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Kurzgeschichten, inspiriert von kleinen und großen Ereignissen, von bekannten und unbekannten Autoren, von persönlichen und kollektiven Erfahrungen. In Anlehnung an "Profumo di donna" von Dino Rissi gibt es einen Strauß von Gerüchen und Gerüchten, manche riechen gut, manche schlecht, manche erinnerungswürdig und manche vergesslich, aber alle originell.
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Seitenzahl: 68
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Strassenbahndüfte
Ishmael Kardryni
November 2024
Ishmael Kardryni
…
Copyright © 2025 Ishmael Kardryni. All rights reserved.
This is a work of fiction inspired by true events. Some characters, incidents, and dialogue are products of the author’s imagination or are used fictitiously, and any resemblance to actual persons or events is partly coincidental. While this story is based on real events, certain events, characters, and timelines have been changed for dramatic effect.
Dies ist ein fiktives Werk, das auf wahren Begebenheiten beruht. Einige Charaktere und Ereignisse sind das Produkt der Phantasie des Autors und Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen sind teilweise zufällig. Obwohl die Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht, wurden einige Ereignisse und Personen verändert, um einen dramatischen Effekt zu erzielen.
Keuchend sah ich mich nach einem freien Platz in der Straßenbahn um. Eine Frau stieg aus, ich nahm ihren Platz in einer Viererreihe. Er war noch heiß. Sehr heiß, als hätte sie Eier gelegt und sie aufgewärmt. Es konnte auch die Heizung neben dem Sitz gewesen sein. Es roch komisch.
Zwei bärtige Männer saßen gegenüber, eine Frau daneben. Ich schnüffelte herum. Es roch vielleicht nach Fleisch? Niemand aß aber etwas. Keine Döner-oder Currywurst-Flecken auf der Kleidung oder am Mund der Männer. Die beiden stiegen aus. Doch der Salamigeruch hing noch in der Luft.
Eine Frau, versteckt in einer dicken Jacke, wartete eine Weile, bis die Sitze abgekühlt waren, hob ihre Jacke wie ein Auerhahn und setzte sich. Es roch wieder. Nach Parfüm. Wie das meiner Freundin, wenn sie ihre Tage hat. Seltsam, alle schienen das gleiche Parfum zu tragen. Die Frau und der Familienduft stiegen nach zwei Haltestellen aus. Das war nicht sie. Es roch immer noch nach Zwiebeln, widerlich, gekocht.
Ein Mann im Anzug saß mir gegenüber. Er roch nach Flughafen und gestikulierte begeistert am Telefon, wie Markus Grass, der Schutzritter des Literaturkanons bei seinen YouTube-Aufklärungskreuzzügen. Er stieg nach einer Haltestelle aus. Der Geruch von gebratenem Okra blieb mir noch in der Nase.
Zwei junge Frauen nahmen die Sitze ein. Sie flüsterten und kicherten. Ihr morgendlicher Mundgeruch erreichte meine Nase. Wilde, orale Nächte, dachte ich, bis ein Mottenkugelgeruch mir fast die Nase sprengte. Ich drehte mich nach links, um den Täter dieses horrenden Geruchs ausfindig zu machen, konnte ihn aber nicht entdecken. Der Geruch von Fleisch, Zwiebeln und Okra vermischte sich mit dem von Mottenkugeln. Ich verlor die Geruchsspuren.
Drei Frauen näherten sich meinem Sitz. Vielleicht war es der Mann, der sich hinter der duftenden Gruppe versteckte. Er war aber zu weit weg.
Eine hartnäckige Fliege leistete dann die übrige Detektivarbeit. Sie kreiste schnell um die Gruppe und landete auf der Nase des Mannes, der den Mottenkugelgeruch ein wenig mit dem Geruch seiner tabakgeräucherten Lederjacke ausglich. Er zog eine Zigarre aus seinem stark behaarten Ohr und steckte sie in seinen fast zahnlosen Mund. Die Fliege fühlte sich vom Geruch von Knoblauch und Köfte mit Tzatziki angezogen und verharrte eine Weile dort, bis er sie mit seinem stumpfen Finger verscheuchte.
Gleichgültig gegenüber einem Sensibilitätsleser, der ungestört von dem Geruch weiter in seinem Kindle las, belästigte die Fliege dann einen dickbäuchigen Mann mit hängenden Wangen. Sie flog über den drahthaarigen Kopf eines Mannes, vielleicht aus Nigeria, dessen Hose tief heruntergezogen war, als käme er gerade aus dem Gebüsch, wo er seine Notdurft verrichtet hatte.
Die Fliege summte dann in Richtung einer sehr alten Dame, die sich fest am Griff meines Sitzes hielt. Sie änderte die Richtung, kam auf mich zu und rieb sich heftig die Füßchen. Ich fuchtelte mit den Händen und flatterte mit meiner Jacke. Ach, der seltsame Geruch kam aus meinen Achselhöhlen. Ich bot der alten Dame meinen Sitz an und stieg aus.
Ich atmete tief ein. Die frische Luft füllte meine Lungen, begleitet von einem beißenden Pissgeruch. Die Pflastersteine an der Fassade des Mehrfamilienhauses waren von Hundeurin verschimmelt.
„Sieht aus wie die Landkarte von Deutschland“, bemerkte ich zu meinem Nachbarn.
Er drehte seine qualmende Zigarette in Richtung der Hundepisse und erwiderte: „Nee, eher wie die Landkarte von Albanien.“
„Ach, waren Sie schon mal dort?“, fragte ich neugierig.
„Nein, aber ich habe gehört, dass zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus Haschischplantagen stammen.“
Eine hübsche Frau kam mit einem Hund vorbei. Er urinierte. Die Frau, so schön, als sei sie einem Goethe-Roman entsprungen, bückte sich, lehnte sich mit ihrem schönen Hintern zurück und hob den dampfenden Hundehaufen auf. Bevor sie weiterging, unserer Beobachtung bewusst, steckte sie den Haufen in eine Plastiktüte und lächelte – dem Hund oder uns zu.
„Wahrscheinlich eine Sozialpädagogin. Bestimmt keine Künstlerin. Die sehen heute eher männlich aus, wie Bodybuilder“, sagte ich.
„Keine Ahnung“, antwortete er.
Ein großer, hässlicher Hund kam auf uns zu. Er schnüffelte an den Urinflecken und warf seinem Herrchen einen anerkennenden Blick zu. Der Besitzer nickte ebenfalls. Der Hund hob sein Bein und pinkelte.
„Sieht aus wie die Karte von Thüringen nach dem Wahlsieg der AfD“, bemerkte ich.
Mein Nachbar zog kräftig an seiner Zigarette und verabschiedete sich: „Ich gehe jetzt rein. Habe ein Online-Meeting.“
Sie stellte die Teekanne auf den Tisch und wollte sich rausschleichen.
„Bleib doch eine Weile hier.“ Ich griff sie bei der Hand. „Ich habe mir gerade eine neue Geschichte ausgedacht: Die fröhliche Muse.“
„Und worum soll es gehen?“ fragte sie und setzte sich neben mich.
„Um einen Schriftsteller und seine Muse.“ Ich fasste sie am linken Schenkel, bis sie meine Hand vor Schmerz wegschob.
„Oh. Total klischeehaft“, sagte sie und warf einen Blick auf meinen Bildschirm, wo ihre Antwort geschrieben stand: „… so was von Klischee.“
„Nein.“ Ich wühlte in ihrem schwarzen, dichten Haar. „Es geht um einen engagierten Künstler und seine Muse. Inspiriert stellt er sich wagemutig gegen den Faschismus.“
„Oh. Das klingt wie ein Befreiungsstück aus der 68er-Revolution“, spottete sie.
„Hm … vielleicht.“ Ich nahm ihre Hand und küsste sie bis zum Ellenbogen. „Erich Fromm hat mal was Ähnliches geschrieben. Über masochistische Strebungen, über Gefühle von Minderwertigkeit, Ohnmacht und … wie hieß das nochmal?“ Ich schlug Fromms Die Furcht vor der Freiheit nach. „… individuelle Bedeutungslosigkeit.“
„Klingt langweilig. Spekulative psychoanalytische Krempel über autoritäre Familien und Gesellschaften. Mit so was hat uns der Literaturprofessor eingeschläfert.“
Sie stand auf und wollte gehen. Ich streichelte ihre pampelmusige rechte Arschbacke. „Warte! Die Neigung, so Fromm, sich selbst herabzusetzen und sich äußeren Mächten zu unterwerfen, sei mit Sadismus verbunden. Das kommt aus unserer Neigung, abhängig und ausgebeutet zu sein, und … aus der Freude am Leiden. Ich spüre, man könnte das irgendwie in eine Geschichte gegen den drohenden Faschismus einbauen.“
„Die Rechnung. Die von der Kreditkarte. Du wolltest dich darum kümmern. Wir haben wieder eine Mahnung.“
Ich liebkoste ihren Bauch und zog ihren Körper zu mir. Sie rührte sich nicht. „Was kann man der destruktiven Macht des schleichenden Faschismus entgegensetzen, wenn nicht unsere altbackene Kreativität?“
„Auch in der Uni hast du mich mit solchen Sprüchen nicht beeindruckt“, sagte sie trocken.
„Ich weiß. Dieser Philosophieprofessor war einfach wirksamer. Wir aus der Politikwissenschaft haben nur die Übriggebliebenen um uns geschleift.“ Ich hielt ihre schlanke Hand an meinen Mund.
„Klingt ja fast nach Saul Bellow“, grinste sie.
„Nee, dafür bin ich zu faul. Aber jetzt hab ich …“ Ich schob meine Hand tief in ihre Unterhose.
„Und der Elternabend? Gehen wir da zusammen hin?“ schob sie mich weg.
„Die Geschichte ist fertig. Lies mal!“ drückte ich ihr die ausgedruckten Seiten in die Hand.
„Die mürriche Muse!? Ach, fick dich doch!“, fauchte sie und knallte die Tür hinter sich zu.
Ich schrieb damals meine Bachelorarbeit. Auf Seite 120 wurde mir klar, dass ich das Fach nicht revolutionieren würde. Niemand, mich eingeschlossen, verstand, was ich meinte, als ich sie in einem Kolloquium vortrug.
Ich redete mir ein, dass ich jetzt, da meine langweilige Dissertation abgeschlossen war, die Gelegenheit hatte, etwas zu sozialisieren. Das Kolloquium war auch eine Gelegenheit, Ludmilla kennenzulernen. Eine hübsche Postdoktorandin Mitte dreißig, die als wissenschaftliche Assistentin die Geister vergangener und gegenwärtiger Forscher etwas korpulent verkörperte. Sie verkehrte am Lehrstuhl von Prof. Dr. Anita S., Anthropologie des Vorderen Orients, der wie ein Salon der edlen Damen der Aufklärung geführt wurde, in dem auch außeruniversitäre Beziehungen und Karrieren gepflegt wurden.
Ludmilla saß etwas zurückgezogen, ihr runder Hintern lehnte an einem Holzstuhl. Etwas schüchtern musste ich mich aufraffen, um sie anzusprechen.