Strega - Johanne Lykke Holm - E-Book

Strega E-Book

Johanne Lykke Holm

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Beschreibung

In anregenden und ungehemmten Bildern erschafft Johanne Lykke Holm eine Welt voller Übernatürlichem, voller Ge­heimnisse und der potenziellen Energie von Mädchen an der Schwelle zur Weiblichkeit. Strega lässt sich als Allegorie auf ge­sellschaftliche Riten verstehen, auf die Erwartungen an Frauen und die Gewalt, die wir allzu leicht zulassen – und entfaltet wie ein Zauber noch lange nach dem Lesen seine Wirkung. Strega ist eine einfallsreiche und atmosphärische moderne Gothic­ Novel über neun junge Frauen, die in einem abgelegenen Alpenhotel arbeiten, und darüber, was passiert, wenn eine von ihnen verschwindet. Mit Toilettenartikeln, Haarbändern und Notizbüchern in der Tasche verlässt die neunzehnjährige Rafa auf Anweisung ihrer Mutter ihr Elternhaus und die Küstenstadt, in der sie auf­ gewachsen ist. Aus dem Zugfenster sieht sie die beleuchteten Berge und die perfekten Bäume – und das Olympic Hotel, das über dem kleinen Dorf Strega auf sie wartet. Dort bekommt sie die steife schwarze Uniform der Saisonarbeiterin, wie acht andere Mädchen auch, mit denen sie in einem Schlafsaal über­nachtet. Unablässig schuften die Mädchen unter den Blicken ihrer strengen Chefinnen, um alles bereit zu machen für Gäste – die nicht kommen. In ihren freien Momenten flüchten die neun sich in den Kräutergarten und suchen Trost beieinander. Schließlich füllt sich das Hotel doch, für eine wilde, rauschende Party – und dann verschwindet eines der Mädchen. Was folgt, sind tiefe Enthüllungen über die Mythen, die wir jungen Frau­en beibringen, über das, was wir ihnen von der Welt zumuten, und darüber, ob ein sanfteres, schöneres Leben möglich ist.

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Seitenzahl: 218

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Johanne Lykke Holm

Strega

Mit einem Nachwort von Dorothee Elmiger

Aus dem Schwedischen von Hanna Granz

Für Siri A.W.

Ich betrachtete mich selbst im Spiegel. Ich erkannte das Bild einer jungen, aber gefallenen Frau. Ich beugte mich vor und drückte den Mund auf den Spiegel. Der Wasserdampf beschlug das Glas wie Kondensat in einem Zimmer, in dem jemand tief geschlafen hat, wie ein Toter. Hinter mir sah ich das Zimmer widergespiegelt. Im Bett lagen Haarnadeln, Schlaftabletten und ein Baumwollschlüpfer. Auf dem Laken waren Flecken von Milch und Blut. Ich dachte: Wenn jemand dieses Bett fotografierte, würde jeder anständige Mensch glauben, es handle sich um die Reproduktion eines Mädchenmords oder einer besonders brutalen Entführung. Ich wusste, dass sich das Leben einer Frau jederzeit in einen Tatort verwandeln kann. Ich hatte noch nicht begriffen, dass ich bereits in diesem Tatort lebte, dass der Tatort nicht das Bett war, sondern der Körper, dass das Verbrechen bereits stattgefunden hatte.

Das Schlafzimmerfenster stand offen. Es roch nach Wasser, Brot und Zitrusfrüchten. Ich ging hin und lehnte mich hinaus. Obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte, dampften die Straßen vom Spätsommerregen, es war heiß. Auf der Kreuzung unter mir herrschte schon jetzt dichter Verkehr. Hinter der Stadt zeichneten sich die Berge scharf gegen den dröhnenden Himmel ab. Am Horizont lag das Meer, groß und glitzernd. Die Frachtschiffe hoben und senkten sich mit den Wellen. Die Geräusche übertrugen sich weithin und mit Leichtigkeit, metallisch und dumpf. Ich hörte einen Hammer, der auf Beton schlug. Ich hörte Flugzeuge am Himmel. Unten auf dem Marktplatz rollte ein Ball über die Steinplatten. Ich sah einen Jungen in Schuluniform ein Blatt Papier verbrennen. Ich sah ein Mädchen seine Puppe hinter sich herziehen. Über mir hing die Sonne am Himmel und leuchtete. Ich streckte die Hand zur Platane aus, die vor meinem Fenster stand. Ich bekam einen Trieb zu fassen und steckte ihn mir in den Mund. Er schmeckte süß und herb, wie sonnenwarmes Harz.

Ich ging nackt durch die Wohnung. Im Wohnzimmer war alles in Beige und Gelb gehalten. Dicker Staub stieg vom Teppichboden auf. Im Badezimmer tropfte der Wasserhahn im Dunkeln. Ich schaltete das Licht ein, und die Leuchtröhre über mir knisterte. Ich drehte die Hähne auf und ließ mir ein Bad ein, goss Babyöl und Badesalz hinein, das ich mir von meinem eigenen Geld gekauft hatte. Ich ließ mich ins Wasser gleiten und legte den Kopf in den Nacken. Ich griff nach der Hotelbroschüre, die ich in der Lücke zwischen der Badewanne und der braun gekachelten Wand aufbewahrte. Jede Doppelseite zeigte eine Szene aus dem Hotelleben. Es waren kontrastreiche Fotos in kräftigen Edelsteinfarben. Mädchen in perlweißen Schürzen, Mädchen, die rubinrote Äpfel aßen, direkt vom Baum, Mädchen, die bei einem Ausflug an einen jadegrünen See korallenrosa Fleisch- und Wurstwaren deckten. Ich hatte mir alle Doppelseiten mehrfach angesehen. Ich wusste, dass es Tennisplätze gab, einen Park, einen Ballsaal. Berge, die ein Schwimmbecken umgaben, schier unendliche Erholungsmöglichkeiten. Ich ließ die Broschüre durchs Badewasser auf meinen Bauch sinken, wie ein Leichentuch. Ich nahm Shampoo. Wusch mir gründlich das Haar, bis es knisterte. Ich schrubbte Wangen und Knie mit einer Bürste aus Pferdehaar. Ich rieb eine kleine hellblaue Seife zwischen meinen Händen, und sie schäumte.

Ich stieg aus der Wanne und ließ das Wasser an mir herabrinnen, schlang mir ein Frotteehandtuch ums Haar und ging durch die Wohnung, in der die Luft stand und vibrierte. Ich holte meine Reisekleidung heraus. Ein Paar Jeans und ein Hemd, das ich gestohlen hatte. Turnschuhe aus Baumwolle. Ich legte meinen Schmuck an und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, ließ es schwer den Rücken hinabfallen. Ich sprühte Parfüm auf Halsgrube und Handgelenke. Ich trug Lippenstift auf. Ich setzte mich an den Schreibtisch und schrieb einen Abschiedsgruß an meine Eltern. Es fiel mir leicht, Worte zu finden, denn ich hatte sie mir den ganzen Sommer lang zurechtgelegt. Ich drückte meine Lippen aufs Papier.

Auf dem Fensterbrett vor mir lagen die Bücher symmetrisch gestapelt, daneben Weihrauch und Streichhölzer. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand ein Fenster offen. Ich sah ein Kind ein anderes Kind ankleiden. Ich sah eine Frau sich über ein Bett beugen. Ich sah einen Mann seine Hand ausstrecken und zugreifen. Alles war noch immer wie immer. Ich zog mir den Aschenbecher heran und zündete mir eine Zigarette an. Öffnete das Fenster und lehnte mich hinaus. Der Teer brannte mir in der Lunge und drang bis in die Fingerspitzen. Wenn es einem nicht gelingt, dem Körper das Gute zu geben, muss man ihm das Böse geben. Es begann zu regnen, die Hitze nahm zu. Einen Moment dachte ich, meine Hände würden nach Eukalyptus riechen. Ich drückte die Zigarette auf dem Fensterbrett aus, ließ den Regen eine Weile über meine Hände laufen.

Ich faltete den Zettel zusammen und ging zum dritten Mal durchs Wohnzimmer. Es gibt mir immer zu denken, wenn ich etwas zum dritten Mal tue. Ich würde allen Menschen empfehlen, in so einer Situation stutzig zu werden. Es ist wichtig, gegenüber solchen Wiederholungen misstrauisch zu sein. Ich befestigte den Zettel an der Pinnwand im Flur und drehte mich noch einmal zur Wohnung um. Nickte dem Hochzeitsfoto meiner Eltern zu, das neben dem Flurspiegel hing, bevor ich den Koffer aufhob, der neben der Tür bereitstand. Ich ging die Treppe hinunter, und die Treppe hallte. In der Einfahrt sog ich den Geruch nach Milchkind ein, Zigarettenrauch, gekochten Kartoffeln. Ich hatte ein Stück Brot dabei und ein pyramidenförmiges Päckchen Orangensaft, das ich über Nacht ins Eisfach gelegt hatte. Ich hatte meine Hygieneartikel und Haarbänder und Schreibhefte dabei. Ich hatte einen Wintermantel dabei, den ich geerbt hatte. Ich hatte einen silbern eingefassten Mondstein dabei, den ich als heilig betrachtete. Als ich auf die Straße trat, drehte ich mich um und hob den Blick. Für einen Moment kam es mir so vor, als ob mir meine Mutter vom Küchenfenster aus zuwinkte, wie in einem Melodram. Welche Mutter winkt ihrem Kind vom Fenster aus zu. Ich biss mir auf die Zunge, bis sie blutete. Wer ist man, wenn man sein Elternhaus verlässt. Ein einsamer junger Mensch auf dem Weg ins Leben.

Die Straße glänzte und roch nach Regen. Ich nahm alles in mich auf. Speicherte die Bilder ab, wie im Angesicht des Todes. Ich war ein Mordopfer, das die Augen aufreißt, um das Leben in sich aufzusaugen. Da lag die Milchbar, wo ich viele Stunden gearbeitet hatte, wo ich meine Hände Gläser und Tassen hatte stapeln lassen, mir die Lippen mit lauwarmer Milch aus den Kannen befeuchtet hatte. Da lag die Badeanstalt, wo ich meine Bahnen geschwommen war. Der Springbrunnen und das Kaufhaus. Der Obstladen, der in allen Farben leuchtete. Pampelmusen und Weintrauben verschwenderisch aufgehäuft. Wasser in Plastikkanistern. Der Geruch nach getrockneten Feigen und feuchtem Sand, der mich überrollte, als ich mich dem Meer näherte.

Der Bahnhof lag verlassen da. Die Leute reisten später oder gar nicht. Ich hielt meine Fahrkarte in der Hand, und das Papier löste sich beim Kontakt mit der Haut auf. Ich stieg ein. Die Berge vor den Fenstern wurden höher und höher und das Grün blasser. Ich fuhr durch entvölkerte Dörfer. Ich las, ich schrieb Postkarten. Es ging an Obstpflanzungen, Wäldern, Wasserläufen vorbei. Ein Junge kam mit einem Kaffeewagen. Man konnte Schokolade und Kekse kaufen. Ich wollte schon nach den Mintpastillen greifen, überlegte es mir dann aber anders. Das Abteil leerte sich allmählich. An jedem Bahnhof verschwand irgendjemand. Schwarz gekleidete Frauen winkten schwarz gekleideten Kindern. Ein Soldat wedelte mit einem Wimpel. Überall umarmten sich Leute. Schließlich war nur noch ich allein übrig.

Ich legte die Stirn an die Scheibe und öffnete die Augen weit. Alles wirkte plötzlich künstlich da draußen. Die Berge sahen aus, als würden sie mit einem starken Scheinwerfer von unten angestrahlt. Am Fuße der Berge standen Bäume in perfekten Reihen, wie aus Wachs gegossen und mit Glitzer bestäubt. An den Alpenröschen hingen Tautropfen aus Silikon. Ein tosender Wasserfall, der wie in der Zeit erstarrt wirkte. Ich schaute die Berge an, und die Berge schauten zurück. Zweifellos ein böser Ort, der sich verkleidet hatte. Über der Tür begann ein Neonschild zu blinken. TERMINUS in fluoreszierendem Grün. Ich zog den Taschenspiegel aus der Innentasche meiner Sommerjacke. Mein Gesicht war leer. Der Mund leuchtete immer noch rot, dennoch zog ich ihn mit dem Lippenstift nach. Ich steckte den Spiegel wieder ein und suchte meine Sachen zusammen.

Ich stand auf und stieg aus. Auch hier lag der Bahnhof verlassen da. In der Wartehalle hing eine Uhr. Ich bemerkte, dass sie um eine Stunde falsch ging. Die Uhr schlug, und ein mechanischer Vogel schoss aus einem Türchen, gesteuert von einer unsichtbaren Hand. Unter der Uhr war eine Pfütze, die größer wurde. Das Dorf hieß Strega und es lag in den Bergen. Später lernte ich, das Strega ein Gruselkabinett war, in dem alles zu einer unheimlichen Form erstarrt war. Ich lernte, dass Strega tiefe Wälder in rotem Licht war. Strega war Mädchen, die einander die Haare auf bestimmte Weise flochten. Mädchen, die große Steine durch die Berge schleppten. Mädchen, die den Nacken beugten und so stehen blieben. Strega war ein See und das Grün, das ihn umgab. Strega war ein Nachtlicht, das das Hässlichste auf der Welt beleuchtete. Strega war eine ermordete Frau und ihre Besitztümer. Ihre Reisetasche, ihr Haar, ihre Schachteln Lakritz und Schokolade.

Ich ging durch die Straßen. Da gab es keine Menschen. Da gab es eine Poststelle und eine Bar, aber kein Gemüse oder Brot, keine lebendigen Dinge. Auf einer Steinbrüstung stand eine Schüssel aus Plastik. Dampf stieg davon auf, wie der Dampf in einem Labor. Ich ging weiter, ich sah überall Augen. Ein hässliches Kind saß auf einer Treppe und schnitt Grimassen. Eine Gardine wallte wie Ektoplasma aus einem geöffneten Fenster. Ich ging durch Strega und kam ans Wasser, das einen Geruch verströmte, den ich kannte. Vermodert und irgendwie kühl, wie die Nachtluft in einer Kirche. Auf dem Kai standen Semaphoren und bewegten sich im Wind. Aus einer Bergschlucht kam eine Fähre gefahren. Es war ein Gefährt aus blank poliertem Stahl, auf dem in handgeschriebenen gelben Buchstaben der Name Skipper stand.

Ich hob mein Gesicht zum Himmel. Die Luft schmeckte nach Eisen, und ich leckte mir die Lippen. Alles erschien rosa, bis auf den See, der schwarz und schön dalag. Die Berge schimmerten und schimmerten, und der Himmel war hoch. Ich setzte mich auf den Boden und zündete mir eine Zigarette an. Etwas weiter weg stand eine junge Mutter mit ihrem Kind. Der Junge hob die Hand ans Gesicht, wie um ein unsichtbares Insekt zu vertreiben. Die Mutter griff nach seinem Handgelenk. Ich zog das Saftpäckchen heraus und trank alles auf einmal. Ich aß von dem faden Brot. Ich versuchte den Horizont zu finden, doch er war hinter den Bergen verborgen. Ich war am Meer aufgewachsen, wo alles Weite ist. Ich nahm mein Schreibheft heraus und schrieb meine Heimatadresse auf, sah meinen Namen auf der Seite seltsam leuchten. Ich hatte mir die Zukunft immer anders vorgestellt. Ich wollte Arbeit in der Parfümabteilung des Kaufhauses finden. Ich wollte sparen und das Geld auf der Bank anlegen, unter meinem eigenen Namen. Ich wollte in eine Wohnung ziehen, in der andere Frauen lebten, freie Seelen mit Jobs und einem Liebesleben. Aber ich tat, wie mir geheißen wurde. Es gefiel mir, eine gehorsame Tochter zu sein. Es fühlte sich an, wie an einer hübschen Leine aus Lackleder geführt zu werden.

Ich ließ das Schreibheft auf meinen Schoß sinken. Der Geruch nach Wasser betäubte mich. Ich schloss die Augen. Für einen Moment hörte ich die Wellen ganz deutlich, als wären sie in meinen Kopf gedrungen. Auf der Innenseite meiner Lider tauchte etwas auf, die Sequenz eines Films, den ich gesehen hatte. Da war ein Taxi, das durch einen Sturm zu einem roten Gebäude fuhr. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Regen. In einer großen Halle hingen gemusterte Stoffe von der Decke. Ein Mädchen ging mit einem Wasserglas umher. Es hatte ein völlig anonymes Gesicht. Sein Haar war schwarz und sah aus, als hätte man es in Weihwasser getaucht. Ich sprach es an, doch es wandte sich ab.

Als ich die Augen wieder öffnete, standen da ein paar Mädchen in meinem Alter und betrachteten mich. Ich blinzelte und blinzelte. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke und tauchte wieder auf. Um mich herum schienen sich die Berge plötzlich wie Mauern zu erheben. Ich schaute auf meine Hände, die zitterten. Mit einer raschen Bewegung steckte ich eine Hand in die Tasche und bekam den Mondstein zu fassen. Ich sammelte meine Sachen zusammen und stand auf. Ich nickte den anderen zu. Sie nickten zurück. Wir gingen zur Seilbahn.

Wir sausten über das Tal. Der Motor hämmerte rhythmisch, und die Drahtseile knirschten. Um uns herum gab es Felsschluchten, Insekten, Disteln. Ich schaute hinunter, wo Frauen umherliefen und arbeiteten. Sie trugen Baumwollhandschuhe und sammelten etwas in große Körbe. Wintergrüne Blätter mit kräftigen Stängeln. Herbstnesseln vielleicht. Malven. Ich erblickte ein Stück Granit, das unter einer der Holzbänke lag. Um mich herum redeten die anderen steif miteinander. Sie gaben sich die Hand, warfen ihr langes Haar zurück und lachten. Neben mir saß ein Mädchen, dass mir bekannt vorkam, weil ihr Gesicht eins dieser Gesichter war, die vor allem eine Projektionsfläche für die Vorstellungen anderer Menschen sind.

Sie nannte ihren Namen: Cassie.

Ich nickte.

Ich nannte meinen Namen: Rafaela.

Die Kabine schaukelte, und ich schnappte nach Luft. Wir waren da. Eines der Mädchen zog die Tür auf, und wir stiegen aus. Wir sahen uns um. An einem Baumstamm hing ein glänzendes Metallschild mit dem Namen des Hotels. Wir folgten der einzigen Straße, die zu sehen war. Es war eine eher breite Allee, zu deren beiden Seiten der Wald sanft wogte. Die Straße schlängelte sich durch die Landschaft und verschwand dann um eine Biegung. Der Staub wirbelte um unsere Schuhe. Niemand sagte etwas. Das Einzige, was zu hören war, war das leise und rhythmische Knirschen des Kieses.

Wie aus dem Nichts tauchte das Hotel hinter einer uralten Eiche auf. Ich bemerkte sofort, dass mit den Proportionen etwas nicht stimmte. Vor dem Hintergrund, den die Natur bildete, sah das Haus wie eine Miniatur aus, wie ein Puppenhaus, das von Generation zu Generation weitervererbt worden war. Die Fassade war irgendwann einmal in einem kräftigen Rotton gestrichen worden, der verblasst und jetzt eher rosa war. Sobald wir durch das Tor gegangen waren, schloss es sich hinter uns. Das Gebäude lag mitten in einem gepflegten Park. Da gab es beschnittene Sträucher in regelmäßigen Reihen. Da gab es weiß gekalkte Skulpturen. Wir gingen hintereinander mit den Koffern in den Händen. Die Luft um uns flimmerte. Wir kamen an einem Springbrunnen vorbei und an einem dampfenden Gebüsch. In der Luft lag ein Geruch nach Staub und Wasser und verbranntem Haar. Alle Fenster standen offen. Aus dem Inneren des Hauses drang Musik. Helle Töne, die gegen die Felsen prallten. Es war ein klassisches Stück, das von einem Orchester sehr unglücklicher Menschen gespielt zu werden schien.

Ich wusste nicht, warum der Ort mir Angst machte. Es war ein schöner Tag, und wo ich ging, war alles schön. Ich blieb einen Augenblick stehen, versuchte meine Lunge mit der dünnen Luft zu füllen. Vom Springbrunnen her kam ein leises Glucksen. Ich sah mich um. Es gab eine Wäscheleine und ein Rosenbeet. Es gab einen Kräutergarten. Es gab eine breite Steintreppe, die zum Eingang hinaufführte. Die Tür war dunkelbraun und sah aus, als wäre sie aus einem Stück, wie aus einem unnatürlich großen Baum geschnitten. Jemand beugte sich vor und klopfte. Ich schloss kurz die Augen, wie um mich zu verstecken. Als ich sie wieder öffnete, blickte ich direkt in ein ernstes Gesicht. Vor mir stand eine Frau mit einem Staubwedel in der Hand. Ich wollte lachen, ließ es aber sein. Ihr seid hier, sagte sie. Sie war in ein schwarzes Kostüm gekleidet, über dem Herzen war mit silbernem Faden der Name Rex aufgestickt. Sie musterte uns eingehend mit halb geschlossenen Augen, bevor sie beiseitetrat und uns einließ.

Wir stiegen ins Dunkle. Die Musik war hier lauter. Der Boden vibrierte unter den Füßen. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, die Stirn an einen Türrahmen lehnen und die Augen schließen. Der Raum sah aus wie ein Bühnenbild aus einem blutigen antiken Drama, in dem sich ernste Frauen in gerafften Kleidern und mit Messern in der Hand über die Bühne bewegen. Von irgendwo hinter den Kulissen rief ein Sprechchor seinen Text über Schiffbrüche und Rache und ermordete Töchter. Ich hob den Blick. Durch die Dunkelheit schimmerte ein Deckengemälde in leuchtenden Farben. Ein stürmischer Himmel mit dahinfliegenden Wolken, Golddetails und wilden Pferden. Alle Wände sahen aus, als wären sie rot. Die schweren Vorhänge waren zugezogen und ließen kein Licht ein. Die einzigen Lichtquellen in der Lobby waren ein paar Silberkandelaber, die im Raum verteilt auf Marmorsockeln standen. Es hätte eine dieser Nächte sein können, in denen der Mond sich verdunkelt. Ich ballte die Hände. Ich sah mich um.

Am Empfangstresen saß eine Frau hinter einem Stapel Papier. Sie trug ein steifes Kostüm mit maßgeschneiderter Jacke. Sie sah aus wie eine Sekretärin. Oder sie sah aus wie eine Schauspielerin in der Rolle einer Sekretärin. Wir wurden zum Tresen geführt und mussten ihr unsere vollständigen Namen nennen, sodass sie uns auf der schreibmaschinegeschriebenen Liste abhaken konnte. Über ihrem Herzen war eine Emailbrosche befestigt, auf der kursiv der Name Toni stand. Sie reichte uns je einen Zettel mit einer Nummer. Der Hotelstempel leuchtete lila auf weißem Grund. Ich bekam die Nummer sieben, das kam mir logisch vor. Nachdem sie mir meinen Zettel gereicht hatte, knickste ich versehentlich, wie aus alter Gewohnheit. Sie schüttelte überrascht den Kopf. Sie lächelte, ich errötete.

Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und drehte mich um. Eine Frau in Haushaltsschürze trat auf mich zu. Ihr Blick war ausweichend, aber freundlich. Sie reichte mir einen Korb aus geflochtenem Plastik, gefüllt mit Watte und Shampoo-Flaschen sowie Seifen, die wie Früchte geformt waren. Über ihrem Herzen las ich den Namen Costas auf einem handgeschriebenen Zettel, mit einer Sicherheitsnadel an der Schürze befestigt.

Im selben Augenblick, in dem die Letzte von uns ihren Zettel erhalten hatte, verstummte plötzlich die Musik. Wir versammelten uns in der Mitte des Raums. Rex schob die Vorhänge beiseite, und das Nachmittagslicht fiel in goldenen Kaskaden herein. Unter uns glänzte ein marmorierter Linoleumboden. Der Marmor war also kein Marmor, sondern gehärtetes Öl. Neben mir stand ein Blumenstrauß auf einem Beistelltisch. Nelken, grün, die sich zur Decke reckten. Die Vase war plump und sah aus wie von einem sehr jungen Kind getöpfert. Die Farbe ließ mich an Hustensaft denken, ich spürte den Geschmack im Mund. Ich schaute die anderen Mädchen an. Für einen Moment hatten alle grüne Augen. Das lag wahrscheinlich an dem Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit, an all dem Rot, das uns umgab, an den Kontrasten. Wir starrten einander an, ängstlich, aber auch lächelnd. Die Iris sahen außen, als würden sie durch das Augenweiß auf die Wangen hinabrinnen, um dort zu verdunsten. Ich führte die Hände zum Gesicht. Es fühlte sich feucht an.

Wie auf ein Signal wölbten wir die Hände über unseren Augen. So standen wir eine Weile da und atmeten tief. Etwas schien durch den Raum zu gehen. Es klang, als würde ein Sack über den Boden geschleift. Wir ließen die Hände fallen und sahen uns um. Der Zauber war gebrochen. Ich zählte acht Paar Augen, die rasch blinzelten, wie unter Schock. Ich drehte mich zur Spiegelwand an der Schmalseite der Lobby. Die Augen waren wieder schwarz, wie immer.

Ich löste mich aus der Gruppe und ging alleine die Treppe hinauf, durch dunkelrote und weich ausgeleuchtete Korridore, den ganzen Weg bis zum Schlafsaal der Saisonarbeiterinnen im ersten Stock. Die Betten standen in gleichmäßigen Reihen und sahen aus wie Pritschen. Auf jeder Matratze lag ein schwarzes Uniformkleid mit blanken Knöpfen. Es hätte ebenso gut der Schlafsaal einer Strafanstalt sein können. Nah am Fenster stand ein Bett, auf dessen dunkles Holz in weißer Farbe eine Sieben gemalt war. Das Bett war mit grobem Bettzeug gemacht. Das Emblem des Hotels in Lila aufgestickt, wahrscheinlich von Hand. Ich stellte meinen Koffer ab und ging zum Fenster. Alles war blendend rein. Ich dachte zuerst, die Fenster hätten keine Scheiben. Ich öffnete den Haken und lehnte mich hinaus. Die Luft war warm, aber frisch. Ich konnte nicht genug bekommen von diesem Geschmack nach Bergen und Sonne und Chlorophyll, meine Lunge trank und trank. Unten auf dem Hof hatten sich ein paar der Mädchen versammelt. Ich glaube, sie rauchten im Schutz eines Gebüschs oder redeten über etwas Geheimes, etwas, das Absonderung und Schatten verlangte.

Hinter dem Park erstreckte sich der Wald. Hier gab es keinen Horizont, nur einen Vorhang aus Rinde und Stämmen. Berge, die zum Himmel ragten und zwischen den Wolken verschwanden, die dünn und leicht waren, wie Wolken im Gebirge eben sind. Der Herbst griff sich einen Baum nach dem anderen. Bald würde hier alles rotgelb sein. Ein warmes und verzehrendes Licht würde sich über alles legen. Wir würden in den Wald gehen. Wir würden Beeren sammeln und Marmelade kochen. Wir würden unsere Mäntel zum Lüften in den Park hängen. Ich hob den Blick. Aus den Baumkronen trat ein Bild hervor. Wie durch eine ovale Öffnung sah ich die Umrisse eines Gebäudes. Das Haus war sehr alt, aus groben Steinen in einfacher Bauweise errichtet und von einem kleinen, aber prunkvollen Garten umgeben. Ich sah rote Äpfel, die an den Bäumen hingen. Ich sah Bettwäsche auf einer Wäscheleine trocknen. Ich sah, dass die Hitze sich über die Kräuter gelegt und sie verbrannt hatte. Ich dachte: ein Kloster. Ich nahm meine Sonnenbrille und ging zurück zu den anderen.

Wir versammelten uns im Personalspeiseraum. Sie boten uns Kirschsaft und Mandelkekse an. Wir sperrten die Münder auf und schluckten. Ich schämte mich für meine Schuhe und mein dummes Gesicht. Ich setzte mich mitten in den Raum, neben eine Goldfruchtpalme im Blumentopf. Sie roch trocken und warm. Mein Hemd leuchtete vor der Pariser-blauen Lasur. Ich war schon immer davon überzeugt: Man versteckt sich am besten, indem man sich exponiert, indem man sich selbst enthüllt, wie man eine Statue auf einem kleinstädtischen Marktplatz enthüllen würde. Jemand zieht mit einer entschlossenen Geste ein großes schwarzes Velourstuch zur Seite. Ein Raunen geht durch die Menge, aber niemand schaut auf die Statue, alle schauen auf einen Punkt unmittelbar dahinter, etwas, das in einem Schaufenster funkelt, ein Schmuckstück.

Am anderen Ende des Raums hatten sich ein paar der Mädchen versammelt. Sie lachten und berührten einander am Haar. Eine von ihnen redete mehr als die anderen. Ein intensives Licht strahlte von ihren Händen in den Raum. Ich wunderte mich, dass sie mir nicht schon früher aufgefallen war. Sie trug eine schwarze Samthose und ein hellrotes Seidenhemd. Das Hemd war zerknittert und die Ärmel hochgekrempelt. Ihre Fingernägel waren knallrot, aber sie war ungeschminkt und hatte Schatten unter den Augen, die mit tiefer magnetischer Schwärze glänzten. Ihr Haar war dick, beinahe schwarz und sehr unordentlich. Sie hatte versucht, es mit einer großen Haarspange aus Schildpatt zusammenzubinden. Ich ließ den Blick auf ihren Schlüsselbeinen ruhen. Sie hatte etwas Schmuddeliges und gleichzeitig Kultiviertes, und ich liebte sie vom ersten Augenblick an.

Stunden vergingen. Ich saß neben meiner Pflanze und hörte zu und schaute. Die niedrig stehende Abendsonne fiel zur geöffneten Verandatür herein, wie der Schein einer überdimensionierten Lampe, die man irgendwo im Wald vor dem Tor platziert hatte. Wie Flammen schlug das Licht gegen die Vorhänge, die sich bauschten und bauschten. Ich strich mit der Hand über den Stoff meines Hemds. Von meinen Achselhöhlen stieg ein Geruch nach Schweiß und Gewürzen auf. Wie erniedrigend, dachte ich, in so einem Körper zu leben. Jemand rannte auf dem Korridor vorbei, und ich wandte mein Gesicht zur Tür. Aus dem Augenwinkel sah ich ein Paar Lackschuhe aufblitzen. Niemand kam. Ich wendete mich mit einer Bemerkung an ein Mädchen und es antwortete. Etwas über Eltern. Etwas über Sport. Es war ein kurzes und langweiliges Gespräch. Ich lehnte mich zurück. Eins der Mädchen ging beiseite und stellte sich ans Fenster. Der Abend war sanft und lau. Wie aus dem Nichts stieg ein hartes und schönes Lachen aus dem Hals der Ungeschminkten auf. Ein verwirrtes Schweigen senkte sich über den Raum, bevor die anderen mitlachten, wenn auch zögernd. Ich hörte auch meinen eigenen Mund ein kurzes Lachen ausstoßen, bevor er sich schloss.

Die Tür wurde aufgerissen, und Rex kam herein, mit ihrem Geruch nach Haaröl und Patschuli. Sie blickte uns angewidert an, wie durch eine Kristallkugel, die uns so zeigte, wie wir wirklich waren. Sie zog eine Zigarette hervor und zündete sie an einer Kerze an. Mit dem Rauch ihrer Zigarette schrieb sie anschließend Rex in die Luft, spiegelverkehrt und mit runden Buchstaben. Einen Momentlang hing der Name vor uns in der Luft, dann löste er sich auf und wurde von einem Windzug verschluckt. Sie räusperte sich und begann die Hotelregeln von einem Zettel abzulesen. Ihre Stimme donnerte in einem viel zu gleichmäßigen Rhythmus durch den Raum, als käme sie nicht von einem Menschen, sondern von einer Maschine. Keine Männer im Schlafsaal oder im Personalspeiseraum. Kein Urlaub, solange es sich nicht um einen Todesfall im engsten Familienkreis handelte. Sie sah uns an. Tote Mütter, tote Schwestern, das ist alles. Alles, was im Hotel geschah, musste als vertraulich behandelt werden. Im Olympic legen wir Wert auf Loyalität. Alle Telefonate mussten über die Festangestellten laufen. Wenn ihr zu Hause anrufen müsst, können wir das ermöglichen, aber wir sehen es nicht gern, wenn sich unsere Mädchen dem Heimweh hingeben. Übertretungen führten zu sofortiger Abreise ohne Entlohnung. Ihr seid Saisonarbeiterinnen, so ist das halt. Eventuelle Beschwerden könnt ihr an mich persönlich richten. Sie sah uns an, fragte, ob wir Fragen hätten. Wir schüttelten den Kopf. Hinter mir hörte ich die Ohrringe eines der anderen Mädchen klimpern. Rex zündete sich eine weitere Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und starrte kühl zur Verandatür hinaus. Sie verließ das Zimmer mit einem Nicken, und wir atmeten auf.