Streifzüge durch die Romania -  - E-Book

Streifzüge durch die Romania E-Book

0,0
39,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieser Band nimmt die Leser mit auf eine sprach- und kulturwissenschaftliche Reise durch die Romania − von Portugal, Spanien und Italien über Frankreich und Rumänien − und über ihre Grenzen hinaus bis nach Irland und Kanada. Den Schwerpunkt bilden dabei Untersuchungen aus den Gebieten der Grammatik-, Lexikographie-, Sprachlehr- und Sprachwissenschaftsgeschichte, welche durch literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven ergänzt werden. Die inhaltlich wie sprachlich vielfältigen Beiträge eint die gemeinsame Überzeugung, dass wissenschaftliche Gegenstände nicht losgelöst von Kultur und Gesellschaft betrachtet, sondern aus dem Geist ihrer Zeit heraus interpretiert werden sollten − ein Ansatz, der zugleich die geschichtliche Situiertheit der jeweiligen wissenschaftlichen Theorie und Methodik in den Blickpunkt rückt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 583

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Dudelsack und Schafspelze: Natur und Landeskunde in den Wörterbüchern von Bösche, Wollheim und Tolhausen

1. Einleitung

2. Die Anfänge der portugiesisch-deutschen Lexikographie

3. Die Autoren und ihre Werke: Wollheim da Fonseca, Bösche, Tolhausen

4. Natur und Landeskunde

Literaturangaben

Was ist unbestimmt am indefinido? Antworten aus der Geschichte der spanischen Grammatikographie

1. Das pretérito perfecto simple in der Nueva Gramática de la Lengua Española

2. Benennungen und Beschreibung des pretérito perfecto simple in der Geschichte der spanischen Grammatiken

3. Die Benennung des einfachen Perfekts im 20. Jahrhundert

Literaturangaben

Grammatik und Konfession im frühen 17. Jahrhundert

1. Einleitung

2. Universalismus und volkssprachliche Grammatikschreibung bei Amaro de Roboredo und Wolfgang Ratke

2.1. Biographische Informationen

2.2. Das Grammatikmodell

3. Intertextuelle Bezüge

4. Grammatik, Konfession und Zensur

5. Schluss

Literaturangaben

Reine Theorie – hybride Praxis Purismus in der italienischen Sprachgeschichte

1. Was ist ,rein‘? – Eine Einleitung

2. Rahmen und Modelle

3. Normierung und Purismus

3.1 Die Anfänge der Normierung: Venedig und die corone

3.2 Norm und Purismus: die Accademia della Crusca

3.3 Neue Wege: zum purismo des 19. Jahrhunderts

3.4 Neue Ziele der Normierung: Alessandro Manzoni

3.5 Italienisch in den Mündern der Italiener

4. Ein ganz anderes ,rein‘ – ein Ausblick

Literaturangaben

Sprachwissenschaft und Sprachtheorie: Zu Philipp Wegener (1848-1916)

1. Professionalisierte akademische Sprachwissenschaft und sprachwissenschaftlich forschende ‚Schulmänner‘

2. Der ‚ungezähmte‘ Rest: Sprachwissenschaft und Sprachtheorie im 19. Jahrhundert

3. Ein kleines Fazit

Literaturangaben

Alexandru Philippide, Originea Romînilor I/II, Iaşi, 1923-1927 – ein Monument der rumänischen Sprachgeschichtsschreibung

1. Zur Vita von Alexandru Philippide, geb. 1859 in Bârlad (Rumänien), gest. 1933 in Iaşi / Jassy

2. Ein Rückblick auf Alexandru Philippide und Gustav Weigand, 2009 in Iaşi

3. Der Atlasul Lingvistic Român (ALR I/II) nach 1945 und seine Einbindung in die Politik

4. ‚Was sagt‘ die Originea zur Herkunft der Rumänen und ihrer Sprache?

5. Eine griechisch-lateinische Sprachgrenze auf dem Balkan

6. Zwei für die Erklärung des Sprachwandels wesentliche Begriffe Philippides: die bază de articulaţie und die bază psihologică

7. Die sprachlichen Beziehungen der beiden ‚Balkansprachen‘ Rumänisch – Albanisch nach Philippides Originea II

8. Die Balkanismen der „Linguistique balkanique“

9. Ein letztes Kapitel der Originea

10. Ein Ausblick: Was bleibt von Philippides Originea?

Literaturangaben

Emilia Pardo Bazán und die Professur für neolateinische Literatur an der Madrider Universidad Central

Literaturangaben

Out of Germany: The Exodus of Leonie Feiler Sachs and Her Family

Berlin

Madrid

Paris

New York

References

Os primeiros 150 anos de gramática feminina em Portugal

1. Introdução

2. Francisca de Chantal Álvares e o Breve Compendio da Grammatica Portugueza (1786)

2.1 Francisca de Chantal Álvares: a autora e o seu tempo

2.2 Conteúdo e estrutura do Breve Compendio

2.3 Paratextos

3. Vida e obras linguísticas de Berta Valente de Almeida (1886-1982)

3.1 Berta Valente de Almeida: a autora e o seu tempo

3.2 Conteúdo e estrutura da Gramática prática da língua portuguesa

3.3 Os paratextos

4. Conclusão

Referências bibliográficas

La “Vraie méthode” di Nicolas Adam e le sue grammatiche ‘à l’usage des dames’*

1. Premessa

2. Una ‘Vraie manière’ per le dame (ma non solo)

3. Le grammatiche di Adam

3.1 La grammatica del francese

3.2 La grammatica del latino

3.3. La grammatica dell’italiano

4. Originalità e tradizione del metodo di Adam

Riferimenti bibliografici

Texto, relações discursivas e ensino

1. O relevo da competência metalinguística no ensino da língua materna

2. Texto e relações discursivas

3. Para uma tipologia de conetores discursivos / textuais

3.1 Reformuladores

3.2 Elaborativos

3.3 Estruturadores

3.4 Consequenciais

3.5 Contrastivos

4. Considerações finais

Referências

Lyrische Sprache und Ethik: Theoretisch-methodische Überlegungen am Beispiel von Rimbauds „Les Reparties de Nina“

1. Ethik und Lyrik – Theoretische Aspekte

2. Rimbauds „Les Reparties de Nina“ – Gedichtanalyse

3. Abschließende Überlegungen

Literaturangaben

À la découverte des littératures canadiennes de langue française (Québec, Acadie, Ontario)

Remarques préliminaires

La francophonie littéraire du Canada

Le cheminement de la ‹ littérature québécoise › contemporaine

Entre « américanité » et « francité »

Les Têtes à Papineau et la ‹ mort › du Canada bilingue

L’Âge de la parole – la parole femme

Le postmoderne

La littérature de l’Ontario français

Identité ontarienne et distanciation par rapport au Québec

Immigration et ‹ écritures migrantes ›

Conclusion

Références

“Une Seconde Patrie”: The Irish in France. The Historical and Cultural Dynamics of a Diaspora 1600-1800

1. Irish Intellectuals and the Irish Colleges in France

2. La Brigade Irlandaise: The Irish in the Armies of France

3. Irish Merchant Communities in France

4. The French Revolution and the Weakening of the ‘French Connection’ with Ireland

Illustrations

References

Veröffentlichungen

Schriften

Ausstellungen • Gedenktage • Erinnerungsorte

Kultur – Kommunikation – Kooperation

Impressum

© Laackman Fotostudios Marburg

 

Astrid Lohöfer / Kirsten Süselbeck

Einleitung

„Grammatik im Spannungsfeld von Sprache, Kultur und Gesellschaft“ – so lautet der Untertitel zu Gabriele Beck-Busses Studie zu den Grammatiken für Damen. Tatsächlich könnte man ihr gesamtes Werk als ‚Sprachwissenschaft im Spannungsfeld von Sprache, Kultur und Gesellschaft‘ betiteln. Ihre Forschungen betreffen nicht nur die ganze Bandbreite der romanischen Sprachen und eine beeindruckende Vielfalt an Themen − von der Verbsemantik über die Sprachgeschichte, insbesondere Grammatikgeschichte, die Wissenschaftsgeschichte, bis hin zur Didaktik − sondern sie alle sind außerdem Früchte einer Sprachwissenschaft, die Sprache nicht losgelöst sieht von Kultur und Gesellschaft und die sprachtheoretische Texte aus dem Geist ihrer Zeit heraus interpretiert.

In ihren Anfängen ist Beck-Busse vor allem fasziniert von der Sprachwissenschaft als Versuch, die Sprache aus der Beschreibung einzelsprachlicher Phänomene heraus in Begriffen und Kategorien zu fassen – dies schlägt sich in ihrer Dissertation zur temporalen Struktur von Verben im Französischen nieder (Verb-Satz-Zeit. Zur temporalen Struktur der Verben im Französischen. Erschienen 1987 bei Niemeyer), welche die bisherigen Versuche der semantischen Klassifikation französischer Verben hinterfragt und ergänzt. In dieser und ähnlichen Arbeiten verdeutlicht Beck-Busse, dass die Realität der Sprache von der Porosität der wissenschaftlichen Klassen zeugt, zeigt jedoch gleichzeitig die beeindruckende Systemhaftigkeit von Sprache auf. Bereits hier verweist sie auf den Zusammenhang von Sprache und Welt und bezeugt den Umstand, dass es das Zusammenbringen von sprachlicher Regelmäßigkeit und ‚Kenntnis von Welt‘ ist, was menschliche Kommunikation möglich macht. Aus diesem Denken heraus macht Beck-Busse die Sprachwissenschaft auch für den Fremdsprachenunterricht fruchtbar, insbesondere die Dependenzgrammatik Lucien Tesnières und seine Erkenntnis, dass das Verb die dominierende Rolle im Satz spielt. Dieses Interesse an der Lehre sowie die Bewusstmachung der Verbsyntax im Fremdsprachenunterricht zeigt sich unter anderem in dem von ihr 1993 konzipierten Französisch-Übungsheft (Verbe et objet. Erschienen bei Cornelsen).

Von hier aus bewegt sich die Forschung von Beck-Busse immer weiter auf den Fokus der Analyse von metasprachlichen Diskursen und der Wissenschaft der Sprache selbst zu. Wie wird über Sprache gesprochen, wie wird sie reglementiert, wie wissenschaftlich analysiert, wie gelehrt? Es geht um Sprachpflege, Sprachpolitik, Sprechen über Sprache in Radio und Presse − und um Wissenschaftsgeschichte. In diesem Bereich ist es das Verdienst von Beck-Busse, den oft ignorierten Beitrag von Frauen sichtbar zu machen, die sich auf hohem Niveau und mit großer Intensität, teils trotz erheblicher Schwierigkeiten und Stirnrunzeln darüber, dass sie sich als Frauen überhaupt wissenschaftlich betätigen, mit den romanischen Sprachen beschäftigt und Grundlegendes zu ihrem Studium beigetragen haben − allen voran Elise Richter und Carolina Michaëlis de Vasconcelos.

Der Bezug der Sprachwissenschaft zur Geistes- und Kulturgeschichte wird dann in Beck-Busses Beschäftigung mit den Grammatiken „für Damen“ (Grammaires des Dames – Grammatiche per le Dame: Grammatik im Spannungsfeld von Sprache, Kultur und Gesellschaft. Erschienen 2014 bei Peter Lang) wegweisend. Hier stehen nicht grammatiktheoretische Fragestellungen, sondern vielmehr der Bezug dieser historischen Texte zur Ideengeschichte und zur Gesellschaft im Vordergrund. Die Damengrammatiken werden als Diskurstradition wahrgenommen, welche von gesellschaftlichen Normen beeinflusst ist. Beck-Busse blickt dabei auf die Grammatiken nicht nur mit sprachwissenschaftlichem, sondern auch mit kultur- und literaturwissenschaftlichem Instrumentarium. So kann sie die Grammatiken für Damen als Genre beschreiben und zum Beispiel auch auf die Anleihen der Texte bei Literatur und Dichtung hinweisen. Neben Aufbau, Struktur, Inhalt, Sprachduktus und Terminologie werden nicht nur der Zeitgeist und das damalige Deutungsuniversum, sondern auch publikationsgeschichtliche Aspekte berücksichtigt − Verlage, Auflagen, Druckorte, Format und Umfang, Widmungen. Letztendlich wird klar, dass ein Zusammennehmen all dieser Aspekte notwendig ist, um zu erläutern, wen die „Damen“ in den Titeln der Grammatiken ansprechen sollen, nämlich nicht das weibliche Geschlecht, sondern ein Publikum, das diejenigen Ansprüche besitzt und Erwartungen erfüllt, welche mit dem ‚Dame-Sein‘ verknüpft werden und dem die Werke in ihrer Art der Präsentation gerecht werden wollen. Durch die jeweiligen Bezüge zur Zeitgeschichte und nicht zuletzt die Breite der Studie – es werden italienische und französische Grammatiken aus den deutschsprachigen Ländern, aus Frankreich, Italien und England im Zeitraum von 1728 bis 1850 untersucht – werden auch länder- und zeitspezifische Unterschiede herausgearbeitet.

Beck-Busse hat immer bewiesen, dass es, um Sprachwissenschaft zu betreiben, zum einen eine gewissenhafte und entschlossene Genauigkeit in der Methode braucht, zum anderen aber auch ein stets kritisches und hinterfragendes Bewusstsein für historische Zusammenhänge. Dabei ist die historische Betrachtung von Sprache, Grammatik und Wortschatz selbst ebenso wichtig wie ihre Einbettung in kulturgeschichtliche Zusammenhänge und in die Geschichte der Wissenschaften, die diese beschreibt und aufdeckt.Die vorliegende Festschrift greift zum einen die Fülle der beforschten Sprachen von Beck-Busse auf und nimmt daher Bezug auf die gesamte Romania, vom Westen mit Portugiesisch biszum Osten mit Rumänisch; zum anderen steht, gemäß den Interessen der Gefeierten, der historische Blickwinkel im Mittelpunkt, angewandt auf die gesamte Bandbreite der von ihr in ihren Publikationen berührten Themen. Ebenso wie das Engagement Beck-Busses nicht an den Grenzen der Universität halt macht − man denke an ihre kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit in Form zahlreicher Tagungen, Ausstellungen und Veranstaltungen −, beschränken sich ihre vielfältigen Interessen nicht nur auf das Gebiet der Sprachwissenschaft, wie die Hinzufügung von drei Beiträgen aus dem Bereich der historischen Literatur- und Kulturwissenschaft am Ende des vorliegendenen Bandes verdeutlichen soll.

Den Auftakt zur Festschrift bildet eine lexikographiegeschichtliche Analyse von Ulrike Mühlschlegel, welche sich mit den Vorläufern des Neuen Wörterbuchs der portugiesischen und deutschen Sprache (1887) der von Gabriele Beck-Busse in ihren Aufsätzen bekannt gemachten Romanistin Henriette Michaelis de Vasconcelos befasst: mit Anton Edmund Wollheim da Fonsecas Handwörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache (1844), mit Eduard Theodor Bösches Neuem vollständigen Handwörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache (1858)und – als Vergleichsobjekt – mit dem Neuen spanisch-deutschen und deutsch-spanischen Wörterbuch (1888-1889) von Ludwig Tolhausen. Die Wörterbücher sollten zwar einfach zu handhaben und bei der direkten Kommunikation und dem Erlernen der Sprache behilflich sein, aber sie vermitteln dem Benutzer zugleich auch, wie Mühlschlegel anhand von Beispielen zeigt, einen Einblick in die damalige Volkskultur der Iberischen Halbinsel.

Von der Lexikographie- zur Grammatikgeschichte führt uns der Aufsatz von Gerda Haßler, der sich ebenfalls mit der spanischen Sprache befasst und der Bezeichnung indefinido für das einfache Perfekt auf den Grund geht. Zwar nennt selbst die Real Academia Española die Verbform mittlerweile pretérito perfecto simple, aber die Bezeichnung indefinido hält sich dennoch hartnäckig, auch in deutschen Sprachlehrbüchern. Haßler untersucht zunächst anhand von Beispielsätzen aus der Nueva Gramática de la Lengua Española (2009), was an der Verbform ‚unbestimmt‘ ist. Dabei stellt sich heraus, dass weder die aspektuelle Bestimmtheit die Bezeichnung indefinido rechtfertigen kann, noch die temporalen Eigenschaften dies tun – vor allem, wenn die unterschiedlichen Gebräuche in den diatopischen Varietäten in Betracht gezogen werden. Im zweiten Teil ihres Beitrags zeichnet Haßler die Geschichte der Bezeichnung der Verbform in den spanischen Grammatiken vom 15. bis zum 20. Jahrhundert nach − von Antonio de Nebrija (1492) über Juan Manuel Calleja (1818) und Andrés Bello (1847) bis hin zu den neueren Akademiegrammatiken. Dabei attestiert sie ihnen in der Gesamtschau „eine große Verwirrung um den Terminus indefinido“ − und deckt so manche Irrtümer auf.

Erneut um die Geschichte der Grammatik geht es in dem Beitrag von Barbara Schäfer-Prieß, der das bisher wenig beachtete Thema des Einflusses der Konfession der Autoren auf die frühneuzeitliche Grammatikschreibung beleuchtet. Exemplarisch werden die Autoren Amaro de Roboredo aus dem katholischen Portugal und Wolfgang Ratke aus dem protestantischen Deutschland verglichen. Beide vereint der Glaube an eine universelle Grammatik und die Hervorhebung der Bedeutung der Lehre der Grammatikregeln der Muttersprache für das Erlernen der klassischen Sprachen. Schäfer-Prieß begibt sich auf die Suche nach gemeinsamen Quellen beider Autoren und wirft dabei auch einen Blick auf die Rolle der Zensur im 16. und 17. Jahrhundert, die nicht nur in katholischen, sondern auch in protestantischen Gebieten auf die Grammatikschreibung Einfluss nahm.

Auch Sarah Dessì Schmid interessiert sich für Sprachgeschichte vor dem Hintergrund politischer Gegebenheiten und nimmt uns mit auf eine Reise durch die Geschichte der Standardisierung des Italienischen – vom 16. Jahrhundert mit den Vorstellungen Bembos und Manuzios sowie Salviatis und der Accademia della Crusca über das 19. Jahrhundert mit Cesari und Manzoni bis heute. Sie erläutert die Rolle, die an den unterschiedlichen Stationen der purismo spielte und analysiert dabei im Detail, was das jeweilige Sprachmodell ausmachte. Auf diese Weise deckt sie Widersprüche auf zwischen puristischen (oder antipuristischen) Theorien, angewendeten Begriffen und deklarierten Zielen auf der einen Seite und tatsächlicher, meist „hybrider“ Praxis auf der anderen. Auch werden die praktischen, teils kulturell und politisch bedingten Umstände aufgezeigt, die die Unterwanderung der theoretischen Grundsätze und letztendlich auch den Erfolg der verschiedenen Modelle bedingen. Dessì Schmid macht deutlich, dass der Begriff des ,purismo‘ aus heutiger Sicht auf die Sprachgeschichte keine klare Kategorie darstellt und regt dazu an, seine Bedeutungsnuancen und -grenzen zu hinterfragen.

Die folgenden zwei Beiträge verlagern den Fokus von der Sprach- zur Sprachwissenschaftsgeschichte, indem sie an das Lebenswerk zweier einflussreicher Linguisten erinnern. Der Beitrag von Maria Selig befasst sich mit dem preußischen Sprachwissenschaftler Philipp Wegener, der als einer der Pioniere der pragmatisch ausgerichteten Sprachtheorie angesehen werden muss. In seinem 1885 erschienenen Hauptwerk Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens wendet sich Wegener von der idealistischen Vorstellung eines kollektiven ‚Sprachgeistes‘ ebenso ab wie von der im Naturalismus vorherrschenden Reduktion von Sprache auf Artikulationsvorgänge und definiert als Grundlage jeglicher sprachlicher Strukturbildung das unmittelbare kommunikative Handeln in der Sprechsituation – ein Gedanke, der sich u.a. in Karl Bühlers Organonmodell und dessen Auffassung von Sprachgebilden als Momenten einer Sprechhandlung fortsetzt. Wie Selig zeigt, hat das Werk Wegeners einen wichtigen Stellenwert für die Historiographie der Sprachwissenschaft, indem es nicht nur die junggrammatische Hinwendung zur Psychologie exemplifiziert, sondern auch das sprachtheoretische Denken zwischen den beiden disziplinären Schließungen der Linguistik durch das historisch-vergleichende und das strukturalistische Paradigma.

Im junggrammatischen Kontext situiert sich auch der Beitrag von Rudolf Windisch, eine Würdigung der rumänischen Sprachgeschichte Originea romînilor von Alexandru Philippide (1859-1933), welcher u.a. in Halle bei Eduard Sievers studierte und ab 1893 den Lehrstuhl für romanische Philologie an der Universität Iaşi innehatte. Windisch zeichnet die komplexe Argumentationslinie der Originea nach und thematisiert deren Beeinflussung durch die Theorien der Junggrammatiker ebenso wie ihre Wirkung auf nachfolgende Generationen rumänischer Philologen, darunter Sextil Puşcariu, Gheorge Ivănescu und Eugenio Coseriu. Anhand zahlreicher Belegbeispiele aus der Originea erläutert Windisch Philippides Auffassung von einer „Artikulationsbasis“ und einer „psychischen Basis“ der Spracherzeugung – zwei Konzepten, denen Philippide eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Rumänischen (besonders in Abgrenzung zum Albanischen) zuschrieb. Aufgrund ihrer ebenso umfassenden wie systematischen Darstellung rumänischer Sprachgeschichte, so Windisch, verdient Philippides Originea romînilor den Vergleich mit den großen Monumenten westromanischer Sprachgeschichtsschreibung, wie z.B. den Orígenes del español oder der Histoire de la langue franҫaise des origines à 1900.

Die nächsten beiden Aufsätze verankern sich ebenfalls in der Wissenschaftsgeschichte und greifen einen zentralen Schwerpunkt von Beck-Busses Forschungen auf, nämlich den der ‚Frauen in der Romanistik‘. Arno Gimber berichtet in diesem Zusammenhang von einer bisher kaum beachteten Episode in der Biographie der spanischen Schriftstellerin Emilia Pardo Bazán (1851-1921), nämlich ihrer Berufung auf den Lehrstuhl für zeitgenössische Literatur der romanischen Sprachen an der Madrider Universidad Central. Obwohl Pardo Bazán als Schriftstellerin und Vertreterin des modernen, liberalen Spanien hohes Ansehen genoss, konnte die Professur nur gegen den Willen des Fakultätsrats eingerichtet werden – sicherlich auch dank der Tatsache, dass mehrere männliche Persönlichkeiten von hohem Rang dafür eintraten. Anhand der Debatte um die Berufung Pardo Bazáns macht Gimber deutlich, dass ihre Ernennung vor allem deshalb Unmut erregte, weil sie eine Frau war.

Um den nicht weniger steinigen Lebensweg einer Romanistin geht es in der autobiografischen Studie von Daniel und Benjamin Sachs. Die beiden Söhne von Leonie Feiler Sachs beschreiben die einzelnen Stationen im Leben ihrer Mutter, welches durch die Heirat mit dem jüdischen Hispanisten Georg Sachs eine entscheidende Wende nahm: Kurz vor der Machtergreifung im Januar 1933 folgte Leonie ihrem Mann nach Spanien, wo dieser eine Position am Centro de Studios Históricos der Universität Madrid angenommen hatte, um dem immer enger werdenden Netz aus Vorschriften und Verboten in Deutschland zu entfliehen. Als auch Spanien wenige Jahre später von der faschistischen Welle erfasst wurde, floh das Paar mit den beiden gerade erst geborenen Söhnen über Paris nach New York – ein weiterer, doppelter Verlust für die deutsche Romanistik im Zuge der nationalistischen Radikalisierung Europas.

Mit den Biografien zweier Romanistinnen beschäftigen sich auch Rolf Kemmler, Sónia Coelho und Susana Fontes, deren Aufsatz einen Überblick über die Entwicklung der Frauengrammatik in Portugal von 1780 bis 1930 liefert und dabei an das Thema von Beck-Busses Habilitationsschrift anknüpft, indem er die speziell für ein weibliches Publikum konzipierten Grammatiken von Francisca de Chantal Álvares und Berta Valente de Almeida ins Zentrum der Analyse stellt. Die Autoren beleuchten die Biografien beider Linguistinnen vor dem Hintergrund zeitgenössischer Konzepte von weiblicher Spracherziehung und untersuchen anschließend die Paratexte, mit denen Álvares und Almeida selbst ihre Grammatiken in diesem Kontext situieren.

Ebenfalls um historische (Fremd-)Sprachendidaktik mit besonderem Fokus auf die ‚Damengrammatik‘ geht es in Helena Sansons Beitrag zur „Vraie méthode“ bei Nicolas Adam (1717-1792). Mit seinen Überlegungen folgt der Pariser Autor einer gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Europa aufkommenden und sich bis ins 18. Jahrhundert verbreitenden Tradition, in der die Formel ‚à l’usage des dames‘ als Titelzusatz von Grammatiken diese Lehrwerke als besonders geeignet für eine bestimmte Zielgruppe kennzeichnete – und zwar nicht nur für die der „dames“, für die der uneingeschränkte Zugang zu Bildung unüblich war, sondern viel allgemeiner für die der „jeunes étudiants“, die damit Zugang zum elementaren Erwerb grammatischer Kenntnisse in der eigenen sowie in einer Fremdsprache erhalten sollten. In einer vergleichenden Analyse mit dem tschechischen Linguisten und Pädagogen Jan Amos Komenský (Comenius) (1592-1670) zeigt Sanson, wie Adam dessen Grundidee „du connu à l’inconnu“ in seiner eigenen didaktischen Methodik fortsetzte. So rät er zum besonders erfolgreichen Erlernen des Italienischen und weiterer Fremdsprachen den Weg über den direkten, strukturellen Vergleich mit der Muttersprache Französisch zu gehen. Für die Zeit besonders innovativ ist Adams Empfehlung, dass sich das Studium des klassischen Lateins ebenso für weibliche wie für männliche Sprachlerner eigne – letztlich also ein Ansatz, der mit seinem Anspruch auf Universalität und darauf, „aperto a tutti“ zu sein, ein fast schon modernes Moment aufweist.

Einen synchronen Blick auf die Fremdsprachendidaktik wirft anschließend der Aufsatz von Ana Cristina Macário Lopes, welcher für einen systematischen Aufbau metasprachlicher Kompetenz im Sprachunterricht plädiert. Ihre Überlegungen, die sich auf den muttersprachlichen Portugiesischunterricht beziehen, basieren auf den häufig zu beobachtenden Schwierigkeiten von Lernenden im Bereich diskursiver Konnektoren, welche über die Satzgrenze hinausgehen und / oder morphologisch unmarkiert sind. Um das Verständnis und die Vermittlung solcher Konnektoren zu erleichtern, entwickelt Lopes eine Typologie auf der Grundlage ihrer jeweiligen semantischen Funktionen und empfiehlt, im Unterricht nicht nur sprachpraktische Übungen durchzuführen, sondern auch regelmäßig Raum zu schaffen für die bewusste Reflexion über den diskursiven bzw. textuellen Gebrauch von Sprache.

Den Übergang von der Sprach- zur Literaturwissenschaft bildet der Beitrag von Astrid Lohöfer, welcher den Zusammenhang von lyrischem Sprachgebrauch und ethischer Aussagekraft beleuchtet – ein Zusammenhang, der in der gegenwärtigen Literaturkritik üblicherweise in Frage gestellt wird. Um den Verdacht der ethischen Irrelevanz zu entkräften, dem lyrische Texte – insbesondere der Moderne – immer wieder ausgesetzt sind, entwickelt Lo­-höfer zunächst einen alternativen Ansatz zur ethischen Textanalyse, welcher auf den kunsttheoretischen Positionen Martin Heideggers und Paul Ricœurs basiert und über eine einseitige Fokussierung auf die Ethik (und die inhaltliche Ebene) bzw. die Ästhetik (und die sprachliche Ebene) hinausgeht. In einem zweiten Schritt wendet sie diesen Ansatz exemplarisch auf Arthur Rimbauds Langgedicht „Les Reparties de Nina“ an und zeigt dadurch ethische Dimensionen in einem lyrischen Text der Moderne auf, die von der bisherigen Forschung vernachlässigt wurden.

Von der Moderne in die Postmoderne und von Frankreich nach Kanada führt uns anschließend der Aufsatz von Peter Klaus, welcher einen Überblick über die zeitgenössische literarische Produktion in den französischsprachigen Provinzen Kanadas bietet. Wie Klaus hervorhebt, wird die frankokanadische Literatur nicht nur von bekannten Autoren aus Québec wie Jacques Godbout, Naïm Kattan oder Jacques Poulin geprägt, sondern auch von Schriftstellern aus Akadien (z.B. Antonine Maillet, Viola Léger, Herménégilde Chiasson) sowie aus den französischsprachigen Regionen Ontarios (Daniel Poliquin, Patrice Desbiens, Jean-Marc Dalpé). Die Diversität und Heterogenität, durch die sich die (franko-)kanadische Kultur auszeichnet, schlägt sich nicht zuletzt in den zahlreichen unterschiedlichen Ausprägungen literarischen Schaffens nieder, welche Klaus in seiner Zusammenschau beleuchtet – vom weiblichen Schreiben über die écritures migrantes bis hin zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld zwischen Amerikanität und Frankophonie bzw. mit den postkolonialen Konzepten von ‚Hybridität‘ und ‚Transkulturalität‘.

Transkulturelle Beziehungen bilden auch die Grundlage des letzten Beitrags in diesem Band: Madeleine Kinsellas kulturwissenschaftlicher Darstellung der irischen Emigration nach Frankreich, welche gegen Ende des 16. Jahrhunderts im Zuge der Kolonisierung und Anglikanisierung Irlands durch die Tudor-Dynastie einsetzte. Kinsella beschreibt den nachfolgenden Prozess des kulturellen Austauschs zwischen Irland und Frankreich, der sich auf drei Ebenen vollzog: auf der kulturellen Ebene mit der Gründung schulisch-universitärer Einrichtungen wie dem Collège des Irlandais in Paris; auf der militärischen Ebene mit der Unterstützung der französischen Armee durch die Brigade Irlandaise; sowie auf der wirtschaftlichen Ebene mit der Belebung französischer Atlantikhäfen durch irische Händler. Der Beitrag zeigt, dass die irische Diaspora von ihrer „zweiten Heimat“ Frankreich nicht nur profitiert, sondern diese auch in mehrfacher Hinsicht bereichert hat, und führt somit zum Ausgangspunkt unserer Streifzüge zurück – zur Romania als Ort einer historischen, kulturellen und sprach-(wissenschaft)lichen Vielfalt, welche sich auf eindrucksvolle Weise in der den Band abschließenden Bibliographie von Gabriele Beck-Busse wiederspiegelt.

Wir danken Prof. Dr. Winfried Busse, Dr. Helga Lohöfer, Rahel Perschke sowie Américo Vinga-Martins für die Mithilfe bei der Korrektur und Formatierung dieses Bandes, ebenso wie Valerie Lange vom ibidem-Verlag für ihre Beratung und ihr Entgegenkommen beim Anfertigen der Druckvorlage. Für ihre finanzielle Unterstützung danken wir dem Institut für Romanische Philologie sowie dem Fachbereich Fremdsprachliche Philologien der Philipps-Universität Marburg.

 

Lissabon / Augsburg Astrid Lohöfer / Kirsten Süselbeck

 

Ulrike Mühlschlegel

Dudelsack und Schafspelze: Natur und Landeskunde in den Wörterbüchern von Bösche, Wollheim und Tolhausen

1. Einleitung

So wie ,Duden‘ und ,Brockhaus‘ im Deutschen für ein einsprachiges Wörterbuch bzw. für eine Enzyklopädie stehen, so wie seit der frühen Neuzeit ,Ca­-­lepinus‘ (nach Ambrogio Calepino bzw. in seiner latinisierten Form Ambrosius Calepinus) ein jegliches polyglotte Wörterbuch mit vier, sechs oder mehr Sprachen bezeichnet, so ist in Brasilien ,Michaelis‘ noch heute die Bezeichnung für ein Wörterbuch.

Dies geht zurück auf die Arbeit von Henriette Michaelis, deren Neues Wörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache (erstmals in Leipzig 1887 erschienen) einen Meilenstein in der portugiesisch-deutschen Lexikographie darstellt. Seine technischen Neuerungen, seine Fortschritte in der Sprachbeschreibung und Darstellung sowie seine Nutzerorientierung bildeten die Basis für eine lange Reihe von Neuauflagen und Bearbeitungen, die für das zweisprachige Wörterbuch mit Portugiesisch und Deutsch bis 1932 gehen, eine englisch-portugiesische Adaptation wurde sogar bis 1955 aufgelegt. Der Verlag Melhoramentos in São Paulo, der diese Bearbeitung herausgab und zur Grundlage weiterer Wörterbücher machte, führt heute ‚Michaelis‘ als Namen einer Reihe von ein- und mehrsprachigen Wörterbüchern (vgl. Ettinger, 1991, 3023).

Gabriele Beck-Busse ist es zu verdanken, dass wir heute über Henriette Michaelis und auch über ihre Schwester Karoline – besser bekannt unter ihrem späteren Namen Carolina Michaelis de Vasconcelos – mehr wissen als nur das Geburtsdatum.1 In einer Reihe von Aufsätzen zeichnet sie das Leben von Henriette und Carolina Michaelis de Vasconcelos nach, erforscht das Umfeld der beiden gelehrten Schwestern mit ihrem Lehrer Carl Goldbeck und untersucht das portugiesisch-deutsche Wörterbuch von Henriette Michaelis. Hier muss auch unbedingt die von Gabriele Beck-Busse initiierte Seite Frauen in der Romanistik genannt werden,2 die eine Fülle an biographischen, bibliographischen und wissenschaftshistorischen Informatio­nen über Romanistinnen und Philologinnen bietet. Für die erste Ausgabe des Wörterbuchs von Henriette Michaelis enthält die Seite drei ausführliche zeitgenössische Rezensionen.3

Hier sollen nun die direkten Vorläufer des Neuen Wörterbuchs der portugiesischen und deutschen Sprache, die Werke von Wollheim da Fonseca (1844) und Bösche (1858) näher betrachtet werden und zwar unter dem Aspekt der kulturspezifischen Lemmata. Als weiteres Vergleichsobjekt wird das Neue spanisch-deutsche und deutsch-spanische Wörterbuch von Louis Tolhausen herangezogen, ein Wörterbuch mit umfangreichen Be- und Umschreibungen sowie landeskundlichen und enzyklopädischen Informationen.4

2. Die Anfänge der portugiesisch-deutschen Lexikographie

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts tritt das Portugiesische nicht in Kombination mit den modernen europäischen Sprachen auf. Es findet sich in den polyglotten Werken von Calepino und Berlaimont (vgl. Ettinger, 1991, 3020-3022), in Wortlisten mit asiatischen und indigenen Sprachen Südamerikas, die im Kontext der Missionarslinguistik entstehen, sowie in zweisprachigen Wörterbüchern mit Latein, die dem Unterricht dienen. 1701 erscheint mit A compleat Account of the Portugueze Language das erste englisch-portugiesische Wörterbuch (vgl. Messner, 1996, 53). 1714 folgt mit dem Tesouro dos vocabulos das duas linguas Portugueza e Belgica von Abraham Alewyn und Johannes Collé das erste portugiesisch-niederländische Werk. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, zeitgleich mit der Zunahme des französischen Einflusses auf die portugiesische Philosophie, Literatur, Kultur und Sprache, treten portugiesisch-französische Wörterbücher auf, den Anfang macht Joseph Marques mit dem Dictionnaire des langues francoise et portugaise (1758) und dem Novo diccionario das línguas portugueza e franceza (1764).

Die portugiesisch-deutsche Lexikographie beginnt erst im 19. Jahrhundert. Erste Sprachlehren entstehen 1778 (Johannes Andreas von Jung, Portugiesische Grammatik) und 1785 (Abraham Meldola, Nova grammatica portugueza). 1810 bringt Johann Daniel Wagener sein Allgemeines Warenlexikon, in spanischer, portugiesischer, französischer, italienischer und englischer Sprache heraus, 1811/1812 folgen dann die beiden Bände des Novo diccionario portuguez-alemão e alemão-portuguez.

Wageners Zielgruppe sind Deutsch-Sprecher, die das Portugiesische für Handelskontakte und in Wirtschaftsbeziehungen nutzen wollen. Seine Wörterbücher lassen sich aus heutiger Sicht als praxisorientiert und nutzerfreundlich charakterisieren, wenn sie auch zur Redundanz neigen und dem Benutzer umfangreiches Wortmaterial zur Verfügung stellen: Bei den Äquivalenten ist besonders für das Portugiesische eine große Häufung zu verzeichnen, die den Nutzer angesichts fehlender Gebrauchsmarkierungen ratlos lässt. Daneben arbeitet Wagener auch mit Umschreibungen, Beschreibungen und ausführlichen enzyklopädischen Angaben. Die Erfahrung des Autors im Sprachunterricht und in der Grammatik zeigt sich an den Beispielen zu Syntagmen und Kollokationen, besonders aber im Bereich der Präpositionen und Konjunktionen, oft eine Schwachstelle der frühen Wörterbücher.5

3. Die Autoren und ihre Werke: Wollheim da Fonseca, Bösche, Tolhausen

Anton Edmund Wollheim da Fonseca (1810-1884) entstammt einer Breslauer Familie, die um sein Geburtsjahr nach Hamburg zieht. Der Schriftsteller, Diplomat und Abenteurer gilt als schillernde Persönlichkeit. Nachdem er im portugiesischen Bürgerkrieg auf Seiten des Königs Dom Pedro gekämpft hat, wird er in den Ritterstand erhoben und erhält den Titel „Chevalier de Fonseca“. Theodor Fontane wird mit den Worten zitiert, Wollheim „spräche dreiunddreißig Sprachen und lüge in vierunddreißig“ (Kummereincke, 2014, o.S.). Wollheim da Fonseca ist aber auch habilitierter Orientalist, Sprachlehrer und Hochschuldozent, er arbeitet mehrere Jahre als königlicher Bibliothekar und Sekretär in Kopenhagen (Briesemeister, 2014). In seiner zweiten Lebenshälfte wirkt er vor allem als Dramaturg an verschiedenen Hamburger Bühnen.

Ende des 18. Jahrhunderts macht sich in der Lexikographie der modernen europäischen Sprachen der Wunsch nach einfach zu handhabenden Wörterbüchern bemerkbar, nach Taschenwörterbüchern, die auf Reisen mitgenommen werden können. Diesem entspricht Wollheim da Fonsecas Handwörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache: Ohne lange Vorreden und ohne Angaben zu Orthographie, Grammatik und Aussprache umfasst der portugiesisch-deutsche Teil 392 Seiten, der deutsch-portugiesische 313 Seiten. Das Fehlen eines Abkürzungsverzeichnisses fällt insofern ins Gewicht, als Wollheim umfangreichen Gebrauch von Abkürzungen macht, sowohl für die Grammatik als auch für die diasystematische Markierung, und diese Abkürzungen bei weitem nicht selbsterklärend sind.

Die Biographie des Offiziers, Schriftstellers, Naturforschers und Lexikographen Eduard Theodor Bösche weist einige Parallelen zu derjenigen Wollheim da Fonsecas auf, wenn er auch nicht über dessen prominente Stellung in der Gesellschaft verfügt. 1807 in Peine bei Hannover geboren und bereits zu Schulzeiten des Englischen und Französischen mächtig, wird Bösche vom brasilianischen Militär angeworben und erreicht am 14. April 1825 mit dem Auswandererschiff „Wilhelmine“den Hafen von Rio de Janeiro. Zehn Jahre wird er im Süden Brasiliens bleiben und nach der Rückkehr seine Eindrücke, teils malerisch verklärt, in den Wechselbildern von Land und Seereisen, Abenteuern, Begebenheiten, Staatsereignissen, Volks- und Sittenschilderungen veröffentlichen.6 Außerdem ist er Autor mehrerer in Hamburg verlegter Sprachlehren, die er für Kaufleute und Reisende, aber auch explizit für Auswanderer nach Brasilien konzipiert. Daneben publiziert Bösche landeskundliche Überblickswerke zu Brasilien.

Auch Bösches Neues vollständiges Handwörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache. Mit besonderer Rücksicht auf Wissenschaften, Künste, Industrie, Handel, Schifffahrt führt bereits im Titel der ersten Auflage den Hinweis auf das reduzierte Format. Die folgenden Auflagen werden sogar unter der Bezeichnung Neues vollständiges Taschenwörterbuch ... publiziert. Mit 847 Seiten (Portugiesisch-Deutsch) bzw. 806 Seiten (Deutsch-Portugiesisch) bei gleichem Format, gleicher Typengröße und gleichem Satzspiegel wie das Werk von Wollheim da Fonseca ist es deutlich umfangreicher, dennoch verzichtet auch Bösche auf eine Einleitung sowie Anmerkungen zu Grammatik und Orthographie.

Es wird deutlich, dass die Wörterbücher von Wollheim da Fonseca und Bösche auf die direkte Kommunikation ausgerichtet sind und im Falle des Spracherwerbs ergänzend zu den zu dieser Zeit bereits zahlreich vorhandenen – und bei von Bösche sogar vom selben Autor publizierten – Sprachlehren zu sehen sind.

Band 2 (Deutsch-Spanisch) verzichtet übrigens auf jeglichen paralexikographischen Vorspann und beginnt sogleich mit dem Hauptteil, es schließt sich auf der letzten Seite ein Verzeichnis der im Wörterbuch verwendeten, lexikographischen spanischen Abkürzungen an sowie 15 Zeilen mit knappen Hinweisen zur deutschen Orthoepie und Orthographie.

4. Natur und Landeskunde

Als erstes soll hier nun das Lemma gaita betrachtet werden, also der Dudelsack: ein volkstümliches Instrument, das im 19. Jahrhundert in Deutschland auch synonym als Bockpfeife, Pfeifensack oder Sackpfeife bezeichnet wird.7 Heute ist im Deutschen Dudelsack oder musikwissenschaftlich bzw. instrumentenkundlich als neutrale Bezeichnung Sackpfeife gebräuchlich.

Das Dicionário da Língua Portuguesa (2015) verzeichnet

gaita. ga.ita. nome femenino. 1. MÚSICA. instrumento de sopro que consiste num tubo modulante com palheta e orifícios. 2. qualquer instrumento de sopro para crianças; pífaro. 3. popular corno de animal; chifre. 4. popular circunstância que traz aborrecimento; contrariedade. 5. popular coisa nenhuma. 6. Brasil popular dinheiro. 7. plural popular orifícios por onde a lampreia respira.

gaita de foles. nome femenino. MÚSICA. instrumento composto por diversos tubos ligados a um saco feito de couro, que se enche de ar através de um tubo superior

gaita!exclamação que exprime descontentamento ou irritação

ir-se à gaita. malograr-se

saber que nem gaita. ter bom sabor

gaita de beiços. nome femenino. MÚSICA. instrumento de sopro constituído essencialmente por palhetas metálicas, vibráteis, de tamanhos diversos de acordo com as várias notas musicais, fixas a uma prancheta de madeira com orifícios destinados à entrada do ar soprado com a boca, tudo dentro de uma caixa metálica apropriada

und das Diccionario de la lengua española (232014)

gaita. Quizá del gót. gaits ‘cabra’. 1. f. Instrumento musical de viento parecido a una flauta o chirimía de unos 40 cm de largo. 2. f. gaita gallega. 3. f. coloq. Pescuezo. Alargar la gaita.Sacar la gaita. 4. f. coloq. Cosa fastidiosa, pesada y molesta. Es una gaita esto de no saber escribir.No me vengas con gaitas. 5. f. coloq. Esp. Tontería o cosa sin importancia. U. m. en pl. Déjate de gaitas. 6. f. Ven. Canto popular navideño típico del estado de Zulia, de ritmo movido y alegre. 7. f. desus. Enema. 8. m. y f. coloq. Arg. y Ur. Persona nacida en Galicia, y, por ext., en cualquier lugar de España.

gaita gallega1. f. Instrumento musical de viento formado por una bolsa de cuero o fuelle que tiene acoplados tres tubos: el soplete, el puntero y el roncón.

gaita zamorana1. f. Instrumento musical formado por una caja alargada que contiene cuerdas, a las que hiere una rueda movida por una manivela. Las cuerdas se pisan por medio de teclas dispuestas a un lado de la caja.

ándese la gaita por el lugar. 1. expr. coloq. desus. Era u. para dar a entender la indiferencia con que alguien mira aquello que por ningún concepto le importa o interesa.

estar alguien de gaita. 1. loc. verb. coloq. desus. Estar alegre y contento, y hablar con gusto y placer.

templar gaitas. 1. loc. verb. coloq. Usar contemplaciones para concertar voluntades o satisfacer o desenojar a alguien.

Bei Wollheim da Fonseca finden wir

Gaita, f. kleine Flöte, f.; – de folles, Dudelsack, m; Sackpfeife, f.; estar de –, fröhlich seyn; tocar a –, sich betrinken; na primeira –, beim ersten Hahnenschrei

bei Bösche

Gaita, f. Schäferflöte, Schäferpfeife f.; - de folles, Sackpfeife f., Dudelsack, m. Bockpfeife f.; estar de–, lustig sein; tomar alguem com - , Jemanden betrügen; na primeira – bei’m ersten Hahnenschrei; tocar a – (burl.) sich betrinken; - da lampreia, Hals des Neunauge, m; saber a –s (fam.) lecker, schmackhaft sein

und schließlich bei Tolhausen

ga·ita, f. Dudelsack, m. Sackpfeife, f. ║ Sackpfeifenregister der Orgel, n. ║Baßpfeife, f. ║ Leier des Leiermanns, f. ║ Klystierspritze, f. ║ dürres, mageres Pferd, n, Mähre, f. ║ fam. Kopf, Hals, m. ║ ~ gallega, Duden, Dudelsack mit drei Stimmern ║ ein spanischer Tanz ║ ~ zamorana, f. Hümmelchen, n. Dudelsack mit zwei Stimmern ║ alegre como una ~, munter wie ein Vogel auf dem Zweig ║ estar de ~, lustig, fröhlich, aufgeräumt sein ║ salir con una ~, mit einem Anliegen hervorrücken ║ templar la ~, jemandes Zorn besänftigen ║ ¡ándese la ~ por el lugar! was liegt mir an dem, was das Volk sagt! ║ andar templando ~s, allzu dienstfertig, allzu willfährig sein, zuviel Schmeicheleien machen

Hier fällt auf, dass Wollheim da Fonseca und Bösche zunächst die Bedeutung ‚kleine, einfache Flöte‘ aufführen und erst im Kompositum gaita de folles (heute: gaita de foles, vor der Rechtschreibreform gaita-de-foles) die Bedeutung ‚Dudelsack‘, während Tolhausen bereits das Grundwort gaita mit dem Äquivalent ‚Dudelsack‘ übersetzt. Das umfangreichere Wörterbuch von Bösche enthält zusätzlich zu den Redewendungen, die Wollheim da Fonseca auflistet, noch eine weitere sowie die Zusammensetzung gaita da lampreia als „Hals des Neunauges“.8 Tolhausen führt verschiedene Unterformen der gaita auf, was der wichtigen Rolle dieses Instruments in der spanischen Musik und seinen zahlreichen regionalen Ausdifferenzierungen entspricht. (Duden im Sublemma gaita gallega ist möglicherweise ein Schreibfehler.) Die Verbreitung des Instruments und seine Rolle in der Volkskultur werden auch durch die umfangreiche Syntagmatik und die übertragenen Bedeutungen sichtbar.9

Als zweites soll das Lemma port. samarra / span. zamarra betrachtet werden, ein rustikales Kleidungsstück, ebenfalls aus dem Bereich der Volkskultur. Dazu findet sich im Dicionário da Língua Portuguesa (2015):

samarra. Do basco zamar, “pele de carneiro”, pelo castelhano zamarra, “samarra” 1. Antigo antigo vestido pastoril feito de peles de ovelha com lã, 2. espécie de batina eclesiástica, 3. casaco curto de tecido encorpado, geralmente com gola de pele, 4. vestimenta rústica.

und im Diccionario de la lengua española (232014)

zamarra. Del vasco zamarra. 1. f. Prenda de vestir, rústica, hecha de piel con su lana o pelo. 2. f. pellizo (║ chaqueta de abrigo) 3. Piel de carnero

Wollheim da Fonseca führt es auf als

Samarra, f. Schäferpelz, m.; Bauernkittel, m.; ein Priestergewand, n.

und bei Bösche lesen wir

Samarra, f., Kleidung von Schafpelzen, welche die Schäfer im Winter tragen, f., it. lange, nachschleppende Rock, m., lange und weite Oberkleid, n.10

Auch Tolhausen führt dieses Lemma auf:

zama·rra, f. Schafspelz, m. ║ Schaffell, n. ║ Pelz, Leibpelz, m.

Darauf folgt in seinem Wörterbuch übrigens das kuriose und eher in der Tradition der frühneuzeitlichen copia verborum – also dem Bestreben, möglichst viele Lemmata aufzunehmen und dafür auch systemgerechte, aber ungebräuchliche Suffix-Ableitungen aufzunehmen – stehende

zamarrazo, m. Schlag mit einem Schafspelz, m.

Insgesamt sind die drei Wörterbücher, obwohl von jeweils unterschiedlichem Umfang, also nicht nur ergänzende Instrumente zum Erlernen der Fremdsprache oder rasche Hilfsmittel bei Reisen und Handel. Sie vermitteln vielmehr einen Einblick in die lebendigen Kulturen des 19. Jahrhunderts auf der Iberischen Halbinsel.

Betrachten wir die zweisprachige Lexikographie mit Portugiesisch und Deutsch, wird dies vor allem im Werk von Bösche ergänzt durch eine Vielzahl von Lemmata aus der Botanik, die von präzisen Äquivalenten in der Zielsprache bis zu generischen Umschreibungen reichen:

Sanamunda, f. Märzwurz, f.11

Sangralingua, f. Name einer Pflanze, f.12

In Wollheim da Fonsecas Werk mit seinem deutlich geringeren Umfang fehlen diese Lemmata weitgehend. Sowohl Bösches als auch Wollheim da Fonsecas Wörterbuch enthalten asiatische und amerikanische Lehnwörter, die sich auf die Realität in den früheren und damaligen Kolonialgebieten Portugals beziehen:

Bösche

Samorim, m. König von Kalikut, m.

Sambuco, m. (asiat. Wort) eine Art Küstenfahrzeug, m.

Wollheim da Fonseca

Sambuco, m. (in Asien) eine Nachen, m.

Samburá, f. (bras. Wort) eine Art Fischkorb, m.

Die Markierung als Brasilianismus fehlt bei Bösche. Möglicherweise ist hierfür ausschlaggebend, dass seine Portugiesisch-Kenntnisse überwiegend aus Brasilien stammen, also die Differenz in der diatopischen Varietät für ihn nicht deutlich wurde. Auffällig ist in diesem Kontext jedoch, dass auch zu erwartende Brasilianismen bei ihm fehlen und dafür das europäisch-portugiesische Lemma steht. So finden wir keinen Eintrag zu abacaxi, wohl aber

Anana oder Ananaz (ananas), f. Ananas, f.

Die genaue Untersuchung der Brasilianismen und anderer Lehnwörter steht für die beiden frühen Wörterbücher der portugiesischen und der deutschen Sprache noch aus, ebenso ein präziser Abgleich mit möglichen Quellen wie Moraes Silva, aber auch Wagener. Damit ließe sich schließlich eine lückenlose Linie ziehen zu Henriette Michaelis‘ Neuem Wörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache, das in seinem Vorwort wiederum Wollheim da Fonseca und Bösche ausdrücklich als Vorläufer nennt.

Literaturangaben

Beck-Busse, Gabriele / Mühlschlegel, Ulrike 2005

Henriette Michaelis' Neues Wörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache: Zwischen Tradition und Fortschritt. In: Lusorama 61: 118-143.

Bösche, Eduard Theodor 1858

Neues vollständiges Handwörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache. Mit besonderer Rücksicht auf Wissenschaften, Künste, Industrie, Handel, Schifffahrt etc. Hamburg.

Bösche, Eduard Theodor 21876

Neues vollständiges Taschenwörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache. Mit besonderer Rücksicht auf Wissenschaften, Künste, Industrie, Handel, Schifffahrt etc. Hamburg.

Briesemeister, Dietrich 2014

Wege und Motive der Beschäftigung mit dem Portugiesischen in Deutschland. Ein geschichtlicher Überblick.

<http://www.lusitanistenverband.de/fileadmin/verband/dlv/documents/Briesemeister-Betrachtungen_zur_Lusitanistik.pdf; 30.7.2016>

Corvo Sánchez, María José 2008

Breve historia de la lexicografía bilingüe española y alemana hasta el siglo XIX. In: Philologia Hispalensis 22: 113-139.

Ettinger, Stefan 1991

Die zweisprachige Lexikographie mit Portugiesisch. In: Wörterbücher. Dictionaries. Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. An international encyclopedia of lexicography. Encyclopedie internationale de lexicographie, Vol. 3, hg. von Franz Josef Hausmann. Berlin / New York: 3020-3030.

Kummereinke, Sven 2014

Menschlichkeit als Verbrechen. Die Geschichte des Wollheim-Fonsecas. In: Hamburger Abendblatt, 31.05.2014 <http://www.abendblatt.de/hamburg/article128584563/Menschlichkeit-als-Verbrechen-die-Geschichte-des-Fonseca-Wollheim.html; 30.7.2016>

Lang, Hubert (o.J.)

Turner, Sänger und Schützen, Sind der Freiheit Stützen. Martin Drucker senior (1834-1913) Jurist, Dichter und Musiker. <http://www.hubertlang.de/5_martind4.html; 30.7.2016>

Martins, Maria Cristina Bohn / Witt, Marcos Antônio / Moreira, Paulo Roberto Staudt (edd) 2014

Quadros alternados de E.T. Bösche: Imigrantes e soldados no Rio de Janeiro, 1825-1834. São Leopoldo.

 

Michaelis, Henriette 1887

Neues Wörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache mit besonderer Berücksichtigung der technischen Ausdrücke des Handels und der Industrie, der Wissenschaften und Künste und der Umgangssprache. Leipzig.

Messner, Dieter 1996

Zu zwei Aufsätzen zur portugiesischen Lexikographie: Eine Ergänzung. In: Lusorama 30: 52-54.

Mühlschlegel, Ulrike 2000

Enciclopedia, vocabulario, dictionario. Spanische und portugiesische Lexikographie im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main.

Mühlschlegel, Ulrike 2001

“Die portugiesische Sprache hat schon Fortschritte gemacht in Deutschland”. Die Wörterbücher Johann Daniel Wageners mit Deutsch und Portugiesisch. In: Studien zur zweisprachigen Lexikographie mit Deutsch, Vol. 6, hg. von Herbert Wiegand. Hildesheim et al.: 93-105.

Porto Editora 2015 (reimpressão)

Dicionário da Língua Portuguesa. Porto.

Real Academia Española 232014.

Diccionario de la lengua española. Madrid.

Schlipf, Wolfgang 1956-1957

Einige Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte des spanischen Wörterbuchs in Deutschland. In: Boletín de Filología 9: 189-234.

Schlipf, Wolfgang 1958

Einige Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte des spanischen Wörterbuchs in Deutschland (Continuación). In: Boletín de Filología 10: 303-401.

Tolhausen, Louis 1888-1889

Neues spanisch-deutsches und deutsch-spanisches Wörterbuch. Leipzig.

Wollheim da Fonseca, Anton Edmund (o. J. [1844])

Handwörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache. Leipzig

 

 

1 Bei Henriette Michaelis gelang es ihr trotz intensiver Archivarbeit nicht einmal, das Todesdatum zu ermitteln.

2 <http://www.romanistinnen.de/>

3 <http://www.romanistinnen.de/frauen/michaelish.html>

4 Zur Relevanz dieser Betrachtungen sei auf die Ausführungen von Gabriele Beck-Busse in Beck-Busse / Mühlschlegel, 2005, verwiesen.

5 Vgl. zu Wagener ausführlich Mühlschlegel, 2001.

6 Zu Eduard Theodor Bösche siehe Martins / Witt / Moreira, 2014.

7 Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache <http://www.dwds.de/?qu=sackpfeife>.

8 Das Neunauge war ein weit verbreiteter und geschätzter Speisefisch und ist durch Überfischung in Mitteleuropa inzwischen selten geworden. gaitas bezeichnet im genauen Wortsinn die Kiemenspalten des Tieres.

9 Zum Lemma gaita und seiner Fortführung im Wörterbuch von Henriette Michaelis siehe die Untersuchungen von Gabriele Beck-Busse in Beck / Mühlschlegel, 2005.

10 Die Adjektivdeklination stellt vermutlich einen Druckfehler dar. Unklar bleibt die Abkürzung it., da keine italienische Herkunft vorliegt.

11Geum urbanum, heute bekannter als Nelkenwurz.

12 Quelle für das Lemma sangralingua ist wahrscheinlich Antonio de Moraes Silva, Diccionario da lingua portueza (1789); sanamunda fehlt dort hingegen.

Gerda Haßler

Was ist unbestimmt am indefinido? Antworten aus der Geschichte der spanischen Grammatikographie

In deutschen Spanischlehrbüchern findet sich noch immer die Bezeichnung indefinido für die inzwischen von der Real Academia Española (RAE) längst wieder als pretérito perfecto simple bezeichnete Verbform. So wird auch in einem Online-Kurs die folgende Erklärung gegeben:

Indefinido (Historische Vergangenheit): Die historische Vergangenheit (auch Pretérito Indefinido oder nur Indefinido) wird verwendet, wenn eine abgeschlossene Handlung zu einem abgeschlossenen Zeitraum stattgefunden hat. Sie wird auch als Erzählzeit bezeichnet. (<http://online-spanisch.com/preterito-indefinido.html>)

Wenn eine abgeschlossene Handlung in einem abgeschlossenen Zeitraum stattgefunden hat, scheint das im Widerspruch zur Charakteristik der Verbform als ‚unbestimmt‘ (indefinido) zu stehen. Möglicherweise ist der Gebrauch der Bezeichnung auch einfach unreflektiert, was in der zitierten Textstelle auch durch das Attribut historisch noch unterstrichen wird, denn mit dem pretérito perfecto simple bezeichnete Situationen müssen keinesfalls ‚historisch‘ sein. Im Folgenden soll zunächst anhand der Beschreibung des pretérito perfecto simple in der Nueva Gramática de la Lengua Española (RAE, 2009) untersucht werden, ob ihm wirklich Merkmale zukommen, die seine Beschreibung als ‚unbestimmt‘ rechtfertigen. Danach soll eine Antwort auf die Frage, was am indefinido unbestimmt ist, in der Geschichte der spanischen Grammatiken gefunden werden.

1. Das pretérito perfecto simple in der Nueva Gramática de la Lengua Española

Die Nueva Gramática de la Lengua Española (RAE, 2009) benennt die hier diskutierte Verbform mit einer dreigliedrigen Bezeichnung und hebt damit ihre temporal-deiktische, aspektuelle und morphologische Qualität hervor:

La denominación de PRETÉRITO PERFECTO SIMPLE consta de tres términos: el primero es un rasgo deíctico o referencial, es decir, propiamente temporal (pretérito); el segundo es un rasgo aspectual (perfecto), y el tercero es un rasgo morfológico (simple). (RAE, 2009, 1736)

Mit dieser Verbform werden begrenzte Situationen1 bezeichnet, wodurch sie sich von nicht begrenzten Darstellungen mit dem pretérito imperfecto unterscheidet. Im folgenden Satz (1) wurde die Lektüre des Buches abgeschlossen, während es in Satz (2) zwar im letzten Monat unternommen, aber nicht abgeschlossen wurde (vgl. RAE, 2009, 1737):

(1) Arturo leyó Guerra y Paz el mes pasado.

(2) Arturo leía Guerra y Paz el mes pasado.

Wenn mit dem pretérito perfecto simple begrenzte, abgeschlossene Situationen bezeichnet werden, bedeutet dies jedoch nicht, dass diese punktuell sein müssen. Noch deutlicher als Beispiel (1) zeigen das die Beispiele (3) und (4) (vgl. RAE, 2009, 1736):

(3) Escribió versos durante toda su vida.

(4) Vivieron varios años en el extranjero.

Das pretérito perfecto simple kann in Abhängigkeit vom Kontext sowohl den Beginn einer Situation als auch ihr Ende ausdrücken. Im Hinblick auf diese Phasen einer Handlung oder eines Vorgangs ist es also tatsächlich ,unbestimmt‘. Während in Beispiel (5) der Beginn des Sprechens gemeint ist und habló inchoativ verwendet wird, bezeichnet es in (6) das Ende des Sprechens (RAE, 2009, 1738):

(5) En cuanto habló, vimos que era sevillano.

(6) En cuanto habló claro Pedro Juan, se encalabrinó por la Marta. (Pereda, Puchera)

Wenn das pretérito perfecto simple im Hinblick auf die inchoative oder terminative Bedeutung der Verbform tatsächlich unbestimmt ist, so teilt es diese Eigenschaft jedoch mit dem perfektiven Aspekt in Aspektsprachen, der gleichfalls unterschiedliche Bedeutungen haben kann (vgl. Bondarko, 1971). Das pretérito perfecto simple kann als perfektive Verbform Situationen in ihrem Anfang und/oder Endpunkt begrenzen und legt somit eher die Eigenschaft nahe, ‚bestimmt‘ (definido) zu sein.

Besonders deutlich wird der zeitlich bestimmte Charakter des pretérito perfecto simple in Aussagen, in denen permanente Zustände als zeitlich be­fris­tete Übergangssituationen reinterpretiert werden. In der Nueva Gramática de la Lengua Española wird hierfür der Satz Fue de extracción humilde als Beispiel verwendet. Auf den ersten Blick wirkt dieser Satz grammatisch auffällig, was jedoch bei einer Interpretation als vorübergehende bescheidene Situation eines Individuums abgeschwächt wird (RAE, 2009, 1739):

(7) Fray Miguel Ghisleri, o de Alejandría, fue de extracción humilde. (Tinajero, Historia)

Außerdem werden in der Nueva Gramática de la Lengua Española Beispiele wie (8) bis (10) genannt (RAE, 2009, 1740), die nur dann als grammatisch korrekt betrachtet werden können, wenn die beschriebenen Situationen auf einen bestimmten, in der Vergangenheit abgeschlossenen Zeitraum einge­schränkt werden. Der Blick auf das Meer, den man von dem Fenster aus hatte, ist möglicherweise innzwischen verbaut, die Stadtmauern sind abgerissen und Luis hat seine Haarfarbe geändert:

(8) La ventana principal del salón dio al mar durante muchos años.

(9 ) Las murallas rodearon la ciudad.

(10) Luis fue rubio.

Die Begrenzung der Situation wird in diesen Beispielen einzig und allein durch das pretérito perfecto simple festgelegt, was für seinen bestimmten Charakter spricht.

In anderen Fällen ergibt sich die Begrenzung der bezeichneten Situation durch die Existenz des Subjekts. So ist im folgenden Satz eher die Lebenszeit des Großvaters als Begrenzung des Zutreffens der Aussage wahrscheinlich und nicht die Möglichkeit, dass er seinen Beruf wechselte. Eine Abgrenzung der existentiellen und der vorübergehenden Begrenzung ist jedoch von pragmatischen Faktoren abhängig und hängt vom Weltwissen ab:

(11) Su abuelo fue marino (RAE, 2009, 1740).

Wie gezeigt wurde, liefert die aspektuelle Bestimmtheit des pretérito perfecto simple keinen Grund, es als ‚unbestimmt‘ (indefinido) zu bezeichnen. Es nimmt vielmehr immer Begrenzungen vor, die durch zusätzliche Zeitangaben oder pragmatische Bedingungen präzisiert werden können.

Ein temporaler Grund für die Bezeichnung des pretérito perfecto simple als indefinido ließe sich aus einem Vergleich mit dem pretérito perfecto compuesto ableiten. Während letzteres Situationen bezeichnet, die an den Sprechaktmoment heranreichen, bezeichnet das pretérito perfecto simple in einem beliebigen Intervall der Vergangenheit, also tatsächlich zeitlich nicht bestimmten Moment vorliegende Situationen.

Die in älteren Grammatiken getroffene Unterscheidung zwischen dem einfachen und zusammengesetzten Perfekt nach dem zeitlichen Abstand zum Sprechaktmoment oder die Annahme einer 24-Stunden-Regel für das zusammengesetzte Perfekt finden sich durch den realen Sprachgebrauch jedoch nicht bestätigt. Für das lateinamerikanische Spanisch stellt die Nueva Gramática de la Lengua Española sogar ein völlig gleichwertiges Verwenden der folgenden Konstruktionen fest (RAE, 2009, 1742):

(12) Este año (fui – he ido) tres veces a Europa.

(13) Mi hijo (sacó – ha sacado) sobresaliente en Matemáticas alguna vez.

(14) Es la mejor novela que (publicó – ha publicado) hasta ahora.

(15) ¡Como (creció – ha crecido) este muchacho!

(16) Se (convirtió – ha convertido) en un punto de referencia para nuestros jóvenes.

Nach der klassischen Definition gibt das zusammengesetzte Perfekt in romanischen Sprachen eine Situation in der Vergangenheit in Beziehung zur Gegenwart wieder, wobei diese Beziehung im Heranreichen der Situation an die Gegenwart oder im Fortbestehen der Ergebnisse einer dargestellten Handlung bestehen kann. Dies trifft natürlich nur dann zu, wenn in der betreffenden Varietät der Sprache eine Form für nicht in Bezug zur Gegen­wart stehende Situationen vorhanden ist. Im gesprochenen Französischen und Norditalienischen wird das zusammengesetzte Perfekt auch für Ereignisse in der Vergangenheit benutzt, die nicht in Beziehung zur Gegenwart stehen (vgl. detailliert in Haßler, 2016, 128-145).

Das zusammengesetzte Perfekt ist in den romanischen Sprachen aus einer resultativen Verbalperiphrase entstanden, die sich zur Bezeichnung der Vorzeitigkeit gegenüber dem Sprechaktmoment entwickelte. In dieser Bedeutung trat das zusammengesetzte Perfekt mit dem einfachen Perfekt in Konkurrenz. Eine Bedeutungsspezialisierung konnte dabei nur stabil bleiben, wenn beide Formen regelmäßig und in spezifischen Kontexten verwendet werden. Für das Spanische besteht heute Einigkeit im Hinblick darauf, dass die Form he cantado das Heranreichen einer vergangenen Situation oder von deren Ergebnissen an die Gegenwart ausdrückt, während canté Vorzeitigkeit ohne Beziehung zum Sprechaktmoment bezeichnet. Dieser temporale Unterschied zwischen dem einfachen und dem zusammengesetzten Perfekt trifft heute vor allem in Zentral- und Südspanien, an der peruanischen Küste, in Bolivien und Kolumbien, im Nordosten sowie in der Zentralregion Argentiniens und mit einigen Einschränkungen in Kuba und anderen Gebieten der Antillen zu. In anderen Ländern, insbesondere in Mexiko, Venezuela und mehreren mittelamerikanischen Ländern, ist die Opposition der Formen canté und he cantado eher aspektuell als temporal. Dabei wird das einfache Perfekt verwendet, um in der Vergangenheit abgeschlossene Handlungen zu bezeichnen, während das zusammengesetzte Perfekt für Situationen, die während des Sprechaktmoments andauern, verwendet wird. Eine Äußerung wie Hoy estuvo más tranquilo (Excelsior 21.1.1997) ist daher trotz des Deiktikums hoy möglich, wenn der Zustand abgeschlossen ist. In einigen Ländern, wie zum Beispiel in Chile und großen Teilen Argentiniens, wird die Opposition des einfachen und des zusammengesetzten Perfekts zugunsten des pretérito perfecto simple neutralisiert, das dort das pretérito perfecto compuesto unabhängig von temporalen oder aspektuellen Eigen­schaften ersetzt. Der umgekehrte Ersetzungsprozess findet an der peruani­schen Küste und in Bolivien statt, wo sich das zusammengesetzte Perfekt ausbreitet (RAE, 2009, 1722). Die Beschreibung der Funktionen der beiden Perfektformen ist somit auch für das Spanische sehr komplex und kann von einer vollen Differenzierung nur dort ausgehen, wo beide Funktionen regulär gebraucht werden.

Beim zusammengesetzten Perfekt lassen sich deiktische und nicht-deiktische Gebrauchsweisen unterscheiden. Wenn das Resultat einer Situation oder einer Handlung im Sprechaktmoment gegeben ist, liegt eindeutig eine deiktische Verwendung des zusammengesetzten Perfekts vor und diese Verbform wird in Varietäten deutlich gegenüber dem einfachen Perfekt präferiert:

(17) Las elecciones no se han celebrado, pero no se demorarán muchos meses.

(18) Ha llegado hace un rato.

Der deiktische Gebrauch des zusammengesetzten Perfekts korreliert häufig auch mit deiktischen Ausdrücken. So wird im folgenden Satz das lokale Deiktikum der Nähe este verwendet während aquel als Deiktikum der Ferne ausgeschlossen ist (RAE, 2009, 1723):

(19) En este siglo la ciencia ha experimentado grandes avances.

Die Kompatibilität oder die Konkordanz der deiktischen Eigenschaften zwischen dem Tempus und bestimmten Adjektiven oder Adverbien, die temporale oder lokale Nähe signalisieren, zeigt den Gegenwartsbezug des zusammengesetzten Perfekts und rechtfertigt für solche Okkurrenzen seine Bezeichnung als antepresente (RAE, 2009, 1723):

(20) En su actual situación laboral ha sufrido no pocos sinsabores.

(21) La vicetiple ha tenido días mejores en la presente temporada.

Insbesondere atelische Verben im zusammengesetzten Perfekt sind zum Ausdruck kontinuierlicher Situationen in der Lage. In dem folgenden Beispiel aus der Grammatik der Real Academia Española (RAE, 2009, 1726) wird das Fehlen einer bestimmten Möglichkeit oder Fähigkeit beschrieben, was vom Sprechaktmoment aus eingeschätzt wird:

(22) Durante tres días no hemos podido cruzar palabra. (Cabrera, Infante)

Zusammengesetzte Perfektformen mit kontinuierlicher Bedeutung treten typischerweise mit Komplementen auf, die die Dauer der beschriebenen Situation messen. Das Ende dieser Messung ist der Sprechaktmoment, aber dieser Moment ist nicht notwendigerweise das Ende der Situation. So ist mit dem folgenden Beispiel nicht gesagt, dass die Angestellten ihre Beschäfti­gung nach dieser Feststellung aufgegeben hätten, nur die Einschätzung der Epoche, für die eine Feststellung getroffen wird, endet im Sprechaktmoment (RAE, 2009, 1727):

(23) Al negocio pueden entrar 153 empleados y funcionarios que durante años han estadodedicados a la fabricación y venta de alfombras. (Tiempo [Col.] 24.9.1996)

Obwohl solche Verwendungen des zusammengesetzten Perfekts auf den gesamten hispanophonen Sprachraum zutreffen, gibt es diatopische Variation in Hinblick auf das Fortdauern der bezeichneten Situation nach dem Sprechaktmoment. So kann die Äußerung He trabajado veinte años para él mit der Inferenz ,ich arbeite weiter für ihn‘ interpretiert oder auch als ,ich arbeite nicht mehr für ihn‘ verstanden werden. Beide Interpretationen sind im europäischen Spanisch, mit Ausnahme der kanarischen Inseln und des Nordostens Spaniens, auf den Antillen, in der Andenregion und im Nordosten Argentiniens möglich, während eine klare Präferenz für die kontinuierliche Bedeutung als antepresente in den übrigen spanischsprachigen Ländern Amerikas zu verzeichnen ist. So ist auch der Satz Así ha sido siempre hasta ahora trotz der deiktischen Angabe hasta ahora nicht eindeutig und kann sowohl mit einer implizierten Fortsetzung der Situation als auch mit deren Beendigung verstanden werden. Der Satz He vivido aquí durante veinte años würde in Spanien, auf den Antillen, in der Andenregion und im Nordosten Argentiniens als Aussage über eine Situation bis zum Sprechaktmoment verstanden, d.h. nach dieser Interpretation würde der Sprecher jetzt nicht mehr an dem Ort wohnen, während in den übrigen spanischsprachigen Ländern eine kontinuierliche Interpretation möglich wäre. Für die letztere wäre der angebrachte Ausdruck für eine Situation, die nicht fortbesteht, ein Satz im einfachen Perfekt (Viví aquí durante muchos años).

Das einfache Perfekt ist in der Lage, selbst eine temporale Bezugsebene zu schaffen, ohne sich auf explizite Zeitangaben stützen zu müssen. In einer Erzählung dient die lineare Abfolge einfacher Perfektformen der Markierung der chronologischen Folge von erzählten Fakten, auch ohne die Hilfe von temporalen Indikatoren. Im Spanischen ist das einfache Perfekt die reguläre Verbform zur Darstellung einer Handlungsfolge, die sie auf ikonische Weise repräsentiert (RAE, 2009, 1737):

(24) Miró después a un lado y a otro. Se colocó junto a ellos, observó sus maletas, se quitó el sombrero y dijo […]. (Chacón, Voz)

Die Aufeinanderfolge mit dem einfachen Perfekt bezeichneter Handlungen kann eine kausale Beziehung zwischen diesen suggerieren (se cayó y se rompió la cadera). Der ikonische Effekt solcher Abfolgen hat auch eine gewisse diskursive Wirkung und wird gewöhnlich verwendet, um Erzählun­gen lebendig zu gestalten und sie voranzutreiben (RAE, 2009, 1737).

Das einfache Perfekt bezeichnet einen in der Vergangenheit abgeschlos­senen Prozess ohne Beziehungen zum Sprechaktmoment, der nicht aktuali­sierbar ist. Mit diesem Tempus stellt man einen Prozess als klar abgegrenzt und auf seinen Endpunkt hin orientiert dar. Solche Verwendungen des einfachen Perfekts liegen bei telischen Verben besonders nahe: llegaron, murió, leí la novela, visitaste al médico. Die zeitlich abgrenzende Bedeutung des einfachen Perfekts ist jedoch auch mit atelischen Verben möglich, deren äußere Begrenzung durch Adverbiale oder durch Objekte vorgenommen werden kann:

(25) El cuadro estuvoHASTA HACE SOLO DIEZ AÑOS en manos de los descendientes de Berthe Morisot. (Clarín 6.11.2000)

(26) venerable madre Teresa Gallifa Palmarola vivió en Barcelona DURANTE LA SEGUNDA MITAD DEL SIGLO XIX. (Roncaglolo, Jet Lag)

Die Länge des Abstands dieses Endpunkts vom Sprechaktmoment ist für die Wahl des einfachen Perfekts nicht ausschlaggebend:

(27) Escribió libros durante TODA SU VIDA.

Wie das letztgenannte Beispiel (27) zeigt, widerspricht die ganzheitliche Sicht des einfachen Perfekts nicht der Tatsache, dass es mit Adverbialen verbindbar ist, die eine Dauer bezeichnen. Ebenso kommt es mit durativen Verben vor, denen es durch seine aspektuelle Qualität Grenzen auferlegt, die ihrer Durativität nicht widersprechen. So kann es zum Beispiel den Beginn einer Situation kennzeichnen:

(28) Escribió la carta a las ocho.

In Beispiel (28) fokussiert das einfache Perfekt den Beginn einer Situation mehr als diese Situation selbst. In dieser inchoativen Bedeutung ist das einfache Perfekt auf semelfaktive Handlungen spezialisiert, während das Imperfekt auch mit einer inchoativen Interpretation kompatibel ist, diese jedoch mit dem Merkmal der Iterativität verbunden ist (RAE, 2009, 1738). In dem folgenden spanischen Satz wird eine Handlungsfolge erzählt, die sich jeden Abend vollzogen hat:

(29) A las diez y media, completamente agotado, entraba en su casa y leía el periódico.

Das einfache Perfekt kann auch mit Frequenzangaben auftreten, die eine Situation nicht lokalisieren, sondern die Häufigkeit, mit der sie in einem bestimmten Intervall auftritt, benennen (RAE, 2009, 1738). Die Rolle des einfachen Perfekts ist in solchen Äußerungen die Abgrenzung des Intervalls:

(30) RevivióCON FRECUENCIA la escena del columpio. (Landero, Juegos)

Das einfache Perfekt ist ein Tempus, das sich aufgrund seiner Aspek­tua­lität vor allem für das Erzählen von Ereignissen eignet. Es gibt Prozesse kompakt und ganzheitlich wieder und liefert davon eine globale, undifferenzierte und nicht nach Abschnitten gegliederte Sicht (Martin, 1971, 70). Dies unterschei­det das einfache Perfekt nicht nur vom Imperfekt, sondern auch vom zusammengesetzten Perfekt, das beim Vorhandensein beider Tempora eher die statische Beschreibung einer Szene übernimmt (Bertinetto, 1991, 95). Das einfache Perfekt hat außerdem eine strikt deiktische Qualität. Wenn eine Situation mit dem einfachen Perfekt bezeichnet wird, besteht immer eine Beziehung der Anteriorität in Bezug auf den Sprechaktmoment.

Die meisten atelische Zustände benennenden Prädikate widersetzen sich jedoch dem einfachen Perfekt aufgrund dessen aspektueller Qualität. Diese Inkompatibilität ergibt sich als natürliche Konsequenz aus der Tatsache, dass sie stabile Eigenschaften von Personen oder Sachen ausdrücken, die über keine externen Grenzen verfügen. Da die Situationen in diesen Fällen weder in gesetzten temporalen Grenzen verlaufen noch in einem bestimmten Intervall, führt die Kombination mit dem einfachen Perfekt zu nicht interpretierbaren Sätzen, wie dem folgenden (RAE, 2009, 1739):

(31) Carlos V *descendió de los Habsburgo.

Demgegenüber erlegt das Imperfekt der Interpretation der Situation keine Grenzen auf:

(32) Carlos V descendía de los Habsburgo.

Es gibt verschiedene sprachliche Mittel, die eine für den Gebrauch perfektiver Verbformen erforderliche Begrenzung einführen können (RAE, 2009, 1739). Zustandsverben können zum Beispiel inchoative Bedeutung annehmen, wie das Verb saber, das in solchen Sätzen ,erfahren‘ und nicht ,wissen‘ bedeutet, oder conocer, das mit einer Begrenzung als ,kennen lernen‘ und nicht als ,kennen‘ interpretiert wird:

(33) Recién en la adolescencia supo la verdad.

(34) La conoció en Madrid.

Deutlich wird die Unterscheidung im generischen Gebrauch des einfachen und des zusammengesetzten Perfekts im folgenden Satz (RAE, 2009, 1742):

(35) El departamento de salud aconseja a cualquiera que estuvo en riesgo de contagio y no ha sido vacunado […] buscar un tratamiento preventivo lo más pronto posible (Tribuna [USA] 10.5.2008).

Typischerweise führt das einfache Perfekt Handlungen, Prozesse oder Zustände ein, die Personen oder bestimmten Sachen in der Vergangenheit zugeschrieben werden. In vielen spanischsprachigen Ländern sind jedoch auch unspezifizierte und indeterminierte Nominalgruppen (cualquiera) mit diesem Tempus kompatibel. Der Gebrauch des pretérito perfecto simple in generischen Sätzen spielt nicht notwendigerweise auf ein bestimmtes Ereignis vor dem Sprechaktmoment an, sondern auf einen beliebigen Moment in der Vergangenheit. Fortgesetzt wird der Satz jedoch mit einer Form des pretérito perfecto compuesto (no ha sido vacunado), da der Zustand des ,nicht geimpft Seins‘ unmittelbare Auswirkungen für die Gegenwart und Zukunft hat.

Wie dargestellt wurde, rechtfertigen auch die temporalen Eigenschaften des pretérito perfecto simple seine Kennzeichnung als ‚unbestimmt‘ (indefinido) nicht. Diese Verbform nimmt Bezug auf konkrete Zeitintervalle der Vergangenheit, die zudem kontextuell und pragmatisch näher bestimmt werden können. Außerdem ist sein Unterschied im Vergleich zum pretérito perfecto compuesto in vielen Kontexten und Varietäten nicht (mehr) gegeben.

2. Benennungen und Beschreibung des pretérito perfecto simple in der Geschichte der spanischen Grammatiken

In der Geschichte der spanischen Grammatiken findet man bei einem groben Überblick große Verwirrung um den Terminus indefinido, der seit dem 17. Jahrhundert sowohl auf das pretérito perfecto compuesto als auch auf das pretérito imperfecto und schließlich auf das pretérito imperfecto simple angewandt wurde.

Wie die frühen Grammatiken aller europäischen Sprachen gehen auch die spanische Grammatiken vor allem von lateinischen Vorbildern aus, wobei insbesondere die Ars minor (4. Jh.) von Donatus zu erwähnen ist, in der bereits zwischen praeteritum perfectum und praeteritum plusquamperfectum unterschieden wurde (vgl. Schönberger, 2008):