Ja», assistierte Florin. «Da war Blut. Was ist Ihnen noch aufgefallen?»

In Trimmels Gesicht arbeitete es. «Unsere kleinen Streichmesser. Die für die Marmelade.»

«Haben Sie die dort hingelegt?»

Er sah Florin ängstlich an, als wäre das eine furchtbare Möglichkeit, die er selbst noch nicht in Erwägung gezogen hatte. «Nein», flüsterte er, schüttelte heftig den Kopf und wiederholte, lauter: «Nein!»

Hinter sich spürte Beatrice Unruhe. Die beiden Ärzte, die sich bisher völlig aus dem Gespräch herausgehalten hatten, würden es nun bald beenden.

«Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?», fragte sie und schüttelte innerlich über ihren eigenen Ton den Kopf. Sie hörte sich an, als redete sie mit ihrem Achtjährigen über die Hausaufgaben.

Doch das schien Trimmel am wenigsten zu irritieren. Er knetete seine linke Hand mit der rechten, und sein Gesicht verzog sich wieder zu einer weinerlichen Grimasse.

«Sie war auch da. Und sie hat mir befohlen, ich soll es auflecken. Immer wieder. Leck es auf, hat sie gesagt.»

«Das Blut?»

«Ja.» Er presste die Lippen aufeinander, als wollte er den Befehl noch im Nachhinein verweigern.

Vielleicht war es nur eine der Stimmen gewesen, vielleicht aber auch eine reale Person. Kurz glitt Beatrices Blick zu Plank. «Keiner von den Brüdern, sondern eine Frau, ja? Kannten Sie sie, Herr Trimmel?»

«Natürlich», hauchte er.

«Können Sie mir ihren Namen sagen?»

Er nickte. Seine Lippen formten das Wort zweimal lautlos, bevor er es aussprach. «Mama.»

3. Kapitel

«Sie verstehen, dass ich über das Trauma, das zu Walter Trimmels Erkrankung geführt hat, nicht sprechen kann», erklärte Professor Klement, als sie das Zimmer verlassen hatten. «Das alles unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht, aber möglicherweise können Sie sich ja die groben Umstände zusammenreimen.»

Ja, das konnte Beatrice. Auf jeden Fall würde sie sich aber nach polizeilichen Unterlagen umsehen, die es zu Trimmels Vorgeschichte vielleicht gab.

Mama. Sie steckte ihre Hände in die Jackentaschen und sah zu Florin auf, der schweigend neben ihr herging. Unterdrückte das Bedürfnis, ihm eine der widerspenstigen dunklen Strähnen glatt zu streichen, die immer kreuz und quer standen, nachdem er sich durchs Haar gefahren war.

Vor dem Büro des Professors wartete Drasche, nach wie vor im Schutzanzug, aber bereits ohne das blaue Häubchen auf dem Kopf.

«Wir sind fertig. Der Tote wird in Kürze abgeholt und auf die Gerichtsmedizin gebracht. Bin sehr gespannt auf die Todesursache.»

Er sah abschätzend in die Runde. «Dass es nicht die Stahlleiste in seinem Hals war, müsste jedem der Anwesenden klar sein. Wir sind hier Polizisten und Ärzte, nicht wahr?»

Natürlich hatte er recht. Beatrice war vor allem auf die ungewöhnlichen Begleiterscheinungen am Fundort konzentriert gewesen – die bunten Messer, das aufgeleckte Blut – und nur in zweiter Linie auf das, was nicht vorhanden war.

Spritzmuster an den Wänden, beispielsweise. Hätte der Täter Max Schlager das Metallstück in die Halsschlagader gerammt, als er noch am Leben war, hätte der Herzschlag das Blut in Fontänen herausgepumpt. Aber so war es auf den Boden unterhalb der Liege gelaufen, und der Rest des Raums war sauber geblieben.

Florin zog Beatrice und Drasche ein Stück von den Ärzten weg. «Was kannst du uns sonst noch sagen, Gerd?»

Drasche holte ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich. «Diese Messerchen sind voll von Fingerabdrücken, dafür ist die Stahlleiste so blitzblank, als hätte man sie frisch aus der Verpackung geschält. Zumindest mit bloßem Auge finde ich da gar nichts, aber ich sehe sie mir später im Labor noch genauer an.» Er steckte das Taschentuch wieder ein.

«Ansonsten – perfekte Bedingungen. Hier wird ständig geputzt und jeder Putzgang dokumentiert. Wir wissen also, dass elf Stunden vor dem Leichenfund das letzte Mal sauber gemacht worden ist. Was wir an Haaren, Fasern und Abdrücken gefunden haben, müsste daher aus dem Zeitraum dazwischen stammen», erklärte Drasche sichtlich zufrieden.

«Okay.» Beatrice warf einen Blick über die Schulter zurück. Klement und Vasinski warteten immer noch vor der Tür zum Chefbüro. Sie unterhielten sich leise. «Wir machen hier alles fertig und kommen dann nach. Bis gleich.»

 

Im Büro des Klinikleiters war inzwischen Kaffee aufgetragen worden. Beatrice schüttete reichlich Milch und Zucker in ihre Tasse, nahm einen Schluck und lehnte sich zurück.

«Wir brauchen die Dienstpläne der letzten zwei Tage», sagte Florin gerade. «Ärzteschaft und Pflege. Außerdem eine Liste aller anderen Menschen, die Zutritt zur Abteilung hatten – Reinigungspersonal, Verwaltungsleute, Zulieferer, Besucher. Und natürlich Patienten. So vollständig wie irgend möglich.»

Dr. Vasinski blickte zur Seite, als würde er im Geiste schon erste Namen notieren, während Professor Klement sich die Stirn rieb.

«Die Besucher, die auf die Traumastation wollen, müssen sich anmelden. Das halten wir deshalb so, weil immer wieder die Personen Kontakt suchen, die das Trauma verursacht oder mitverursacht haben. Aber trotzdem ist es theoretisch denkbar, dass jemand von einer der anderen Stationen oder Abteilungen hier hereingekommen ist. Darüber haben wir keinen Überblick.»

«Deshalb meinte ich: so vollständig wie möglich», wiederholte Florin und warf einen Blick auf die Uhr. «Fürs Erste sind wir fertig, aber wir werden uns bald wieder melden, eventuell sogar noch heute.» Sie waren schon kurz vor dem Ausgang, als Beatrice einen Schrei hörte. Schrill, schmerzerfüllt, angstvoll. Beinahe wäre sie wieder umgekehrt.

Doch die beiden Schwestern, die ihnen entgegenkamen, wirkten nicht im Geringsten alarmiert. Sie grüßten freundlich und setzten ihre Unterhaltung so ungerührt fort, als hörten sie nicht, dass sich in unmittelbarer Nähe eine Frau die Seele aus dem Leib schrie.

Dann verebbte das Schreien. «Komm», sagte Florin. «Es ist schon spät, und wir haben noch eine Menge zu tun.»

 

Er bestand darauf, dass sie etwas aßen, wenigstens einen Imbiss in einem Café nahmen. Beatrice kämpfte mit ihrem Thunfischsandwich. Sie wusste, was ihnen gleich bevorstand, und es nahm ihr wie jedes Mal den Appetit. Die Toten ertrug sie, auch wenn der Anblick und die Vorstellung von ihren letzten Momenten ihr oft zusetzte. Doch der Schmerz der Lebenden war viel schlimmer. Hätte es einen Aspekt ihres Berufs gegeben, den sie hätte streichen dürfen, wäre es das gewesen, was heute noch vor ihr lag: Den Eltern die Nachricht vom Tod ihres Kindes zu überbringen.

Nach drei Bissen legte sie das Sandwich zurück und schob den Teller von sich. «Sorry. Geht nicht.»

Florin nahm ihre Hand und strich leicht mit dem Daumen über die Innenfläche. Die Geste war typisch für den Schwebezustand, in dem sie sich seit gut zwei Monaten befanden. Es war, als seien sie in ein Gewebe aus Blicken und Berührungen verstrickt, aus Aufmerksamkeiten und Andeutungen. Nichts, worauf man den Finger legen konnte, gleichzeitig so viel, dass es Beatrices Leben eine neue Farbe verlieh.

«Okay», sagte er dann. «Lass uns fahren.»

Die Adresse, unter der Rudolf und Lydia Schlager gemeldet waren, ließ eindeutige Schlüsse auf die Vermögensverhältnisse der Familie zu. Wer eine Villa in der direkt an Salzburg grenzenden Gemeinde Anif mieten oder sogar sein Eigen nennen konnte, gehörte zu den mehr als wohlhabenden Bürgern.

Florin parkte vor dem dunkelgrün lackierten Schmiedeeisenzaun ein, hinter dem sich ein großzügiger Garten mit alten Bäumen erstreckte. Das zweigeschossige Haus schimmerte weiß durch die herbstlich verfärbten Blätter.

Rudolf Schlager, Internist verkündete ein poliertes Messingschild neben dem Eingang, darunter waren die Ordinationszeiten angeführt. Wenn Schlager sich daran hielt, dann war er jetzt bei der Arbeit. Beatrice seufzte gegen ihre Nervosität an. Es würde noch schwieriger werden als gedacht.

Beim Drücken der Klingel sprang das Tor sofort auf. Sie durchquerten den Garten, ohne ein Wort zu wechseln. An der Art, wie Florin seine Schritte beschleunigte, meinte Beatrice zu erkennen, dass er das, was nun kam, ebenfalls möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Und dass er es übernehmen würde, die Hiobsbotschaft zu überbringen.

Die Tür zur Ordination befand sich gut sichtbar auf der linken Seite des Hauses, die zu den privaten Bereichen vermutlich an der rechten Seitenfront. Dorthin führte ein Weg aus weißen Pflastersteinen. Florin wandte sich nach links und drückte leicht gegen die Ordinationstür, die sofort aufsprang.

Gleich, dachte Beatrice. Gleich schlagen wir in das Leben dieser zwei Menschen eine tiefe, nicht wieder zu heilende Scharte. Und sie wissen es noch nicht.

Die Sprechstundenhilfe lächelte ihnen verbindlich entgegen. «Sie haben einen Termin?»

«Nein.» Florin beugte sich über den Empfangstisch und senkte seine Stimme. «Wir kommen von der Polizei und müssten Dr. Schlager sprechen, es ist dringend.»

Die Frau reagierte nicht allzu beeindruckt. «Verstehe. Möchten Sie im Wartezimmer Platz nehmen? Ich sage dem Herrn Doktor Bescheid, aber es kann noch ein Weilchen dauern.»

«Nein.» Nur eine Silbe, doch die ließ keinen Widerspruch zu. «Es eilt leider. Am besten wäre es wahrscheinlich, Sie würden die wartenden Patienten nach Hause schicken und alle seine Termine für heute absagen.»

Nun wirkte die Sprechstundenhilfe verunsichert. «Was ist denn passiert?», fragte sie. Gleichzeitig schien ihr klar zu sein, dass sie darauf wohl keine Antwort bekommen würde, denn sie stand auf, klopfte an die Tür zum Behandlungsraum und trat kurz darauf hinein.

Es dauerte höchstens eine Minute, bis sie wieder erschien, doch Beatrice kam es viel länger vor. Sie studierte eine Broschüre über Ernährung bei Diabetes und fand gleichzeitig, dass sie sich lieber auf die Aufgabe konzentrieren sollte, die vor ihr lag.

«Kommen Sie bitte mit mir», sagte die Sprechstundenhilfe und führte sie einen mit grünem Teppich ausgelegten Gang entlang zu einem … Salon. Der Begriff Zimmer wäre völlig unangebracht gewesen. Stilmöbel, Gobelins, ein riesiger Kamin. «Dr. Schlager wird gleich bei Ihnen sein.»

Sie wollte gehen, doch Florin hielt sie zurück. «Ist Frau Schlager zu Hause, wissen Sie das zufällig?»

«Äh. Ich glaube schon.»

«Könnten Sie sie bitte ebenfalls holen?»

Die Schlüsse, die sie daraus zog, waren der Sprechstundenhilfe am Gesicht abzulesen. Sie schluckte, blinzelte und nickte. «Ich sage ihr Bescheid.»

Sie warteten. Eine antike Standuhr tickte ihnen lautstark jede einzelne Sekunde vor. Als wieder Schritte auf dem Gang zu hören waren, zog sich Beatrices Magen zusammen. ’

«Guten Tag.» Doktor Schlager war ein mittelgroßer, leicht untersetzter Mann mit der Aura eines Befehlshabers. Seine Frau überragte ihn knapp. Sie war schön, auf eine Art, der man anmerkte, wie viel Aufwand und Mühe es sie kostete. Von Geld ganz abgesehen.

«Nehmen Sie doch bitte Platz.» Keine Aufforderung, sondern eine Anweisung. Trotzdem rührte Beatrice sich nicht von der Stelle. Florin trat einen Schritt auf den Arzt zu.

«Mein Name ist Wenninger, und das ist meine Kollegin, Beatrice Kaspary. Wir sind vom LKA Salzburg, Abteilung Leib und Leben. Es tut mir sehr leid, aber ich habe eine schlimme Nachricht für Sie.» Es fiel auch ihm nicht leicht, Beatrice sah, wie seine Brust sich unter einem schweren Atemzug hob.

«Ihr Sohn Max ist heute Morgen tot aufgefunden worden, in der Klinik. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.»

Beatrice war darauf vorbereitet gewesen, aber trotzdem war sie nicht schnell genug bei ihr, um die Frau zu stützen, als die Beine unter ihr nachgaben. Sie kniete auf dem Teppich, klammerte sich an die Couchlehne, ihr ganzer Körper zitterte, ohne dass sie einen Laut von sich gab.

«Kommen Sie», murmelte Beatrice. «Ich helfe Ihnen.»

Doch Lydia Schlager rührte sich nicht. Ihre Finger krallten sich in die Lehne, ihr Atem ging stoßweise. Beunruhigt stellte Beatrice fest, dass ihr Gesicht jede Farbe verloren hatte.

Sie holte ihr Handy hervor, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. In Anbetracht der Situation war es nicht zu verantworten, dass Rudolf Schlager seine Frau selbst medizinisch versorgte. «Stefan? Hallo. Schick uns bitte einen Arzt nach Anif, Staufenweg 12.»

«Die Eltern des toten Psychiaters?»

«Genau.» Sie mochte vieles an Stefan; seine schnelle Auffassungsgabe war nur eine Eigenschaft davon.

Wenn sie Glück hatten, würde es fünfzehn Minuten dauern, wenn nicht, gut und gerne doppelt so lang. Lydia Schlager hatte endlich zu weinen begonnen, ihre Schluchzer kamen in krampfhaften, kurzen Stößen. Beatrice nahm sie in den Arm, gefasst auf eine heftige Reaktion, auf Schläge, die sie stellvertretend für das Schicksal würde einstecken müssen – es wäre nicht das erste Mal gewesen. Aber Schlager sah sie nicht einmal an, es war, als würde sie die Berührung überhaupt nicht wahrnehmen.

Ein kurzer Blick zum Vater des Opfers zeigte Beatrice einen völlig anderen Mann als noch bei der Begrüßung. Er war auf einen Stuhl gesunken und rang um Haltung. Florin war vor ihm in die Hocke gegangen und beantwortete offenbar seine Fragen, leise und sichtlich bedacht darauf, seine Worte nicht bis zu Lydia Schlager dringen zu lassen.

Beatrice schnappte einige Satzfetzen auf, die sich um die vermutliche Tatzeit drehten, dann begann die Frau in ihren Armen zu schreien. So laut, als hätte sie unerträgliche körperliche Schmerzen.

Ihr Mann sprang auf und zog sie aus Beatrices Griff, presste sie an sich und hielt sie, als sie in sich zusammensackte, als wäre etwas in ihr zerbrochen. In seinen Augen standen Tränen.

Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis der Arzt eintraf, Lydia Schlager ein Beruhigungsmittel injizierte und dafür sorgte, dass sie sich ins Bett legte.

«Dr. Schlager, wir wollen Sie nicht länger stören als unbedingt nötig», sagte Florin, als Ruhe eingekehrt war. «Aber wir müssen möglichst viel über die Lebensumstände Ihres Sohnes wissen. Hatte er eine Beziehung? Hatte er Streit mit jemandem? Gab es –»

«Max ist seinem Chef ein Dorn im Auge», fiel der Arzt Florin ins Wort. Seine Stimme schwankte, die letzten drei Worte waren kaum mehr hörbar. Beatrice beobachtete voll Mitgefühl, wie er Tränen wegzublinzeln versuchte und dabei scheiterte. «Er ist sehr – gewissenhaft, verstehen Sie? So haben wir ihn erzogen. Pflichtbewusst. Von klein auf habe ich ihm erklärt, dass für einen Mediziner nichts wichtiger sein darf als das Wohl seiner Patienten.» Schlager hatte den Kampf gegen seine Trauer aufgegeben und weinte nun offen. «Immer wieder hat Max mir erzählt, dass in der Klinik nicht alles mit rechten Dingen zugehe. Einen Saustall hat er sie genannt.»

Das war ja interessant. «Ist er darauf genauer eingegangen?», hakte Beatrice nach.

In einer Geste, die sie an einen unglücklichen Fünfjährigen erinnerte, wischte Schlager sich das Gesicht mit dem Ärmel trocken. «Nein. Er wollte keinen Verdacht aussprechen, den er nicht auch beweisen konnte, aber es war ziemlich klar, was er dachte. Dass Klement Dreck am Stecken hat.» Mit unsicheren Schritten ging Schlager zum Fenster und lehnte seine Stirn gegen die Scheibe. «Das ist bei vielen leitenden Ärzten so. Es kommt nur fast nie ans Licht.» Er stieß zitternd die Luft aus. «Ich möchte meinen Sohn sehen.»

«Ja, natürlich», versicherte ihm Florin. «Sobald es möglich ist.»

Es war Schlager klar anzusehen, dass er begriff, was gemeint war. Gerichtsmedizin. Leichenöffnung. Er ließ sich auf den am nächsten stehenden Stuhl sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

«Wir halten Sie auf dem Laufenden.» Beatrice machte Florin ein Zeichen in Richtung Tür. «Und wir melden uns bald wegen der Liste von Max’ Freunden und Bekannten.»

Schlager rührte sich nicht, aber sie war überzeugt davon, dass er sie verstanden hatte und diese Liste schreiben würde, sobald er wieder klar denken konnte. Mit dem gleichen Pflichtbewusstsein, das er seinem Sohn eingetrichtert hatte.

Erst als sie wieder auf der Straße standen, zückte Beatrice ihr Handy und warf einen Blick auf das Display. Drei entgangene Anrufe. Zwei von Achim, die konnten warten. Einer aus der Gerichtsmedizin. Von Vogt.

Florin war schon dabei, seine Sprachbox abzuhören. «Sie möchten uns bei der Obduktion sehen, wenigstens einen von uns.»

 

Vogt war bereits völlig in seinem Element, er winkte Beatrice und Florin nur kurz zu, während er weiter in sein Diktaphon sprach. Die Sichtung und Dokumentation der Kleidung des Toten musste er eben abgeschlossen haben, denn die beiden Sektionsassistenten waren nun damit beschäftigt, Max Schlager so vorsichtig wie möglich aus Arztkittel, Hemd und Hose zu schälen, dabei ragte die Metallschiene nach wie vor aus seinem Hals.

«Es handelt sich um einen Mann, dreiunddreißig Jahre alt, ein Meter zweiundachtzig groß, siebenundsiebzig Kilo schwer, athletischer Körperbau», diktierte Vogt in seinem typischen monotonen Singsang. «Ernährungszustand gut, Hautfarbe unauffällig.»

Während der Gerichtsmediziner einen Protokollpunkt nach dem anderen abhakte, betrachtete Beatrice das Gesicht des Toten. Sie musste den Gedanken verdrängen, dass Vogt in wenigen Minuten den Schädel aufsägen und das Gehirn herausnehmen würde, um es zu wiegen und zu vermessen. In den starren Zügen des Toten fand sie Ähnlichkeiten zu beiden Elternteilen, aber die Mutter hatte ihrem Sohn das gute Aussehen vererbt.

Beatrices Blick wanderte nach unten und blieb an der Schiene hängen. Max Schlagers Vater verdächtigte Professor Klement. Sie fragte sich, ob er dabei bleiben würde, wenn er wüsste, wie der Tote zugerichtet war. Dass Klement jemandem eine Stahlschiene durch die Kehle stieß, war für sie nur schwer vorstellbar. Aber natürlich trotzdem nicht unmöglich.

«Narbe einer Appendektomie, siehe Skizze», hörte sie Vogt sagen. «Außerdem sieben Zentimeter lange Narbe am linken Oberschenkel, siehe Skizze. Hämatom …»

Vogt stockte kurz. «Hämatom in der linken Armbeuge», fuhr er fort. «Frische Einstichstelle ebendort.» Mit einer Kopfbewegung winkte er Beatrice und Florin näher und hielt Schlagers Arm ein Stück hoch.

«Seht ihr das? Macht ganz den Eindruck, als hätte er sich noch schnell einen Schuss gesetzt, bevor er abgetreten ist. Die Einstichstelle zeigt keine Spuren einer beginnenden Wundheilung, eventuell ist also das Zeug, das er sich in die Vene gejagt hat, ursächlich für seinen Tod verantwortlich.»

Gewissenhaft. Pflichtbewusst. Hatte sein Vater sich so in Max Schlager getäuscht?

Vogt las Beatrice den Gedanken offenbar vom Gesicht ab. «Ungewöhnlich ist das nicht. Psychiater trinken fast so viel wie Chirurgen, und sie kommen noch viel leichter an die interessanten Pharmazeutika heran. Ich bin rasend gespannt, was die toxikologische Untersuchung zum Vorschein bringen wird.»

Der Einstich war sauber. Das ließ tatsächlich darauf schließen, dass Schlager sich selbst etwas injiziert hatte. Eine Vene zu treffen war schon unter normalen Umständen nicht immer leicht; wenn jemand sich wehrte, wurde es praktisch unmöglich. Und es gab nirgendwo Abwehrverletzungen. Keinerlei Anzeichen eines Kampfes.

«Meinetwegen, soll er sich am Medikamentenschrank bedient haben», meinte Florin nachdenklich. «Aber er hat sich ganz sicher nicht diese Stahlschiene in den Hals gerammt.»

«Oh, da bin ich Ihrer Meinung», stimmte Vogt gutmütig zu. «Könnte aber zweitrangig sein, zumal das vermutlich erst post mortem geschehen ist.»

Er schaltete sein Diktaphon wieder ein. «Rechter Arm unauffällig. Untere Extremitäten …»

Beatrice drehte sich um und steuerte einen der Stühle an, die an der Wand standen. Als Saustall hatte Max Schlager die Klinik seinen Eltern gegenüber bezeichnet – was, wenn er damit auf den saloppen Umgang mit psychogenen Substanzen angespielt hatte? Und nicht auf Professor Klements angebliche dunkle Machenschaften?

Während Vogt die Knochensäge zückte, tat Beatrice das Gleiche mit ihrem Handy. Ein guter Zeitpunkt, um Achim zurückrufen, schon um des lieben Friedens willen. Vielleicht konnte er morgen die Kinder nicht nehmen oder wollte ihr bloß eine organisatorische Kleinigkeit mitteilen.

Sie seufzte. Nein, dann hätte er sich mit einer SMS begnügt. Persönliche Gespräche suchte ihr Exmann nur, wenn er das dringende Bedürfnis danach hatte, ihr Vorwürfe zu machen.

Kreischend fraß das Sägeblatt sich in den Schädelknochen. Beatrice steckte ihr Handy wieder weg und schloss die Augen. Ihr Bedarf an Bedrückendem war für den Moment gedeckt. Achim würde warten müssen.

Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass Florin die Stellung beim Obduktionstisch hielt, dann lehnte sie sich zurück und ließ ihre Gedanken wandern.

Bunte Plastikmesser, ein Kamm und ein Kugelschreiber. Es war naheliegend, dass einer der Patienten Schlagers Leiche auf diese Weise verziert hatte, auch wenn Walter Trimmel behauptete, es nicht gewesen zu sein. Der Anblick hatte Beatrice daran erinnert, wie Jakob früher seine Sandburgen mit Muscheln geschmückt hatte. Ungeschickt, aber liebevoll.

Gedankenverloren beobachtete sie, wie Vogt das entnommene Hirn auf die Waage legte. Alles, was Schlager je erfahren, gelernt und gedacht hatte, war in diesem grauen Klumpen gespeichert gewesen. Und die geringste biochemische Störung in einem solchen Gehirn sorgte dafür, dass ein normales Leben nicht mehr möglich war. Wie bei Walter Trimmel.

Unwillkürlich fasste Beatrice sich an den eigenen Kopf, war sich dessen Inhalt und seiner Anfälligkeit auf einmal unangenehm bewusst.

Dieser Fall würde anders werden. Es war ein Spiel mit lauter Unbekannten. Vielleicht ging es diesmal gar nicht darum, ein Motiv zu finden, weil Schlagers Tod nur einem Ungleichgewicht an Botenstoffen im Hirn eines der Klinikpatienten geschuldet war.

Sie ließ den Rest der Leichenöffnung mit all ihren Geräuschen und Gerüchen an sich vorbeiziehen, im Geiste schon bei ihrem nächsten Schritt. Wenn nicht bereits Drasches Spuren eindeutige Schlüsse zuließen, dann würde Beatrice sich auf die Arzt-Patienten-Beziehungen in der Traumaklinik konzentrieren. Vielleicht irrte sie sich, aber dort witterte sie höheres Konfliktpotenzial als in Schlagers kompliziertem Verhältnis zu seinem Chef.

4. Kapitel

«Kein einziger Fingerabdruck auf der Schiene», eröffnete Drasche ihnen gleich zu Beginn. «Die wurde geradezu blank geputzt und danach nicht mehr mit bloßen Händen angefasst.»

Sie saßen in Beatrices und Florins Büro, durch dessen Fensterscheiben die Nachmittagssonne kraftlose Strahlen warf. Der Duft von Kaffee, der dem Raum in der letzten halben Stunde etwas wie Heimeligkeit verliehen hatte, war verflogen. Beatrice sah in Minutenabständen auf die Uhr. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, um die Kinder aus der Betreuung abzuholen. Leider wirkte Drasche nicht so, als hätte er vor, sich mit seinem Bericht zu beeilen.

«Die Schiene war übrigens zur Befestigung eines Hängeschranks in der Schwesternküche gedacht», fuhr er nach einem genüsslichen Schluck aus seiner Kaffeetasse fort. «Ich habe mir das Gegenstück dazu angesehen. So richtig scharf sind die Kanten nicht. Wer auch immer es war, der dem Opfer das Ding in den Hals gerammt hat, er muss viel Kraft aufgewendet haben.»

Um jemanden zu durchbohren, der schon tot war. Ein symbolischer Akt?

Der nächste Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie in spätestens drei Minuten im Auto sitzen musste. «Wie sieht es sonst mit Spuren aus? Auf den Plastikmessern, zum Beispiel. Auch nichts?»

Drasche klopfte mit dem Kaffeelöffel gegen den Tassenrand. «Doch. Jede Menge sogar, auf jedem einzelnen davon. Und in ganz großartigem Zustand.»

Beatrice hatte bereits begonnen, ihre Tasche zu packen. Handy, Autoschlüssel, Portemonnaie, alles da.

«Sonst noch etwas Auffälliges?», hörte sie Florin fragen.

«Na ja. Keinerlei Abwehrverletzungen, aber das werdet ihr auch von Vogt hören. Und natürlich haben wir Proben von den Stellen genommen, an denen der arme Irre angeblich das Blut weggeleckt haben soll; wir werden prüfen, ob da wirklich Spuren seines Speichels enthalten sind.»

Im Aufstehen fing Beatrice Drasches missbilligenden Blick auf. «Ich bin eigentlich noch nicht fertig», murrte er.

«Ja, und es tut mir sehr leid, aber ich bin schon wahnsinnig spät dran. Kinder und so.» Sie warf sich den Riemen der Tasche über die Schulter und schaltete ihren Computer aus.

«Na ja, Wenninger wird Ihnen morgen ja alles erzählen.» Drasche warf einen Blick in seine Tasse und stellte sie mit einem Seufzer des Bedauerns auf den Schreibtisch.

«Gar keine Frage», gab Florin zurück. Er nickte ihr lächelnd zu. «Schönen Abend, Bea.»

 

Der Wunsch mochte noch so gut gemeint gewesen sein, er erfüllte sich nicht. Als Beatrice bei der Schule ankam, wartete bereits die Betreuerin auf sie, mit je einem fix und fertig angezogenen Kind an jeder Seite. «Ich habe Sie angerufen», sagte sie und kam damit Beatrices Begrüßung zuvor. «Aber Sie haben nicht abgehoben. Also habe ich es bei Ihrem Mann versucht, und der wollte sofort kommen. Er wird jede Minute da sein, denke ich.»

Großartig. Am liebsten hätte Beatrice mit dem erstbesten schweren Gegenstand nach der Frau geworfen. Sie checkte ihr Handy, tatsächlich, zwei entgangene Anrufe. Verpasst, weil sie das Telefon vor der Leichenöffnung lautlos gestellt und anschließend vergessen hatte, den Ton wieder einzuschalten.

«Ein netter Kerl, Ihr Mann», plapperte die Betreuerin weiter. «Nicht viele würden einfach ihre Arbeit stehen und liegen lassen, um für ihre Frau einzuspringen.»

Beatrice entging der leicht vorwurfsvolle Ton in der Stimme ihres Gegenübers nicht.

«Er ist mein Exmann. – Nur der Form halber», gab sie zurück. Es klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte.

Und er ist kein netter Kerl, fügte sie stumm hinzu. Am liebsten hätte sie die Kinder geschnappt und wäre sofort nach Hause gefahren, aber sie wusste, dass Achim ihr das ewig vorhalten würde.

Der schwarze Audi bog zehn Sekunden später um die Ecke. Beatrice musterte das gerötete, angestrengt dreinblickende Gesicht hinter der Windschutzscheibe nur kurz, dann drehte sie sich zu der Betreuerin um und streckte ihr die Hand hin. «Danke für Ihre Bemühungen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.»

Es war offensichtlich, dass die Frau gern noch ein wenig geblieben wäre – zumindest, um sich für ihren Einsatz und ihre Umsicht loben zu lassen. Vielleicht auch, um einen Blick hinter die Kulissen des Familienlebens der Kasparys zu werfen.

Aber Beatrices Wink war deutlich genug gewesen. Die Betreuerin verabschiedete sich mit einem Lächeln und einem Kopfnicken zu Achim hin, der gerade aus dem Wagen stieg.

«Hallo.» Beatrice hasste sich für ihren entschuldigenden Ton, umso mehr als sie wusste, dass er die Situation nicht retten würde. Sie hatte einen Fehler gemacht, sie war im Unrecht, und das würde Achim ihr genussvoll unter die Nase reiben.

«Ach. Die Frau Kommissarin.» Er warf die Autotür hinter sich zu, nicht zu laut, zumal die Betreuerin noch in Hörweite war. «Hast du dich doch noch daran erinnert, dass du Kinder hast?»

«Hallo, Papa!» Mina fiel ihm um den Hals, stürmischer als Beatrice es von ihr kannte. Achim hob seine Tochter hoch und wirbelte sie einmal im Kreis.

«Überraschung, hm? Ich freue mich so, euch zu sehen, meine beiden Schätze!»

Jakob stürzte sich nicht sofort auf seinen Vater, er tastete nach Beatrices Hand und drückte sie. Die Geste war so vielsagend und liebevoll, dass Beatrice einen Moment lang befürchtete, ihr würden die Tränen kommen. Er war doch erst acht, er sollte nicht das Gefühl haben, sie beschützen zu müssen.

«Ich hatte mein Handy versehentlich lautlos geschaltet», erklärte sie, an Achim gewandt. «Aber es war ein höllischer Tag. Trotzdem – mein Fehler. Tut mir leid, dass sie dich bei der Arbeit gestört haben.»

«Och. Das muss dir nicht leidtun.» Sein Ton hatte diese falsche Freundlichkeit angenommen, die sie so hasste. «Für mich ist immer klar, dass die Kinder zuerst kommen und nicht mein ach so wichtiger Job.»

Sie konnte sich eine Replik nicht verkneifen. «Das hast du aber erst beschlossen, nachdem wir geschieden waren, oder?»

Er antwortete nicht, sondern hob den Kopf und schnupperte. «Was riecht denn hier so scheußlich?»

Das war zu erwarten gewesen. Der Geruch des gerichtsmedizinischen Seziersaals verfing sich immer in ihrem Haar, Häubchen hin oder her, aber er war keinesfalls so durchdringend, wie Achim vorgab.

«Besser, du gehst unter die Dusche.» Er rümpfte demonstrativ die Nase. «Und ich nehme meine zwei Lieblinge und wir gehen … zum Chinesen? Was haltet ihr davon?»

Jubel, jetzt auch bei Jakob. Beatrice ließ seine Hand los. «Eigentlich hast du die Kinder erst morgen, Achim, und …»

«Schon gut», unterbrach er sie brüsk. «Keine Sorge, ich nehme sie morgen auch. Das macht mir nichts aus, ganz im Gegenteil.»

«Darum geht es mir doch gar nicht.» Wieso geriet sie Achim gegenüber eigentlich immer in die Defensive? «Aber hast du dir noch nie überlegt, dass ich mich vielleicht auch auf den Abend mit ihnen gefreut habe?»

Seine Mundwinkel zuckten, als müsse er sich ein Lachen verkneifen. «Hast du etwa schon vorgekocht? Oder holst du die übliche Lasagne aus der Tiefkühltruhe?»

Sie hatte Lust, ihn zu anzubrüllen, ihm entgegenzuschleudern, was für ein Arschloch er war. Aber nicht vor den Kindern.

Mina brauchte sie nicht zu fragen, mit wem sie lieber gehen wollte – sie war sichtlich Feuer und Flamme für die neue Abendplanung. Beatrice beugte sich zu Jakob hinunter. «Wie sieht’s aus – hast du Lust auf Essen beim Chinesen?»

Er nickte. «Aber nur, wenn du nicht traurig bist.»

Heulen konnte sie später. Jetzt würde sie Jakob nur fest in die Arme nehmen und an sich drücken. «Wenn du Spaß hast, bin ich nicht traurig. Bis übermorgen.»

Sie sah ihren Kindern dabei zu, wie sie in den Audi kletterten, und zählte ihre eigenen Atemzüge. Gleich durfte sie zu lächeln aufhören. Sobald Achim ausgeparkt hatte und aufs Gas gestiegen war.

Sie winkte dem Wagen hinterher, obwohl sie durch die getönten Scheiben nicht sehen konnte, ob eines der Kinder sich zu ihr umwandte. Dann stieg sie in ihr Auto, lehnte sich im Fahrersitz zurück und schloss die Augen. Der Druck in ihrem Inneren war so groß, dass er sie beinahe erstickte, doch die Tränen hatten sich zurückgezogen. Alles falsch gelaufen, wieder einmal.

Sie atmete tief durch, dann startete sie den Motor und fuhr los. Achim hatte recht, es war nichts Vernünftiges zu kochen zu Hause, nur Spaghetti und Fertigsoße. Egal. Ihr wurde ohnehin beim bloßen Gedanken an Essen übel.

Die leere Wohnung spiegelte auf perfekte Weise ihr eigenes Befinden wider. Beatrice rollte sich auf der Couch ein – nur ein paar Minuten, nahm sie sich vor. Bis das dumpfe, schmerzliche Pochen in ihrem Bauch sich verflüchtigt haben würde.

Doch leider spielte ihr Kopf nicht mit. Er spulte die Highlights des Tages noch einmal ab – der tote Arzt auf der Untersuchungsliege, die halbe Blutlache, die schreiende Mutter des Opfers, sein Gehirn auf der Waagschale …

Achims überheblicher Blick. Jakob. Nur, wenn du nicht traurig bist.

Okay, jetzt konnte sie wenigstens heulen. Auch wenn es hauptsächlich aus Selbstmitleid und Überforderung war und sie sich für beides schämte. Irgendwann fühlte sie sich zu erschöpft für weitere Tränen. Und zum Aufstehen sowieso.

Sie musste eingeschlafen sein, denn beim Klingeln ihres Handys schreckte sie hoch. Es war der Ton, den sie für Florins Privatnummer einprogrammiert hatte.

«Hallo?» Sie schluckte trocken und rieb sich über die Stirn, doch das dumpfe Pochen in den Schläfen blieb.

«Hallo, Bea. Störe ich dich gerade? Ich wollte dir eigentlich nur erzählen, was Drasche noch herausgefunden hat. Aber wahrscheinlich bringst du gerade die Kinder ins –»

«Nein.» Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Schon zehn nach acht, meine Güte, sie hatte fast zwei Stunden geschlafen. «Nein, die Kinder sind … bei Achim.»

«Aber – musstest du sie vorhin nicht holen?»

«Doch.» Sie erzählte ihm von dem Zwischenfall vor der Schule und kam sich dabei einmal mehr erbärmlich vor.

«Natürlich war es mein Fehler.» Meine Güte, war sie etwa schon wieder den Tränen nah? «Zu spät dran sein und dann auch noch das Handy auf lautlos schalten. Aber du hättest sehen sollen, wie sehr Achim es genossen hat, mir das alles vorzuhalten. Plus den Leichenhallengeruch.»

Florin lachte auf, es klang nicht fröhlich. «Und, wie geht es dir jetzt?»

«Ganz gut», antwortete Beatrice, doch die Pause, die sie davor hatte verstreichen lassen, war offenbar zu lang gewesen.

«Weißt du, Bea, nach einem Tag wie heute solltest du nicht allein sein müssen. Pass auf, was hältst du davon: Ich hole dich in einer halben Stunde ab, und wir gehen essen. Italienisch?»

Sie war versucht, ja zu sagen, doch bei dem Gedanken an Essen drehte sich ihr immer noch der Magen um. «Tut mir leid, Florin. Ich mag heute wirklich nicht mehr vor die Tür.»

Sie konnte förmlich vor sich sehen, wie er nickte, eine der störrischen dunklen Haarsträhnen quer über der Stirn und die typische nachdenkliche Steilfalte über der Nasenwurzel.

«Ich könnte auch zu dir kommen. Dir ein Häppchen mitbringen, und wir reden einfach. Oder hören Musik.»

Es war verlockend. Wenn sie schnell duschte, sich umzog und ein bisschen aufräumte …

Nein. Sie sehnte sich viel zu sehr nach einer Brust, in der sie ihr Gesicht vergraben konnte; nach einem Arm, der sich um ihre Schultern legen würde. Er würde ihr beides zur Verfügung stellen, zweifellos, und dann …

«Es ist ein wunderbarer Vorschlag, Florin, danke, aber ich wäre heute keine gute Gesellschaft. Ich bin einfach nur kaputt.»

Kurze Pause. «Wie du meinst. Ich kann es gut verstehen, wenn du deine Ruhe haben willst.»

Klang er enttäuscht? Oder war er insgeheim froh?

Sie rieb sich die Augen. Nein, darüber würde sie sich nicht auch noch den Kopf zerbrechen. «Ein andermal sehr gerne. Dein Angebot bedeutet mir viel, ehrlich. Nur … heute bin ich eine echte Zumutung.»

Wieder eine Pause. «Du weißt, dass ich das nicht so sehe, oder?»

Sie biss sich kurz auf die Lippen. Focht einen heftigen Kampf mit sich selbst aus, schwankte zwischen Sehnsucht und Vernunft. Ließ widerstrebend der Vernunft den Vortritt. «Ja, das weiß ich. Und damit wir uns richtig verstehen, ich hätte dich gern bei mir. Nur mich selbst wäre ich am liebsten los, und das geht am besten, wenn ich mich schlafen lege. Bald.»

Er seufzte. «In Ordnung. Dann schlaf gut, Bea. Ich wünschte, du würdest ihm nicht immer wieder erlauben, dich so fertigzumachen.»

Die Frage, von wem Florin sprach, erübrigte sich.

«Ja. Das wünsche ich mir auch.»

Sofort nachdem sie aufgelegt hatte, bereute sie ihre Entscheidung. Die Wohnung war so schmerzhaft leer. Das Lachen der Nachbarn, das durch die Wände drang, verstärkte das Gefühl der Einsamkeit noch.

Beatrice schaltete den Fernseher ein und zappte so lange durch die Programme, bis sie bei einem Dokumentarfilm über Giraffen landete. Den ließ sie als beruhigende Geräuschkulisse im Hintergrund laufen, während sie den Kühlschrank durchforstete, auf der Suche nach etwas, worauf sie Appetit haben könnte.