Strandgut - Benjamin Myers - E-Book

Strandgut E-Book

Benjamin Myers

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Beschreibung

Earlon »Bucky« Bronco hat mit seinen siebzig Jahren noch nie das Meer gesehen. Und doch treibt er seit dem Tod seiner Frau durch Chicago wie ein Schiffbrüchiger. Zwischen Bett und Walmart-Apotheke zählt er die Stunden bis zum Ende. Da erreicht ihn eine unerwartete Nachricht: eine Einladung zu einem Soul-Festival im englischen Scarborough. Tatsächlich hat Bucky eine Vergangenheit als Soulsänger, doch in den USA sind seine wenigen Songs längst vergessen. An der britischen Küste angekommen, begreift er, dass er hier eine Art Legende ist. Und er trifft auf Dinah, eine melancholische und lebenskluge Mittfünfzigerin, die ihren deprimierenden Alltag am besten vergessen kann, wenn sie Buckys Lieder hört oder sich in die kalte Nordsee stürzt. Benjamin Myers erzählt von zwei Gestrandeten, von den Stürmen des Lebens und dem Sog der Erinnerung. Vor allem aber erzählt er vom Meer, auf dessen Oberfläche immer ein Streifen Hoffnung schimmert.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 381

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bucky hat mit seinen gut siebzig Jahren noch nie das Meer gesehen. Und doch treibt er seit dem Tod seiner Frau durchs Leben wie ein Schiffbrüchiger. Da erreicht ihn völlig unerwartet eine Einladung ins englische Scarborough. An der britischen Küste angekommen, trifft er auf Dinah, eine melancholische und lebenskluge Mittfünfzigerin, die ihren deprimierenden Alltag am besten vergessen kann, wenn sie sich in die kalte Nordsee stürzt. Bucky ist tief beeindruckt von der unerschütterlichen Engländerin. Doch auch in Dinah regt sich etwas: der Wille, es noch einmal mit dem Leben aufzunehmen.

›Strandgut‹ ist eine Geschichte vom Weitermachen, vom Sich-aneinander-Aufrichten. Eine Geschichte vom Meer, auf dessen Oberfläche ein Streifen Hoffnung schimmert.

© Alex de Palma

Benjamin Myers, geboren 1976, hat für seine literarischen Arbeiten mehrere Preise erhalten. Sein Roman ›Offene See‹ (DuMont 2020) stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels als Lieblingsbuch des Jahres ausgezeichnet. 2021 erschien ›Der perfekte Kreis‹, 2022 ›Der längste, strahlendste Tag‹ und 2024 ›Cuddy – Echo der Zeit‹ (alle DuMont). Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.

Werner Löcher-Lawrence, geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen zählen u.a. John Boyne, Meg Wolitzer, Patricia Duncker, Hisham Matar, Nathan Englander, Nathan Hill und Hilary Mantel.

Benjamin Myers

Strandgut

Roman

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Von Benjamin Myers sind bei DuMont außerdem erschienen:

Offene See

Der perfekte Kreis

Der längste, strahlendste Tag

Cuddy

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel ›Rare Singles‹ bei Bloomsbury, London.

© Benjamin Myers, 2024

E-Book 2025

© 2025 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Nicola Mosley

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-7558-1083-4

www.dumont-buchverlag.de

Dieses

ist für

Der Rhythmus der Erinnerung

stellt die Zeit sich selbst voran und lässt uns eine

Küste vermissen, die noch kein Zuhause ist. Die Flut. Sie ist ein

Sauerstoffgerät, das immer noch läuft. Sein ständiges Summen.

Wellen von Energie gehen nach allen Richtungen durch die Menge, als hätte jemand einen Stein ins seichte Meerwasser geworfen.

Ihm ist heiß. Hautprickeln und Adrenalin. Leere Beine.

Überall um ihn herum, und in ihm, ist Elektrizität. Der Raum fühlt sich luftlos an, ein Vakuum. Alle Uhren schmelzen. Er hat das Gefühl, in sich selbst zu ertrinken.

Das Gleißen der auf die Bühne gerichteten Lichter vernebelt seinen Blick, aber wenn er von der Seitenbühne aus die Augen zusammenkneift, glaubt er, vertraute Gesichter in der ersten Reihe zu erkennen. Gesichter aus der Vergangenheit, Gesichter derer, die er geliebt und verloren hat. Alle Geister haben sich versammelt.

TEIL EINS

Die goldene Stunde

Die frühe weiße Sonne schien durch die schiefen Fensterläden und ließ ihr kaltes Morgenlicht über den abgewetzten Teppich kriechen, um ihn zu wecken.

Bucky lag auf dem Rücken, und seine Hüften schmerzten. Schmerzten wie die Hölle. Mittlerweile brannten seine Gelenkpfannen eigentlich ständig, wild lodernd, besonders die rechte. Es war schrecklich, qualvoll, schlimm in der Nacht und noch schlimmer am Morgen.

Der Schmerz wurde nur größer, wenn er sich auf seine bessere Seite rollte, also blieb er regungslos liegen. Das Brüllen in seinen Gelenken war barbarisch, und er nahm es persönlich. Wenn allein der Gedanke, aus dem Bett zu kommen, schon monumental schien, war die Vorstellung, um die halbe Welt zu reisen, eine Abstraktion, mit der er sich nicht befassen konnte, bevor er nicht wenigstens gefrühstückt, seinen ersten Kaffee getrunken, lange und ausgiebig geduscht, seine Tabletten genommen und einen zweiten Kaffee in sich hineingeschüttet hatte. Dann, erst dann, mochte er in Betracht ziehen, seinen Korpus aus den vier Wänden des kleinen, müden Hauses hinauszubewegen, das er seit vierzig Jahren sein Zuhause nannte.

Er stand auf der Warteliste. Sie nannten es das Prozedere, und offenbar war es Teil dieses Prozedere, dir dein Bein abzusägen und es dann wieder anzubringen. Manchmal auch beide.

Verflucht.

Allein beim Gedanken daran wurde einem schwindelig.

Wenigstens lenkten ihn die Hüftschmerzen von der Pein und Plage mit dem rechten Knie, dem Pochen seiner deformierten Knöchel und den Problemen mit seinem unteren Rücken ab, der sich mit frustrierender Regelmäßigkeit verklemmte. War das Feuer in seinen Hüftgelenken besonders übel, degradierte es all die anderen langjährigen Gebrechen zu elenden, aber unbedeutenden, aushaltbaren Beschwerden, die ihn jede für sich an eine harte Zeit in seinem Leben erinnerten. Was immer er tat, irgendein Schmerz füllte jede wache Minute.

Großbritannien war weit weg, lag in fast unbegreiflicher Ferne. Ein uraltes, von Nebelschwaden durchzogenes Königreich. So kam es ihm vor. Er dachte an holde Maiden und Ritter auf Pferden. Ein tiefer, uralter Ozean trennte ihn davon.

Und dann war da noch die Geschichte mit der Krankenversicherung. Wobei die Geschichte war, dass er keine hatte. Konnte er sich nicht leisten. Er konnte sich auch keine Reiseversicherung leisten, und es hieß, die wären da drüben medizinisch ganz anders aufgestellt. In England, so hatte er gelesen, durften alle, ob reich oder arm, in die gleichen Krankenhäuser. Umsonst. Umsonst. Sozialismus sagten sie hier dazu, eine derartige Menschlichkeit und Fairness wurde hier als das Böse gebrandmarkt, ihre Vertreter zu Vaterlandsverrätern und unpatriotischen Staatsfeinden erklärt. Wer hier nicht für sich selbst sorgen konnte, galt als mehr oder weniger wertlos, aber das Gute war, dass es jeder nach oben schaffen konnte, wenn er sich nur richtig reinkniete und einen Haufen Kohle machte. Das war der hausgemachte Mythos, den sie den amerikanischen Traum nannten. Bucky nannte das Bullshit.

Er für seinen Teil musste ein Rezept einlösen.

Süße Erleichterung von seinem Schmerz war ihm immer nur in dem kurzen Zeitfenster vergönnt, wenn die letzte Tablette an Wirkung verlor und die nächste ihre Kraft entfaltete, doch dieser Zustand währte nicht lange, es war nur ein kurzes Aussetzen des fortdauernden Loderns tief in seinen Knochen. Er nannte dieses Zeitfenster die goldene Stunde.

In dieser goldenen Stunde war alles so, wie es einmal zu sein pflegte, als er jung und stark gewesen war, als die Hoffnung noch nicht komplett erodiert war und er nichts weiter brauchte als die Liebe einer anständigen Frau, um auch schwere Zeiten zu überstehen. Lange schon hatte er begriffen, dass das mehr bedeutete als Essen, Geld, Ansehen, Musik und Besitz, und mit Maybellene hatte er die Richtige gefunden. Es war eine Auszeichnung, sie zu kennen und mit ihr zusammen zu sein, bis zum Ende, bis die Räder nicht mehr weiterwollten, genau wie in dem Song. Seine Hüftschmerzen waren nichts verglichen mit dem Verlust seiner Frau und dem völligen Fehlen von Liebe in seinem Leben, das ihn in den Monaten nach ihrem Tod in einen schwarzen Strudel gerissen hatte. Dass Maybellene, die ihn verstanden und akzeptiert hatte, nicht mehr war, hatte auch Bucky weniger werden lassen, als wäre er ohne ihre Augen, die ihn betrachteten, ohne ihr tadelndes Lachen irgendwie weniger sichtbar. Geschrumpft war er und gealtert. An manchen Tagen fühlte es sich an, als verbliche er.

Auch fast ein Jahr nach ihrem Tod wurde es nicht leichter. Wenn überhaupt, schien die Last noch schwerer zu werden, jetzt, wo es wieder Herbst wurde, was ihn an jene finsteren letzten Tage erinnerte. Der Kalender war eine einzige verfluchte Erinnerung an Maybellenes rapiden Verfall.

»Verflucht«, sagte er zur Decke.

*

In der Apotheke hatte sich eine Schlange gebildet, und er fühlte das schmerzhafte Ziehen der Schwerkraft an seinem Körper. Manchmal kriegt es dich einfach, dachte er, ganz gleich, wie hart du dagegen ankämpfst. Manchmal zieht es dich einfach runter. Alt zu werden war eindeutig eine einzige große Scheiße. Ein Trauerspiel, und an manchen Tagen konnte ein Mann schon ins Grübeln kommen, was denn überhaupt noch der Sinn des Ganzen war. Es war so schwer, positiv zu denken, wenn es sich anfühlte, als wäre die Sonne ein für alle Mal verloschen.

Auf der Ladentheke stand ein altmodisches Glas mit Lakritzstangen. Raymond hatte heute Dienst, und Bucky nahm sich eine. Raymond war der Sohn einer Frau, mit der er in die Schule gegangen war. In jüngeren Jahren war Ray ein guter Footballspieler gewesen, mit fünfzehn schon gebaut wie ein Kleiderschrank, aber dann doch nicht so gut, dass es gereicht hätte. In jeder Stadt gab es ein paar gescheiterte Quarterbacks auf College-Niveau. Raymond hatte jedoch die richtigen Eltern und genug Grips, um sich von seinem Misserfolg nicht aufs falsche Gleis Richtung Verbitterung und Bedauern führen zu lassen – sich der Hätte-wäre-sollte-Fraktion anzuschließen, die er, Earlon »Bucky« Bronco, nur allzu gut kannte. Bucky steckte sich eine Lakritzstange in den Mund und lutschte daran. Nein, Ray hatte studiert und sich den Pillen verschrieben. Er hatte es richtiggemacht. Kluger Junge, Ray. Hatte einen klaren Kopf. Einen Plan. Und einen Abschluss.

Raymond war Apotheker bei Walgreens, seit Bucky hierhergehumpelt kam, weil seine Knochen ihn im Stich ließen. Das mussten jetzt etwa sieben Jahre sein. Höflich war er auch. Hatte sich immer nach Maybell erkundigt, wenn Bucky ihre Medikamente abholte. »Miss« hatte er sie immer genannt. Respektvoll.

»Und wie geht’s Miss Maybell?«

»Gut, mein Junge. Es geht ihr gut.«

»Sagen Sie ihr, dass ich nach ihr gefragt habe.«

Bucky arbeitete etwas Speichel in seine Lakritzstange. In letzter Zeit hatte sich der Ton bei Walgreens verändert. Die Schlangen waren länger, die Leute verstohlener. Auch jünger. Meist herrschte jetzt eine andere Energie vor. Einige von den Kids, die er sah, klapperten förmlich beim Gehen.

Verflucht.

Er sah sie da draußen, wie sie nervös hin und her hasteten und wuselten, immer auf was aus, auf der Suche nach neuen Tabletten mit neuen Namen. Ein paar von ihnen schienen ständig Flachbildschirmfernseher oder Koffer voller alter CDs mit sich herumzuschleppen oder ein winziges rosa Kinderfahrrad vor sich her zu schieben. Das, was die meisten Leute nicht kapierten, war, dass high zu werden und zu bleiben ein Fulltime-Job war. Die Arbeit eines Junkies.

Bucky rollte die Lakritzstange von einer Seite des Mundes in die andere. Er konnte diese Kids nicht verurteilen, ein, zwei von ihnen waren schon mal seine Rettung gewesen, als er ein paar Schlaglöcher mitgenommen hatte und selbst knapp dran gewesen war. Alle hier trugen ihre unausgesprochenen Traumata wie kleine Rucksäcke voller Steine auf dem Rücken. So war es nun mal. Es war Teil des Überlebens auf diesem endlosen Trip, den sie Amerika nannten, und es schien, als wären alle von irgendwas abhängig. Dass einiges davon legal und anderes nicht legal war, tat kaum was zur Sache.

In mancher Hinsicht war es heute wahrscheinlich härter als zu der Zeit, da er selbst so ein junges Greenhorn gewesen war. Das Leben war heute schneller, der Einsatz höher. Die Gefängnisse standen kurz vor dem Platzen. Vor ein paar Tagen hatte er in den Nachrichten gehört, ein großer Prozentsatz seiner Landsleute glaube, dass es in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten wieder zu einem Bürgerkrieg kommen könnte. Bucky wusste nichts dagegen zu sagen.

Früher war das Straßenleben unauffälliger, man flog tiefer unterm Radar. Ein paar Drinks hier, was Nettes zu rauchen da und tanzen. Tanzen war alles gewesen. Hartes Zeug gab es kaum. Wer da drauf war, tanzte nicht. Ein paar Pillen, okay, die passten in die Soul-Szene, die brachten dich dahin, wo du sein musstest. Und Koks, damals, als er jung war? Vergiss es. Koks war was für die da oben, für die Stars. Außer Reichweite. Da hätte man gleich Kaviar schnupfen können. Später in den Siebzigern, klar. Aber nicht davor, nicht in den Sechzigern. Keine Pülverchen. Die Sache war, dass diese Dinge damals in seinen unschuldigen Jugendjahren selten ein Leben derart bestimmt hatten. So was machte man mal am Wochenende. Kein Grund, deswegen der Mutter die Perlenkette zu klauen.

Wenigstens dienten seine Tabletten heute einem Zweck. Sie brachten ihn auf die Beine und hielten ihn in Bewegung. Ja, Sir. Mobil, ja. Es funktionierte. Sie schenkten ihm ein oder zwei goldene Stunden. Eine schimmernde Oase in der endlosen Wüste des Schmerzes. Ein wenig von etwas war nun mal besser als ein wenig von nichts.

*

Als Bucky an der Reihe war, gab er Raymond sein Rezept, der damit nach hinten ging, eine Minute später zurückkam und alles in die Kasse eingab. Er reichte die Papiertüte über die Theke.

»Das wär’s, Bucky«, sagte er. »Das bringt Sie, wohin immer Sie gehen.«

»Ich glaube, nach England.«

»Wie war das?«

»Ich sagte, nach England.«

Raymond neigte überrascht den Kopf vor, zog das Kinn an den Hals und machte ein übertrieben ungläubiges Gesicht.

»Eng-land?«

»Ja, du weißt schon. Könige und Königinnen. Landhäuser und Gurkensandwiches auf dem Rasen. Teetassen. Ich bin eingeladen.«

»Sie sind beim König eingeladen?«

Bucky schüttelte den Kopf.

»Ähm. Nein, Junge.«

Raymond pfiff durch die Zähne, griff nach dem Rezept und las es noch einmal, jetzt vor dem neuen Hintergrund von Buckys so beiläufiger wie unerwarteter Enthüllung. Er hob den Blick.

»Fühlen Sie sich okay, Bucky?«

»Ich überlebe mehr, als dass ich lebe, aber abgesehen von meinen Hüften und dem Rest geht’s mir gut. Gut genug. Und ich gehe wirklich nach England.«

»Warum wollen Sie so was in Ihrem Alter noch machen?«

»In meinem Alter?«

»Ich will Sie nicht beleidigen, Buck.«

»Machen wir nicht alle weiter bis zum Schluss? Wie ich sagte, ich bin eingeladen. Ich soll singen.«

»Singen?«

»Ja.«

»Singen, Buck?«

»Wenn du es zweimal sagst, ändert das nichts, Raymond. Ja, ein paar meiner alten Songs von damals. Scheint so, dass die da drüben sie mögen. Die haben mich für dieses Festival oder was auch immer eingeplant. Ein ganzes Wochenende Musik, wie es aussieht.«

Hinter ihm in der Schlange kam unruhiges Gemurmel auf, aber Raymond warf den Leuten einen mahnenden Blick zu und schenkte ihnen weiter keine Beachtung. Er arbeitete nach seiner eigenen Uhr.

»Na dann! Bucky Bronco auf einem Festival in London: Aufgepasst!«

»Nicht in London.«

»Nein? Wo denn?«

»Sie sagen, die Stadt heißt Scarborough.«

»Scar-boro? Sind Sie sicher, Buck? Ich habe noch nie von einem Scarboro in England gehört. Ich glaube, es gibt eins in Illinois. Richtung Westen raus, auf halbem Weg ins Nichts. Kennen Sie es?«

»Ich glaube nicht, dass ich das tue, Raymond.«

»Farmland, wenn ich mich recht erinnere. Getreide und Schweine. Weit hinter Shabbona. Kennen Sie Shabbona?«

»Ich glaube nicht, dass ich das tue, Raymond«, sagte Bucky wieder.

»Ja«, fuhr der jüngere Mann fort, den die Unzufriedenheit der rastlos von einem Bein aufs andere tretenden Kundschaft ungerührt ließ. Er hatte eine gewisse Macht über sie. »Es liegt drüben im DeKalb County. Aus der Erinnerung würde ich sagen, irgendwo zwischen Sterling und Aurora, direkt am 30er.«

»Scarboro?«

»Im Moment rede ich von Shabbona, Bucky. Shabbona im DeKalb County. Nicht viel los da, außer flachen Feldern und einem hohen Himmel. Ich kenne es nur, weil ein Cousin zwei Sommer draußen in Amboy gearbeitet hat, und am Wochenende sind wir ein bisschen rumgefahren. Ich erinnere mich noch an all die Ortsschilder.«

Bucky hörte das ungeduldige, missbilligende Gemurmel hinter sich. Unter trockenen Gaumen schnalzten Zungen. Ein Husten, ein Fußscharren. Jemand fluchte.

»Klar«, schnaufte Raymond, »Amboy selbst liegt im Lee County, nicht im DeKalb. Wissen Sie, wer in Amboy gewohnt hat? Charles Dickens’ Bruder, ob Sie’s glauben oder nicht.«

»Ich kenne Shabbona und Amboy nicht«, sagte Bucky. »Und Scarboro in Illinois auch nicht. Über Dickens weiß ich nur wenig. Aber es ist eine absolute Tatsache, dass ich morgen nach Scarborough aufbreche, nach England, und ich denke, es schreibt sich auch anders, als du denkst, Raymond.«

Der Apotheker beugte sich vor und sagte, ein Auge geschlossen, mit verschwörerischer Stimme: »Bezahlen die Ihnen was?«

»Sie bezahlen mich gut.«

»Sagen Sie mir, was heutzutage als gut gilt, Bucky.«

Bucky warf einen Blick über seine Schulter und sah wieder nach vorn.

»Mehr als ich seit einer langen gottgefälligen Weile in der Hand gehalten habe. Dazu die Reisekosten. Und das Hotel.«

»Oh, ein Hotel, Bucky?«

»Ja, Sir, in der Tat.«

»So was wie ein Four Seasons oder Hilton Business?«

»Ich nehme an, dass es etwas in der Art ist, ja.«

Selbst Bucky wurde langsam ungeduldig, aber Raymond neigte dazu, sich in Gesprächen zu verlieren, wenn ihm danach war. Fasziniert von der plötzlichen Möglichkeit, an einem Kontakt mit der weiten Welt teilzuhaben, beugte er sich noch etwas weiter vor. Seit sein Footballerleben in ein geruhsameres Dasein übergegangen war, hatte er ein paar Pfund zugelegt, bot jedoch immer noch einen imposanten Anblick. Das war es vielleicht, was ihm neben seiner Ausbildung den Job in diesem Viertel verschafft hatte. So nett er war, sah Raymond nicht wie einer aus, mit dem sich ein dahergelaufener Möchtegern-Gangster, Hobby-Trickser oder selbst ernannter Drugstore-Cowboy gerne anlegen würde. Angesichts der Lage in einer der unruhigeren Gegenden der Stadt hatte seine Einstellung durch Walgreens sicher strategischen Charakter.

»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht, Buck?«

»So sicher, wie du Raymond Burke heißt.«

Raymond verengte die Augen ein wenig. Bucky machte es ihm aus Spaß nach.

»Gibt es da was Vernünftiges zu essen?«

»Also das weiß ich nicht«, gab Bucky zu. »Aber sie haben das Sandwich erfunden, und ich denke, ich werde nicht verhungern. Ein paar Pfund weniger wären sowieso nicht schlecht.«

Raymond senkte die Stimme.

»Dürfen Sie auch den Zimmerservice nutzen?«

Bucky hob flehend die Hände und zuckte mit den Schultern.

Hinter ihm sagte jemand: »Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie«, aber Ray überhörte es. Die Ungeduld seiner Kunden war eine Konstante. Er hatte hier schon Fäuste gesehen. Gezogene Messer. Ein kleiner Ausfall wie dieser war also nicht der Rede wert. Es war normal. Ein weiterer Tag an der Front.

»Das ist doch keine von diesen Betrugsmaschen aus dem Internet, oder, Bucky?«

Bucky schüttelte den Kopf.

»Verflucht, nein. Ich habe mit einer am Telefon gesprochen. Einer Frau. Um ehrlich zu sein, war ihr Akzent ein bisschen zu stark, um wirklich zu verstehen, was sie von mir wollte, aber ich glaube, ich habe das Wesentliche mitgeschnitten. Im Übrigen überweisen sie die Hälfte des Honorars vorab, und wer hätte schon von Internetbetrügern gehört, die einen bezahlen?«

Hinter ihm drängte jemand: »Nun komm schon, Mann.«

Die Brauen zusammengezogen und die Lippen leicht geschürzt schickte Raymond einen strengen Blick in Richtung des Kunden, um ihn zum Schweigen zu bringen. Es funktionierte.

»Hast du ihnen deine Kontodaten gegeben?«

»Aber klar.«

Jetzt war es an Raymond, den Kopf zu schütteln, wobei er sich zurücklehnte und langsam und gedehnt ausatmete. Bucky sah einen Funken Befriedigung in den Augen des jungen Mannes, doch bevor Raymond ihm mit einer Ermahnung kommen konnte, fuhr er ihm in die Parade.

»Ich hab meinen Kontostand heute Morgen gecheckt«, sagte er und wischte sich mit dem Rücken der Hand beiläufig eine fiktive Fluse vom Kragen.

Nun lehnte sich Bucky vor und senkte die Stimme.

»Zweieinhalbtausend Dollar.«

Raymonds Augen weiteten sich, und er sagte viel zu laut: »Die zahlen dir zweieinhalbtausend Dollar?«

Bucky spürte, wie sich die Ohren von einem Dutzend hoffnungsloser Junkies gleichzeitig spitzten.

»Heilige Maria, dreh die Lautstärke eine Nummer runter, okay?«, flüsterte er. »Insgesamt zahlen sie fünf.«

»Fünftausend Dollar, um Bucky Bronco singen zu hören? Verdammt, wenn das mit rechten Dingen zugeht, freue ich mich für Sie, aber wirklich. Ich meine, ich würde es schon für die Gurken-Sandwiches machen, Mann.«

»Ja, ich denke, das würdest du wohl. Aber du hattest keinen internationalen Hit, der es über den Atlantik geschafft hat, oder, Ray?«

»Und Sie hatten einen?«

Aus der Schlange kam weiteres Gemurmel, dann eine Stimme: »Yo, wir sterben hier hinten.«

»Nun, wie sich herausstellt, ja, irgendwie schon«, sagte Bucky mit einem Lächeln. »Scheint so, dass der alte Bucky Bronco noch für die eine oder andere Überraschung gut ist.«

*

Er war zum ersten Mal im O’Hare. Es roch nach Zucker und Parfüm, Öl und Salz. Es roch nach Erwartung. Körper rieben an ihm, und in der Luft lag eine spürbare Spannung. Draußen drängten sich die Flugzeuge in einer endlosen Warteschlange, um zu starten.

Bucky saß mit seinem Kaffee da und sah zu, wie sie die Startbahn entlangdröhnten und aufstiegen, die spitzen Nasen gen Himmel gerichtet, jedes einzelne abhängig vom Können derer, die sie flogen. Der Gedanke, dass einer der Piloten gerade an diesem Morgen die Scheidungspapiere bekommen oder gestern Nacht zu viele Cocktails getrunken haben könnte, machte ihn nervös. Verflucht. Sein Leben so in die Hände eines Fremden zu legen war nicht normal.

Die Luft im Flugzeug war anders. Sie fühlte sich irgendwie schwerer an. Er saß bei der Toilette und konnte die beißenden Chemikalien riechen. Er sah zu, wie die Wolken um die Spitzen der Tragflächen wirbelten, und fragte sich, wie viele von den Passagieren wussten, wie Fliegen überhaupt funktionierte. Er sicher nicht.

Das Licht im Flugzeug war gedämpft, und die Sitze waren angenehm nach hinten gelehnt. Kleine Bildschirme in den Kopfstützen boten eine Auswahl von Filmen, aber Bucky kam nicht dahinter, wie sie funktionierten, und so blätterte er durch die Zeitschrift der Fluglinie. Sie war voller Artikel über Hotels mit Infinity-Pools ganz ohne Ränder, deutsche Bierfeste und die besten Läden in Katalonien, um Chorizos zu kaufen. Hauptsächlich blickte er jedoch aus dem Fenster und sah zu, wie erst Illinois und dann der mittlere Westen unter ihm verschwand.

Eine Flugbegleiterin bot ihm eine kleine Flasche Wein an mit einem Lächeln, dachte er, das ihn selbst ein Todesurteil akzeptieren lassen würde. Er lehnte ab, doch als er sah, dass andere Passagiere zugriffen, ohne dafür zahlen zu müssen, rief Bucky die Frau zurück und nahm den Wein doch an. »Danke, Sweetie.«

Mit einem Zwinkern gab sie ihm noch eine zweite Flasche: »Nur für den Fall.«

Seine Hüften schmerzten von der Herumsteherei am Check-in, und weil er im Flughafen so weit hatte gehen müssen, und so drückte er eine Tablette aus der Packung, schluckte sie mit seinem Rest Wein und wartete auf das sanft betäubende Summen der goldenen Stunde. Er war jetzt in den Wolken, dann darüber, und alles war weiß, alles Licht. Der Wein war warm, ging aber leicht herunter, und Bucky begann sich wohlzufühlen. Seine Lider wurden schwer, und das Sirren der Triebwerke wurde zu einer seltsam mechanischen Musik.

Hier bin ich, dachte er. Einmal näher am Himmel als an der Hölle.

Bucky musste eine Weile geschlafen haben, denn als er die Augen öffnete und nach unten sah, hatten sie die Landmasse mit allem, was er kannte, Amerika, wo er seine gesamten siebzig und noch etwas Jahre verbracht hatte, hinter sich gelassen, und da war nichts mehr als eine endlose Finsternis. Eine Karte auf dem kleinen Bildschirm vor ihm zeigte die Position des Flugzeugs über dem Atlantik an, und die schwarze, wassergefüllte Leere unter ihm war so riesig und indifferent, dass er spürte, wie sein Herz ängstlich zu beben begann. Im Wasser dort unten lag eine andere Welt, ein Dasein der Tiefe, von dem so viel noch unerforscht war. Er hatte genug Sendungen auf National Geographic darüber gesehen. Da unten gab es kurzsichtige Fische, die in völliger Dunkelheit existierten, und knochenlose, fremdartig aussehende Wesen, die Stromstöße austeilten. Es gab auch Öllecks, geplünderte, zerstörte Meeresböden und winzige, für das menschliche Auge nicht erkennbare Plastikteilchen, die aus den Ökosystemen des Meereslebens, wie auch aus dem der Vögel, nicht mehr herauszukriegen waren. Auch dazu hatte er Dokumentationen gesehen. Der Mensch hatte die Welt vergiftet und verdorben, noch bevor er sie ganz verstand.

Verflucht.

Und jetzt war er, Bucky Bronco, hier oben, weit über den Vögeln, höher als die Wolken, zu denen er sein Leben lang hinaufgestarrt hatte, höher, als ein Mensch wirklich sein sollte, den Bauch voller Wein, Tabletten und Erdnüsse, und er fühlte sich so allein wie ein hilflos dahintreibender Astronaut, während das Flugzeug der Rundung der Erde folgte. Er wünschte nur, Bell wäre an seiner Seite, um den unerwarteten Lauf der Dinge mitzuerleben. Sie hatte nie in einem Flugzeug gesessen.

Dann wurde es auch im Flugzeug dunkel, es wurde Nacht, und das Summen der Triebwerke, im Zusammenklang mit dem Wein und den Tabletten, und auch der Höhe und dem weichen Nachtlicht, schickte ihn zurück in den rauen, süßlichen Treibsand eines zweiten merkwürdigen Schlafes.

In Dublin, in Irland, wechselten sie das Flugzeug. Sie hatten einen kurzen Aufenthalt, aber Bucky war zu müde, um irgendetwas zu unternehmen, und trotz der Opioide brannten seine Hüftgelenke, als wäre geschmolzenes Metall in sie hineingegossen worden. Es war eine andauernde Qual, an die er sich nie würde gewöhnen können, und so schlurfte er verschlafen zum Gate, setzte sich auf den zum Eingang nächsten Platz, trank etwas Wasser und wartete darauf, dass sein Anschlussflug aufgerufen wurde. Als es so weit war, stellte er sich in die Schlange, gelangte ins Flugzeug, auf seinen Platz und nahm eine weitere Tablette. Er trieb zwischen Wachen und Schlafen hin und her, schreckte zweimal durch Turbulenzen hoch und sagte beim zweiten Mal: »Erbarmen!«, mit lauter Stimme, wie es ihm vorkam, doch als er sich umsah, schien keiner der anderen Passagiere mit ihren Schlafmasken etwas gehört zu haben. Vielleicht hatte sie ja das kurze Rumpeln des Flugzeugs abgelenkt, oder sein Flehen war rein innerlich gewesen, Teil seines mäandernden Traumzustands.

Er war im Dunkeln aufgebrochen und kam im Dunkeln an, und hinter ihm lagen rund 6150Kilometer betäubter Unsicherheit. Er betrat ein anderes Land, einen anderen Kontinent, zum ersten Mal.

*

England.

Bucky folgte den übrigen Passagieren aus dem Flugzeug, durch den Zoll und zur Gepäckausgabe. Der Flughafen war grau, die Decke niedrig. Er konnte sehen, dass der anbrechende Tag draußen ebenfalls grau zu werden versprach, und auch der englische Himmel hing tief. Schwer drückte er nach unten. Es war kaum zu glauben, dass es derselbe Himmel war, der auch über seinem kleinen Haus hing, über Chicago, Illinois, Amerika und allen anderen Ländern überall. Aber es war auch tröstlich.

Ein Rad seines neuen Koffers blockierte immer wieder, als er ihn an einem Schild mit der Aufschrift Willkommen im Leeds Bradford – Yorkshires Flughafen vorbeizog, und erst da wurde ihm klar, dass er in Yorkshire war, das, wie er wusste, für seine Desserts berühmt war.

Bucky ging langsam durch die Ankunftshalle und dann hinaus in die große Flughafenhalle, wo eine kleine Gruppe im Halbkreis stehender Leute, die noch den Schlaf in den Augen trugen, vielleicht auch den fehlenden Schlaf, auf ihre Liebsten wartete, die mit diesem frühen Flug und einem anderen ebenfalls gerade gelandeten aus Reykjavik angekommen waren.

An der Seite stand eine Frau und ließ den Blick nervös über die nach und nach hereinkommenden gähnenden Geschäftsleute, Alleinreisenden und Eltern mit verschlafenen, noch im Pyjama steckenden Kindern auf dem Arm gleiten. Sie hielt gut sichtbar ein Blatt Papier vor sich, auf dem stand: EARLON ›BUCKY‹ BRONCO: KING OF SOUL. Sie sah ihn zuerst, sah einen großen alten Mann, der leicht hinkte, was er mit einem locker wiegenden Schlurfen zu verbergen suchte. Er hatte schwermütige Augen, und sein großer Körper trug zu viel Gewicht mit sich, hauptsächlich um die Taille herum. Dennoch strahlte seine Haltung eine gewisse Würde aus. Fast schon etwas Majestätisches. Buckys müde Augen sahen zuerst das Schild, dann sie. Sie lächelte.

Sie war ein ganzes Stück jünger als er, vielleicht zwanzig Jahre. Um die fünfzig, nahm er an, wobei seine Fähigkeit, das Alter von Leuten einzuschätzen, mit der Zeit immer mehr nachgelassen hatte. Es gab eigentlich nur noch die Jungen, die Mittelalten – zu denen dieser Tage alle zwischen dreißig und sechzig zu zählen schienen – und die Alten. Die Frau ihm gegenüber befand sich noch im weiten Feld des Mittelbereichs. Sie hatte gelebt, das konnte man sehen, aber das Leben hatte sie nicht niedergerungen. Er sah Stärke in ihr und, als er näher kam, dass sie schöne tiefgrüne Augen hatte. Ihr dunkles Haar glänzte im grellweißen Licht rötlichbraun, und sie hatte eine große, edle Nase. Sie war beeindruckend. Und als sie ihr Gewicht beiläufig von einem Bein auf das andere verlagerte, registrierte er ungewollt, dass unter ihrem Mantel eine hübsche, füllige Figur verborgen war. Bucky erwiderte ihr Lächeln und trat auf sie zu.

»Dinah?«, fragte er.

»Willkommen in Yorkshire, MrBronco.«

»Sieht ganz so aus, in Gottes Namen. Danke, Sweetie. Aber wissen Sie, sagen Sie doch Bucky zu mir, oder Earlon, wenn Sie mögen. Mich hat seit langer Zeit schon keiner mehr Mister genannt. Bucky ist das Beste, denke ich.«

»Okay.«

Er streckte ihr seine Hand entgegen, und sie schüttelte sie. Er sah, wie überrascht sie auf die Größe seiner Hand reagierte, die ihre völlig umschloss, und auf seine großen, knorrigen Knöchel. Es war, als fühlte sich diese alltägliche Begrüßungsform komisch und unangenehm für sie an, wobei er hoffte, dass sie auch etwas Wärme darin spürte. Dinah ihrerseits konnte sich nicht erinnern, wann ihr ein Mann zuletzt so förmlich die Hand gegeben hatte. Da, wo sie sich bewegte, war es einfach nicht üblich. Umarmungen und Küsse, Schubser und Klapser waren das Normale, Händeschütteln war etwas für Vorstellungsgespräche, abgelehnte Darlehensanträge oder um zu sagen, Danke-aber-ich-verzichte, sonst kamen sie kaum vor.

»Wie war der Flug?«

Wie war der Flug?, fragte er sich selbst.

»Nun, vor allem lang, aber okay. Es gab Wein. Und ein paar Turbulenzen, würde ich sagen. Es fühlt sich merkwürdig an, von einem Tag in den anderen zu fliegen.«

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir uns über Ihren Besuch freuen. Der Bucky Bronco, leibhaftig hier bei uns.«

»Leibhaftig, in der Tat. Es ist mir ein Vergnügen, Honey. Wie viel Uhr haben wir jetzt?«

Sie sah auf ihr Telefon.

»Kurz nach sieben.«

Bucky schüttelte den Kopf, verwirrt und leicht benebelt.

»Sieben Uhr morgens fühlt sich für mich im Moment ganz wie sieben Uhr abends an.«

Sie lächelte.

»Das glaube ich.«

»Wir haben also Freitag?«

»So ist es.«

Sie nickte zu seinem kleinen Koffer hin. »Möchten Sie, dass ich Ihren Koffer nehme, Bucky?«

»Was für eine Art Gentleman wäre ich, wenn ich mir von einer Lady das Gepäck abnehmen ließe? Nein, alles gut. Danke, Dinah.«

Sie stellte fest, dass sie sein Kompliment, sie eine Lady zu nennen, leicht rot werden ließ, auch wenn es wohl im Scherz gesagt war. Noch etwas Neues. Sie verbarg ihre Verlegenheit, indem sie Konversation machte.

»Haben Sie Hunger? Haben Sie was gegessen? Wir könnten etwas besorgen, um Ihnen über die Runden zu helfen. Ein Sandwich mit Speck, ein Pasty oder sonst etwas.«

Buckys Hüften schrien mittlerweile. Die goldene Stunde war zu schnell vergangen, dazu die Steherei am Gepäckband. Schmerz schoss ihm in die Beine.

»Ich denke, sie haben uns über dem Atlantik etwa ein halbes Dutzend Mal gefüttert, und dann noch mal beim kurzen Hüpfer von Dublin hierher. Alles gut. Ich könnte mich allerdings gut mal hinsetzen. Haben wir es weit von hier, Dinah?«

»Ich parke gleich draußen.«

Sie gingen zur Tür.

»Komisch, dass dazusitzen und nichts anderes zu tun, als den eigenen Augenlidern zuzusehen, so ermüdend sein kann«, sagte er.

Die Tür öffnete sich für sie und schloss sich hinter ihnen wieder, die Temperatur fiel, kühle Luft begrüßte sie, und Bucky hatte das Gefühl, von einer Welt in eine andere zu treten. Innerhalb eines Augenblicks machte sein Leben einen Satz nach vorn. Ins Unbekannte.

*

Ein öliges Nieseln füllte die stille, verwirrende Dunkelheit, dahinter drohte der Himmel mit Gewalt. Jenseits der hohen Laternen des fernen Parkplatzes lag nichts als der träge, in den erwachenden Tag hineinschlummernde Herbstmorgen. Ein Taxi löste sich vom Bordstein, eine synthetische Kirschdampfwolke aus dem geöffneten Fahrerfenster hinter sich zurücklassend.

Dinah blieb einen Moment stehen.

»Hören Sie, ich hoffe, es nervt Sie nicht, aber ich muss das gleich loswerden: Until the Wheels Fall Off ist so ungefähr mein liebster Song aller Zeiten.«

Bucky hob eine Braue.

»So ungefähr?«

»Okay, er ist es definitiv.«

»Ich mache nur Spaß. Es macht einen alten Mann glücklich, so was zu hören. Und es überrascht ihn.«

»Aber das müssen sie doch ständig hören.«

Bucky zog die Stirn kraus. Der Nieselregen fiel stetig und legte sich auf ihre Haare, die Tropfen glitzerten wie winzige Verzierungen, schimmernde Juwelen. Der Tag entschied noch, was er mit sich anfangen wollte.

»Nun, ich würde sagen, eigentlich fast nie.«

Als sie zu Dinahs Auto kamen, half sie ihm, seinen Koffer in den Kofferraum zu heben, und räumte den Beifahrersitz frei, auf dem eine Hundedecke, eine halb volle Flasche Cola und einige verkratzte CD-Hüllen lagen. Sie wischte Krümel und Sand herunter.

»Sie müssen einen Jetlag haben.«

»Da ich noch nie einen hatte, ist es schwer zu sagen. Aber ich fühle mich ein wenig … unübersichtlich, wenn das das richtige Wort dafür ist?«

»Wir haben ein Zimmer im Majestic für Sie gebucht. Es ist das älteste Hotel der Stadt.«

»Alles, was Majestic heißt, klingt so, als könnte ich es da aushalten.«

»Namen können trügerisch sein. Aber es war tatsächlich mal majestätisch, und das zählt schon was. Ich glaube, Sie hatten gesagt, Sie wollten etwas vom alten England spüren?«

»Scheint mir genau richtig. Ist es weit?«

»Um diese Tageszeit braucht man etwa eine Stunde.«

Dinah ließ den Motor an, und die Musikanlage erwachte dröhnend zum Leben. Until the Wheels Fall Off ertönte.

»Gott!« Sie griff nach dem Lautstärkeknopf. »Wie peinlich.«

Da er nicht wusste, wie er reagieren sollte, entschied sich Bucky zu schweigen – und zu einem kleinen Lächeln.

Sie kämpfte mit dem Schaltknüppel, ließ den Motor aus Versehen einmal laut aufheulen, und dann fuhren sie hinaus in den nördlichen Morgen.

Bald waren sie auf dem Land und bewegten sich östlich in Richtung York. Auch wenn es noch früh sei, erklärte Dinah, nehme sie lieber Nebenstraßen als die Autobahn, die ihr zu eigentlich jeder Tageszeit Angst mache. Im Dunklen oder wenn es niesele, mache die Autobahn sie schläfrig, und sie bevorzuge die Aufmerksamkeit, die die sich windenden Nebenstraßen, Bahnübergänge und kleinen Umgehungen verlangten. Bucky hörte zu und nickte stumm.

Winzige Dörfer und noch winzigere Weiler zogen vorbei. Viele bestanden aus nicht mehr als ein paar Häusern, die sich an eine schmale Straße klammerten, vielleicht noch mit einem einsam in der klammen Landschaft dahockenden Bauernhof ein, zwei gepflügte Äcker entfernt. Andere hatten ein Village Green, einen Laden und einen Pub, und die meisten der abgelegenen Straßen, über die sie kamen, lagen noch in tiefem Schlummer, und es schien, als seien sie schon immer da gewesen und würden auch immer dableiben.

Die Zeit lüftete ihren Schleier, und Bucky verspürte ein erstes Entzücken, als er eine rote Telefonzelle sah.

»Sieh mal an«, sagte er. »Genau wie in Mary Poppins oder so.«

»Was?«, sagte Dinah.

»Die Telefonzelle. Genau wie im Film.«

»Oh, ja. Die meisten sind allerdings nicht mehr in Betrieb. Sie werden als Pissoirs benutzt, wobei einige auch zu Bibliotheken umgewandelt worden sind.«

»Zu Bibliotheken?«

»Nun ja, kleinere.«

»Ich habe ja gehört, dass die Engländer exzentrisch sind, aber das ist verrückt.«

Der Pendlerverkehr auf der Umgehungsstraße von York, es war der letzte Werktag der Woche, wurde dichter, und sie wichen auf eine andere Straße aus und fuhren weiter Richtung Osten. Am Himmel vor ihnen streckte die aufsteigende Sonne ihre glühenden Finger aus.

»Großer Gott, ist das ein schönes grünes Land«, sagte Bucky leise.

»Das sind die Wolds.«

»Die Wolds?«

»Fragen Sie mich nicht, was das bedeutet. Ich weiß nur, es ist altes Land. Das ganz alte England. Hier in der Gegend waren die Wikinger.«

»Ich verstehe, warum. Hier ist so viel Platz. Zu Hause, so nahe bei einem Flughafen oder einer Stadt, packen sie die Landschaft mit Einkaufszentren, Siedlungen, Drive-ins und Plakatwänden voll.«

»Ich schätze, Sie sind nicht mehr in Amerika.«

»Tja, verflucht, ich schätze, das bin ich nicht.«

Sie verstummten, aber für beide, Dinah wie Bucky, war es kein unbehagliches Schweigen, eher ein längerer angenehmer Moment, der zur Tageszeit und zum Ende von Buckys langer Reise passte. Es vergingen ein paar Minuten, bevor sich Dinah schließlich räusperte.

»Hören Sie, ich versuche wirklich, cool zu bleiben, und Graham Carmichael – das ist der, der das Festival, den Weekender, organisiert, er sieht ein bisschen wie ein Homunkulus aus, sein Kopf ist zu groß für seinen Körper, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber er ist schon ganz nett –, also Graham hat mich angefleht, mich nicht lächerlich zu machen, als ich ihm gesagt habe, dass ich Ihre Betreuerin sein wollte, sozusagen, aber ich bin einfach so begeistert, dass Sie hier sind. Ehrlich, Bucky Bronco, Verflucht noch mal!«

Dinah bremste sich und wurde rot.

»Entschuldigung, aber Mann, schließlich sitzt hier eine absolute Soul-Legende in meiner miesen kleinen Karre.«

Dinah holte eine Selbstgedrehte aus einer Packung unten bei der Handbremse und zündete sie sich an. Sie bot auch Bucky eine an.

»Nein, danke. Früher mal, aber nicht mehr. Oder sagen wir, keine Zigaretten, wobei die meisten anderen Sachen okay sind.«

»Wegen der Stimme?«

»So was in der Art.«

Sie öffnete das Fenster ein paar Zentimeter und versuchte, eine Lunge Rauch durch die Öffnung zu blasen, doch er kam gleich wieder herein.

»Ist mein letztes und einziges Laster«, sagte sie. »Abgesehen vom Alkohol und hin und wieder einem Spliff.«

»Einem Spliff?«

»Einem Joint. Gras.«

»Oh, ich sehe, wir verstehen uns.«

»Bucky Bronco«, sagte Dinah wieder und schüttelte ungläubig den Kopf. »Until the Wheels Fall Off. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viel mir dieses Lied bedeutet.«

»Das ist verrückt.«

»Ich meine …«

Sie zog an ihrer Zigarette, schüttelte erneut den Kopf, stieß den Rauch aus dem Mundwinkel aus und wedelte mit der Hand durch die Wolke vor sich.

»Es kommt nicht oft vor, dass mir die Worte fehlen, aber, mein Gott. Dieser Song ist der Soundtrack meines Lebens, seit ich ihn zum ersten Mal gehört habe, als ich vierzehn oder fünfzehn war, und ich wette, es gab nicht eine Woche, in der ich ihn nicht gespielt habe. Nicht eine einzige Woche. Manchmal täglich.«

»Wollen Sie mich zum Besten halten?«

Dinah sah Bucky überrascht an.

»Natürlich nicht. Natürlich nicht. Warum sollte ich? Aber wie gesagt, das müssen Sie ständig hören.«

»Etwa einmal jedes halbe Jahrhundert.«

Sie lachte.

»Sweetie, ich mache keine Witze«, sagte Bucky. »Zu Hause ist der Song t-o-t, seit Jahrzehnten tot.«

»Was? Jetzt halten Sie mich zum Narren.«

»Ähm, nein. Ich meine, mir wurde gesagt, dass über die Jahre schon mal eine E-Mail kam, in der jemand wissen wollte, ob ich der Earlon ›Bucky‹ Bronco bin, der Until the Wheels Fall Off gesungen hat, aber ich hab mich nie viel mit Computern beschäftigt, und wer weiß, wer diese Leute sind oder was sie wollen. Meiner Erfahrung nach bringt es meistens nichts Gutes mit sich, wenn Unbekannte was wollen, und deshalb antworte ich nicht. Die meisten Leute aus der Vergangenheit sollten auch dort gelassen werden. Aber dann meldet ihr euch und fragt, ob ich herkommen und singen kann, und die Rede ist von Geld, einem Hotel, Spesen, das ganze Programm. Verflucht, ihr habt sogar von Fans gesprochen – also, da musste ich einfach kommen und sehen, was dahintersteckt.«

»Alle wissen, dass Sie eine Weile von der Bildfläche verschwunden sind, und in der Soul-Szene ist nicht mehr alles so, wie es mal war. Aber Sie leben doch immer noch von Ihren Auftritten, richtig?«

»Davon leben?«, fragte Bucky erstaunt. »Dass ich immer noch davon lebe? Oh, es tut mir leid, Ihnen das eröffnen zu müssen, Sweetie, aber ich habe nie auch nur einen Penny mit diesem Song verdient und auch mit keinem anderen. Nicht einen einzigen roten Cent.«

»Aber es ist ein Klassiker, Bucky, der die Tanzflächen füllt.«

»Nicht zu Hause, nein. Nirgends.«

»Bockmist«, sagte sie. »Entschuldigung, aber das ist totaler Bockmist.«

Bucky wiederholte das Wort und musste lächeln: »Bockmist.«

»Es war ein Riesenhit in der Northern-Soul-Szene, als ich eingestiegen bin«, fuhr Dinah fort. »Und das ist er für einige von uns immer noch. Ich habe ihn auf etlichen Hochzeiten gehört, und auf Colin Coverdales Beerdigung, nachdem er bei Driffield von einem Krankenwagen überfahren worden war. Stellen Sie sich das vor, von einem Krankenwagen getötet zu werden.«

Bucky seufzte tief und trübsinnig, den Blick auf die vorbeiziehenden Stoppelfelder und Höfe gerichtet.

»Ich meine, das ist toll zu hören, abgesehen natürlich von dem Krankenwagen und dem armen Colin …?«

»Coverdale.«

»Ja, mein Mitgefühl gilt diesem Colin Coverdale, aber wissen Sie, ich habe den Song im Frühling 67 aufgenommen und noch einen Nachfolger später im Jahr …«

»All the Way Through to the Morning.«

Bucky warf Dinah einen Blick zu, die ihre Zigarette ausdrückte und durch die Öffnung des Fensters schnipste. Der Stummel traf auf die feuchte Straße und ließ kurz etwas glühende Asche hinter ihnen aufblitzen.

»Lieber Gott, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht«, sagte er. »Kennen Sie den auch?«

»Aber klar doch, verdammt noch mal. Das ist der Heilige Gral des Northern Soul, eine Single, die kaum zu finden ist und noch dazu unbezahlbar. Sie ist sogar noch seltener als Until the Wheels Fall Off. Zwanzig Jahre lang hat sie nur in unseren Köpfen existiert, bis das Internet kam, und dann gab es sie online zu hören, was toll war, aber nicht dasselbe, wie eine Testpressung zu besitzen, das echte historische Artefakt. Nicht, dass ich mich an diesen Sachen beteilige, das überlasse ich den Besessenen. Den Männern mit ihren Tragetaschen und ihrem Schuppenhaar, Gott segne sie.«

»Mann«, sagte Bucky. »Das ist mir völlig neu, Sweet Pea. Und das alles wegen einem Stück Plastik, das nicht mal offiziell herausgekommen ist?«

»Sie wissen schon, dass die originalen Pressungen der Wheels auch nicht gerade leicht zu finden sind?«

»Weil die Single ein absoluter Rohrkrepierer war, Honey. Und im Gegensatz zu seinem Schöpfer konnte der Song nicht verhaftet werden. Jetzt wünschte ich, ich hätte noch ein Exemplar.«

»Sie haben kein Exemplar Ihrer eigenen Single?«

»Ähm. Nur so aus Interesse, was bringen die denn heute?«

»Schwer zu sagen. Muss etwa so teuer sein wie eine nie gespielte erste Pressung von Frank Wilsons Do I Love You. Ich erinnere mich, dass da eine vor ein paar Jahren für über zehn Riesen weggegangen ist. Oder waren es hundert? Ich hab’s vergessen. Aber so oder so, ein Wahnsinnsgeld.«

»Moment mal, was? Bitte sagen Sie, dass Riesen nicht wie bei uns tausend Dollar sind?«

»Pfund, Bucky«, sagte Dinah. »Aber ja.«

»Verdammt«, sagte er, und dann noch mal: »Verdammt. Ich glaub’s nicht. Zehn Riesen für eine kleine verkratzte Plastikscheibe? Wissen Sie, wie viele Stunden ich arbeiten muss, um so viel Kohle zu machen?«

»Es ist irre, oder?«

»Besonders weil ich damals mein einziges Exemplar verkauft habe.«

»Wie viel haben Sie dafür bekommen?«

»Ich weiß nicht mehr, aber höchstwahrscheinlich einen Hotdog und ein Bier.«

»Mein Gott, Bucky. Sie haben nur eine Single bekommen?«

»Verflucht, ich weiß es nicht mehr.«

»Aber was ist mit den Royalties?«

»Wie Könige und Königinnen, meinen Sie?«

»Ihre Anteile an den Verkäufen. Und wenn es im Radio und so gespielt wird. Zumindest da verdienen Sie doch heute mit?«

»Ich weiß, was Sie meinen, Honey.« Bucky seufzte wieder. »Aber was Sie verstehen müssen, Dinah, ist, dass sie mir damals, als ich siebzehn war, fünfundsiebzig Dollar dafür gezahlt haben, dass ich den Song an einem Nachmittag aufgenommen habe, und da waren wohl die Rechte einschließlich der für die B-Seite mit drin. Ich weiß es nicht mehr genau.«

»The Bees & the Birds.«

»Sie und Ihre Nachforschungen. Ich bin beeindruckt.«

»Fünfundsiebzig Dollar, Bucky. Das ist kaum eine angemessene Vergütung angesichts der enormen Langlebigkeit dieses Songs.«

»Wenigstens habe ich dann noch mal fünfundsiebzig für All the Way Through to the Morning gekriegt, wie ich mich erinnere.«

»Das ist Ausbeutung, nichts anderes.«

»Das ist es, aber das ist auch Amerika, was willst du machen? Ich war siebzehn. Fünfundsiebzig Dollar sind eine ordentliche Summe, wenn du jung bist und Hunger hast. Sind es immer noch. Das war eine Monatsmiete damals, vielleicht sogar zwei. Es war genug für einen Anzug und ein Paar Schuhe. Vielleicht auch für ein anständiges langes Wochenende, dass so unvergesslich war, dass du es bereits wieder vergessen hattest, als du am Montagnachmittag mit einem deformierten Grinsen aufgewacht bist.«

»Wofür haben Sie es ausgegeben?«

»Ich weiß es nicht mehr. Für eine dieser Sachen, nehme ich an. Nichts, was in meiner vagen Erinnerung überdauert hat.«

»Bucky, das ist eine Tragödie.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hundertfünfzig Dollar für zwei Nachmittage Arbeit sind nicht so schlecht.«

»Doch, wenn jemand anders Hunderttausende Pfund damit verdient. Millionen, soweit wir wissen.«

Bucky fühlte sich auf eine Weise aufgedreht und müde wie seit jener Zeit nicht mehr, als er drei Jobs gleichzeitig hatte und mit vier Stunden Schlaf auskommen musste. Die Bewegung des Autos und die neuen Gedanken an die lange vergessene Vergangenheit ließen seine Lider schwer werden und die Zähne schmerzen.

»So ist das Leben, Sweetie. Und es ist das Beste, diese Dinge zu akzeptieren, wenn du jung bist. Von dem Moment an, in dem unsere Mütter uns auf die Welt bringen, stehen die Chancen schlecht für Leute wie mich. Ich hab den verdammten Song kein einziges Mal mehr gesungen.«

»Moment, wollen Sie damit sagen, dass Sie Until the Wheels Fall Off seit der Veröffentlichung nie wieder gesungen haben? Kein einziges Mal?«

»Genau. Weder den noch einen anderen Song, außer vielleicht für den Mond, wenn ich zu viel getrunken hatte und es keiner mitbekam.«

»Sie sagen, dass Sie nie irgendwo aufgetreten sind?«

Er schüttelte den Kopf.

»Es hat nie mehr jemand danach gefragt.«

Dinah konnte es nicht glauben.

»Das heißt, Augenblick mal, dass das jetzt Ihr erster Auftritt seitdem ist? Hier in Scarborough?«

Bucky wandte sich Dinah zu und sah sie an. Aus seinem Blick sprachen Abwehr und Abbitte. Sie wartete darauf, dass er zu lächeln oder zu lachen begann und sagte, das sei natürlich ein Scherz. Aber das tat er nicht. Es war keiner.

»Außer in der Kirche, ja. Da haben sie mich auch entdeckt. Haben mich in der Woche drauf ins Studio geholt, und wir haben Wheels und ein paar andere Songs aufgenommen. Abgesehen davon hat nie wieder jemand was von mir gewollt.«

*