Stolen Crown – Die Magie des dunklen Zwillings - Valentina Fast - E-Book

Stolen Crown – Die Magie des dunklen Zwillings E-Book

Valentina Fast

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Beschreibung

Ein uralter Krieg hat die Menschheit verändert. In einer Welt, in der Zwillinge zum Tode verurteilt sind, teilt Avi sich heimlich ein Leben mit ihrer Schwester Ana. Als Mensch erster Klasse getarnt, lebt Avi in Anas Schatten. Aber als diese erkrankt, muss Avi alles tun, um Geld für eine Behandlung aufzutreiben, falls sie nicht mit Ana gemeinsam sterben will. Doch es ist ausgerechnet Fürst Nevans erster Soldat Ren, der sie ersteigert. Jener Mann, der als einziger ihre wahre Identität aufdecken könnte. Statt der erwarteten Hinrichtung, folgt für Avi ein Auftrag, der sie geradewegs zu den Sinnesspielen führt. Es gibt nur zwei Wege dort raus: siegen, oder sterben.

Ein echter Pageturner, gespickt mit großen Gefühlen und Happy End-Garantie von Bestsellerautorin Valentina Fast.

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Seitenzahl: 717

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Inhalt

Cover

Titel

Über das Buch

Trigger

Widmung

Die Auktion

1. Kapitel

Avi

2. Kapitel

Avi

3. Kapitel

Avi

4. Kapitel

Avi

5. Kapitel

Avi

6. Kapitel

Avi

7. Kapitel

Avi

8. Kapitel

Ren

9. Kapitel

Avi

10. Kapitel

Avi

Die Tote Zone

11. Kapitel

Avi

12. Kapitel

Ren

13. Kapitel

Avi

14. Kapitel

Avi

15. Kapitel

Ren

16. Kapitel

Avi

17. Kapitel

Avi

18. Kapitel

Avi

19. Kapitel

Ren

Die Sinnesspiele

20. Kapitel

Avi

21. Kapitel

Avi

22. Kapitel

Avi

23. Kapitel

Avi

24. Kapitel

Avi

25. Kapitel

Avi

26. Kapitel

Avi

27. Kapitel

Ren

28. Kapitel

Avi

29. Kapitel

Avi

30. Kapitel

Avi

31. Kapitel

Avi

32. Kapitel

Avi

33. Kapitel

Ren

34. Kapitel

Avi

Die gestohlene Krone

35. Kapitel

Avi

36. Kapitel

Avi

37. Kapitel

Ren

38. Kapitel

Avi

39. Kapitel

Avi

40. Kapitel

Avi

Die Schlange

41. Kapitel

Avi

42. Kapitel

Ren

43. Kapitel

Avi

44. Kapitel

Avi

45. Kapitel

Ren

46. Kapitel

Avi

47. Kapitel

Ren

48. Kapitel

Avi

49. Kapitel

Ren

50. Kapitel

Avi

51. Kapitel

Avi

Epilog

Avi

Danksagung

Inhaltsinformation

Weitere Titel der Autorin:

Über die Autorin

Impressum

Über dieses Buch

In einer Welt, in der Zwillinge zum Tode verurteilt sind, teilt Avi sich heimlich ein Leben mit ihrer Schwester Ana. Als diese schwer erkrankt, versucht Avi händeringend an das nötige Geld für eine Behandlung zu kommen. Doch dann ersteigert Fürst Nevan, der gefährlichste Mann des Reiches, sie als Dienerin, und Avis Situation scheint aussichtslos – bis er ihr einen Auftrag gibt, der sie geradewegs zu den Sinnesspielen führt. Ein Sieg würde für Ana eine Chance auf Heilung bedeuten – und Avi würde alles dafür tun. Sogar mit Ren, dem Soldaten des Fürsten zusammenarbeiten. Auch wenn er in ihr ungeahnte Gefühle auslöst und ihr näher kommt, als ihr lieb ist ...

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Dazu findet ihr genauere Angaben am Ende des Buches.

ACHTUNG: Sie enthalten Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer Team vom ONE-Verlag

Für dich.

Sei immer du selbst, denn so bist du am besten.

Die Auktion  

1. Kapitel

Avi

»Als die Welt unterging, war ich sechzehn Jahre alt. Wo sie zuvor bunt gewesen ist, wurde sie schwarz-weiß, und so ist sie bis heute geblieben.«

»Und ihr habt gelernt, dass es nur einen wahren Feind auf dieser Welt gibt. Ich weiß, Nana.« Ich tätschele die angespannten Schultern meiner Großmutter, während sie an ihrem geflochtenen, ergrauten Zopf spielt, der auf ihrer weißen Strickjacke ruht. Sie nähert sich ihrem hundertdreiundsiebzigsten Geburtstag, doch durch die jährliche Gesundheitsinjektion wirkt sie höchstens wie sechzig Jahre.

Nana ist eine kleine Frau, kaum größer als ich, mit schmaler Figur und stechend hellblauen Augen, die erahnen lassen, was für eine Schönheit sie einst gewesen ist.

»Du weißt, was sie dir antun, wenn sie herausfinden, was du bist?« Es ist eine Frage, die sie mir schon mein ganzes Leben lang stellt. Nicht, um mich zu quälen. Nur, um mich daran zu erinnern, dass ich niemals vergessen darf, vorsichtig zu sein.

Mein Lächeln verblasst, und ich unterdrücke den Drang, am Gurt meiner Tasche zu spielen. Dennoch schaffe ich es, ihren eindringlichen Blick ernst zu erwidern. »Sie werden mich töten.«

»Aber das müssen sie nicht«, erwidert Nana.

»Weil ich Aviana Bloom bin. Ein Mensch, Klasse eins, mit der Fähigkeit zu hören.« Ich streiche über den dunkelroten Blazer meiner Schuluniform und hebe mein Kinn leicht.

Nana ist in einer Welt vor dem Nachtkrieg, in den Anfängen der Magie und vor dem Bau der Mauern, die unsere Städte voneinander trennen, aufgewachsen. Sie erzählt uns stets Geschichten von dieser freien Welt, damit wir sie niemals vergessen. Zugleich ermahnt sie uns, in der Gegenwart zu leben, denn diese alte Welt gibt es nicht mehr. Sie ist tot. Und ich werde es auch sein, wenn irgendwer erfährt, dass ich ein Zwilling bin.

Meine Großmutter streicht mir sanft über die Wange, und in ihren Augen liegt Zuneigung. Sie hat meine Schwester und mich großgezogen, nachdem unsere Mutter mitten in der Nacht verschwunden ist und damit ihr Leben für meines geopfert hat. Doch das wirft mir niemand vor, auch wenn wir alle wissen, dass sie ohne meine Existenz noch leben würde. »Du solltest dich beeilen.«

Ich nicke und gehe mit leisen Schritten durch unser Reihenhaus in der Marktstraße, die sich inmitten des Fürstentums befindet. Seit Anbeginn unseres Fürstentums bewohnen wir es und führen den darin liegenden Blumenladen mit den schönsten Pflanzen, die in den Randgebieten gezüchtet werden.

Im Erdgeschoss befinden sich ein schmaler Flur, ein WC und ein Büro, das zum daran angeschlossenen Geschäft gehört. Im ersten Stock gibt es das Wohnzimmer, die Küche, Nanas Schlafzimmer und ein kleines Badezimmer. Das oberste Stockwerk besteht aus vier weiteren Schlafzimmern, von denen ich eines bewohne, und die anderen als Gästezimmer, Wäscheraum und zweites Wohnzimmer dienen. Darüber liegt noch ein Dachboden, der als Rumpelkammer fungiert. Es ist ein Haus von vielen, eines, das auf den ersten Blick unscheinbar wirkt. Niemand würde auch nur erahnen, was für Geheimnisse wir hier verbergen. Und so wird es auch bleiben.

Die Läden meiner Schlafzimmerfenster und meine dunklen Vorhänge sind geschlossen. Dennoch betrachte ich den Stoff noch mal eindringlich, um mich zu versichern, dass wirklich niemand in mein Zimmer schauen kann.

Dann erst betrete ich meinen begehbaren Kleiderschrank. Völlige Dunkelheit umgibt mich, als ich die Schranktür schließe, meine Kleider auseinanderschiebe und nach einem kleinen Riegel taste, der zwischen den an der Wand hängenden Handtaschen versteckt ist.

Gedämpftes Licht empfängt mich, als ich kurz darauf in einem schmalen Tunnel samt Leiter lande. Schnell klettere ich nach oben und erreiche den Teil unseres Dachbodens, den niemals jemand finden darf.

Er ist vielleicht fünf Quadratmeter groß, und es reicht gerade so für ein Bett sowie einen niedrigen Schrank. In dem Bett liegt eine Gestalt und schläft, so wie sie es in den letzten Tagen immer tut. Seit fast zwei Wochen.

Ich muss mich ducken, um unter der Dachschräge entlanglaufen zu können, und mein Herz hämmert so fest in meiner Brust, dass mir schlecht wird.

Die Kammer ist winzig, doch durch einen nachträglich eingebauten Lüftungsschlitz, den man von außen nicht einmal erahnen kann, dringt Luft und ein wenig Tageslicht hinein. Es ist der Ort, an dem ich die Hälfte meines Lebens verbracht habe. Der Ort, an den meine Zwillingsschwester gekettet ist, seit sie vor einigen Wochen erkrankte.

Die Luft hier riecht nach Staub und Schlaf. Das leise Atmen meiner Schwester ist das einzige Geräusch, neben dem meiner Schritte.

Die Angst schnürt mir beinahe meine Kehle zu, während ich ihre eingefallenen Wangen anstarre. Was ist, wenn sie dieses Mal nicht die Augen öffnet? Wir können nicht zu einem Arzt gehen. Wir können nicht riskieren, dass sie stirbt und damit unsere beiden Leben offiziell beendet.

Vorsichtig setze ich mich auf den Rand des Bettes. Weder sie noch Nana wissen, dass ich nicht vorhabe, heute zur Schule zu gehen.

Anas Augen flattern plötzlich, und sie lächelt schwach. »Hi.«

Ich zwinge mich, ihr Lächeln zu erwidern und helfe ihr, sich ein wenig aufzurichten. Dann gieße ich ihr Wasser aus der Flasche, die neben dem Bett auf dem Boden steht, in ein Glas und halte es an ihre Lippen, damit sie trinken kann. »Guten Morgen. Wie fühlst du dich?«

»Gut.« Sie kann das Wort kaum aussprechen, bevor sie ein Hustenanfall erschüttert. Er ist trocken und rau, als würde sie von innen heraus verdorren.

Ich zwinge mich, nicht in Tränen auszubrechen, während ich das Glas zurückstelle und versuche, stark zu bleiben, obwohl es sich anfühlt, als hätte ich Glasscherben geschluckt.

»Ich habe geträumt, dass ich zu den Sinnesspielen eingeladen wurde.« Sie rutscht wieder herunter und dreht sich auf die Seite, um ihre Beine anzuziehen. Sofort wirkt sie klein und zerbrechlich.

Die Decke verrutscht, und ich ziehe sie zurecht. »Du wirst bald gesund, und dann wirst du deinen Traum wahr machen.«

Lächelnd schließt sie ihre Augen und drückt die Wange in das Kissen. »Ich werde gewinnen und uns Freiheit schenken. Der König muss dem Sieger jeden Wunsch erfüllen. Wenn er sogar einen Mörder begnadigt, wird er ... er wird uns ...« Sie atmet tief ein und scheint wieder einzuschlafen. So geht das seit Tagen. Ihre Kraft reicht kaum noch für ein Gespräch.

»Halte durch.« Mein Flüstern ist so leise, dass es auch nur ein Gedanke hätte sein können. Ana hört mich nicht. Sie schläft und wehrt sich gegen eine Krankheit, für die wir keinen Namen haben.

Ihr blondes Haar liegt glanzlos und zerzaust auf dem Kissen, aber ihre Gesichtszüge wirken friedlich. Sie kämpft nicht. Sie leidet nicht. Sie schläft. Und wenn ich nichts unternehme, wird sie daran sterben.

Seit unserer Geburt führen wir ein geteiltes Leben. Wir sind zwei Mädchen. Avi und Ana. Doch die Welt kennt uns als Aviana, eine zurückhaltende Musterschülerin, die niemals jemanden nach Hause einlädt und keine Freunde hat. Die keine haben darf.

Ich erhebe mich, und Anas Augen flattern erneut. Ihr Blick ist unfokussiert, bevor sie mich findet. »Tu mir einen Gefallen.«

Ich würde vermutlich alles für sie tun. »Welchen?«

Sie atmet laut ein und aus, während ihre Augen glasig werden. »Beende das mit Henri. Sag ihm ... sag ihm, ich brauche eine Pause oder sowas.«

»Aber -«

»Bitte. Wir wissen nicht, wie lange ich ...« Sie seufzt schwer und blinzelt. Dennoch schafft es eine kleine Träne über den Rand ihrer Augenwinkel. »Bitte.«

Ich nicke, und kurz darauf sind ihre Augen wieder geschlossen, während ich nicht aufhören kann, diese Träne anzustarren, die über ihre Wange hinab zu ihrem Ohr läuft, bevor sie sich in ihren Haaren verliert.

Meine Augen brennen, und ich presse meine Fäuste dagegen, um die Fassung nicht zu verlieren.

Ich bin diejenige, die Anas Leben stiehlt. Denn sie ist das Mädchen, der Mensch, Klasse eins, mit der Fähigkeit zu hören. Ich bin nur ihr Zwilling, ein Wesen, dessen Geburt verboten ist und das den Behörden hätte gemeldet werden müssen. Mich hätte es niemals geben dürfen, und doch gab meine Großmutter mir eine Chance, indem sie Anas Leben teilte und uns von klein auf beibrachte, ein und dieselbe Person zu sein.

»Es tut mir leid.« Ein letztes Mal präge ich mir ihre sanften Züge ein, die den meinen wie durch einen Spiegel ähneln.

Ich klettere durch die Leiter zurück in meinen Schrank, schließe sachte die Kammer und eile dann durch mein Zimmer hinaus. Ich wische über meine Augen und vernichte jedes Zeichen der unendlichen Furcht aus meinem Gesicht, bevor ich meiner wartenden Nana einen Kuss gebe. Sie wartet immer auf uns, um uns zu verabschieden oder um uns zu empfangen und sicherzustellen, dass unsere Scharade noch funktioniert.

Heute werde ich nicht zurückkommen. Doch das kann ich ihr nicht verraten, weil sie mich sonst niemals gehen lassen wird.

»Pass auf dich auf.«

»Werde ich«, verspreche ich ihr und schlüpfe in ein Paar schwarze Lackschuhe. Mein schwarzer Rock umspielt meine Knie, und ich werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel, um sicherzugehen, dass meine weiß gestärkte Bluse ordentlich unter meinem Blazer sitzt. Mein blondes Haar trage ich zu einem tiefen, unscheinbaren Zopf zurückgebunden, und meine Brille ist die exakte Kopie von Anas, die eine kleine Sehschwäche hat. Eine der wenigen Unterschiede zwischen uns.

Als ich durch unsere Haustür trete, hinaus in die Gasse zwischen den Häusern, die die Marktbesucher nicht sehen, atme ich tief ein und versuche damit, die Beklemmung in meiner Brust zu lösen.

In diesem Teil des Fürstentums drängt sich Haus an Haus, sodass die schönen Giebel, mit denen die Dächer in Richtung Marktplatz verziert sind, von hier aus im Verborgenen bleiben.

Ich grüße eine Nachbarin, als sie aus ihrer Tür tritt und ihr Kind dazu anhält, sich zu beeilen.

Dann biege ich in Richtung Marktplatz ab, der kurz darauf vor mir auftaucht. Die ersten mobilen Verkaufsstände, die das ganze Jahr über hier stehen, öffnen bereits ihre Läden. Sie liegen im Zentrum eines großen Platzes, um den sich kreisförmig die Giebelhäuser drängen. In ihnen befinden sich Geschäfte und Restaurants. Der Marktplatz ist das Herzstück des Fürstentums und so groß, dass man fast drei Tage braucht, um sich alle Verkaufsstände anzuschauen.

Ich laufe mitten hinein, immer in der Hoffnung, dass meine Nana nicht aus dem Fenster sieht. Aber ich bin fast zu spät dran und kann nicht riskieren, noch mehr Zeit zu verlieren.

Zu dieser Tageszeit sind bereits unzählige Leute unterwegs zur Arbeit, Schule oder sonst wohin. Wir sind alle gleich in unserer Eile. Bis auf den feinen Unterschied, dass die Fae spitz zulaufende Ohren haben.

Einst gab es nur Menschen auf der Erde.

Doch dann kam der vierte Weltkrieg und änderte alles. Mit seinen Chemiewaffen zerstörte er nicht nur fast die ganze Welt, sondern auch einen Teil der menschlichen DNA. Einige wenige schafften es jedoch, sich in Bunkern zu verstecken, und deshalb besaßen sie und ihre Nachfahren auch weiterhin rein menschliche DNA.

Dann gab es jene, die der vergifteten Umwelt vollkommen ausgesetzt waren. Sie veränderten sich mit jeder Generation, entwickelten Kräfte und ähnelten immer mehr den Sagengestalten der alten Welt. Den Fae.

Sie wurden größer, ihre Züge schärfer, schöner und sie entwickelten Kräfte.

Als die Menschen schließlich wieder aus den Bunkern kamen, sahen sie sich einer neuen Umwelt entgegengestellt, und auch sie passten sich mit jeder Generation an. Ihre Sinne verstärkten sich. Mal in diese, mal in jene Richtung, bis sie so ausgeprägt waren, dass sie in den Gefahren der neuen Welt überleben konnten. Sie wurden als Menschen erster Klasse eingestuft, weil sie anders waren als der Rest ihres Volkes, der fortan zur zweiten Klasse gehörte.

Menschen erster Klasse haben es leichter, gute Arbeitsplätze zu bekommen, und werden höher angesehen als jene, die bei ihrer Geburt den Stempel der zweiten Klasse aufgedrückt bekommen.

Ana ist ein Mensch erster Klasse und mit einem ausgeprägten Sinn gesegnet. Wäre ich nicht da, könnte sie ein freies Leben führen, und ihr stünden alle Türen offen.

Doch nun wird ihr selbst unser halbes Leben verwehrt. Und ich bin ihre einzige Chance, das zu ändern.

Ich laufe an einem Stand mit würzig riechendem Käse vorbei und will gerade meine unnütze Brille absetzen, als sich mir plötzlich jemand in den Weg stellt.

Henri.

Mein Atem setzt aus, und ich sehe ihn erst so spät, dass ich voll in ihn hineinrenne.

Er lacht, greift nach meinen Handgelenken, und für einen Moment fühlt es sich an, als würde er mich umarmen wollen. »Du bist ja schnell unterwegs.«

Ich schnappe nach Luft, weil ich es hasse, wie sich bei seinen Worten ein Surren in mir ausbreitet. Mein Körper spannt sich an, und der verräterische Teil von mir will sich an ihn lehnen. Stattdessen trete ich zurück und merke, wie ich rot anlaufe. »Henri. Hi.« Meine Stimme ist dünn, und ich muss mich räuspern.

Er lässt meine Handgelenke nur zögernd los, tritt zurück und streicht sich durch seine dunkelblonden Locken. Seine grauen Augen sind warm auf mich gerichtet, und er schiebt seine Hände in die Hosentaschen. »Aviana. Hi.«

Er macht sich über mich lustig. Ich lächle, obwohl ich weiß, dass es falsch ist. Henri denkt, ich wäre Ana. Aber ich bin es nicht, die er sanft anschauen und berühren will. Das habe ich schon viel zu oft vergessen und mich zu Träumen hinreißen lassen, die nicht falscher sein könnten. Er liebt Ana – und ich bin nichts anderes als ihre Doppelgängerin. Das Mädchen, das die beiden davon abhält, jemals wirklich glücklich zu sein.

Ich räuspere mich und spiele mit den Riemen meiner Tasche, zwinge mich, ihn anzusehen, weil ich nicht wirken will, als hätte ich etwas zu verbergen. »Wie geht es deiner Mutter?«

Seine sonst so fröhliche Miene wird ernst. »Besser. Das Fieber ist gesunken, nachdem sie Medikamente bekommen hat. Ich verstehe wirklich nicht, warum der Arzt das so lange rausgezögert hat.«

Ich zucke mit den Schultern. »Er weiß sicher, was er tut. Aber es freut mich, dass es ihr besser geht. Was machst du eigentlich so früh hier?«

»Ich hole dich ab.«

Mein verräterisches Herz macht einen Satz, und ich hasse mich für diese Schwärmerei. Er liebt Ana. Nicht mich. Wenn er wüsste, wer ich bin, dass es mich überhaupt gibt, wäre er angewidert. »Das sollst du doch nicht.« Ana und er führen eine heimliche Beziehung unter dem Vorwand, dass Nana es nicht gerne sehen würde. Es war die einzige Lüge, um die Ana mich jemals gebeten hat, und ich hätte sie ihr niemals ausschlagen können. Immerhin log sie ihr ganzes Leben lang schon für mich. Nur hätte ich niemals gedacht, dass es wehtun könnte, wenn ein Junge einem heimliche Blicke über den Schulflur zuwirft oder während einer Projektarbeit hin und wieder meine Hand streift.

»Keine Sorge. Deine Großmutter wird uns schon nicht sehen. Außerdem habe ich Neuigkeiten, die ich unbedingt mit dir teilen muss.« Er stößt mich freundschaftlich mit der Schulter an, und ein kleiner Stromstoß durchfährt mich.

Ich rücke kaum merklich von ihm ab und setze meinen Weg fort. Wenn auch nun in die falsche Richtung. Ich muss ihn dringend loswerden, sonst schaffe ich es niemals. »Ach ja?«

»Sie haben mich genommen.«

Ich brauche einen Moment, um diese vier Worte zu entschlüsseln. Dann fällt meine Maskerade von mir ab, und ehrliche Freude durchzuckt mich. Ich falle ihm um den Hals, und atme seinen herb-frischen Duft ein, bevor mir klar wird, was ich da tue.

Henri reagiert schneller und drückt mich für wenige Sekunden so fest an sich, dass nichts mehr zwischen uns passt. Nicht einmal Reue. Nur Herzklopfen.

Dann lässt er mich los und strahlt über das ganze Gesicht.

Meine Wangen glühen, und ich gehe wieder auf Abstand. »Seit wann weißt du es?«

»Der Brief vom Fürsten kam gestern an. Ich wollte es dir unbedingt als Erste sagen. Ich werde schon nächste Woche dort beginnen.« Henri schaut mich bei diesen Worten nicht an, blickt nur starr geradeaus.

Mein Lächeln fällt in sich zusammen. »Das bedeutet, du beendest jetzt die Schule?«

»Ja. Es war immer eine Option. Je früher sie mich bei den Soldaten aufnehmen, umso besser.« Sein schiefes Grinsen lässt ihn verwegen und süß aussehen.

Ich schaue schnell weg. »Stimmt. Es kommt nur so plötzlich. Aber ich freue mich. Wirklich.« Jetzt erst fallen mir Anas Worte ein. Ihr Wunsch. Und ich hasse mich ein bisschen, weil ich sie für einen Moment vergessen habe.

Es ist besser so. Für uns alle. »Also wirst du ab nächster Woche auch dort wohnen.«

»Richtig. Aber an den Wochenenden kann ich nach Hause. Wir könnten uns -«

»Das geht nicht mehr«, bringe ich irgendwie heraus, und meine Kehle schnürt sich zu. Dennoch zwinge ich mich, stark zu bleiben. Ich stoppe und ziehe uns zwischen zwei Marktstände. »Es tut mir leid. Aber ich denke, wir sollten eine Pause einlegen. Du musst dich auf deine Ausbildung ko-«

Henri lässt mich nicht ausreden. Er tritt zu mir, nimmt meine Schultern und zieht mich an sich.

Er wird mich küssen.

Mein Atem stockt, und eine Sekunde lang überlege ich, es einfach zuzulassen. Nur einmal. Dann drehe ich den Kopf, denn dieser Kuss ist nicht für mich. Er ist für Ana.

Seine Lippen berühren meine Wange, und das Kribbeln in meinem Bauch wird unerträglich.

»Es tut mir leid«, flüstere ich und mache mich von ihm los. »Es ist besser so.« Dann drehe ich mich um und renne. Ich höre nicht, ob er mir folgt, weil mein Herz zu laut klopft. Ich darf mich so nicht fühlen. Nicht, als hätte ich etwas verloren, was mir niemals gehört hat.

Im Rennen remple ich mehrere Personen an und höre ihre wütenden Rufe. Aber ich bleibe erst stehen, als mein Puls mir aus dem Hals zu springen droht und ich kaum noch Luft bekomme.

Ich drehe mich um, doch Henri ist nirgends zu sehen.

Es ist besser so.

Ich reiße mir meine Brille und den Blazer vom Leib und stopfe sie in die nächste Mülltonne. Dann laufe ich weiter.

Hinter dem Markplatz befinden sich breite Wege mit weiteren Geschäften. Genauso wie der Hauptbahnhof, von dem aus man mit den Straßenbahnen alle Ecken des Fürstentums erreichen kann.

Gleis drei.

Der Bahnhof ist ein großer Stahlbau, der die Kriege der alten Welt überdauert hat. Neben all den Steinmauern, mit denen das Fürstentum neu aufgebaut worden ist, wirkt er völlig deplatziert. Aber das tun die alten Gebäude alle.

Ich eile quer durch die Eingangshalle.

Gleis drei.

Seit ich mir den Plan vor einer Woche angeschaut habe, wiederhole ich diese beiden Worte immer wieder in meinem Kopf. Gerade jetzt helfen sie mir, mich von Henri abzulenken. Von dem Kuss, den ich Ana fast gestohlen habe. Von den Schuldgefühlen.

Gleis drei.

Mein Weg führt zu den Toiletten. Die weißen Fliesen blitzen sauber, und ich bin erleichtert, dass niemand hier ist. Schnell gehe ich in eine der Kabinen und ziehe den Rucksack von meinen Schultern.

Gleis drei.

Ich öffne ihn und ziehe erst eine weiße Strumpfhose, dann einen weißen Rock und schließlich einen schwarzen Strickpullover heraus. Den Rock meiner Schuluniform stopfe ich in die Mülltonne neben der Toilette, genauso wie meine schwarze Strumpfhose. Ich ziehe mich so schnell wie möglich um und versuche, nicht in Panik zu geraten.

Jetzt ist es zu spät umzukehren. Ich muss das durchziehen. Für Ana. Und ein bisschen auch für mich. Denn ein Leben ohne sie ist für mich nicht möglich.

Als ich aus der Kabine trete, bin ich ein anderer Mensch.

Gleis drei.

Ich erreiche es, als im selben Moment die grellrot lackierte Straßenbahn einfährt. Mit unzähligen anderen Wartenden steige ich ein und suche mir einen Platz nahe dem Ausgang.

Mit einem lautlosen Seufzen lehne ich mich zurück. Geschafft. Ich sitze drin. Ich kann gar nicht fassen, dass ich es tatsächlich getan habe, doch es gab nie eine Alternative und erst recht kein Zurück. Ich werde das durchziehen. Egal was es mich kostet.

***

Zweistöckige Steinbauten ziehen an mir vorbei. Die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen, und so leuchten noch immer alle Laternen, die, genauso wie die Straßenbahn, mit Pflanzenöl betrieben werden. Wir lassen das geschäftige Treiben des Fürstentums hinter uns. Über all den Häusern mit ihren rauchenden Schornsteinen ragt der Fürstenpalast des Hauses Nevan empor. Es ist der Sitz von Fürst Nevan, einer von zwölf Fae, die vom König persönlich ein eigenes Fürstentum geschenkt bekommen haben, weil sie während des Nachtkriegs besonders viele Nachtfae getötet haben.

Sie bauten mit den Mitteln des Königs riesige Metropolen über ganz Alteuropa hinweg auf, in denen die letzten Menschen und Fae bis heute vor den Monstern beschützt werden, die der Krieg hervorgebracht hat. 

Doch die Ehre des Sieges gebührt weiterhin König Arthur, der von der Königsstadt aus ganz Alteuropa regiert und sich schon in wenigen Tagen von all seinen Bürgern erneut feiern lassen wird.

Fürst Nevans Palast ist ein imposanter Steinbau, mit großen Fenstern und vier Türmen, die in den Himmel reichen, verbunden durch Mauern. In der Mitte des Palastes soll es einen zauberhaften Garten geben, doch ich selbst habe ihn noch nie besucht.

Normalerweise wage ich mich nicht einmal in seine Nähe. Immerhin wäre das mein Todesurteil. Doch nun habe ich keine andere Wahl.

Die Sonne überschreitet gerade den Horizont, als ich endlich aussteige. Ich befinde mich nun am Rand des nobelsten Viertels, und der Palast scheint nur einen Steinwurf von hier entfernt zu sein. Dennoch trennen mich noch eine lange Straße und unzählige Häuser von ihm, weshalb ich mich zwinge, tief durchzuatmen und der aufkommenden Panik keinen Raum zu lassen. Ich werde das schaffen. Ich muss.

Ich wende mich von dem Palast ab und dem noblen Stadthaus zu, das, genauso wie alle anderen Gebäude in diesem Viertel, in reinem Weiß gestrichen ist. Nur die reichsten Bürger, allesamt Fae, können sich so etwas Überflüssiges leisten.

Das Gebäude ist fast so groß wie der Hauptbahnhof, und als ich eintrete, warten bereits mehrere Menschen in dem hell gefliesten Eingangsbereich. An den Wänden hängen schwarz-weiße Gemälde mit abstrakten Mustern, die mir einen Schauder über die Arme jagen.

Ganz vorne gibt es einen Empfang, hinter dem eine hochgewachsene Fae mit schwarzem Anzug steht und erst aufblickt, als ich direkt vor ihr stehen bleibe.

Sie hebt stumm eine Augenbraue, und plötzlich muss ich mich räuspern.

»Ich melde mich zur Auktion«, bringe ich hervor und presse meine Lippen zusammen, weil es viel zu unsicher klingt.

Sie verzieht leicht ihren Mund und schiebt mir ein Klemmbrett samt Stift und Zettel über den Tresen. »Ausfüllen, und dann bekommt Ihr eine Nummer.«

Ich nicke und nehme beides entgegen. Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass alle Sitzplätze belegt sind. Deshalb gehe ich zu einem der Fenster und nutze das Fensterbrett als Ablage. Das gibt mir die Möglichkeit, den anderen den Rücken zuzuwenden und meine zitternden Hände zu verdecken.

Mein Hals ist trocken. Warum habe ich nicht daran gedacht, Wasser einzustecken?

Ich drücke meine Zunge gegen den Gaumen und schlucke meinen Speichel hinunter. Dann balle ich meine Hände zu Fäusten und schaffe es, endlich das Zittern zu unterdrücken.

Ich bin hier. Ich bin tatsächlich hier. Ab jetzt muss ich nur noch überleben.

Die Angaben, die ich auf dem Zettel angeben muss, enthalten nur das Nötigste.

Name. Klassifizierung. Geburtsdatum. Gehaltswunsch.

Aviana Bloom. Mensch erster Klasse. 14. Juli 2362. Zehntausend Goldmünzen.

Wir können von Glück sagen, dass Aviana erst kurz nach unserem achtzehnten Geburtstag erkrankt ist. Sonst wäre mir selbst dieser erniedrigende Weg verwehrt gewesen, und ich hätte mich nicht für die Auktion anmelden können.

Ich hätte natürlich versuchen können zu lügen. Doch es wurde so akribisch Buch über alle Bürger geführt, dass es fast unmöglich ist.

Außerdem brauche ich diese echte Identität. Egal wie erlogen sie ist.

Ich reiche der Fae das Klemmbrett zurück. Als sie die Daten überfliegt, bleibt ihr Blick auf dem Gehaltswunsch hängen, und sie hebt eine Augenbraue. Kein Wunder. Es ist das Jahresgehalt eines Durchschnittsbürgers. Es ist der Betrag, den ich dringend brauche.

Ich stelle mich zurück an das Fenster. Nun kann ich nichts anderes tun als zu warten.

Genauso wie die anderen Menschen, die sich hier zur Auktion anbieten. Auch sie sind in Schwarz-Weiß gekleidet. So wie alle Menschen, die sich den Fae für jegliche Arbeiten aller Art anbieten.

Es ist ganz einfach. Man gibt an, wie viele Goldmünzen man braucht, wird ersteigert und arbeitet seinen Lohn ab. Wirklich. Ganz einfach.

Hätte ich nicht schon von den schrecklichsten Dingen gehört, zu denen die Fae ihre Menschen zwingen.

Ich schließe meine Augen und versuche, nicht daran zu denken. Wichtig ist nur, dass ich es schaffe, Aviana zu bleiben.

Ich bin Aviana Bloom aus der Marktstraße. Ich bin ein Mensch erster Klasse mit der Fähigkeit zu hören.

2. Kapitel

Avi

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, doch als ich endlich dran bin, werde ich von einer schwarz gekleideten jungen Frau an dem Empfang vorbeigeführt. Wir treten in einen schmalen Gang, passieren eine Tür und steigen schließlich eine kleine Treppe hinauf. Oben angekommen stehen wir vor dicken schweren Vorhängen, die mich von dem Rest des Raumes trennen. Ich höre dahinter unzählige Stimmen, das Klirren von Gläsern und Gelächter. Was auch immer dahinter vorgeht, es klingt wie eine Party.

Die junge Frau bleibt vor mir stehen und senkt ihre Stimme. »Ward Ihr schon mal hier?«

Ich kann nur den Kopf schütteln, so nervös bin ich plötzlich.

Sie senkt ihr Klemmbrett, das sie zuvor gegen ihre Brust gedrückt hat, und deutet auf eine Art Karte. Darauf ist ein Raum voller runder Tische zu sehen, durch den sich eine Art Weg von der einen Seite zur anderen schlängelt. Sie zeigt auf einen Punkt vorne in der Ecke. »Hier stehen wir. Ihr geht raus, kreuzt den Weg nach rechts, folgt der Biegung und kehrt wieder zurück, sodass Ihr am Ende hier landet.« Sie deutet auf das andere Ende. »Dort steht der Auktionator. Ihr wartet einfach darauf, was passiert.«

»Muss ich irgendwas machen?« Ich lasse meinen Rucksack auf den Boden neben der Wand gleiten.

Nun schüttelt sie den Kopf. »Ihr müsst nur hübsch aussehen und lächeln.«

Ich frage mich ehrlich, was ein hübsches Lächeln bei einer Dienstbotenauktion zu suchen hat – und ob sie das auch den männlichen Bewerbern rät.

Sie schaut erneut auf ihre Unterlagen, blättert darin herum und verzieht spöttisch den Mund. »Vielleicht solltet Ihr besonders nett lächeln.«

In ihrer Stimme schwingt mit, dass sie mich verurteilt. Aber es geht sie nichts an, wofür ich so viel Geld brauche. Das ist allein meine Sache. Und wenn ich mich dafür versklaven lassen muss.

Sie lässt ihren Blick nach oben wandern und lauscht. In diesem Moment ertönt eine tiefe Stimme. Das muss der Auktionator sein. »Als Nächstes sehen wir Aviana Bloom, Mensch erster Klasse, mit der Fähigkeit zu hören, zu einem Preis von-‍« An dieser Stelle stockt er ein wenig und räuspert sich dann. »Zehntausend Münzen.« Hinter dem Vorhang wird es unruhig, und amüsierte Laute folgen.

Ich schlucke, und Tränen schießen mir in die Augen, als ich meinen obersten Knopf öffne und dann meinen Ärmel leicht hochschiebe. Daran hängt ein weißes Armband.

Die Mitarbeiterin beäugt es und verzieht keine Miene, obwohl wir beide wissen, was es bedeutet.

Ich biete hier nicht nur meine Kraft als Dienstbotin an, sondern das Wertvollste, was ich besitze. Das Einzige, was jemals wirklich mir gehören wird. Meinen Körper, der noch nie zuvor von einer anderen Person berührt wurde.

Es ist ein Preis, den ich herzugeben bereit bin. Für mich ist es sowieso unmöglich, jemals jemanden zu lieben. Wirklich zu lieben. Anas Leben ist dazu verdammt, dass sie ihres mit mir teilt, und wegen mir wird sie alles aufgeben müssen, was sie so sehr verdient. Eine Familie. Enge Freunde. Kinder.

Mein Hals wird eng, und ich schlucke. Einen Moment lang droht mich dieser Gedanke zu ersticken.

Aber ich darf jetzt nicht darüber nachdenken. Nicht hier.

»Viel Erfolg.« Die Mitarbeiterin öffnet den Vorhang ein wenig, und ich trete hinaus auf eine Bühne. Licht blendet mich, und ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Quer durch den Raum, vorbei an vollbesetzten Tischen, führt ein Laufsteg in Form einer Schlaufe.

Ich atme tief ein, und dann gehe ich langsam los. Es wird still um mich herum.

Meine Beine fühlen sich an, als hätten sie vergessen, wie man sie bewegt. Mein Vorsatz, die Hüften zu wiegen und einen leicht belustigten Gesichtsausdruck aufzusetzen, verschwindet, weil ich plötzlich wie im Tunnel bin. Ich kann nur noch den Steg vor mir sehen und hoffe, dass ich nicht stolpere und nach unten in den Zuschauerraum falle.

Blicke fahren über meine Haut, und mir wird übel bei dem Gedanken, wie die Leute dort unten meinen Wert messen und sich vorstellen, was sie mit mir machen könnten.

Nein. Ich darf nicht daran denken. Ich bin wegen des Geldes hier. Und ich benötige es so schnell wie möglich.

Ich werde Ana retten. Egal zu welchem Preis.

Sie teilt ihr Leben mit mir. Es ist das Mindeste, was ich für sie tun kann.

Alles um mich herum verschwimmt, und ich höre das Gemurmel wie aus weiter Ferne. Irgendwie schaffe ich es, nicht zu stolpern, bis ich das Ende des Weges erreiche, zurück auf die Bühne trete und neben dem Auktionator stehen bleibe.

Er beachtet mich kaum, und kurz frage ich mich, ob er mich überhaupt wahrgenommen hat.

Sein Blick wandert zu einer Stelle im Publikum, und ich folge ihm, dorthin, wo zwei Fae sitzen und ihm Zeichen geben, worauf er kaum merklich nickt und sich dann räuspert.

Der Saal ist voller Anspannung und Geflüster. Doch beides verstummt, als der Auktionator seine Stimme erhebt. »Das war Aviana Bloom. Die Fähigkeit zu hören muss gerade so für die Klassifizierung gereicht haben und ist ansonsten unzureichend.«

Gelächter hallt durch den Raum. Hitze breitet sich über mein Dekolleté und meinen Hals bis zu meinem Gesicht aus. Ich zwinge mich, still stehen zu bleiben, während ich einerseits beschämt bin und zugleich erleichtert, weil mir diese Einschätzung nur in die Karten spielt.

»Dennoch ist da viel Potenzial. Insgesamt überwiegen ihre Körperbeherrschung und Symmetrie der Muskeln. Die Einstufung liegt bei sieben von zehn.«

Ich versteife mich, weil ich keine Ahnung habe, was diese Zahl bedeutet und ob sie gut oder schlecht ist. Er hat kein Wort zu meinem Armband gesagt, und ich bin versucht, meinen Ärmel darüberzuschieben und es zu verstecken. Mein Herz pocht so laut in meinen Ohren, dass ich Angst habe, etwas zu verpassen. Soweit ich weiß, kommt jetzt der Teil, in dem um den Zeitraum für meine Arbeit geboten wird.

»Zweitausend Münzen für fünf Jahre.«

Ich zucke zusammen, weil es der längste Zeitraum ist, für den man sich ersteigern lassen kann. Zweitausend Münzen sind viel, aber sie sind keine fünf Jahre wert.

Noch immer blenden mich die Scheinwerfer, doch ich erkenne, wie mehrere weiße Schilder hochgehalten werden. Einen Moment lang ist es still. Dann geht es los.

»Dreitausend Münzen für viereinhalb Jahre.«

»Viertausend für vier Jahre und drei Monate.«

»Fünftausend für vier Jahre.«

»Sechstausend für vier Jahre.«

Mit jedem weiteren Gebot werde ich nervöser. Mein Hals fühlt sich trocken an. Das Band um mein Handgelenk schnürt mir das Blut ab. Meine Haut fängt an zu jucken, und ich will am liebsten die Arme vor der Brust verschränken.

Stattdessen bleibe ich kerzengerade stehen, während um jeden einzelnen Monat gefeilscht wird.

Die Zeit dehnt sich aus, und Schweiß rinnt meinen Rücken hinab.

»Siebentausend Münzen für zwei Jahre und vier Monate.«

Die Gebote hören nicht auf, und ich sollte mich freuen, weil sie meine Arbeitsdauer immer weiter herunterhandeln. Stattdessen ist mir schlecht, weil ich genau weiß, was der Höchstbietende am Ende von mir fordern wird.

Das, was ich angeboten habe, und nicht weniger.

Mit einem Mal knallt eine ungeduldige Stimme durch den Raum. »Zehntausend Münzen für zehn Tage.«

Mein Atem stockt, als ich die Stimme höre. Dunkel und volltönend. Eine Stimme, die es gewohnt ist, Befehle zu erteilen und keine Widerworte zu hören. Ich kenne diese Stimme irgendwoher. Aber das kann nicht sein. Oder?

Es wird schlagartig still im Raum. Stühle rücken, weil alle zu erkennen versuchen, wer dieses ungeheuerliche Gebot macht.

Der Auktionator wartet ab, doch niemand verbessert sein Gebot. »Dann geht Aviana Bloom für zehntausend Münzen und zehn Tage an den Bieter mit der Nummer siebenundzwanzig.«

Es wird geklatscht.

Meine Beine sind mit einem Mal so wackelig, dass ich es kaum schaffe, mich auf ihnen zu halten.

Ich versuche hinter den blendenden Lichtstrahl zu sehen und zu erkennen, wer mich ersteigert hat. Doch ich kann nur bis zur ersten Reihe Gesichter erkennen.

Aber er kann es nicht sein. Nicht er.

Der Auktionator nutzt den Applaus und beugt sich leicht zu mir. »Ihr müsst jetzt die Bühne verlassen.«

Ich drehe mich um und schaffe es zurück hinter den Vorhang. Dort erwartet mich eine andere Mitarbeiterin. Sie ist etwas älter, und ihr missbilligender Blick streift sofort mein weißes Band.

Angewidert von mir selbst, schiebe ich den Ärmel darüber. Sie kann mich verurteilen, so viel sie will. Niemand ekelt sich so sehr vor mir wie ich selbst. Doch am Ende zählt nichts anderes, als dass ich das Geld habe.

Entschlossen greife ich nach meinem Rucksack und schultere ihn.

Sie schnalzt mit der Zunge und führt mich dann den Flur hinunter, sodass wir auf der anderen Seite des Raumes herauskommen. Hinter einer weiteren Tür folgt ein langgezogener Raum mit Bänken, auf denen noch diejenigen warten, die kurz vor mir dran gewesen sind.

Keiner schaut auf oder interessiert sich für mich.

»Ihr werdet aufgerufen«, informiert mich die Mitarbeiterin mit einem letzten abschätzigen Blick, bevor sie wieder geht.

Mein ganzer Körper zittert, als ich auf einen Platz mit viel Abstand zu den anderen sinke. Meine Hände sind eiskalt, und Übelkeit steigt in mir hoch.

Ich habe es getan.

Mir wird noch schlechter.

Die Stimme des Bieters hallt wieder und wieder in meinem Kopf nach, und ich bohre die Finger in meine Oberschenkel, weil das alles nicht sein kann.

Er kann es einfach nicht sein. Das wäre mein Todesurteil.

Sicher habe ich mich geirrt.

Es sind schließlich nur fünf Worte gesprochen worden.

Ich entkrampfe meine Finger und streiche fahrig über meinen Rock.

Nana wird mich umbringen, sobald ich zu ihr zurückkehre, aber selbst sie wird am Ende einsehen, dass es unsere einzige Möglichkeit ist.

Als ich endlich aufgerufen werde, sind längst weitere Leute nachgekommen. Ich stehe auf und gehe zu dem Tresen, so wie es auch die Personen vor mir getan haben.

Der dahinter sitzende Mann presst die Lippen aufeinander, während er die Unterlagen betrachtet. Dann erst schaut er mich an. »Euer Bieter verlangt, dass Ihr gleich mit ihm reist.«

Schockiert öffne ich meinen Mund, doch kein Ton kommt heraus.

Der Mann nimmt das wohl als Zustimmung, denn er beginnt seelenruhig, Münzen und Scheine abzuzählen und sie in einen Beutel zu stecken.

Nein. Nein. Nein!

Irgendwie schaffe ich es, mich zu räuspern, doch meine Stimme klingt dünn. »Aber ich dachte, ich kann das Geld sofort zu meiner Familie bringen.«

Er zuckt mit den Schultern, als ginge ihn das alles gar nichts an. »Vielleicht macht er für Euch einen Umweg, aber ich würde nicht darauf hoffen.«

In meinem Körper wird alles zu Eis. Zehn Tage sind nicht viel, doch in Anas Zustand sind sie eine Ewigkeit. Was ist, wenn es dann für eine Behandlung schon zu spät ist?

Ich möchte den Mann vor mir schütteln, obwohl ich weiß, dass er keine Schuld trägt.

Er überreicht mir den schweren Beutel, und das Geklimper lässt einige der Wartenden aufschauen. Ich stopfe ihn sofort in meinen Rucksack, doch trotzdem sehe ich die neugierigen Blicke.

»Bitte wartet, bis Ihr abgeholt werdet.« Er deutet zurück auf die Bänke und ruft dann den nächsten Namen auf. Ich bin längst vergessen.

Das Geld in meinem Rucksack fühlt sich viel zu schwer an. Es ist, als hätte ich gewonnen und gleichzeitig alles verloren. Dabei habe ich noch nicht einmal den richtigen Preis gezahlt.

Ana ist jetzt schon kaum stark genug, um sich alleine in ihrem Bett aufzusetzen. Was bedeutet, dass sich ihr Zustand nur verschlechtern wird. Ohne das Geld kann Nana niemanden für die Behandlung bezahlen, der zwei Augen zudrückt. Niemanden, dessen Schweigen teuer ist.

Ich setze mich auf die Bank und starre auf die karierten Bodenfliesen, während ich mir immer wieder sage, dass ich einen Weg finden werde.

Vielleicht kann ich jemanden bestechen. Oder mich selbst in der Nacht rausschleichen.

Kurz darauf öffnet sich die Tür, die sonst als Ausgang fungiert.

Ich blicke auf, und alles in mir gefriert zu Eis, als ich den Mann sehe, der eingetreten ist.

Ich starre auf die kurzen dunklen Haare, das markante Kinn, die gerade Nase und die dunklen Augen.

Ich starre auf die Uniform, die mit silbernen Schulterkappen und Schnallen verziert ist. Auf sein silbernes Schwert, das an seinem Gürtel hängt.

Ich starre auf den Mann, der mir vor zehn Jahren das Leben gerettet hat. Den Mann, der damals gesehen hat, was ich wirklich bin.

Mein Atem stockt, und ich bin sicher, dass mein Herz mindestens drei Schläge lang aussetzt, während ich den ersten Soldaten des Fürsten anstarre. Ren Taman.

Meine Kehle schnürt sich zu, und ich fühle mich wie damals, als ich in den Fluss fiel, die Strömung mich mit sich riss und Wasser meine Lunge flutete. Ich sterbe ein zweites Mal genau in diesem Moment, kurz bevor er vor mir auftaucht und mich aus den Fluten zieht. Ein Schlag auf meine Brust, und all das Wasser schießt aus meiner Lunge. Damals habe ich nicht realisiert, dass ich beinahe gestorben bin. Sehr wohl aber, dass dieser Mann mein Todesurteil sein könnte.

Noch bevor einer von uns verstand, was wirklich passierte, bin ich losgerannt. Ich rannte und rannte. So lange, bis meine Beine mich nicht mehr trugen und ich in irgendeiner Gasse zusammenbrach. Als ich irgendwann wieder zu mir kam, schleppte ich mich nach Hause. Zu Nana. Sie sah mich, und ihre einzige Frage war: »Brauchen wir den Notfallkoffer?« Er war unsere einzige Möglichkeit, das Fürstentum zu verlassen und zu versuchen, in der fürchterlichen Welt außerhalb der Mauern zu überleben.

Doch ich schüttelte den Kopf, und sie nahm mich in ihre Arme. Das war der Tag, an dem ich zweimal überlebte.

Mein Atem stockt, als der Mann hinter dem Tresen zu mir deutet und der Soldat sich daraufhin zu mir umdreht. Seine dunklen Augen fixieren mich, und ich halte die Luft an, während ich darauf warte, dass er die Hand hebt, auf mich zeigt und nach der Garde ruft. Darauf, dass er seine Faekräfte nutzt und mich eigenhändig umbringt. Darauf, dass irgendetwas passiert.

Doch er schaut mich nur an, als würde er mich das erste Mal sehen, und tritt auf mich zu. »Aviana Bloom, Ihr kommt mit mir.« Er dreht sich um, als gäbe es nichts Weiteres zu sagen, und geht wieder in Richtung Tür.

Einen Moment lang starre ich ihm hinterher und möchte vor Erleichterung weinen. Er hat mich nicht erkannt. Natürlich hat er mich nicht erkannt. In seinem langen Faeleben hat er schon unzählige Menschen gesehen. Ich war damals ein Kind, kaum mehr als acht Jahre.

Ich atme aus und folge ihm, als er schon fast die Tür erreicht hat.

Wir erreichen den Parkplatz hinter dem Gebäude, auf dem diverse Kutschen mit prächtigen Pferden stehen. Etwas, das sich nur die reichsten Bürger leisten können. Fast ausschließlich Fae.

Wir normalen Menschen gehen zu Fuß, fahren mit dem Fahrrad oder nehmen die Straßenbahn.

Der Soldat läuft voraus, als hätte er keine Zeit, auf mich zu warten, und erst recht nicht die Geduld. Ich muss fast rennen, um ihn einzuholen, und komme gleichzeitig mit ihm vor einer prächtigen schwarzen Kutsche zum Stehen. Darauf ist das Wappen des Fürsten zu sehen. Es ist golden und umrahmt einen Falken mit ausgebreiteten Flügeln. Meine Kehle verengt sich, als sich mir plötzlich die Frage aufdrängt, ob er im Auftrag des Fürsten hier ist oder privat.

Der Kutscher, ein Mann mit schwarz-roter Livree, springt vom Kutschbock und öffnet die Tür.

Der Soldat hält mir seine Hand entgegen, und ich starre sie einen Moment lang an. Er ist so viele Ränge über mir und reicht mir wirklich seine Hand?

Ich zögere nicht, weil es unhöflich wäre, und ergreife sie, während ich den ersten Schritt auf den Tritt mache. Als ich ihn berühre, spüre ich, wie etwas in mir ausbrechen will. Dunkel und gewaltig. Es kribbelt durch meinen Körper, und bevor es meine Fingerspitzen erreichen kann, reiße ich meine Hand zurück und springe fast in die Kutsche.

Mein Blick ist auf meine Finger gerichtet, doch nichts ist zu sehen. Mein Herz rast, und ich bin dankbar, dass ich Ren Taman den Rücken zugedreht habe.

Was war das? Ich habe es noch nie so plötzlich gespürt. Wieso ist es nun fast ausgebrochen?

Ich atme lautlos durch. Ich muss mich beruhigen. Sicher ist es nur die Aufregung, und wenn ich mich nicht zusammenreiße, werde ich schneller sterben, als ich mir eine Lüge einfallen lassen kann.

Im Inneren der Kutsche sind die Wände schwarz und die Sitze mit rotem Samt bezogen.

Ich ziehe meinen Rucksack auf den Schoß und versuche, den Soldaten nicht anzustarren.

Dies ist definitiv die Kutsche des Fürsten. Jegliche Hoffnung, dass ich Nana das Geld irgendwie zukommen lassen kann, stirbt in diesem Moment. Ich kann mich weder einfach aus dem Fürstenpalast schleichen noch hoffen, jemanden zu bestechen, mir zu helfen.

Als mir das bewusst wird, straffe ich meine Schultern und hebe den Kopf.

Ren Taman schaut mich im selben Moment an, und seine Miene ist ausdruckslos. Er ist ein unnatürlich schöner Mann mit scharfen Zügen, schwarzem Haar, gerader Nase und Augen, die mich anblicken, als würden sie jede Lüge durchschauen.

Meine Kehle ist eng, und doch zwinge ich mich, mit fester Stimme zu sprechen. »Ich muss darum bitten, dass man mich nach Hause bringt und ich das Geld meiner Familie überreichen kann.«

Der Soldat hebt eine Augenbraue und scheint überrascht von meiner Forderung, dann klopft er aber an das Dach der Kutsche.

Im selben Moment geht hinter mir ein Fenster in Richtung des Kutschers auf. »Sie wünschen?«, ertönt dessen Stimme, und das Klappern der Hufe wird lauter.

»Dreht um. Wir müssen noch einen Abstecher machen.« Ren Tamans Stimme ist dunkel und völlig frei jeglicher Emotion. Alles an ihm ist kalt, genauso wie sein Ruf, der tödlichste Soldat des Fürsten zu sein. Er neigt auffordernd den Kopf.

»Zum Marktplatz«, vervollständige ich.

»Alles klar«, kommt es vom Kutscher, bevor er das Fenster wieder schließt.

»Danke«, bringe ich raus und lächle den Soldaten vorsichtig an. Er müsste das nicht tun, nicht für eine Dienstbotin und nicht für einen Menschen. Aber er tut es, und das bedeutet mir viel.

Er nickt nur knapp.

Ich schaue nach draußen, während wir durch die Straßen des Fürstentums fahren. Die Vorhänge lassen einen Blick nach draußen zu, doch ich bin mir fast sicher, dass niemand uns sehen kann.

Neugierige Blicke folgen uns, und sie werden mehr, je näher wir dem Marktplatz kommen.

Der Kutscher fährt weiter, bis er zu einer Parkmöglichkeit kommt, die sich ganz in der Nähe unseres Hauses befindet.

Erneut klopft Ren Taman an das Dach, und wieder öffnet sich das Fenster. »Welche Hausnummer ist es?«

»Fünfzehn«, bringe ich heraus und begreife erst jetzt, dass er mich selbst nicht gehen lassen wird.

Ren Taman nickt und instruiert weiter den Kutscher. »Bringt der Familie den Rucksack, und lasst Euch Kleidung für das Mädchen geben, die für zehn Tage reicht.«

»Wird gemacht.« Kurz darauf schließt sich das Fenster wieder, und ich höre, wie der Kutscher vom Kutschbock springt.

Schnell öffne ich meinen Rucksack und ziehe einen Zettel sowie einen Stift hervor. Ich habe für den Notfall einen Brief deponiert, aber den wird Nana nicht einfach so finden.

Also kritzle ich schnell eine Nachricht.

Liebe Nana, entschuldige, dass ich dir vorher nichts gesagt habe. Ich bin in zehn Tagen zurück. Vielleicht wird dich bis dahin mein Lieblingsbuch ablenken.

In Liebe, Aviana

Ich behalte die Nachricht in der Hand, weil ich unter keinen Umständen verdächtig wirken will, und presse die Lippen zu einem nervösen Lächeln, als der Kutscher die Tür öffnet.

Ich reiche ihm erst den Rucksack und dann die Nachricht. »Könntet Ihr das bitte meiner Großmutter geben?«

Er nimmt beides an sich und überfliegt die Nachricht, genauso, wie ich es mir gedacht habe.

Sein Blick fliegt kurz zum Soldaten, und er nickt kaum merklich, woraufhin der Kutscher leicht den Kopf neigt. »Natürlich.«

Ren Taman steht gleichzeitig auf. »Wartet hier. Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Plötzlich sitze ich alleine in der Kutsche des Fürsten und traue mich kaum zu atmen. Ren Taman hat mich ersteigert, der Fae, der mein Untergang sein wird, sollte er sich jemals an das achtjährige Mädchen erinnern, das er damals aus den Fluten gezogen hat.

3. Kapitel

Avi

Als der Kutscher zurückkehrt, fühlt es sich an, als wäre ein halber Tag vergangen, obwohl es kaum mehr als eine Viertelstunde gewesen sein kann. Er richtet mir nur Grüße von meiner Großmutter aus und deponiert einen ihrer Koffer unter meinem Sitz.

Ich will ihn fragen, ob sie sehr sauer gewirkt hat, traue mich aber nicht. In wenigen Tagen werde ich es selbst herausfinden.

Zehn Tage.

Auch Ren Taman kommt kurz darauf wieder, und als er einsteigt, klopft er nur einmal an das Wagendach, um dem Kutscher zu signalisieren, dass er losfahren kann.

Er spricht nicht mit mir, und während ich mich zwinge, aus dem Fenster zu schauen, habe ich das Gefühl, sein Blick liegt auf mir.

Er hat mich ersteigert. Zehntausend Münzen für zehn Tage. Ich spüre das weiße Armband, wie es in meine Haut schneidet, und werde mir mit einem Mal überdeutlich bewusst, was der Preis ist.

Ich versuche an Ana zu denken. Daran, dass der Arzt, den Nana bereits kontaktiert hat, zu teuer gewesen ist, sie nun jedoch retten können wird.

Aber es funktioniert nicht. Ich denke daran, was heute Nacht passieren wird. Oder nach unserer Ankunft. Ich habe keine Ahnung, wie es ablaufen wird, und mit einem Mal wird mir heiß.

Ich starre aus dem Fenster, ohne wirklich etwas wahrzunehmen, und zucke erschrocken zusammen, als die Kutsche hält.

Wir befinden uns vor dem Palast. Soldaten überprüfen die Kutsche und öffnen die Tür. Als sie Ren Taman entdecken, verbeugen sie sich und treten zurück.

Dieser hat jedoch seine Augen unverwandt auf mich gerichtet. Nachdenklich, distanziert, abwartend.

Mit einem Mal wird mir klar, dass er sich fragen könnte, wofür ich so viel Geld brauche. Lügen schießen durch meinen Kopf.

Eine Reparatur im Laden? Nein, das würde sich zu leicht nachvollziehen lassen.

Vielleicht Geld für eine Reise für meine Großmutter? Sie wollte schon immer alle Fürstentümer sehen.

Ich merke, dass ich meine Hände zu Fäusten geballt habe, und zwinge mich, wieder zu entspannen.

Die Stille in der Kutsche wird mich noch wahnsinnig machen. Der Drang sie zu füllen, wird immer stärker. Doch sobald ich rede, werde ich irgendwas sagen, was mich verrät. Also schweige ich, obwohl es sich anfühlt, als würden unzählige Worte gegen meine zusammengepressten Lippen drängen.

»Ihr seid sehr nachdenklich, Miss Aviana.« Ren Tamans Stimme durchbricht das Schweigen so plötzlich, dass ich ihn kurz nur anstarren kann.

Dann reiße ich mich wieder zusammen und zwinge mich zu einem schüchternen Lächeln. Ich muss unschuldig aussehen, einfach die Aviana sein, die ich seit Jahren der Welt vorgaukle. »Ich bin ein wenig nervös.«

»Sicher habt Ihr den Fürstenpalast bei einem Schulausflug bereits gesehen«, erwidert er und betrachtet mich genau.

Eine Falle. Es ist eine Falle. Nein. Er kann nicht wissen, dass Ana immer all diese Ausflüge mitgemacht hat, die so selbstverständlich für die Oberstufenschüler sind. »Natürlich. Es war nur so überwältigend, dass ich mich kaum an etwas erinnere.«

Er nickt ganz langsam, und in seinen Augen blitzt es, während der Rest seiner Miene regungslos bleibt. »Dann könnt Ihr Euch dieses Mal mehr Zeit nehmen.«

»Das wäre schön.« Ich schlucke und betrachte die Soldaten, die draußen ein Tor aufschieben. Der Kutscher manövriert uns langsam durch den dahinterliegenden Tunnel, der uns direkt in den Innenhof des Palastes bringt. Mein Herz hüpft einmal fest in meiner Brust bei dem Anblick, und ich zwinge mich zu einer unbewegten Miene. Der Innenhof ist noch größer, als er von außen vermuten lässt. Darin liegt ein Park mit einem eigenen kleinen See, geschwungenen Kieswegen und wunderschönen Rosenbüschen. Eine riesige Trauerweide steht direkt am Wasser, und seine Spitzen streifen die Oberfläche.

Die vier Türme ragen in den Himmel wie Speerspitzen, und dazwischen befinden sich Mauern voller Fenster, durch die man in den Innenhof schauen kann.

Die Kutsche fährt weiter, bis sie kurz vor einem großen Eingang zum Stehen kommt. Der Kutscher springt ab und öffnet uns die Tür. Als Erster steigt der Soldat aus und wartet nicht, ob ich ihm folge. Der Kutscher reicht mir seine Hand, und ich nehme sie nach kurzem Zögern. Nichts.

Puh. Es war die Aufregung. Mehr nicht.

Ich lächle ihn an und möchte meinen Koffer unter dem Sitz herausziehen, doch er verneint. »Der wird auf Eure Gemächer gebracht.«

»Danke«, sage ich erneut und drehe mich zu dem Eingang um, in dem Ren Taman bereits verschwunden ist. Die Türen stehen nun offen, und zwei Soldaten warten rechts und links.

Zögernd trete ich ein, und sie schließen die Türen wieder hinter mir. Ich befinde mich in einer Eingangshalle. Von hier aus führt eine breite Treppe nach oben und teilt sich dann zu beiden Seiten. Der Boden ist aus schwarzem Marmor, der hin und wieder glitzert, als wären Diamantensplitter in ihn eingearbeitet worden. Die Wände sind dunkelrot gestrichen, und an goldenen Kronleuchtern hängen unzählige Kerzen, die beinahe ausgleichen, dass es hier keine Fenster gibt.

Fürst Nevans Soldat steht am Fuß der Treppe und schaut mich auffordernd an. »Ich bringe Euch zu Euren Gemächern.« Seine Stimme duldet kein Trödeln, und ich beeile mich, ihm zu folgen.

Wir gehen die Treppe nach rechts hoch, und dann durchqueren wir einige schmale Flure mit rotem Teppichboden und cremefarbenen Wänden. Auch hier gibt es keine Fenster, jedoch Gaslampen, die alles in sanftes Licht tauchen. Wir kommen an unzähligen verschlossenen Türen vorbei, begegnen jedoch keinen weiteren Personen.

Eine Ewigkeit später erreichen wir schließlich eine weitere, schmale Treppe, die Ren Taman ohne große Umschweife betritt und mit der wir letztlich in die oberste Etage gelangen.

Ich bin schon ein wenig aus der Puste, schaffe es aber, mir nichts anmerken zu lassen. Dafür wächst meine Nervosität ins Unermessliche. Bisher sind wir kaum einer anderen Person begegnet. Was seltsam ist. Sicher leben hier unzählige Bedienstete und Dauergäste des Fürsten. Ich habe gehört, er feiert hier ständig rauschende Feste und bewirtet stets gerne Fae aus anderen Fürstentümern. Mir kommt es hier jedoch ziemlich verweist vor.

Irgendwann halten wir vor einer schlicht aussehenden Tür, und Ren öffnet sie und bedeutet mir einzutreten. »Euer Gemach für die nächsten Tage.«

Mein Atem stockt, als ich eintrete und erkenne, dass ich mich in einem der Türme befinde. Der Raum ist rund, die Wände aus rohem Stein und die Möbel aus edlem Holz. Ein weicher dunkelroter Teppich bedeckt den Hauptteil des Bodens, und schmale, hohe Fenster lassen Tageslicht hinein. Ein Teil des Raumes ist abgetrennt, aber ich erkenne von hier aus einen Badebereich.

Wieso bringt er mich in einen Turm? Ich dachte, sie wären nur für den Adel bestimmt.

Mein Mund wird trocken.

Und für Kurtisanen.

Mein Blick verschließt sich, und ich schaffe es kaum zu lächeln, als ich mich zu ihm umdrehe. »Es ist sehr schön. Danke.«

»Ihr könnt Euch frisch machen. Euer Essen wird gleich gebracht. Ich komme zurück, sobald die Sonne am höchsten steht.« Und dann ist er weg.

Ich schlucke und starre die nun geschlossene Tür an.

Höchster Sonnenstand. Das ist also meine Ablaufzeit.

Ich darf nicht darüber nachdenken. Ich muss es einfach hinter mich bringen.

Langsam gehe ich zu den Fenstern und schaue hinaus auf das Fürstentum, das sich bis weit hinter den Horizont erstreckt. Irgendwo dahinter liegen die Grenzmauern. Und solange ich mein Spiel gut spiele, werde ich niemals gezwungen sein, dorthin zu fliehen.

So schrecklich mein Leben auch ist. Ich fürchte nichts mehr als das Unbekannte dort draußen. Die Tote Zone, jener Teil der Welt, den man nicht mehr lebend verlässt, wenn man ihn einmal betritt.

***

Als das Essen von einer Dienerin gebracht wird, ist offensichtlich, dass ich nicht denselben Status trage wie sie. Auf dem Tablett befinden sich edle Speisen, wie gebratenes Geflügel, perfekt gegartes Gemüse und Reis, der so reinweiß ist, dass er nur aus dem fernen Altasien kommen kann.

Nach dem Krieg veränderte sich nicht nur die Menschheit, sondern auch die ganze Welt. Tiere wurden zu gefährlichen Bestien und Pflanzen zu einer nicht zu unterschätzenden Gefahr. Es veränderte die Art, wie die Menschen lebten. Was zuvor so normal gewesen war, wie Waren aus fernen Ländern und Köstlichkeiten aus aller Welt zu importieren, war fortan nur unter extremen Bedingungen möglich.

Und nun sitze ich hier und starre auf einen Teller, der voll ist mit exotischem Gemüse, und der daneben liegenden Schale voller Früchte, die ich noch nie gesehen habe. Nichts könnte deutlicher machen, dass ich eine Kurtisane bin. Ich muss genau den Preis zahlen, den ich ihnen geboten habe.

Eigentlich hätte ich Angst haben müssen.

Stattdessen legt sich eine sonderbare Ruhe über mich, während ich esse und dieses Geschenk zu genießen versuche. Vermutlich werde ich nie wieder so süße Früchte essen. Dennoch kann ich sie nicht so wertschätzen, wie ich es müsste. Dafür bin ich viel zu aufgeregt.

Meine Gedanken wandern zu meiner Schwester, und die Möglichkeit, dass Ana bei meiner Rückkehr wieder gesund sein wird, hebt meine Laune.

Dienerinnen kommen und füllen die Badewanne mit dampfendem Wasser, und ich sinke seufzend hinein, nachdem sie gegangen sind.

Gedanklich versuche ich mich auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Natürlich weiß ich, wie der Akt an sich funktioniert. In der Schule wurden wir aufgeklärt, und mit der Gesundheitsinjektion erhalten junge Menschen Hormone, die ungewollten Schwangerschaften entgegenwirken. Nur, dass ich nie eine Gesundheitsinjektion bekommen habe.

Als meine Mutter Zwillinge geboren hat, machte sie sich auf den Weg, um unser Blut zu prüfen. Sie hatte damals einen Kontakt im Labor, der einen Test machte.

Wir wissen nicht, was dann passiert ist. Sie schaffte es noch, uns eine Nachricht mit dem Ergebnis zukommen zu lassen, und ist dann nie wieder aufgetaucht.

Kurz darauf kamen die Soldaten des Fürsten und durchsuchten das ganze Haus. Doch Nana war vorbereitet und hatte mich versteckt.

Ihr wurde mitgeteilt, dass unsere Mutter gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen gefasst worden sei, die mit dem Feind sympathisierten. Unsere Großmutter konnte glaubhaft machen, dass nur ein Kind in jener Nacht geboren wurde und sie keine Ahnung von dem hatte, was ihre Tochter da getrieben hat.

Die Soldaten ließen uns in Frieden, und seitdem spielen wir unser Versteckspiel.

Meine Mutter ist gestorben, weil sie mich retten wollte. Daran gibt es nichts schönzureden. Erst sehr viel später erfuhren Ana und ich, dass in jener Nacht dreißig Menschen gestorben waren.

Und egal wie oft die Schuld mein Herz zu erdrücken versuchte, es überwiegt das Wissen, dass meine Mutter mich unglaublich geliebt hat.

Viele Jahre später sitze ich nun im Palast des Fürsten, ersteigert von seinem ersten Soldaten. Dem Mann, von dem ich mindestens hundert Schritt entfernt bleiben sollte. Dem Mann, der zu jenen gehörte, die meine Mutter ...

Ich kneife die Augen zusammen und stehe ruckartig aus dem kalt gewordenen Wasser auf.

Es bringt nichts, darüber nachzudenken. Meine Mutter ist tot, und nichts wird sich daran ändern. Alles, was ich tue, ist für meine Familie. Für Ana.

***

Als die Sonne ihren Höchststand erreicht, sitze ich auf dem Rand meines Bettes und sehe zu, wie sich die Tür öffnet. Ren Taman tritt ein und stockt, als er mich sieht. Sein Blick wandert über meinen Morgenmantel, der aus heller, fließender Seide gefertigt ist. Um mir Mut zu machen, habe ich ein wenig Schminke aufgelegt, und mein vom Feuer getrocknetes Haar liegt in langen Wellen auf meinem Rücken.

Der Soldat hält noch immer die Türklinke fest, während sein Blick über meinen Körper wandert und nichts preisgibt. »Braucht Ihr noch etwas Zeit?«

Ich schlucke und schüttele den Kopf. Mehr Zeit würde bedeuten, dass ich mir nur noch mehr Gedanken machen kann. Ich will es endlich hinter mich bringen.

Meine Gedanken schwenken zu dem skandalösen Roman, den Ana und ich heimlich gelesen haben, und zu dieser einen Szene, in der die Frau dem Mann mitteilte, dass sie ihn will. Als ich sie las, bin ich von oben bis unten rot geworden, aber Ana sagte hinterher nur, dass sie es genauso machen würde. Sie ist schon immer ein wenig mutiger als ich gewesen. Vielleicht muss ich es heute auch einmal sein.

Also straffe ich meine Schultern. »Möchtet Ihr reinkommen?« Es wundert mich selbst, wie fest meine Stimme klingt, während ich mich erhebe.

Noch immer trägt Ren Taman eine Uniform, mit silbernen Schulterklappen, den Schnallen und unzähligen Knöpfen. Er sieht aus, als würde er in eine Schlacht ziehen, und vielleicht muss ich das genauso sehen.

»Was genau ist hier los?« Die Stirn des Soldaten legt sich in Falten, und es ist seine erste emotionale Reaktion.

Muss er es mir so schwer machen?

Aber vielleicht muss ich nur mutig genug sein, um den ersten Schritt zu machen. Das habe ich aus all den skandalösen Büchern gelernt. Die Frau macht den ersten Schritt, und der Mann macht den Rest. »Ich möchte meinen Preis bezahlen.«

Ren Tamans Augen folgen mir blitzend, als ich nach dem Gürtel meines Mantels greife und die Schlaufe langsam öffne.

Er stößt einen erstickten Laut aus und ist in wenigen Schritten bei mir, packt meinen Seidenmantel, nur um ihn wieder fest um meinen Körper zu wickeln. Seine Hände sind nur durch den dünnen Stoff von meiner Haut getrennt, und ich atme keuchend ein, während ich hoch in sein Gesicht starre.

Seine Augen sind geweitet, und wo zuvor Eis gewesen ist, brennt nun ein Feuer, das er mit einem einzigen Blinzeln wieder erstickt. »Was soll das?«

Der Geruch von Leder und Lavendel steigt mir in die Nase. »Ich ...« Meine Stimme versagt, weil ich nicht weiß, was ich falsch gemacht habe. »Ich wollte den Preis bezahlen.«

»Welchen Preis?«