Stranded - Das Versprechen des Meeres - Kate Dylan - E-Book

Stranded - Das Versprechen des Meeres E-Book

Kate Dylan

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Meer wartet die Freiheit, aber auch große Gefahr – Band 2 der aufregenden »Stranded«-Reihe von Kate Dylan Mellie will ihr Seevolk um jeden Preis von der brutalen Herrschaft des Titanen befreien. Doch die letzte Rettungsaktion hätte sie beinahe ihr Leben gekostet. Um Hilfe zu holen muss sie ihren geliebten See verlassen, um in den wilden Gewässern Kanadas und in den schimmernden Tiefen vor Hawaii Verbündete zu finden. Mellie darf sich dabei nicht ablenken lassen. Schon gar nicht von ihren widerstreitenden Gefühlen für Rynn, ihrem ehemals besten Freund, oder für Caleb, der sie mehr als einmal gerettet hat. Denn ihre Feinde sind überall, und bald steht Mellie vor einer schrecklichen Entscheidung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 535

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kate Dylan

Stranded

Das Versprechen des Meeres

Roman

Aus dem Englischen von Tanja Hamer

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigDanksagung

Für Pieter, den großartigsten Landbewohner, der je auf der Oberfläche gewandelt ist.

Kapitel eins

Tritt auf die Bremse!« Caleb stützte sich mit den Händen am Armaturenbrett ab. »Bremse! Tritt auf die Bremse!«

Mellie stieg mit beiden Füßen auf das mittlere Pedal, und das Auto kam kurz vor einer der Eichen, die die Straße säumten, zum Stehen.

»Verdammt nochmal, Scout.« Er ließ den Hinterkopf an die Kopfstütze sinken. »Hast du den Baum nicht gesehen?«

»Ich habe Augen im Kopf, Caleb. Natürlich habe ich den Baum gesehen.«

»Aber wieso hast du dann noch Gas gegeben?«

»Eigentlich wollte ich die Kupplung treten.«

»Die Kupplung trittst du mit dem linken Fuß. Linker Fuß Kupplung, rechter Fuß Bremse und Gaspedal, so schwer ist das doch nicht. Weißt du was, mir reicht es jetzt.« Caleb riss die Beifahrertür auf. »Rutsch rüber. Die Fahrstunde ist beendet.«

Mellie unterdrückte ein Grinsen, während sie auf den Beifahrersitz wechselte. »Muss ich dich daran erinnern, dass das deine Idee war?«

Vor einer Woche waren die offiziellen Papiere endlich angekommen, um die ihre Mum sich bemüht hatte. Mellie besaß jetzt eine Geburtsurkunde und einen Ausweis, Schulzeugnisse, eine Krankenversicherung und eine vorläufige Fahrerlaubnis für Fahranfänger; alles, was man brauchte, um als echter Landbewohner durchzugehen. Und als sie Caleb von ihrer neuen gefälschten Identität erzählt hatte, war er ganz aufgeregt gewesen und hatte verlangt, ihr das Autofahren beibringen zu dürfen. Offenbar machte man das als siebzehnjähriger Landbewohner so.

»Mag sein, aber ich habe meine Meinung eben geändert«, murmelte Caleb und schlüpfte auf den Fahrersitz. »Meerjungfrauen und Autofahren passen eindeutig nicht zusammen.«

»Dann habe ich wohl Glück, dass ich eine Wandlerin bin und keine Meerjungfrau«, zischte Mellie. Sie hätte nie erlauben dürfen, dass er dieses Wort benutzte. Meerjungfrauen waren ein dummer Mythos der Landbewohner. Sie trugen lächerliche Muschel-BHs, schliefen in leeren Riesenmuscheln, freundeten sich mit sprechenden Fischen an und lockten Seeleute mit ihrem Gesang in den Tod. Ausgerechnet mit Gesang. In einer Liste der zehn besten Filmmonster würden sie es nicht mal auf den letzten Platz schaffen.

»Nein, du bist ein bevorstehender Verkehrsunfall.« Caleb ließ den Motor wieder an. »Soll ich dich nach Hause fahren?«

Die Bedeutung des Worts Zuhause war in letzter Zeit ziemlich kompliziert geworden. Früher bezog es sich auf Astria, den See und den Wald und Nächte unter Wasser, in denen sie in ihrem weichen Seegrasbett schlief. Aber Mellie lebte jetzt an der Oberfläche. Mit ihrer Mum. In einer angesichts des wackeligen Zustands ihrer Beziehung komplizierten Lebenssituation.

Es war kompliziert, weil Mellie sich noch nicht an David gewöhnt hatte und es unmöglich war, dem Landbewohner-Ehemann ihrer Mutter in seinem eigenen Haus aus dem Weg zu gehen, und weil Rynn auch dort wohnte, was bedeutete, dass Mellie ihn jeden Tag sehen musste. Tagtäglich saß sie ihm beim Frühstück gegenüber und spürte den spitzen Schmerz des Verrats in ihrer Brust.

Sie hatten seit dem Tag, als Rynn sie in die Falle des Captains hatte laufen lassen, kaum miteinander gesprochen. Er hatte es immer wieder versucht, doch sie hatten sich nur jedes Mal angeschrien, und das war vielleicht noch schlimmer, als sich anzuschweigen. Noch nie in den zwölf Jahren, die sie jetzt befreundet waren, hatten sie sich so gestritten. So, als könnte es tatsächlich nie wieder besser werden. Als gäbe es keinen Weg zurück.

»Lass uns lieber zu dir fahren und einen Film schauen«, schlug Mellie vor. Sie war noch nicht bereit, sich der Realität ihres neuen Zuhauses zu stellen.

»Klingt gut.« Caleb wendete den Pick-up-Truck. »Aber ruf bitte deine Mum an und sag ihr Bescheid. Ich glaube nämlich, sie hasst mich langsam.«

»Sie hasst dich nicht.«

»Eines Tages wird sie noch die Polizei rufen und mich wegen Entführung ihrer Tochter verhaften lassen.«

»Quatsch, wird sie nicht.«

»Ich meine es ernst, Scout, ich würde im Knast nicht lange überstehen. Ich weiß nicht mal, wie man aus einer Zahnbürste eine Waffe schnitzt.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Und du zierst dich. Ruf deine Mutter an.«

»Ruf du doch meine Mutter an.«

»Na schön, aber dann musst du meine Mutter anrufen.«

»Bei den Göttern, du nervst vielleicht.« Mellie griff in ihre Tasche. Wenigstens musste sie am Telefon nicht das enttäuschte Gesicht ihrer Mutter sehen, das diese immer aufsetzte, wenn sie ihr sagte, dass sie den Abend bei Caleb verbringen wollte. Trotz allem, was sie miteinander durchgemacht hatten, war es Mellie noch nicht gelungen, einen Weg zu finden, ihrer Mum näherzukommen. Sie gab sich wirklich Mühe, machte jedoch nur schleppende Fortschritte. Als würde man gegen eine unnachgiebige Strömung anschwimmen, und das nicht einmal mit Flossen, sondern nur mit Beinen.

»Sie geht nicht ran, aber ich habe ihr eine Nachricht geschickt«, sagte Mellie. »Zufrieden?«

»Äußerst zufrieden. Worte können nicht beschreiben, wie viel Spaß es mir bereitet, euch beide dazu zu zwingen, miteinander zu reden.« Caleb warf ihr einen hämischen Blick zu. »Apropos, gibt es schon einen Termin für unser großes Kanada-Abenteuer?«

Mellie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn finster an.

»Sorry, sorry. Hat deine Mutter schon gesagt, wann unser super ernsthafter, nicht-von-mir-zu-veralbernder-oder-mit-einem-dummen-Landbewohner-Namen-zu-betitelnder Ausflug zur Wandlersiedlung in Kanada stattfinden soll?«

Na ja, das war fast besser.

»Noch nicht«, erwiderte sie seufzend. »Quinn versucht immer noch, das restliche Quorum zu überreden, uns zu empfangen, aber bisher …« Bisher hatten sie sich Zeit gelassen und immer neue Ausreden gefunden. Wenn sie ehrlich war, glaubte Mellie nach über einem Monat nicht mehr wirklich daran, dass sie ihre Zustimmung noch geben würden.

»Mach dir keine Sorgen, Scout. Das klappt schon.« Caleb lächelte sie an. »Captain Meerjungfrau wird sie schon davon überzeugen, das Richtige zu tun.«

Mellie wünschte, sie wäre nur halb so zuversichtlich wie Caleb. Aber von den fünfzehn Soldaten, die seit dem Krieg in Kanada lebten, hatten nur Quinn und seine Frau Niya auf ihren Hilferuf reagiert, und jetzt, da sie wieder nach Hause zurückgekehrt waren, noch dazu, waren die anderen umso weniger bereit, sich einzumischen.

»Und wenn er das schafft …«, fuhr Caleb fort, ganz offensichtlich darum bemüht, ihre Stimmung zu heben, »… werden wir endlich unseren kleinen Ausflug machen können.«

Klar. Wir. »Ich habe immer noch keine Ahnung, warum du vorhast, mitzukommen.«

»Das liegt an deinem Mangel an Phantasie.«

»Mit meiner Phantasie ist alles in Ordnung.«

»Na, dann stell dir mal vor …«

»Grrr, bei den Göttern. Bitte, nicht schon wieder.« Mellie stöhnte auf.

Er ignorierte sie. »In zehn, vielleicht fünfzehn Jahren, wenn die Meerjungfrauen die Weltherrschaft übernommen haben …«

»Nur fürs Protokoll, die Meerjungfrauen haben das nicht vor.«

»Und dennoch, falls sie es tun sollten, werde ich sagen können, dass ich von Anfang an dabei gewesen bin. Und natürlich werde ich als der Landbewohner, der geholfen hat, es zu ermöglichen, eine bedeutsame Position an eurem Hof erhalten.«

»Habe ich erwähnt, dass du dich total lächerlich machst?« Mellie verdrehte die Augen. Caleb war mit dem wahren Grund noch nicht herausgerückt, warum er darauf bestand, sie zu begleiten, obwohl ihm bewusst sein musste, dass sie einen Großteil der Zeit unter Wasser verbringen würden. Stattdessen tischte er ihr diese offensichtlich ausgedachten Geschichten auf, die mit jedem Mal absurder wurden. Zuerst wollte er mitkommen, weil irgendein Kerl namens Tim Horton dort eine bestimmte Sorte Donuts verkaufte, die angeblich »das Leben für immer verändern« konnten. Als nächsten Grund für die Reise gen Norden hatte er angebracht, ein Wesen namens Bigfoot aufspüren zu wollen, das nun, wo er wusste, dass es Meerjungfrauen gab, ebenfalls existieren konnte. Und jetzt wollte er ihr offenbar helfen, die Herrschaft der Meerjungfrauen einzuläuten.

Mellie vermutete einen wesentlich einfacheren Grund hinter seinem Anliegen. Einen, der mehr damit zu tun hatte, wer noch mitkam, als mit der Weltherrschaft oder der Jagd nach einem übergroßen Affenmenschen. Aber sie wollte sich nicht beklagen. Calebs Anwesenheit war das Einzige, was diesen vermaledeiten Ausflug erträglich machen würde.

»Würden wir nach Kanada fliegen?«, fragte er.

»Nur, wenn ich bis dahin den Verstand verliere.«

Caleb schielte zu ihr rüber. »Du weißt schon, dass das Risiko, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, statistisch gesehen gegen null geht.«

»Mein Risiko, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, ist tatsächlich gleich null«, entgegnete Mellie, »da ich nicht vorhabe, überhaupt erst in eines zu steigen.«

»Jetzt mal im Ernst, Scout, es ist etwa hundertmal wahrscheinlicher, bei einem Autounfall zu sterben. Wenn du fährst, eher tausendmal wahrscheinlicher.«

»Jetzt bringst du mich nur dazu, auch nie wieder in ein Auto zu steigen.«

»Ich sage ja nur, dass die Fahrt ein bisschen zu lang ist, als dass du deinen Sturkopf durchsetzen kannst.«

Ja, stimmte Mellie stumm zu. Lang und unangenehm. Elf Stunden, eingesperrt in ein Auto mit ihrer Mum und Rynn. Da das Quorum auch zu seiner Rolle im Verlauf der Ereignisse Fragen stellen würde, sollte er ebenfalls mitkommen.

»Na ja, vielleicht bin ich eben gern ein Sturkopf«, erwiderte Mellie.

»Hey, du kannst so stur sein, wie du willst, solange du auf dem Beifahrersitz bleibst.«

»So schlecht bin ich jetzt auch nicht gefahren, Caleb.«

»Ja, klar. Vielleicht nicht im Vergleich zu deinen Kochkünsten oder zu Horrorfilmen aus den Neunzigern.«

Mellie warf ihr Handy nach ihm. »Idiot.«

Caleb grinste. »Meerjungfrau.«

Abgesehen vom endlosen Vorrat an Popcorn und Filmen – und Calebs Gesellschaft natürlich – war der größte Vorteil von Calebs Hütte die Nähe zum See. Nachdem ihr Versuch, unbemerkt nach Astria zu gelangen, kläglich gescheitert war, hatte Mellie befürchtet, den See nie wieder zu sehen. Rynn hatte zwar bei allen Göttern geschworen, dem Captain nichts von Caleb erzählt zu haben, aber trotzdem waren sie sich alle einig gewesen, dass Caleb dem Wald eine Weile fernbleiben sollte.

Er hielt es drei Tage aus.

Drei Tage zu Hause bei seinen Eltern, bis der erste große Streit über seine Zukunft ausbrach; bis er das tat, was er immer tat, wenn die Lage zu angespannt wurde: Er sprang in sein Auto und fuhr zu seiner Hütte. Zwei Vampirfilme später hatte sich Caleb so weit beruhigt, dass ihm wieder einfiel, warum er nicht dort sein sollte.

Ab da wurde er vorsichtiger.

Er überprüfte sorgfältig, dass auch nichts verändert worden war, seit sie die Hütte verlassen hatten. Er bewahrte seine Pistole im Haus anstatt im Auto auf und durchkämmte die umliegende Gegend, um Anzeichen irgendwelcher Aktivitäten zu entdecken. Er installierte sogar eine kleine Kamera über der Haustür.

Bis zum Ende der Woche hatte Caleb endlich das Gefühl, sich in der Hütte sicher fühlen zu können. Noch ein paar Tage später konnte Mellie ihre Mum endlich überreden, ihn dort besuchen zu dürfen.

Der See war natürlich tabu, aber der dichte Wald, der den See umgab, war seit dem Tag ihrer ersten Verwandlung Mellies zweites Zuhause gewesen. Und dorthin zurückzukehren gab ihr das Gefühl, ihrem alten Leben wieder etwas näher zu sein, auch wenn sie sich versteckt halten musste. Sie hatte die Tage an der Oberfläche damit verbracht, zwischen diesen Bäumen zu patrouillieren und die Schutzanker intakt zu halten, die den See verbargen und die Landbewohner davon abhielten, die auf seinem Grund verborgene Stadt zu entdecken. Zumindest hatte sie das immer geglaubt.

Inzwischen wusste Mellie es besser; sie hatte die wahre Macht der Schutzanker am eigenen Leib zu spüren bekommen. Und sobald sie das Quorum überzeugt hatte, ihr zu helfen, würde sie dafür sorgen, dass auch alle anderen Wandler Astrias die Wahrheit erfuhren.

Anders als das Haus ihrer Mum verströmte Calebs Hütte eine warme, bewohnte Atmosphäre. Zu Hause konnte Mellie sich nie entspannen; David hielt das Haus stets zu sauber, zu perfekt aufgeräumt. Sie hatte das Gefühl, allein durch ihre Anwesenheit die Deko zu ruinieren, ein Fleck auf einer ansonsten schneeweißen Leinwand zu sein. Calebs Hütte war im Vergleich dazu gemütlich. Angefangen bei den nicht zusammenpassenden Möbeln und der alten, durchgesessenen Couch bis zu den Bergen von Krimskrams, der sich in allen Ecken türmte, fühlte sich alles irgendwie echt an. Und was noch wichtiger war, es fühlte sich nach ihm an. Würde man Caleb in ein Haus verwandeln, würde es genauso aussehen wie diese Hütte.

»Ich hoffe, du weißt, dass ich den Film aussuchen darf, weil du beinahe mein Auto geschrottet hast«, bemerkte Caleb und winkte sie hinein.

»Klar, als ob du mich sonst den Film hättest aussuchen lassen«, murmelte sie. Caleb hatte ihr bisher nur ein einziges Mal die Verantwortung für ihre Abendunterhaltung überlassen, doch als sie aus Versehen eine der Selbsthilfe-DVDs seiner Mutter ausgewählt hatte, war sie ihre Entscheidungsgewalt ganz schnell wieder losgeworden. Was Mellies Meinung nach völlig unfair war. Wie hatte sie denn ahnen sollen, was auf der DVD drauf war? Immerhin hieß der verdammte Film Breaking the Dawn. Sie war davon ausgegangen, es ginge um Vampire und Sonnenlicht.

»Holla, immer schön langsam, mein Junge.« Caleb taumelte ein paar Schritte zurück, als sein Hund im Flur auf ihn zugestürzt kam wie ein pelziger Blitz aus Pfoten und braunem Zottelfell. Doch anstatt wie üblich freudig zu bellen, knurrte Sammie bedrohlich.

»Ich weiß nicht, warum du mich anknurrst.« Caleb ging in die Hocke und kraulte den Hund hinter den Ohren. »Sie ist der Grund, warum wir fast draufgegangen wären.«

»Hör nicht auf ihn, Sammie.« Mellie schnappte sich einen Keks vom Esstisch und warf ihn dem Hund hin. Sammies Loyalität zu Caleb war unerschütterlich – außer es ging um etwas zu essen. Ein Keks würde ihn sicher zum Verstummen bringen.

Allerdings ignorierte Sammie die Leckerei heute völlig. Wenn überhaupt, wurde sein Knurren nur noch lauter.

»Was ist denn los, mein Junge? Bist du verletzt?« Caleb folgte dem Hund ins Wohnzimmer. Sammie schien nicht zu hinken, und sein Futternapf war noch halb gefüllt, er war also auch nicht hungrig.

»Vielleicht ist wieder ein Waschbär auf dem Dach?«, überlegte Mellie. »Wahrscheinlich will er nur raus und spielen.«

»Weißt du was, Scout, wenn das ein Horrorfilm wäre, wärst du das Mädchen, das die offensichtlichen Warnzeichen ihres treuen, alten Hundes in den Wind schlägt.« Auch wenn Calebs Tonfall scherzhaft klang, blieb die Sorge in seinem Blick bestehen.

»Ja, aber das ist kein Horrorfilm«, erwiderte Mellie. Selbst wenn er noch so gern mal in einem mitspielen würde. »Aber wo wir schon von Horrorfilmen sprechen, ist heute Vampirabend oder Sumpfmonsterabend?« Sie ging zu den hohen Regalen, in denen er seine DVD-Sammlung untergebracht hatte. Caleb besaß wirklich eine beeindruckende Menge an Filmen, alle chronologisch sortiert, angefangen bei – in seinen Worten – den Schwarz-Weiß-Klassikern aus der Zeit vor dem Farbfilm bis hin zu den effektbeladenen Schauerwerken der vergangenen Jahre.

»Weder noch. Ich hatte heute eher an Godzilla gedacht. Das heißt, falls ich in nächster Zeit herausfinde, was mit diesem verrückten Tier los ist«, fügte Caleb hinzu, als Sammie zum Fenster lief und begann, an der Scheibe zu kratzen. »So was macht er sonst wirklich nie.«

Da hat er recht. Mellie wurde plötzlich flau im Magen. Sie hatte Sammie schon Dutzende von Waschbären durch den Wald jagen sehen, er hatte sogar mal eine Viertelstunde lang versucht, einen Baumstamm hochzuklettern, weil er ein Eichhörnchen verfolgen wollte. Aber er tat das immer auf eine verspielte, gutmütige Art, niemals aggressiv.

Außer, er fühlte sich bedroht.

»Du hast doch heute Morgen nichts Besonderes bemerkt, oder?« Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Als Sammie das letzte Mal auch nur halb so aufgeregt gewesen war, hatte es an Menschen und nicht an einem Tier gelegen. Aber Menschen verirrten sich während des Winters nicht hier raus. Zumindest keine Landbewohner. Wandler dagegen …

»Nur wenn zwei sich jagende Opossums als etwas Besonderes zählen«, meinte Caleb. »Warum?«

Sammie fing an zu heulen wie ein Wolf.

Da wusste Mellie Bescheid.

Der erste Schuss fiel, ehe sie überhaupt reagieren konnte, und riss ein Loch in die Holzwand.

»Was zum …«

»Runter!« Sie konnte ihn gerade noch zu Boden ziehen, als ein weiterer Kugelhagel die Fensterscheibe durchschlug und rasiermesserscharfe Glassplitter auf sie niederregnen ließ. Ein scharfer Schmerz in ihrer Handfläche brachte Mellie zum Fluchen.

»Scout?« Caleb brauchte nur einen kurzen Moment, um die Lage zu erfassen. Mit einer beherzten Bewegung rollte er sie beide hinter die Couch und drückte Mellie flach gegen das Polster. »Bist du verletzt?«

Mellie zog sich den Ärmel bis über die Hand. »Alles in Ordnung.« Sie wollte viel mehr sagen; sie wollte ihm mitteilen, wer da draußen war und warum und mit wem sie es zu tun hatten. Aber die Worte blieben ihr vor lauter Herzklopfen im Hals stecken. Captain Ferricks Männer hatten sie gefunden. Sie hatten ihren letzten Zufluchtsort im Wald entdeckt.

»Wir müssen es zum Auto schaffen.« Calebs Stimme war ein gepresstes Flüstern, kaum hörbar über das Klingeln in ihren Ohren und den Lärm der Schüsse. »Bleib unten, okay?«

Sie warteten eine Feuerpause ab, obwohl Mellie wusste, dass jede Atempause nur von kurzer Dauer sein würde. Sie konnte die Stimmen der Soldaten draußen noch hören. Zwei unterschiedliche Stimmen, die lachten und scherzten, während sie die Hütte umrundeten. Die beiden hatten offensichtlich Spaß an ihrer grausamen Arbeit.

Ganz langsam krochen Mellie und Caleb zwischen den Möbeln hindurch, wobei sie sich dicht beieinander und nah am Boden hielten. Sammie trottete neben ihnen her.

»Moment.« Caleb drehte sich um, als sie den Couchtisch passierten, und verließ kurz die Deckung, um seinen Laptop zu retten.

»Ernsthaft?«, zischte Mellie.

Sammie bellte kurz auf, als wollte er ihr zustimmen.

»Mein gesamtes Leben befindet sich auf dem Ding.« Caleb duckte sich wieder neben sie. »Ich werde den Computer nicht zurücklassen.«

Bei den Göttern, das konnte doch nicht … 

Das gegenüberliegende Fenster barst, als ein weiterer Kugelhagel über sie hereinbrach. Caleb zog sie schnell zu Boden und schützte sie mit den Armen vor den Scherben.

»Mann, diese Typen geben aber auch nicht auf.«

»Nein.« Das wusste Mellie aus Erfahrung. Die Männer, die dem Captain loyal ergeben waren, folgten ihm blind. Sie führten seine Anordnungen ohne Zögern und ohne Zweifel aus, egal wie falsch oder tödlich sie waren.

»Also, das ist der Plan«, sagte Caleb. »Wenn wir es zur Tür geschafft haben, nehme ich meine Pistole, um sie abzulenken, und du lässt in der Zeit den Motor an.«

»Das ist dein Plan?«

»Hey, ich habe nie gesagt, dass es ein guter Plan ist.« Er brachte ein schwaches, humorloses Lächeln zustande. »Aber wir müssen hier irgendwie rauskommen, und zwar, bevor sie die Hütte dem Erdboden gleichmachen.«

Dagegen konnte Mellie nichts einwenden, nicht, solange ihnen die Kugeln um die Ohren flogen.

»Ich sollte diejenige sein, die sie ablenkt«, erwiderte sie, während sie sich kriechend einen Pfad in den Flur bahnte. Die Soldaten waren immerhin ihretwegen gekommen.

»Jetzt komm schon, Scout, hast du überhaupt schon mal eine Waffe in der Hand gehalten?«

»Nein, aber …«

»Dann gibt es kein Aber. Du nimmst Sammie und läufst zum Wagen.«

»Caleb …«

»Es wird alles gut werden, Scout. Ich bin direkt hinter dir.« Er drückte ihr die Autoschlüssel in die Hand, wobei seine Finger kurz auf ihren liegen blieben, ehe er sie zurückzog. »Und du bist schön brav, okay, mein Junge?« Er wandte sich Sammie zu. »Bleib bei Mellie. Kein Quatsch jetzt.«

Sammie bellte einmal und stellte sich mit gefletschten Zähnen neben Mellie.

Caleb schnappte sich seine Pistole. »Bereit?«

Bei den Göttern, kein bisschen. Mellie biss sich auf die Innenseite der Wange. Sie hätten niemals hierherkommen dürfen. Sie hätte wissen müssen, dass der Captain sie früher oder später finden würde, dass er die Suche nach ihr nicht aufgeben würde, egal, wie lange sie auch dauerte. Und sie hätte genau das auch zu Caleb sagen sollen, als sie seine Textnachricht bekommen hatte, dass er in seine Hütte zurückgekehrt war. Stattdessen hatte sie geantwortet: O Mann, ich wünschte, ich wäre jetzt auch dort. Wie bescheuert von ihr.

»Scout?«

»Ich bin bereit.« Mellie verdrängte die reumütigen Gedanken. Dafür würde sie später noch genug Zeit haben. Vorausgesetzt, sie würden den Hinterhalt überleben, der sie draußen erwartete.

»Dann sehen wir uns gleich im Auto.« Caleb stürzte in den Wald, wobei er wie wild in die Luft schoss. Mellie folgte ihm mit Sammie auf den Fersen. Es war nicht weit zu Calebs Pick-up-Truck, gerade weit genug, um ihr einen kurzen Blick auf die Angreifer zu ermöglichen, als sie um die Ladefläche herumlief. Den Vorschriften entsprechend hatte sie nie eine engere Verbindung zu den Soldaten aufgebaut, weshalb sie diese beiden auch nicht erkannte, aber sie musste weder ihre Namen noch ihre Gesichter kennen, um zu wissen, dass es sich um Wandler handelte. Sie trugen die gleichen schlecht sitzenden Kleider, die das Korps allen Wandlern zur Verfügung stellte: Jeans mit Metalldruckknöpfen an der Seite, dünne Baumwoll-T-Shirts, trotz der Kälte keine Jacken. Und um den Hals hing die verräterische schwarze Schnur, an der sie ihren Anhänger trugen, der ihnen auch nach Sonnenuntergang noch ermöglichte, sich im See zu verwandeln.

Ferricks Männer hatten ebenfalls keine Probleme, sie zu erkennen. Auch wenn Mellies Färbung an der Oberfläche nicht so ausgeprägt war, verriet sie ihr helles weißblondes Haar auf den ersten Blick. Sobald die Soldaten sie entdeckt hatten, verhärtete sich ihr Gesichtsausdruck, und sie schossen mit verstärkter Inbrunst, als würde Mellies Anwesenheit allein sie anspornen. Als hätten sie nicht damit gerechnet.

»Beeil dich, Scout!«, rief Caleb, der hinter einem Holzstapel in Deckung gegangen war.

Mellie riss die Beifahrertür auf, und eine Kugel prallte am Metall ab. »Sammie, spring rein!«, forderte sie den Hund auf, ehe sie die Tür hinter sich schloss und den Körper dicht auf den Sitz drückte. Irgendwie schaffte sie es trotz ihrer zitternden Hände, den Schlüssel beim ersten Versuch ins Zündschloss zu stecken und den Motor anzulassen. Jetzt musste Caleb sich nur noch beeilen und zu ihnen ins Auto kommen.

Los, los, los. Das Rauschen des Blutes in ihren Ohren wurde immer lauter. Außerhalb des Autos hallte ein erneuter Schusswechsel durch den Wald. Dann noch einer und noch einer, so dass der Pick-up-Truck wackelte, als die Kugeln um das Führerhaus zischten. Und immer noch kein Caleb in Sicht.

Bei den Göttern, wo steckst du? Mellie riskierte einen Blick über das Armaturenbrett. Caleb kauerte hinter dem Holzhaufen, die Pistole lag zu seinen Füßen. Vermutlich war ihm die Munition ausgegangen, was bedeutete, dass er sich nicht mehr verteidigen konnte. Und dass er die Soldaten nicht mehr ablenken konnte, die ihm den Fluchtweg verstellten.

»Sieht so aus, als müssten wir ihn abholen.« Mellie bedeutete Sammie mit einer Handbewegung, dass er auf die Rückbank springen sollte, während sie auf den Fahrersitz rutschte und den Sitz nach vorne schob. »Linker Fuß Kupplung, rechter Fuß Bremse und Gas«, murmelte sie vor sich hin, während sie den ersten Gang einlegte. »So schwer ist es wirklich nicht.« Mellie trat mit beiden Füßen auf die Pedale, und der Wagen machte einen Satz nach vorne und schoss auf die Soldaten zu, als wäre er vom Teufel besessen. Nur einer von ihnen schaffte es, rechtzeitig aus dem Weg zu hechten. Der andere streifte den Kotflügel mit einem unschönen Krachen und brach auf dem Boden zusammen. Mellie blendete sein schmerzerfülltes Stöhnen aus und beugte sich schnell nach vorne, um Caleb die Tür zu öffnen. »Steig ein!«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal froh sein würde, dich auf dem Fahrersitz zu sehen.« Als er ins Auto sprang, sah sie, dass er Holzsplitter in den Haaren und einen schmalen Schnitt über einem Auge hatte. Die Verletzung mochte nur oberflächlich sein, aber sie brachte Mellies Blut dennoch in Wallung. Sie zu verfolgen war eine Sache, aber ihn anzugreifen … dazu hatte der Captain kein Recht.

»Schnall dich an«, befahl sie und legte selbst den Sicherheitsgurt an. Bei der Bewegung schoss ihr ein stechender Schmerz durch den Arm, aber Mellie ignorierte ihn. Nur eins war jetzt wichtig: so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Alles andere konnte warten.

»Scout …« Caleb versteifte sich neben ihr, als der unverletzte Soldat auf sie zugerannt kam, die Pistole im Anschlag.

»Ich sehe ihn!« Sie legte mühsam den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gaspedal, so dass das Auto nach hinten sauste.

»Jetzt bremsen!« Caleb packte das Lenkrad, als sie tat wie geheißen, und brachte den Wagen in die richtige Position. Dann übernahm er den Schaltknüppel. »Du lenkst, ich schalte.«

Mellie nickte und trat weiter auf die Kupplung, während er wieder in den ersten Gang wechselte.

»Drück aufs Gas!«

Ihr Fuß gehorchte dem Befehl, und sie rasten mit quietschenden Reifen durch die Bäume davon. Hunderte massiver Eichen sausten verschwommen an ihnen vorbei, viel zu nah für ihren Geschmack. Mellie hielt den Blick starr auf die Straße vor ihnen gerichtet und traute sich kaum zu blinzeln, aus Angst, die Kontrolle zu verlieren und den Wagen in den Graben zu steuern. Caleb rief ihr die ganze Zeit Anweisungen zu, seine Bewegungen ergänzten ihre wie ein choreographierter Tanz, der sie davon abhielt, den Motor abzuwürgen.

Sie hatten den Waldrand fast erreicht, als er sich erneut versteifte und die Kiefer aufeinanderpresste.

Bei den Göttern, was ist jetzt wieder? Mellie folgte seinem Blick zum Rückspiegel. »Was ist los?«

»Ich weiß es noch nicht.« Caleb drehte sich auf seinem Sitz, um besser nach hinten sehen zu können. »Aber ich dachte, ich hätte …« Das letzte bisschen Farbe wich aus seinem Gesicht. »Scout, bitte sag mir, dass die Mörder-Meerjungfrauen mit den Pistolen nicht auch SUVs besitzen.«

»Es-Ju-Was?«

»Autos, Scout, haben sie Autos?«

»Natürlich haben sie keine Autos.« Sie wischte die Vorstellung als unsinnig weg. Astrias Läufer verbrachten ihre Tage damit, zu den Märkten zu laufen, wobei sie jedes Mal ihr Leben riskierten, wenn sie die langen Wanderungen antraten. Warum sollten sie das tun, wenn der Captain eine Fahrzeugflotte bereitstehen hatte, die sie jederzeit benutzen konnten? Wenn sie einfach fahren konnten?

Weil er das nicht will. Die Antwort kam ganz plötzlich. Selbst wenn der Captain irgendwo einen geheimen Fuhrpark versteckt hatte, würde er das seine Wandler nie wissen lassen. Zumindest nicht die Wandler, die nicht zu seinen engsten Vertrauten zählten, zu denen, die in die Wahrheit eingeweiht waren. Denn wenn er den Wandlern Zugang zu Autos gewährte, würden sie vielleicht auf die Idee kommen, sie dazu zu benutzen, die Gegend zu erkunden. Das Meer zu finden. Herauszufinden, dass die Grenzen, die er ihrer Fähigkeit, sich zu verwandeln, gesetzt hatte, nichts als willkürliche Erfindungen waren, Horrorgeschichten, die sie einschüchtern und gefügig machen sollten.

»Und du bist dir da ganz sicher?«, fragte Caleb, als könnte er ihre Zweifel spüren.

»Ich …« Sie war sich früher sicher gewesen. Bevor eine zufällige Begegnung an der Oberfläche ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Aber jetzt … »Nein«, antwortete Mellie und wagte einen weiteren Blick in den Rückspiegel, wo tatsächlich ein grünes Ungetüm von einem Auto in der Ferne aufgetaucht war, das schneller und aggressiver zu fahren schien, als es normale Touristen tun würden. »Bei den Göttern, wie haben sie uns gefunden?«

»Es gibt nur eine Straße, die in den Wald rein und raus führt«, sagte Caleb. »Sie hatten eine Fifty-fifty-Chance, die richtige Richtung zu wählen.«

Und die Chancen standen sogar noch besser, wenn sie über mehr als ein Auto verfügten. In Wahrheit hatte Mellie keine Ahnung, wie weit der Arm des Captains reichte oder über welche Ressourcen er verfügte. Sie bezweifelte, dass selbst Quinn oder ihre Mum von sich behaupten konnten, das zu wissen.

»Was soll ich jetzt tun, Caleb?« Ihre Hände am Lenkrad begannen zu zittern. Sie waren immer noch Kilometer von der nächsten Stadt entfernt und auf einem verlassenen Straßenabschnitt ohne Abzweigungen oder Verkehr, unter den sie sich mischen konnten.

»Gib Gas«, verlangte er, als die Soldaten näher kamen. »Jetzt, Scout!«

Doch selbst mit bis zum Boden durchgedrücktem Gaspedal schloss der SUV unerbittlich zu ihnen auf, und das Röhren seines Motors schwoll an, bis Mellie zu spüren meinte, wie das Geräusch in ihren Knochen vibrierte.

»Caleb!« Sie schrie auf, als der Wagen ihre hintere Stoßstange rammte und sie beide nach vorne geschleudert wurden.

»Verdammt …« Er packte das Lenkrad und half ihr, das Auto wieder auszurichten, ehe er sich zu Sammie umdrehte. »Himmel. Nicht langsamer werden, okay? Wir werden etwas echt Dummes versuchen müssen.«

»Caleb …«

»Wir haben keine Wahl, Scout. Sie werden uns nicht einfach davonfahren lassen.«

Er hatte natürlich recht. Der SUV hatte sich vielleicht für einen kurzen Moment zurückfallen lassen, aber Mellie konnte schon hören, wie er sich für die nächste Attacke bereit machte. Die Scheinwerfer im Rückspiegel wurden immer größer. Das waren nicht dieselben Männer, die versucht hatten, sie in der Hütte zu töten, bemerkte sie, als die Gesichter im Rückspiegel erkennbar wurden. Die Soldaten, die sie über den Haufen gefahren hatten, mussten Verstärkung gerufen haben.

Was bedeutet, dass noch mehr kommen können.

»Okay, dann los.« Mellie ließ sich in ihren Sitz sinken und überließ Caleb die Kontrolle. Sie mussten hier dringend weg.

»Auf drei nimmst du den Fuß vom Gas«, befahl er. »Nicht ganz, aber ein bisschen, verstanden?«

Mellie nickte, und ihr war plötzlich bewusst, wie viel Anstrengung es sie kostete, ihren zitternden Fuß überhaupt auf dem Pedal zu halten.

»Eins …«

Sie drückte eine Hand auf ihr Knie, um das Bein zu stabilisieren.

»Zwei …«

Der SUV war schon fast wieder an sie herangerückt, so nah, dass sie die Wut in den Augen der Soldaten sehen konnte.

»Drei!«

Mellie zog den Fuß nach oben, genau in dem Moment, als Caleb das Lenkrad zur Seite riss und den Truck auf die Gegenfahrbahn steuerte. Hinter ihnen versuchte der SUV zu bremsen, aber es war zu spät. Der Wagen sauste an ihnen vorbei, und während er sie passierte, drehte Caleb das Lenkrad erneut, so dass sie das Auto seitlich rammten – mit genug Kraft, um die Soldaten von der Straße zu fegen. Caleb rief ihr schon wieder zu, Gas zu geben, als der SUV gegen einen Baum krachte und die Verfolgungsjagd zu einem jähen Ende kam.

Keiner von ihnen sagte ein Wort, bis der Wald nur noch ein blasser Schatten am Horizont war. Sie wurden erst langsamer, als sie ihn schon lange nicht mehr sehen konnten.

»Alles okay?«, fragte Caleb schließlich.

»Ja, ich … ich glaube schon.« Mellie zwang sich, die hochgezogenen Schultern zu entspannen. Sie hatte Caleb erst ein einziges Mal derart erschüttert erlebt, und zwar an dem Tag, als die Männer des Captains versucht hatten, sie im See zu ertränken. Damals hatte er beobachtet, wie sie mit ihrer Mum aus dem Wasser aufgetaucht war, blutig vom vorangegangenen Kampf und geschwächt, weil sie beinahe gestorben wäre. Er hatte wieder diesen versteinerten Blick; seine blauen Augen waren dunkel vor Wut. Seine Finger umklammerten den Schaltknüppel so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

»Wir sollten rechts ranfahren«, sagte er.

»Nein, wir sollten weiterfahren.« Mellies Hände blieben wie ans Lenkrad geklebt. Sie waren bisher nur ein paarmal abgebogen; die Soldaten konnten sie immer noch einholen.

»Scout, du bist blutüberströmt. Wir müssen anhalten.«

»Was? Nein, ich …« Mellie sah an sich runter, um festzustellen, dass ihr rechter Ärmel bis zum Ellenbogen blutgetränkt war. »Oh.« Sie hielt den Wagen am Straßenrand an. »Das ist bestimmt nichts Ernstes.«

»Das würde ich nicht sagen«, entgegnete Caleb, während er ihr half, sich aus dem Stoff zu schälen. Ein tiefer Schnitt durchzog ihre Handfläche, ein großer Glassplitter steckte immer noch in der Wunde.

»Du machst dir zu viele Sorgen.« Sie biss die Zähne zusammen und zog die Scherbe mit einem Ruck heraus. Es blutete mehr, als sie erwartet hatte. Und tat auch mehr weh. Ihre ganze Hand brannte, als stünde sie in Flammen. Mellie gab einen zischenden Laut von sich und presste die Hand an den Oberschenkel.

»Und das klang auch definitiv nicht so, als wäre es nichts Ernstes.« Er sprang aus dem Auto und lief um das Fahrerhaus herum, um sie dann auf den Beifahrersitz zu scheuchen.

»Lass uns einfach zu meiner Mutter fahren, okay?«, schlug sie vor, während sie ihm Platz machte. »David bekommt das wieder hin.«

»Gute Idee.« Calebs Stimme hatte eine ungewohnte Schärfe angenommen. »Vielleicht kann er uns auch helfen, der Sache auf den Grund zu gehen.«

»Auf welchen Grund?«

Er lenkte das Auto zurück auf die Fahrbahn, die Augen zu Schlitzen verengt. »Woher zum Teufel wussten diese Kerle, wo sie uns finden würden?«

Kapitel zwei

Wie oft muss ich das denn noch sagen? Ich habe Ferrick nichts erzählt … weder von dir noch deinem Hund oder deiner dummen Hütte«, zischte Rynn und warf Caleb einen hasserfüllten Blick zu.

»Wieso haben dann gerade zwei Soldaten die Hütte unter Beschuss genommen?« Caleb erwiderte seinen Blick. Sobald sie beim Haus ihrer Mum angekommen waren, hatte er – nicht gerade leise – verlangt, dass Rynn seinen ›verlogenen Meerjungfrauenhintern‹ nach unten bewegte, um zu erklären, wie die Männer des Captains sie gefunden hatten. Bisher lief das Gespräch in etwa so erfolgreich, wie Mellie es erwartet hatte.

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Rynn fuhr sich mit einer Hand durch die zu langen Haare; er brauchte dringend mal wieder einen Haarschnitt. »Vielleicht haben sie dich im Wald gesehen. Du bist nicht wirklich vorsichtig, wenn du mit diesem Ding Gassi gehst.«

Am anderen Ende der Küche stand Sammie auf und knurrte Rynn an. Caleb bekam ihn gerade noch am Halsband zu fassen, ehe der Hund deutlicher werden konnte. »Ich soll also wirklich glauben, dass diese Killer einfach so entschieden haben, ohne Grundbei meiner Hütte aufzutauchen? Sie müssen gewusst haben, dass Scout dort ist.«

»Tja, wenn sie das wussten, dann sicher nicht von mir.«

»Woher in Gottes Namen sollten sie es denn sonst erfahren haben?«

»Caleb, ich glaube nicht …«, wollte Mellie dazwischengehen, doch sie wurde von Davids lautem, schrillen Pfiff unterbrochen.

»Das reicht jetzt, ihr zwei.« Es kam selten vor, dass der Mann ihrer Mutter die Beherrschung verlor, doch der lautstarke Streit der beiden war offenbar sogar für ihn zu viel. »Sich zu streiten bringt uns doch nicht weiter. Und was dich angeht, Kleines …« Er führte ihre Hand vorsichtig zum Tisch zurück. »Du musst unbedingt stillhalten, damit ich die Wunde ordentlich vernähen kann.«

»Sorry.« Mellie zuckte zusammen, als die Nadel sich wieder in ihre Handfläche bohrte. Bei den Göttern, wie hielten die Landbewohner es nur mit einer derart primitiven Art von Medizin aus?

Mellies Mum stand neben David und beobachtete mit finsterer Miene, wie er die frische Verletzung ihrer Tochter verarztete. »Ich kann verstehen, dass du gern jemanden verantwortlich machen würdest, Caleb«, schaltete sie sich ein, »aber Ferrick ist nicht dumm. Selbst wenn Rynn ihm nicht erzählt hat, wo Mellie sich aufgehalten hat …«

»Was ich nicht getan habe.«

»… hätte er sich doch ausmalen können, dass sie in den ersten paar Wochen irgendwo im Wald Unterschlupf gefunden haben muss. Wenn er seine Männer zu einer gründlichen Suche ausgeschickt hat, können sie die Hütte durchaus einfach so gefunden haben. Vielleicht hatten sie auch keine Ahnung, dass Mellie dort war. Die meisten Hütten in der Umgebung sind seit Jahrzehnten verlassen. Wenn die Soldaten gesehen haben, dass deine noch bewohnt ist, haben sie möglicherweise auch einfach nur beschlossen, dich zu verjagen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Titan so etwas angeordnet hätte.«

Das stimmt. Mellie biss sich auf die Lippe, als David den nächsten Stich setzte. Gerüchten zufolge hatte er befohlen, ein paar der näher am See gelegenen Hütten anzugreifen, um die Landbewohner zu vertreiben, fiel ihr Quinns Erzählung ein. Dass die Soldaten geschickt worden waren, um Caleb zu verscheuchen, war nicht nur eine einleuchtende Erklärung, sondern auch die wahrscheinlichste. Besonders wenn der Captain mit Ärger rechnete und versuchte, kein zusätzliches Aufsehen zu erregen.

»Warte mal, hast du gesagt, es waren zwei?« Rynn spie die Frage regelrecht aus.

»Was?«

»Soldaten. Waren da nur zwei Soldaten?«

»Reicht dir das nicht? Wäre es dir lieber gewesen, wenn noch ein paar mehr auf uns geschossen hätten?«

»Ehrlich gesagt hätte er dir von mir aus eine ganze Truppe auf den Hals hetzen können. Aber wenn Ferrick gewusst hätte, dass Mellie dort war, hätte er mehr als zwei Soldaten geschickt.«

»Hast du denn überhaupt nicht zugehört?«, brüllte Caleb. »Er hat mehr geschickt – sogar einen verdammten SUV, der uns in den Graben rammen sollte!«

»Ja, aber erst nachdem sie Mellie gesehen hatten. Die anderen kamen erst danach.«

Da hat er recht. Je länger Mellie darüber nachdachte, desto mehr ergaben Rynns Worte Sinn. Als der Captain beim letzten Mal über ihren Aufenthaltsort informiert gewesen war, hatte er nicht weniger als vier seiner Männer geschickt, um sie festzunehmen, und weitere drei als Verstärkung. Warum sollte er dann heute nur zwei schicken? Und warum sollten diese Männer nur blind durchs Fenster schießen, wenn sie doch viel Schlimmeres hätten anrichten können? Sie hätten jeden Zentimeter der Hütte mit Kugeln durchlöchern können. Sie hatten erst zu drastischeren Maßnahmen gegriffen, als sie wussten, dass Mellie dort war. Erst dann hatten sie Verstärkung gerufen.

»Rynn hat recht.« Ihre Mum war offensichtlich zu demselben Schluss gekommen. »Ferrick hätte etwas so Wichtiges nicht dem Zufall überlassen. Meine Hauptsorge ist im Moment das Auto, das euch verfolgt hat. Wenn es dieses eine gibt, können wir davon ausgehen, dass er noch weitere zur Verfügung hat. Ich werde Quinn anrufen und ihn fragen, ob er weiß, welche Überraschungen Ferrick noch für uns bereithalten könnte. Bis dahin ist es unnötig zu erwähnen, dass du natürlich nicht dorthin zurückkehren kannst, Liebes.«

Angesichts der heftigen Reaktion ihrer Mutter, als sie und Caleb vorhin im Haus aufgetaucht waren, beide blutend und mit einem völlig verstörten Sammie im Schlepptau, der jeden Schatten anknurrte, wunderte es Mellie fast, dass sie so lange für diese Aussage gebraucht hatte. »Caleb auch nicht«, fügte sie hinzu. Wenn der Captain verzweifelt genug war, unschuldige Landbewohner zu töten, konnte Mellie sich nur zu gut ausmalen, was er mit einem tun würde, der sie versteckt gehalten hatte.

»Von wegen.«

»Caleb …«

»Mellie.« David seufzte und zog ihre Hand erneut auf die Tischplatte zurück. »Du musst mir hier kurz helfen«, verlangte er sanft. Dann knotete er mit geschickten Fingern die Fäden des letzten Stiches zu und drückte eine Kompresse auf die Wunde.

»Dich zu bitten, die Hand trocken zu halten, ist vermutlich zu viel verlangt, aber versuch es wenigstens, okay? Wenigstens, bis wir das nächste Mal die Bandage wechseln.«

Mellie nickte und stand schon von ihrem Stuhl auf. »Du kannst nicht ernsthaft daran denken, in deine Hütte zurückzukehren, Caleb.« Sie wusste, wie viel ihm die Hütte bedeutete, aber er musste es doch einsehen. Schon beim ersten Mal war es fahrlässig gewesen, dorthin zurückzugehen. Dieses Mal wäre es schlicht dämlich.

»Diese Hütte ist mehr mein Zuhause als das Haus meiner Eltern, Scout. Ich werde nicht zulassen, dass mich ein paar übergroße Fische mit Pistolen daraus vertreiben.«

»Caleb …«

»Ich meinte natürlich die. Das sind Fische. Du nicht.«

»Das wollte ich doch gar nicht …«

»Keiner sagt, dass du niemals zurückkehren kannst, Caleb«, schaltete sich ihre Mum ein. »Aber es wäre klug, sich ein paar Wochen nicht dort blicken zu lassen. Wirklich gar nicht«, betonte sie in strengerem Tonfall. »Lass sie in dem Glauben, sie hätten dich endgültig verjagt.«

Einen Moment lang verfiel Caleb in Schweigen, doch das Bedürfnis, weiter zu streiten, stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Scout, können wir … Ich muss mal kurz mit dir reden.« Er packte sie am Arm und zog sie ins Nachbarzimmer, wo er flüsternd weitersprach. »Und was ist, wenn ich gerade nicht nach Hause gehen kann?«

»Wegen deines Dads?«, riet Mellie. Selbst nach seiner Rückkehr in die Hütte waren die Streits mit seinen Eltern weiterhin eskaliert. Er sprach nicht oft darüber, aber Mellie kannte inzwischen die Anzeichen; die wütenden Anrufe, die häufiger wurden und bis spät in die Nacht andauerten; die depressive Stimmung, in die ihn diese Gespräche versetzten; die besorgte Art, wie er sein Handy anschaute, als würde er befürchten, es könnte spontan in seiner Hand explodieren.

»Ja.« Caleb ließ sich gegen die Wand sinken. »Das neue Semester fängt in ein paar Wochen an. Wenn ich jetzt nach Hause gehe … Scout, sie werden mich so lange bearbeiten, bis ich zustimme, wieder aufs College zu gehen. Sie werden mich überreden, dass es das ist, was ich will. Und ehe du dich versiehst, bin ich ein unglücklicher Firmenanwalt, lebe in einer völlig überteuerten Wohnung in irgendeiner Großstadt, die ich hasse, mit einer Frau, die ich nie zu Gesicht bekomme, und … o Mann, was rede ich denn da?« Caleb rieb sich mit einem Handrücken über die Augen. »Siehst du, das ist genau der Grund, warum ich mich ihnen jetzt nicht stellen kann. Noch nicht. Ich kann einfach nicht.«

»Dann bleib doch hier«, schlug Mellie vor. Eine von Kugeln durchlöcherte Holzhütte im Wald musste nicht seine einzige Option sein.

»Hier?«

»Klar, warum nicht? Platz haben wir schließlich genug.«

»Na ja … aber was ist mit deiner Mum? Und David?«

»Was soll mit ihnen sein?«

»Meinst du nicht, das würde ihnen etwas ausmachen?«

»Ich habe so lange bei dir gewohnt, da ist das doch wohl nur fair«, erwiderte Mellie achselzuckend.

»Und … Rynn?« Caleb richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er ist nicht gerade mein größter Fan.«

Nun, das war eine Untertreibung. Obwohl Rynn auch nicht gerade viele Fans in diesem Haus vorweisen konnte. Nicht nach allem, was er getan hatte. Nach dem, was sein Verhalten sie fast gekostet hatte.

»Mach dir wegen Rynn keine Sorgen.« Mellie schob den Gedanken beiseite. »Er ist der Grund, warum wir überhaupt in diesem Schlamassel stecken, und wird damit klarkommen müssen.«

An diesem Abend schliefen sie beide im Wohnzimmer ein, wo sie noch viel zu lange auf Calebs Laptop Filme geschaut hatten. Obwohl es keiner von ihnen aussprach, wusste Mellie, dass er aus dem gleichen Grund nicht schlafen gehen wollte wie sie: Nach dem, was in der Hütte passiert war, hatte sie Angst, die Augen zu schließen und von den Ereignissen zu träumen. Dabei hatte sie eigentlich auch so schon genügend Material für Albträume.

Doch dann war es gar kein Albtraum, was sie weckte, sondern eine Hand, die sich auf ihren Mund drückte.

»Psst, ich bin es nur«, raunte Caleb ihr zu, als sie hochfuhr, und ihre Blicke trafen sich im Dunkeln.

»Caleb, was ist …«

Er brachte sie mit hastigem Kopfschütteln zum Schweigen. »Es ist jemand im Haus.«

Da hörte Mellie es auch. Neben Sammies Bellen im Garten war auch ein leises Rascheln aus Davids Büro zu vernehmen. Ein flackernder Lichtschein sickerte unter der Tür durch, als würde jemand mit einer Taschenlampe herumleuchten.

»Bei den Göttern, was machen wir denn jetzt?«

»Uns verstecken«, flüsterte Caleb. Dann zog er sie möglichst geräuschlos von der Couch und durch die Küche, wo er die Tür hinter ihnen schloss.

»Wir können uns doch nicht einfach hier verstecken«, wisperte Mellie. »Wir müssen sie aufhalten!«

»Und was ist, wenn sie bewaffnet sind?« Caleb stellte sich ihr in den Weg. »Das Letzte, was wir heute gebrauchen können, ist, von einem Einbrecher mit dem Messer angegriffen zu werden. Oder Schlimmeres. Ich würde vorschlagen, wir überlassen das der Polizei.«

»Was? Nein! Du kannst doch nicht die Polizei rufen!«

»Warum denn nicht?«

»Weil …« Die Polizei kann und wird euch in einen Käfig stecken, konnte sie die Stimme ihres alten Truppenführers hören. Sie ist um jeden Preis zu meiden. »Weil das Haus voll ist mit Meerjungfrauen!«

»Ach, komm schon, Scout. Es ist doch nicht so, als wärst du noch eine illegale Meerjungfrau. Du hast Papiere und alles!« Calebs Flüstern war stetig lauter geworden. »Jetzt gib mir dein Handy.«

»Mein Handy?« Sie blinzelte ihn an. »Ich habe mein Handy nicht dabei.«

»Warum denn nicht?«

»Du hast mich vor gerade mal zehn Sekunden aufgeweckt! Wo ist denn dein Handy?«

»Das habe ich natürlich im Wohnzimmer vergessen.« Er fluchte in sich hinein und schaute sich suchend in der Küche um. »David hat nicht zufällig einen Festnetzanschluss?«

»Der ist ebenfalls im Wohnzimmer«, erwiderte Mellie. »Und in seinem Büro.«

»Das hilft uns also auch nicht weiter.« Caleb rieb sich die Schläfen, als wollte er auf die Art eine Lösung heraufbeschwören. »Ich schätze, dann müssen wir wohl anfangen zu schreien«, sagte er schließlich. »Um alle anderen aufzuwecken.«

»Nein, warte, ich habe eine bessere Idee.« Mellie schnappte sich den gefalteten Flyer eines Lieferservice, der am Kühlschrank hing, und schaltete den Gasherd an, um das Papier anzuzünden.

»Du willst ein Feuer legen?«

»Kein Feuer ohne Rauch«, erwiderte sie und hielt das brennende Papier in Richtung Zimmerdecke. Mellie hatte schon einmal Bekanntschaft mit dem Rauchmelder gemacht, als sie versucht hatte, sich Toast zu machen, und das Brot versehentlich zu lange in der Pfanne gelassen hatte. Der Gestank verbrannter Brotkruste hatte noch Stunden später in der Luft gelegen. Und obwohl der Flyer nicht ganz so eifrig qualmte wie ihr Frühstück, fing der Alarm kurz darauf an zu piepen.

Sofort brach im Haus Unruhe aus. Vom Piepen überrascht, flüchteten die Einbrecher, die Schritte ihrer schweren Stiefel hallten auf dem Holzboden wider. Gleichzeitig kamen David und Mellies Mum hektisch wie ein Schwarm Putzfische die Treppe runtergelaufen, während sie sich noch die Bademäntel anzogen. Rynn folgte ihnen auf den Fersen, das T-Shirt, das er sich offenbar anziehen wollte, noch in der geballten Faust.

»Was zum Teufel ist hier los?« David flutete das Haus mit Licht und steckte den Kopf aus der offen stehenden Haustür. Das Auto der flüchtenden Einbrecher machte einen solchen Lärm, als es die Straße hinabschoss, dass hinter ein paar Fenstern der Nachbarhäuser Licht anging. Mellie konnte es nicht deutlich erkennen, ehe es um die nächste Ecke bog, aber der kurze Blick, den sie hatte erhaschen können, genügte, um ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

Das Auto sah verdächtig nach einem grünen SUV aus.

Niemand ging mehr davon aus, dass es sich um stinknormale Einbrecher gehandelt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Landbewohnerdiebesgang in einem grünen SUV bei David auftauchte, und das ausgerechnet an dem Tag, an dem die Männer des Captains sie in einem nahezu identischen Wagen verfolgt hatten … das konnte einfach kein Zufall sein.

»Wie haben sie uns wohl gefunden?«, stellte Mellie schließlich die Frage, die keiner auszusprechen wagte.

»Ich weiß es nicht.« Ihre Mum nahm ihr nervöses Auf- und Abschreiten wieder auf. »Ein zweites Team könnte euch hierher gefolgt sein. Oder die Soldaten haben sich das Kennzeichen von Calebs Auto gemerkt und einen Weg gefunden, es aufzuspüren. Ferrick hatte immer gute Verbindungen an der Oberfläche. Es könnte sein, dass seine Macht weiter reicht, als wir befürchtet hatten.« Sie ließ sich neben David aufs Sofa fallen und fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. »Wie dem auch sei, wir können jedenfalls nicht hier bleiben.«

Mellie hatte damit gerechnet, dass sie das sagen würde. Die Soldaten mochten heute Nacht vielleicht abgezogen sein – vermutlich, weil es für zu viel Aufsehen gesorgt hätte, in einem ruhigen Landbewohnerwohngebiet eine gesamte Familie auszulöschen. Aber das nächste Mal würden sie sich vielleicht nicht so leicht verscheuchen lassen. Sie konnten das Haus beobachten, einen günstigen Moment abpassen; einen nach dem anderen ins Visier nehmen. Blieben sie hier, wären sie leichte Beute.

»Wo sollen wir denn hin?« Eine Welle von Schuldgefühlen überrollte Mellie. Die Soldaten hatten heute schon Caleb aus seinem Zuhause vertrieben; es war nicht fair, dass jetzt auch noch David sein Haus verlassen musste.

»Mach dir darüber mal keine Sorgen, Kleines«, sagte David. »Hier in der Gegend gibt es genügend Hotels und Ferienwohnungen. Ich werde schon einen sicheren Ort für uns finden.« David klang überhaupt nicht wütend oder verärgert über das erneute Unglück, das seine frisch erworbene Familie schon wieder angezogen hatte.

»Das ist eine gute Idee.« Ihre Mum drückte seinen Arm. »Aber in der Zwischenzeit fahre ich mit Mellie und Rynn nach Kanada. Angesichts dessen, was Ferricks Männer eventuell herausgefunden haben, kann sich das Quorum nicht länger weigern, uns zu empfangen.«

Sie bezog sich auf die Dokumente in Davids Büro; der andere Grund, warum sie sicher waren, dass der Einbruch nicht das Werk irgendeines Gelegenheitsdiebs gewesen war.

Diebe stehlen in der Regel etwas und schnüffeln nicht herum.

Aber die Männer des Captains hatten nichts mitgenommen, zumindest nichts Wertvolles. Allerdings hatten sie das Büro völlig verwüstet. Der Boden war mit Papieren übersät, alle Schubladen waren herausgezogen und der Computer eingeschaltet worden. Und das war das eigentliche Problem. Denn irgendwo unter all diesen Dokumenten befand sich das gesamte Wissen ihrer Mum über die kanadische Wandlersiedlung. Alte Recherche-Aufzeichnungen, die Korrespondenz mit Quinn, Reiseinformation … Nichts, was besonders ins Detail ging, denn sie hatte sich die genaue Adresse der Siedlung nie aufgeschrieben, nur die grobe Gegend, kleine Hinweise, die allein wenig Sinn ergaben, sondern erst, wenn man sie alle zusammen betrachtete. Sie konnten nicht sagen, wie viel Information die Männer des Captains hatten sammeln können. Das Quorum hatte zuvor vielleicht wenig Interesse daran gehabt, ihnen zu helfen, doch jetzt, da ihr eigenes Zuhause ebenfalls in Gefahr war, sah die Sache vermutlich anders aus.

»Ich werde Quinn gleich morgen früh Bescheid sagen, dass wir kommen.« Ihre Mum lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Bis dahin will ich, dass ihr beide eure Sachen packt. Alles, was ihr die nächsten paar Tage braucht«, sagte sie und sah dabei erst Mellie und dann Rynn an. An Caleb gewandt fuhr sie fort: »Du solltest das Gleiche tun, wenn du immer noch vorhast, uns zu begleiten. Dein Reisepass ist nicht in der Hütte, hoffe ich?«

»Nein, der ist bei meinen Eltern«, antwortete Caleb. »Ich kann ihn abholen.«

»Moment mal, er kommt mit? Nach Kanada?« Im Augenwinkel sah Mellie, wie Rynn die Schultern straffte. »Warum das denn?«

Ihre Mum hatte die gleiche Frage gestellt, als Mellie ihr das erste Mal gesagt hatte, das er mitkommen wollte, doch es hatte nicht viel Überzeugungsarbeit gebraucht, damit sie zustimmte. Sie sagte gerade eigentlich zu fast allem Ja, weil sie mit einem Nein nicht die wacklige Beziehung zu ihrer Tochter gefährden wollte. Als ob da noch eine Verschlechterung möglich wäre.

Bei Rynn dagegen war zu erwarten gewesen, dass er die Nachricht schlecht aufnehmen würde, was genau der Grund war, weshalb Mellie das Thema noch nicht aufgebracht hatte. Wenn sie ihn jetzt so sah, wünschte sie sich allerdings, es früher und vielleicht mit ein bisschen weniger Publikum getan zu haben.

»Weil ich will, dass er mitkommt.« Obwohl die Worte wahr waren – besonders weil sie Caleb damit außer Reichweite des Captains schafften –, konnte Mellie Rynn dabei kaum in die Augen sehen. Sie wusste, was sie in seinem Blick entdecken würde, und nach einem Tag wie diesem konnte sie das nicht auch noch verkraften.

Kapitel drei

Früh am nächsten Morgen brachen sie zu viert nach Kanada auf. Mellie hatte gehofft, Calebs Anwesenheit würde den Trip etwas erträglicher machen, aber selbst mit ihm neben ihr auf dem Rücksitz war die Fahrt immer noch genauso lang und unangenehm, wie er es vorhergesagt hatte.

Schon kurz nach dem Aufbruch senkte sich betretenes Schweigen über sie. Keine entspannte, familiäre Stille, sondern eine aufgeladene, die sich so anfühlte, als könnte ein einziger Funke – oder ein falsches Wort – das ganze Auto in Flammen aufgehen lassen.

Ihre Mum musste es auch gemerkt haben, denn sie versuchte alle paar Minuten, ein Gespräch anzufangen, allerdings immer mit ihr, Rynn oder Caleb, aber nie mit allen, denn ein echtes Gespräch hätte ja erfordert, dass sie tatsächlich miteinander redeten. Glücklicherweise gab sie den Versuch ziemlich schnell wieder auf und schaltete stattdessen das Radio an, so dass sie in zuckersüßen Landbewohnerballaden ertränkt wurden. Doch selbst diese übertrieben hoffnungsvollen Lieder hatten einen bedrohlichen Unterton an sich, die wachsende Furcht, dass jeden Moment ein grüner SUV den Verkehr durchbrechen und ihrem großen Kanada-Abenteuer ein Ende setzen konnte.

Der Wagen muss nicht mal grün sein. Der Gedanke ließ Mellie schwer schlucken. Soweit sie wussten, konnte der Captain eine gesamte Flotte an SUVs zur Verfügung haben. Es war gut möglich, dass sie seine Männer gar nicht kommen sahen.

Als sie die Stadt erreichten, wechselten sie zum ersten Mal das Auto. Das ihrer Mutter ließen sie bei David am Krankenhaus stehen und gingen von dort zu Fuß zur Autovermietung. Quinns Anweisung folgend wiederholten sie das noch zweimal, in jeder der größeren Städte, die sie passierten. In diesen ersten Stunden schaute ihre Mum ständig in den Rückspiegel und warf verstohlene Blicke über die Schulter, um sicherzugehen, dass Ferricks Soldaten nicht doch die Verfolgung aufgenommen hatten. Erst als die Straßen ruhiger wurden, entspannte sie sich sichtlich. Und das Gute daran war, dass Mellie spürte, wie sich ihre eigene Anspannung ebenfalls löste. Angst war offenbar so ansteckend wie Schuppenfäule.

Ein paar Kilometer vor der Grenze hielten sie an, um in einem grell beleuchteten Schnellimbiss mit klebrigem Fußboden und noch klebrigeren Speisekarten zu Mittag zu essen. Ihre Mum saß mit Blick auf das große Fenster und hielt weiterhin Wache, während sie an einer Tasse Kaffee nippte und an ihrem Thunfischsandwich knabberte. Caleb war der Einzige, der es wagte, etwas Ausgefalleneres als ein Sandwich zu bestellen, und das tat er eigentlich auch nur, um ihnen etwas zu beweisen.

»Es mag jetzt nicht danach aussehen, aber das Essen in diesen Läden ist gar nicht so schlecht«, hatte er behauptet. Doch sobald er sich über seine Mahlzeit hermachte, musste er zugeben, dass dieses Restaurant vielleicht die Ausnahme der Regel darstellte. Er schaffte kaum die Hälfte seines matschigen Burgers, ehe er erklärte, keinen Hunger mehr zu haben, und Mellie ließ den Großteil des viel zu fettigen Käsetoasts auf dem Teller zurück. Rynn machte sich nicht einmal die Mühe, so zu tun, als hätte er Interesse an seinen Pommes frites. Als die Kellnerin kam, um den Tisch abzuräumen, reichte er ihr den unberührten Teller.

Das bisschen, das sie gegessen hatte, lag Mellie dann noch schwer im Magen, als sie die Grenze erreichten, die zu ihrer Überraschung aus nichts weiter als einer Reihe kleiner Kontrollhäuschen mit rotweiß gestreiften Flaggen, in deren Mitte ein rotes Ahornblatt prangte, bestand. Ganz und gar nicht die unüberwindbare Kluft, die sie sich als Trennlinie zwischen den beiden Ländern vorgestellt hatte.

»Bereit für euren ersten offiziellen Trip außer Landes?«, fragte Caleb, als ihre Mum den Wagen anhielt.

»Ist das echt schon alles?«, fragte Mellie und musterte die lächerliche Schranke vor ihnen abschätzig. »Wir … fahren einfach da durch?«

»Klar.« Er zuckte mit den Achseln. »Sobald sie eure Pässe kontrolliert haben.«

Unsere Pässe. Richtig. Mellie beobachtete nervös, wie ihre Mum dem Landbewohner in dem Häuschen die kleinen Heftchen reichte. Was, wenn der Mann sofort erkannte, dass die Dokumente gefälscht waren? Was, wenn er die Magie unter ihrer Haut spüren konnte? Oder einen Blick auf ihre »seltsamen« kupferfarbenen Augen werfen und sie als Meerjungfrau entlarven würde? Dann würde sie den Rest ihres Lebens in einem Käfig verbringen oder, noch schlimmer, in einem Labor. Seziert im Namen der Wissenschaft.

»Entspann dich, Scout«, raunte Caleb ihr zu und löste ihre verkrampften Finger aus dem Sitzpolster. »Er wird nur misstrauisch, wenn du ihm einen Grund dazu gibst.«

»Sorry.« Sie lehnte sich wieder zurück. Und tatsächlich, eine lange Minute später öffnete der Landbewohner die Schranke und winkte sie mit einem Nicken und einem höflichen Schönen Aufenthalt hindurch.

Die nächsten Stunden verbrachte Mellie zusammengekauert vor dem Fenster, die Nase an die Scheibe gepresst, und beobachtete die sich verändernde Landschaft, die an ihnen vorbeiflog. Landbewohnerstädte aus Stahl und Glas erschienen und lösten sich in Nichts auf, getrennt durch lange, monotone Straßenabschnitte. Wälder voller kahler Eichen wurden immer grüner, die Täler tiefer, und der Horizont sah zunehmend felsiger aus, so dass die Straße sich gezwungenermaßen durch die hügelige Landschaft schlängelte. Etwa nach sechs Stunden Fahrtzeit verlor die Landschaft völlig an Farbe, weil sie unter einer frischen Schneeschicht verschwand.

Zu Hause war das Wetter bereits milder geworden, die Kälte in der Luft nicht mehr so beißend und der Frühling dem Winter dicht auf den Fersen. Doch je weiter sie nach Norden fuhren, desto kühler wurde es. Das hatte wohl irgendetwas mit den Polen, der Erdumlaufbahn und dem Stand des Planeten zur Sonne zu tun. Caleb hatte versucht, es ihr zu erklären, aber Mellie hatte kapituliert, als er ihr mit Geschichten über den Weltraum und atmosphärische Kaltfronten gekommen war. Ihr Leben hatte sich so viele Jahre um den See und den Wald gedreht, und die Bergkette in der Ferne hatte das Ende ihrer Welt dargestellt. Jetzt war da plötzlich diese gewaltige, abstrakte Vorstellung namens Erde, die viel größer und komplexer war, als sie es sich je hätte vorstellen können. Sie bekam schon Kopfschmerzen, wenn sie bloß daran dachte.

Mellie rutschte auf ihrem Sitz herum und versuchte, den Blutfluss in ihren Beinen wieder in Gang zu bringen. Dieser Ausflug hätte Spaß machen und nicht die reinste Qual sein sollen, dachte sie und warf Rynn einen verstohlenen Blick zu. Sie beide erlebten Dinge, von denen die meisten Wandler nicht mal zu träumen wagten. In Astria hatten sie alles Wichtige gemeinsam erlebt: den ersten Schultag, den ersten Tag im Korps, den ersten Arbeitstag an der Oberfläche. Die erste Nacht, nachdem ihre Mutter gestrandet war, den ersten großen Streit mit seinem Dad, weil Rynn mit Mellie befreundet war, das erste Mal, als er sie schlaflos in ihrer Koje gefunden hatte, weil irgendein blödes Mädchen sie in der Schule fertiggemacht hatte.

Aber alle wichtigen Dinge an der Oberfläche hatte Mellie mit Caleb erlebt. Die erste Nacht außerhalb des Sees, die erste Fahrt in einem Auto, sogar das erste Mal im Meer schwimmen – all die Dinge, die sie zu gern mit Rynn geteilt hätte. Sie hätte zu gern sein Gesicht gesehen, wenn er das erste Mal einen Schluck Tee probierte oder in einem Film sah, wie ein Vampir sich an einem hübschen Mädchen satt trank. Sie hätte ihm zu gern die Sterne gezeigt. Stattdessen hatte sie Rynn all diese Dinge allein erleben lassen. Weil sie es nicht ertrug, ihn anzusehen.

Mellie bezweifelte, dass sie die vergangenen Monate mental so unbeschadet überstanden hätte, wenn Caleb nicht gewesen wäre. So ähnlich wie die Schutzanker Astrias war seine Anwesenheit wie ein Anker, der ihre Einsamkeit in Schach hielt und verhinderte, dass die Landbewohnerwelt sie hoffnungslos überwältigte.

»Scout.« Sein Flüstern riss sie aus den trägen Gedanken. Er hielt sein Handy in die Höhe und warf ihr einen Blick zu, der sagte: Schau mal auf deins. Mellie angelte ihr Telefon aus der Tasche.

Na, das ist doch mal eine lustige Fahrt, oder? Caleb grinste, als sie die Nachricht las.

Hat »lustig« an der Oberfläche vielleicht noch eine andere Bedeutung, die ich nicht kenne?, schrieb sie zurück.

Soweit ich weiß nicht.

Dann hätte ich ein anderes Wort gewählt.

Zum Beispiel »anstrengend«?

Zum Beispiel »mega-anstrengend«.

Das sind aber zwei Worte.

Deshalb ist es nicht weniger wahr.

Ich wiederhole mich nur ungern, aber ich habe dir gleich gesagt, dass wir fliegen sollten. Wir könnten uns schon seit Stunden an einem kanadischen Strand den Arsch abfrieren.

Mellie streckte ihm die Zunge raus. Sie konnte allerdings nicht umhin, sich einzugestehen, dass Caleb recht hatte. Ein Flugzeugabsturz hätte wenigstens ein schnelles Ende bedeutet.

Als sich die Fahrt weiter hinzog, wurde der Himmel vor der Fensterscheibe allmählich dunkler, und die Dämmerung brach an. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit hätte Mellie sich vor der Dunkelheit gefürchtet, als sie noch glaubte, auf dem Trockenen zu stranden würde ihren sicheren Tod bedeuten. Dabei war das gar nicht so, zumindest nicht aus den Gründen, die man Mellie beigebracht hatte. Gestrandete Wandler fielen nach Einbruch der Dunkelheit weder irgendwelchen wilden Tieren zum Opfer, noch verloren sie ihre Fähigkeit, sich zu verwandeln. Stattdessen wurden sie von den Männern des Captains gejagt und ermordet. Dessen verzweifelte Bemühungen, sie alle unwissend und gefangen zu halten, hatten mehr Wandler das Leben gekostet als irgendeine andere Gefahr an der Oberfläche.

Als ihre Mum auf den leeren Parkplatz einbog, auf dem sie mit Quinn verabredet waren, war Mellie drauf und dran, sich aus dem fahrenden Auto zu werfen, oder vielleicht sogar davor. Sie entschied sich dann doch für Möglichkeit Nummer eins und riss die Autotür auf, sobald ihre Mum den Motor ausschaltete.

Quinn hätte sich wirklich keinen verlasseneren Ort als Treffpunkt aussuchen können. Ob die Reihe kleiner Läden, die den Parkplatz säumten, nur bereits für den Abend geschlossen waren oder gar nicht mehr betrieben wurden, konnte Mellie nicht ausmachen. In keinem der Fenster brannte Licht, die Gebäude wirkten verlassen; einige der Ladenfronten waren sogar vernagelt. Trostlos war das Wort, das die Szenerie am besten beschrieb. Wie ein frostiger Friedhof.

Quinn wartete in der Mitte des Parkplatzes auf sie, an die Kühlerhaube seines Jeeps gelehnt, sein Umriss scharfgezeichnet von den Autoscheinwerfern. Er hatte den Ort bestimmt deshalb gewählt, weil er so abgelegen war – und so ungeschützt. Außer der einen Straße gab es weit und breit nur offenes Gelände. Keine Möglichkeit für ein Auto, sich unbemerkt zu nähern. Und, noch wichtiger, kein Wasser in Sicht. Nicht einmal eine Pfütze.