Streitlust und Streitkunst -  - E-Book

Streitlust und Streitkunst E-Book

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Beschreibung

Aktuell die Corona-Pandemie, davor die Klimakatastrophe und die Migrationskrise – die öffentliche Diskussion polarisiert sich, sie wird schriller und der Umgangston wird rauer, ja oftmals sogar unerträglich. Auf der Strecke bleibt die Streitlust, die Streitkunst und auch der gesellschaftliche Diskurs. Aber sie sind es, die in der Tradition der Aufklärung die Suche nach tragfähigen Kompromissen und Lösungen für gesellschaftliche Probleme erst ermöglichen. Im vorliegenden Band beschreiben Experten am Beispiel verschiedener Themenfelder, ob und inwieweit die Aufmerksamkeitsökonomie, welche durch die Digitalisierung noch wirkmächtiger geworden ist, ein regelrechtes Diskursversagen ausgelöst hat. Welche Schäden entstehen dadurch dem Gemeinwesen und der Demokratie? Und was müssen wir tun, um zivilgesellschaftliche Streitkultur zurückzugewinnen und damit das Ringen um Problemlösungen wieder zu ermöglichen? Die Autoren analysieren Themen, die in jüngerer Zeit viel öffentliche Aufmerksamkeit absorbiert haben. Ferner beschäftigen sie sich mit dem von den Redaktionen eher vernachlässigten Meta-Diskurs über die Medien und den Journalismus selbst sowie mit dessen Beeinflussung durch Propaganda. Der Journalismus ist durch seine fortschreitende Unterfinanzierung, aber auch durch teilweise selbstverschuldete Glaubwürdigkeitsverluste in Not geraten. Weitere Abschnitte widmen sich den Unzulänglichkeiten der Auslandsberichterstattung sowie der Rolle der Intellektuellen in unserer Streitkultur. Dieser Reader ist als Einführungsband in die Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses konzipiert.

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Stephan Russ-Mohl (Hrsg.)

Streitlust und Streitkunst.

Diskurs als Essenz der Demokratie

Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses, 3

Köln: Halem, 2020

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

http://www.halem-verlag.de

© Copyright Herbert von Halem Verlag 2020

Print:

ISBN 978-3-86962-552-2

E-Book (PDF):

ISBN 978-3-86962-553-9

E-Book (EPUB):

ISBN 978-3-86962-555-3

ISSN 2699-5832

UMSCHLAGGESTALTUNG: Claudia Ott, Düsseldorf

UMSCHLAGFOTO: Chris Sabor / unsplash

LEKTORAT: Rabea Wolf

SATZ: Herbert von Halem Verlag

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

Copyright Lexicon © 1992 by The Enschedé Font Foundery.

Lexicon ® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundery.

Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

Stephan Russ-Mohl (Hrsg.)

Streitlust und Streitkunst

Diskurs als Essenz der Demokratie

Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

Warum ist der Lager übergreifende öffentlich-demokratische Diskurs gefährdet, ja geradezu ›kaputt‹? Weshalb ist der öffentliche Wettbewerb auf dem Marktplatz der Ideen ins Stocken geraten? Und welche Rolle spielen dabei Digitalisierung und Algorithmen, aber auch Bildung und Erziehung sowie eskalierende Shitstorms und – auf der Gegenseite – Schweigespiralen bis hin zu Sprech- und Denkverboten?

Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses stellt diese Fragen, denn wir brauchen Beiträge und Theorien des gelingenden oder misslingenden Diskurses, die auch in Form von ›Pro & Contra‹ als konkurrierende Theoriealternativen präsentiert werden können. Zugleich gilt es, an der Kommunikationspraxis zu feilen – und an konkreten empirischen Beispielen zu belegen, dass und weshalb durch gezielte Desinformation ein ›Realitätsvakuum‹ und statt eines zielführenden Diskurses eine von Fake News und Emotionen getragene ›Diskurssimulation‹ entstehen kann. Ferner gilt es, Erklärungen dafür zu finden, warum es heute auch unter Bedingungen von Presse- und Meinungsfreiheit möglich ist, dass täglich regierungsoffiziell desinformiert wird und sich letztlich in der politischen Arena kaum noch ein faktenbasierter und ›rationaler‹ Interessensausgleich herbeiführen lässt. Auf solche Fragen Antworten zu suchen, ist Ziel unserer Buchreihe.

Diese Reihe wird herausgegeben von Stephan Russ-Mohl, emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano/Schweiz und Gründer des European Journalism Observatory.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Stephan Russ-Mohl

Zur Einführung: Streitlust und Diskurskultur vor und nach Corona

I.Öffentliche Kommunikation in der Krise

Ulrike Klinger

Diskurskiller Digitalisierung? Warum das Internet nicht an allem schuld, aber trotzdem ein Problem ist

Christian P. Hoffmann

Techlash: Digitale Plattformen zwischen Utopie und Dystopie

Georg Franck

Reflexion in einer medialen Öffentlichkeit. Nur noch eine Illusion im mentalen Kapitalismus?

Bernhard Pörksen

Journalismuskrise und Diskursverschiebung in Zeiten der Medienrevolution

Ulf Poschardt

Abgemeldete Mündigkeit und Freiheit. Warum wir eine neue Diskurs-Kultur brauchen

Peter Seele

Vom Biohof zur Animal Farm? Ein Gedankenexperiment über totalitäre Nachhaltigkeit und weshalb Grundwerte auch in Zeiten des Notstands zu achten sind

II.Diskursvarianten und Diskursdefizite in der Aufmerksamkeitsökonomie – Beispiele

Axel Bojanowski

Das Ende der Klimadebatte

Hans Mathias Kepplinger

Systemversagen an der Grenze von Wissenschaft, Journalismus und Politik

Michael Haller

Corona und die Flüchtlingskrise – über die Anstrengung, Wert- und Vorurteile beiseite zu schieben

Sandra Kostner

Identitätslinke und identitätsrechte Sichtweisen zum Migrations- und Islamdiskurs. Ergänzungen zum Beitrag von Michael Haller

Tanjev Schultz

In der Aufmerksamkeitsfalle. Über den medialen Umgang mit Rechtspopulisten und Rechtsextremisten

Klaus Schroeder / Monika Deutz-Schroeder

Linksextremismus: Medial verdrängt und verharmlost

III.Vernachlässigte (Meta-)Diskurse

Markus Spillmann

Der Schutzwall bröckelt. Warum wir den Journalismus wieder als gesellschaftlichen Wert verankern sollten

Annika Sehl

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk – überholt oder wichtiger denn je?

Mark Eisenegger

Medienforschung als Diskurs-Stimulanz. Das Jahrbuch Qualität der Medien Schweiz

Senja Post

Einmütig in Krisenzeiten. Konformitätsdruck durch Gewissheitsstreben

Gary S. Schaal

Hybride Diskurs-Beeinflussung. Angriffe auf die demokratische Öffentlichkeit durch ausländische Propaganda

Gemma Pörzgen

Die Fata Morgana vom ›Hybriden Krieg‹

Gary S. Schaal

Die Fata Morgana des Diskurses. Rejoinder zu Gemma Pörzgen

IV.Auslands-Diskurse und Auslandsberichterstattung in deutschsprachigen Medien

Petra Reski

Politik zwischen Pop, Populismus und Mafia. Anmerkungen zur Italien-Berichterstattung

Susanne Knaul

Seltsame Allianzen, übliche Verdächtige. Israel-Berichterstattung und -Diskurs in Zeiten wiederauflebenden Antisemitismus

Christoph Bultmann

Türkei-Korrespondenz – im Netz des ›Sultans‹? Der Putsch gegen Erdoğan und das Gülen-Narrativ

V.Diskursverengung in einer überkomplexen Welt – trotz vielfältiger Kanäle

Hans Ulrich Gumbrecht

Diskurs(liebes)töter. Blinde Flecken im Intellektuellen-Selbstbild – eine Textcollage

Stephan Russ-Mohl

Diskurs-Belebung. Tipps für jedermann und jedefrau, für Journalisten und für Wissenschaftler

Autorinnen und Autoren

Herausgeber

Edgar Piel: Variation zu Goyas »Schlaf der Vernunft«

VORWORT

Vieles deutet darauf hin, dass uns zwar nicht die Streitlust, wohl aber in der Zivilgesellschaft die Fähigkeit abhanden kommt, im Ton verbindlich, aber in der Sache hart und problemlösungsorientiert Diskurse zu führen. Auf sie ist indes eine lebendige Demokratie angewiesen. Wenn nicht nur von oben nach unten kommuniziert werden soll, wenn wir unter- und miteinander reden und dabei den oder die Anderen respektieren wollen, bedarf es bestimmter Umgangsformen für die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und für die Kompromissfindung in der Politik. Dass uns solche Spielregeln zunehmend fehlen, ist gewiss auch, aber nicht nur eine Folge der Digitalisierung und der fehlenden Schleusenwärter in den sozialen Netzwerken.

Wie sich Diskursfähigkeit zurückgewinnen lässt, ist das Generalthema der Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses – und dieser Reader ist ein Einführungsband, der die Reihenthematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln ausleuchtet. Analysiert wird am Beispiel verschiedener Themenfelder, ob und inwieweit es in demokratischen Gesellschaften unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie sowie der Digitalisierung Journalismus- und Diskursversagen gibt. Welche Schäden entstehen dadurch dem Gemeinwesen und der Demokratie? Welche Chancen bestehen, zivilgesellschaftliche Streitlust und -kunst als engagiertes, um Rationalität bemühtes Ringen um Kompromisse wiederzubeleben – und was können jedermann und jedefrau sowie insbesondere Wissenschaftler, Journalisten und andere ›Medienschaffende‹ dazu beitragen?

Exemplarisch untersucht werden in diesem Reader Diskurse, die in jüngerer Zeit viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten haben, aber auch Themen, die bislang eher von den Medien vernachlässigt wurden, insbesondere Diskurse um den Journalismus, um Auslandskorrespondenz und um deren ›Fernsteuerung‹ durch Public Relations und Propaganda.

Um den Diskurs-Gedanken auch im Buch selbst aufzugreifen, geschieht dies mehrfach aus jeweils zwei oder mehreren aufeinander bezogenen Perspektiven. Die Autoren sind auf ihrem Gebiet renommierte Experten – meist im Gespann jeweils ein Wissenschaftler, der auch in der Medienpraxis verankert ist, und ein an Forschung interessierter Medienpraktiker oder umgekehrt.

Dabei kommen der bereits ausgewiesene Nachwuchs ebenso zu Wort wie ältere, erfahrene Expertinnen und Experten. Entstanden sind auf diese Weise anspruchsvolle Texte, die für ein gebildetes, wissenschaftlich und journalistisch interessiertes Publikum gedacht sind – mit wenig Fußnoten und knappen Literaturverweisen.

Stephan Russ-Mohl

Stephan Russ-Mohl

ZUR EINFÜHRUNG: STREITLUST UND DISKURSKULTUR VOR UND NACH CORONA

Um es vorwegzuschicken: Meine persönlichen Helden im Drama um die Corona-Pandemie und um Diskurshoheit im Jahr 2020 sind nicht der Virologe Christian Drosten oder sein ›Gegenspieler‹ Hendrik Streeck – auch wenn beiden zu attestieren ist, dass sie begnadete Wissenschaftskommunikatoren sind, fast so begnadet wie die YouTuberin Mai Thi Nguyen-Kim, Selfmade-Wissenschaftsjournalistin und promovierte Chemikerin.

Unter meinen Covid-19-Heroen befinden sich auch keine Politiker. Weder Angela Merkel noch Jens Spahn, Armin Laschet oder Markus Söder sind darunter, obschon viele Medien sie in den Wochen der Corona-Schockstarre erstaunlich distanzlos als besonders führungsstark glorifiziert haben. Nicht die Kanzlerin, der viele Medienleute schon wegen ihres Physikstudiums, das Jahrzehnte zurückliegt, hohe Problemlösungskompetenz bescheinigten – offenbar in völliger Unkenntnis der Arbeitsweisen und des Spezialisierungsgrades heutiger Naturwissenschaften. Und auch nicht der vor Virilität strotzende stramme Markus und seine Wettbewerber um die Publikumsgunst und die Kanzlernachfolge – wenngleich wir ja tatsächlich froh sein können, dass wir im deutschsprachigen Raum keinen Donald Trump, keinen Jair Bolsanaro und auch keinen Recep Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin als politisches Führungspersonal haben und dass Journalisten von unseren Regierenden nicht rüpelhaft attackiert, bei ihrer Arbeit behindert, ja bedroht, ins Gefängnis geworfen oder ermordet werden.

Es mag ja sogar sein, dass wir mit der deutschen politischen Führungsequipe, aber auch mit Sebastian Kurz in Österreich und mit der Allparteien-Koalition der Konkordanz-Demokratie in der Schweiz bis dato (Mitte Juni 2020) vergleichsweise ›gut‹ durch die Krise navigiert wurden. Wobei all diese Urteile und Vergleiche, mit denen im Netz und in den Medien sich tagtäglich die unterschiedlichen Lager um die Corona-Meinungshoheit bekriegen, ja nichts weiter sind als vorschnell. Denn bei Redaktionsschluss für dieses Buch steht zwar vorläufig fest, dass Deutschland bisher mehr Glück gehabt hat als etwa Italien, Spanien oder die USA. Andererseits weiß aber niemand, inwieweit dieses Glück tatsächlich umsichtiger Regierungspolitik zuzuschreiben ist. Obendrein wissen inzwischen eigentlich alle, dass sich ein Lockdown nur für sehr begrenzte Zeit durchhalten lässt und deshalb all diejenigen, die vollmundig die Überlegenheit der rigideren deutschen, österreichischen oder schweizerischen Strategie gegenüber beispielsweise dem schwedischen Vorgehen mit Triumphgeheul konstatierten, allenfalls einen vorläufigen Erfolg verbuchen konnten. Der Ausgang des Dramas ist und bleibt ungewiss, mutmaßlich bis zur universellen Verfügbarkeit eines Impfstoffs.

Dann sind da noch die Kollateralschäden, die in die Zwischenbzw. Erfolgsbilanzen und in den Corona-Lebensrettungs-Diskurs viel zu spät und auch zu wenig einbezogen wurden: angefangen bei Suiziden infolge Lockdown-bedingter Existenzvernichtung oder Vereinsamung, über die gesundheitlichen Schäden, die durch abgesagte Operationen oder nicht erfolgte Arztbesuche aus Angst vor Ansteckungsgefahr entstanden sind. Gar nicht zu reden von Arbeitslosigkeit und Pleiten, von astronomischen Schuldenbergen, die wir der nachfolgenden Generation aufbürden, ohne irgendwelche ökologischen Probleme nachhaltig gelöst zu haben, und von Hungertoten draußen vor den abgeschotteten Toren der EU, die nach Einbruch der Weltwirtschaftskrise 2020 schlichtweg nichts mehr zu essen hatten.

Es sind auch keine Journalistinnen und Journalisten, die ich mit Lorbeer bekränzen möchte. Gewiss, es gab und gibt viele herausragende Einzelleistungen – z. B. im Datenjournalismus oder bei der interaktiven, grafischen Aufbereitung von Statistiken. Sie sollten nicht in Vergessenheit geraten, zumal sie oftmals unter erschwerten Bedingungen erbracht wurden. Auch und gerade in den Redaktionen herrschte wochenlang Homeoffice-Betrieb und Ausnahmezustand. Andererseits dürften solch besondere Leistungen gewiss noch mit Preisen gebührend gewürdigt werden, seien sie nach Theodor Wolff, Henri Nannen oder Hanns Joachim Friedrichs benannt, seien es die Swiss Press Awards in der Schweiz oder der Dr.-Karl-Renner-Publizistikpreis in Österreich oder eben in den USA die Pulitzer Preise. Also kein Grund, hier und heute diesen Argumentationsstrang weiterzuverfolgen.

Im Olymp der Corona-Heldinnen und -Helden

Stattdessen gehören zuvörderst Ärzte und Pflegekräfte sowie Väter und Mütter kleiner Kinder in der Homeoffice-Quarantäne in meinen Olymp der Corona-Helden und -Heldinnen. Aber sie wurden ja in den Medien und von den Balkonen südeuropäischer Länder bereits hinreichend gefeiert, sodass es sie hier eher pflichtschuldig nochmals zu erwähnen gilt. Unter den Wissenschaftlern gebührt aus meiner Sicht ein Ehrenplatz Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen, namentlich und stellvertretend für viele andere Dan Ariely, Richard Thaler, Ernst Fehr und Irving L. Janis.

Schon ihre wichtigsten Buchtitel verraten, weshalb: Predictably Irrational. The Hidden Forces That Shape Our Decisions ist Arielys erster Bestseller betitelt.1 Es steht ja zu befürchten, dass selten im Namen der Rationalität so viele vorhersagbar irrationale Entscheidungen getroffen wurden wie vor und während des Lockdowns. Auch Arielys Folgepublikation hat es in sich: The Honest Truth About Dishonesty: How We Lie to Everyone – Especially Ourselves. In der Tat scheitern ja rationale Diskurse nicht zuletzt an unser aller Unehrlichkeit und an unserem Talent, uns immer wieder selbst zu belügen – Journalisten und Wissenschaftler nicht ausgenommen.

Thalers vielleicht wichtigstes populärwissenschaftliches Werk wiederum ist Misbehaving betitelt. Auch dabei geht es um etwas, was Diskurse prägt. Auf Deutsch lässt sich das frei, aber treffend auch mit ›zivilem Ungehorsam‹ statt wörtlich mit ›schlechtem Benehmen‹ oder ›Ungezogenheit‹ übersetzen. Wobei es Thaler in seinem Buch um einen innerwissenschaftlichen Diskurs, um das Aufmucken der Verhaltensökonomen gegen den Mainstream geht. In unserem Kontext dagegen wäre auszuloten, mit welchen Erfolgsaussichten man im Kampf um Diskurshoheit gegen ein loses, aber vielleicht gerade deshalb hochwirksames Kartell aus grünrot-schwarzen Leitmedien und Eliten Aufmerksamkeit gewinnen kann – oder eben auch nicht. Und welche Denkfehler uns allen dabei unterlaufen – denjenigen, die aufbegehren, ebenso wie denen, die ihre Lufthoheit im öffentlichen Diskurs verteidigen.

Der Schweizer Verhaltensökonom Ernst Fehr (2020) wiederum hat frühzeitig, als die Medien noch tagtäglich mit wenig aussagekräftigen Todes- und Infiziertenstatistiken jonglierten, für die Schweiz vorgeschlagen, wöchentlich eine repräsentative Stichprobe zu ziehen und 5.000 Schweizer auf Covid-19 zu testen, um mit verlässlicheren Daten der Ausbreitung des Virus nachspüren zu können.

Irving L. Janis (1972) ist vor einem halben Jahrhundert mit einer einzigen Publikation zur ›Celebrity‹ im Wissenschaftsbetrieb avanciert: Victims of Groupthink sagt schon so ziemlich alles über Herdentrieb und Herdenverhalten, die in Situationen großer Unsicherheit oftmals rationales Denken und Entscheiden ersetzen. Wäre der Titel je ins Deutsche übersetzt worden, hätte er »Gefangene des Gruppen-Denkens« heißen können.

An diesem Punkt ist für mich ein weiterer ›Held‹ der Bestseller-Autor Rolf Dobelli. Er hat bereits vor rund zehn Jahren mit seiner populärwissenschaftlichen Zusammenschau sozialpsychologischer und verhaltensökonomischer Erkenntnisse zu Denkfehlern den Instrumentenkasten geliefert, um die Kommunikation im allgemeinen und den Diskurs um Covid-19 im Besonderen und in ›den‹ Medien, ›dem‹ Journalismus und ›der‹ Öffentlichkeit in einer digitalisierten Aufmerksamkeitsökomomie einordnen zu können: Bei Dobelli (2011) lässt sich das jeweils Wichtigste über Bestätigungsfehler (›Confirmation Bias‹), Übervertrauen (›Overconfidence‹), Kontrollillusion (›Illusion of Control‹), Vernachlässigung von Wahrscheinlichkeiten (›Neglect of Probability‹), Verfügbarkeitsheuristiken (›Availability Bias‹), Herdentrieb und Gruppendenken (›Groupthink‹) sowie weitere rund vier Dutzend Denkfehler nachlesen, mit denen wir alle uns im Alltagsleben und im Kampf mit Informationsüberlastung über Wasser halten – gebildete Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftler, Journalisten, Politiker eingeschlossen. Dazu mehr im Folgenden.

Killing the Messenger: Medien sind mächtig

Medien sind mächtig. Es gilt mehr denn je Niklas Luhmann (1996: 9): »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«. Nur dass die sozialen Medien mit all ihren Dissonanzen und Einfallstoren für Desinformation und Verschwörungstheorien hinzugekommen sind.

Allerdings ist das Zitat aus seinem Kontext gerissen, und die zweite Hälfte ist in unserem Zusammenhang nicht minder relevant als die erste: »Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt« (ebd.).

Ich jedenfalls werde den Verdacht nicht los, dass gerade in der Corona-Berichterstattung solch ein ›selbstverstärkendes Gefüge‹ starke Wirkung entfaltet hat und es in freiheitlichen Gesellschaften eher der Journalismus und die Medien als die Regierungen waren, die den Lockdown ausgelöst haben – und zwar mit ihrem Übersoll an Berichterstattung, das die Regierenden in Demokratien stark in Zugzwang gebracht hat.

Weil es sich um einen Verdacht, sprich: um eine Forschungshypothese handelt und noch nicht um gesicherte Erkenntnis, wie wir sie dereinst von medienwissenschaftlichen Inhaltsanalysen sowie im Rückblick von Historikern erwarten dürfen, formuliere ich einige meiner Beobachtungen und Vermutungen, die diesen Verdacht begründen, im Folgenden zunächst in Form von Fragen – in der Hoffnung, dass andere, vor allem Journalisten und Wissenschaftler, diese aufgreifen und weiterverfolgen werden.

Damit kein Missverständnis entsteht: Es gab, wie bereits gesagt, zahllose bewundernswerte Einzelleistungen von Journalistinnen und Journalisten in der Corona-Berichterstattung. Die Kehrseite, die kaum irgendwo öffentlich diskutiert wurde, war indes, wie miserabel ›der‹ Journalismus als bereits ausgezehrte, angeschlagene Institution gerüstet war, um eine Pandemie und das damit einhergehende gesellschaftspolitische Großexperiment eines Lockdowns zu begleiten. Allerorten fehlten und fehlen Wissenschafts- und Medienexperten in den Redaktionen, in der Überzahl sind Politik-, Lokal- und Sportjournalisten sowie Unterhaltungskünstler, die im Umgang mit einer Pandemie genauso hilflos sind wie Du und ich – und die deshalb den PR-Abteilungen regierungsnaher Forschungsinstitute wie dem Robert Koch Institut weitgehend ausgeliefert waren.

Im Rückblick ist es jedenfalls beängstigend, mit welcher Nonchalance die Redaktionen der Leit- und Mainstream-Medien in den DACH-Ländern und auch anderswo in der freiheitlichen Welt das Corona-Virus in Wuhan zunächst übersehen oder allenfalls als regionales Phänomen wahrgenommen haben, geradezu als blieben Viren brav an der Sicherheitskontrolle eines Flughafens zurück.

Hat es danach obendrein eine Phase gegeben, in der nahezu alle Medien weitestgehend ungefiltert die chinesische Staatspropaganda vom Lockdown in Wuhan übernommen haben? Bis hin zur Errichtung neuer Krankenhäuser innerhalb von Tagen? Wenn das so gewesen sein sollte: Handelt es sich dann womöglich um eine gekonnte und nicht durchschaute Propaganda-Aktion der chinesischen Staatsführung, mit der die Überlegenheit des autoritären chinesischen Wegs der Pandemie-Bekämpfung vorexerziert werden sollte? Wurden mit der unkritischen Übernahme dieser Darstellung womöglich demokratische Regierungen in Zugzwang gesetzt, mit einem Notstandsregime Grundrechte auszuhebeln und Handlungsstärke zu beweisen?

Kurz vor dem Ende des Karnevals war dann jedenfalls Schluss mit lustig. Das Virus rückte geografisch und kulturell näher, es wurden tagtäglich in den Nachrichten Toten- und Infizierten-Statistiken aus aller Welt präsentiert, und in Wiederholungsschleifen flimmerten die Bilder der Leichentransporte in Militärkolonnen aus Bergamo und die der Leichenkühlhäuser in New York in unsere Wohnzimmer. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass angesichts dieser täglichen Überflutung mit Corona-Nachrichten Angst, ja Panik und Schockstarre in der Bevölkerung entstanden ist. Die bisher zu wenig diskutierte Frage lautet: Was hat das bis dato nicht gekannte, einmalige Übersoll an Berichterstattung politisch bewirkt? Noch nicht einmal die Terrorattacken auf das World Trade Center und das Pentagon haben vergleichbare Medienresonanz ausgelöst: Noch mitten in der Phase der Schockstarre berichtete das auf Inhaltsanalysen spezialisierte Forschungsinstitut Mediatenor, dass die Corona-Berichterstattung bereits vom Umfang her die Berichterstattung zu 9/11 übertroffen hatte (SCHATZ 2020).

Ist somit der unabweisbare Handlungsbedarf für die Politik womöglich vor allem deshalb entstanden, weil die Medien – ähnlich wie bereits zuvor bei Rinderwahn, SARS und Ebola – Unsicherheit nicht als Unsicherheit kommuniziert haben, sondern stattdessen mit ihrer Angstmache die tatsächlichen Ansteckungsrisiken zumindest für den Großteil der Bevölkerung, der nicht den Risikogruppen zuzurechnen ist, maßlos übertrieben haben? Kam es auf diese Weise, also durch konsonante und fast schon monomane Berichterstattung, zu so etwas wie dem Schmitt-Schmidt-Moment in der deutschen Nachkriegsgeschichte?

Bei Carl Schmitt heißt es: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«. Helmut Schmidt wiederum hatte während der Hamburger Flutkatastrophe in puncto Ausnahmezustand im Kleinen vorexerziert, was jetzt Angela Merkel und ihre Große Koalition in einer ganz anderen Dimension austesteten: Was ist der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft im Kampf gegen eine Pandemie zumutbar, wenn die Leit- und Mainstream-Medien pikanterweise mit ihrer Selbstgleichrichtung Handlungsbedarf signalisieren? Und was sagt es obendrein über diese Medien aus, wenn diese noch nicht einmal die Regieanweisungen eines der totalitärsten Regime der Welt zur Pandemiebekämpfung hinreichend hinterfragen?

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist das Virus hochgefährlich und keine Erfindung von Journalisten. Ich bin bislang auch nicht bekannt als Verschwörungstheoretiker. Es wäre nur schlichtweg dumm, wie bei den alten Griechen die Überbringer schlechter Nachrichten für ihre Neuigkeiten haftbar zu machen und bestrafen zu wollen. Aber genauer hingucken, wie die Corona-Berichterstattung ›gelaufen‹ ist, sollten wir schon. Denn zu Corona wäre es ja gar nicht mehr gekommen, wenn ein Teil der Medien mit seiner Angstmache und seinen Übertreibungen in der Vergangenheit Recht behalten hätte. Denn dann wären die Menschen in Deutschland wohl bereits in der Rinderwahn- oder in der SARS-Krise ausgestorben.

Das Verlaufsmuster des Corona-Aufmerksamkeitszyklus

Einige (Fehl-)Entwicklungen in unseren hochentwickelten Gesellschaften mit ebenso hochentwickelten Mediensystemen sollten wir deshalb gerade jetzt, nach dem Corona-Lockdown, nochmals – und vielleicht ja auch endlich ernsthaft in den Redaktionen selbst – zur Kenntnis nehmen:

Erstens dominiert in ›Normalzeiten‹ in unseren Medien seit Jahrzehnten die Unterhaltung. Gewiss, wir, die Nutzer, wollen das so, aber der Medienkritiker Neil Postman beklagte schon in den 1980er-Jahren, wir amüsierten uns »zu Tode« (POSTMAN 1985). Als er sein Buch veröffentlichte, hätte er sich vermutlich nicht träumen lassen, wie explosionsartig sich seither die Unterhaltungsangebote dank YouTube, Netflix und Amazon-Prime, aber auch dank Facebook, Instagram, Tinder und TikTok weiter vermehren würden. In Krisenzeiten, auch während der Corona-Klausur, steigert sich das dann nochmals, weil weniger alternative Freizeitangebote verfügbar sind: Das Übermaß an Unterhaltungsangeboten sorgt für Ablenkung – und auch für die Option, sich den Nachrichten zu entziehen. Selbst schwer erträgliche Wirklichkeiten erscheinen durch den Konsum von Unterhaltungsangeboten in milderem Licht: Unsere Gesellschaft ›funktioniert‹ auch deshalb, weil sich notfalls ein Großteil der Bevölkerung als Couchpotatoes ruhig stellen lässt, statt durch Proteste und Demonstrationen den gesellschaftlichen Diskurs zu ›befeuern‹.

Zweitens geschieht in Krisenzeiten etwas Merkwürdiges: Die klassischen Nachrichtenmedien gewinnen Aufmerksamkeit und auch Glaubwürdigkeit zurück – und brüsten sich dann gerne unter Verweis auf steigende Nutzerzahlen und Vertrauens-Zuwächse mit ihrer Unentbehrlichkeit. Andererseits geraten gerade in solchen Zeiten die Redaktionen in einen unauflöslichen Konflikt: Um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzielen, müssen Journalisten in der Konkurrenz mit Wettbewerbern zuspitzen und übertreiben und mitunter auch Angst, Schrecken und Panik verbreiten, indem sie zum Beispiel die Aussichten dramatisieren, selbst Opfer von Terror oder eben auch von Covid-19-Ansteckung zu werden, statt die Risiken realistisch darzustellen. Im Pressekodex werden die Medien zwar auf Wahrheitssuche und unvoreingenommene Recherche verpflichtet. Aber Papier ist bekanntlich geduldig.

Drittens unterliegt der Journalismus in der Aufmerksamkeitsökonomie der Zyklizität. Analytisch unterscheiden lassen sich in aller Regel mehrere Phasen eines Aufmerksamkeitszyklus (LUHMANN 1971; DOWNS 1972; ausführlicher: RUSS-MOHL 1981: 16ff.) – und damit einhergehend auch unterschiedliche Ausprägungen von Journalismus-Versagen.2

•In der Latenzphase entwickelt sich ein Problem, das meist viel zu spät erkannt wird: Im konkreten Fall bricht im fernen Wuhan eine Corona-Epidemie aus. Wer bereits in dieser Phase Covid-19 ernst genommen hat, wurde ausgelacht, ja als Verschwörungstheoretiker abgestempelt.3

•In der Aufschwungphase wird die mediale Aufmerksamkeitsschwelle (ECCLES/NEWQUIST/SCHATZ 2007) durchbrochen; immer mehr Medien fokussieren auf das Thema, und weil sich die Redaktionen sehr intensiv gegenseitig beobachten, schaukelt es sich hoch und erlangt schließlich im öffentlichen Diskurs Dominanz. Dabei mündet die mediale Konkurrenz um Aufmerksamkeit leicht in einen Dramatisierungsund Überbietungs-Wettbewerb. Außerdem setzt sich eine ›herrschende Sichtweise‹ durch (KEPPLINGER 2001). Irritierende Nachrichten und Fakten werden vom Mainstream ausgeblendet. Im Fall von Corona absorbierte das Thema mit nie dagewesener Wucht die mediale Aufmerksamkeit und blieb über viele Wochen hinweg, und damit ungewöhnlich lange in der Medienarena.

•Schließlich wird ein Gipfelpunkt erreicht: Die Berichterstattung zum Thema selbst wird breiter, facettenreicher, Spekulationen und Übertreibungen werden schrittweise korrigiert. Damit verliert in der Umschwungphase das Drama allmählich an Zugkraft, zumal sich ein Teil des Publikums inzwischen ›überinformiert‹ (›overnewsed‹) fühlt und sich abzuwenden beginnt. Im Fall von Corona hielten die Redaktionen jetzt nicht mehr immer denselben Virologen, Epidemiologen und Regierungsvertretern die Mikrofone unter die Nase, sondern gewährten auch anderen – Medizinern, aber auch Verfassungsrechtlern, Finanzexperten, Mittelständlern, Politologen, Medienforschern und Psychologen – die Möglichkeit, zu einem differenzierteren Bild dessen beizutragen, was die Pandemie und der Lockdown an Folgen verursachen. Interessant ist, wie nahezu zeitgleich dieser Stimmungswandel eingeläutet wurde – in meiner Stichprobe vom Tagesspiegel und der Berliner Zeitung über den Spiegel bis hin zu Steingarts Morning Briefing und zu Bild.

•Zu guter Letzt flacht in der Abschwungphase die Berichterstattungsdichte ab, und das Thema verschwindet allmählich wieder aus der Medienagenda: Bei Redaktionsschluss für dieses Buch befinden wir uns im Blick auf die Covid-19-Pandemie möglicherweise am Anfang dieser Abschwungphase – zumindest wurde Corona von den weltweiten Rassismus-Protesten verdrängt, die der von US-Polizisten verursachte Tod von George Floyd auslöste. Andererseits ist klar, dass Folgen des Lockdowns und denkbare weitere Pandemiewellen uns noch lange Nachrichten bescheren werden, die ihrerseits Aufmerksamkeitszyklen zu generieren vermögen. Peter Sloterdijk beschreibt das Zyklusende wie folgt: »Debatten enden hierzulande in der Regel damit, dass das Publikum seine von den Medien permanent umworbene Aufregungsbereitschaft nach kurzer Zeit anderen Themen zur Verfügung stellt. Am Ende siegt regelmäßig die Erschöpfung über das Lernen« (zit. n. STEINGART 2020 m.w.N.).

In ihren Wirkungen sollten wir mediale Aufmerksamkeitszyklen nicht unterschätzen, auch wenn deren Folgen kaum messbar und damit empirisch kaum zweifelsfrei erfassbar sind. Die Zyklizität solcher Zyklen wird im Übrigen auch dadurch beeinflusst, sprich: abgeflacht oder verstärkt, dass mediale Aufmerksamkeitszyklen sich mit anderen Zyklen überlagern und mit ihnen interagieren (RUSS-MOHL 1981, 1993). Diese anderen Zyklen dauern meist länger: Es gibt bekanntlich in der Wirtschaft Konjunkturzyklen, in der Politik Themenkarrieren oder Reformkonjunkturen, und Forscher haben darüber hinaus bereits vor langer Zeit die generationsübergreifenden ›langen Wellen‹ technologischer Innovation identifiziert, die sogenannten ›Kondratieff-Zyklen‹.

Der Corona-Aufmerksamkeitszyklus hatte auch Facetten, die Forscheraufmerksamkeit verdienen, weil sie ungewöhnlich waren, zum Beispiel seine Intensität und seine Dauer. Zumindest in meinem eigenen Lebenszyklus kann ich mich an kein Medienthema erinnern, das mit vergleichbarer Wucht und vergleichbar lange die Medienagenda beherrscht hat.

Man kann diese coronamonomane Berichterstattung als Italienisierung des Journalismus deuten: Die Mitte der 1970er-Jahre gegründete Zeitung La Repubblica und deren legendärer Chefredakteur Eugenio Scalfari haben das dubiose ›Erfolgsrezept‹ jahrelang vorgemacht, und haben schließlich Nachahmer gefunden: Täglich werden ein Schwerpunktthema und andere Themen vorgegeben. ›Funktioniert‹ das entsprechende Thema, kann es auch schon mal die Ausgaben einer Woche oder gar eines ganzen Monats dominieren. Anderes und somit der Rest der Welt wird tendenziell ausgeblendet. Als Marlene Dietrich verstarb, gab es in La Repubblica rund ein Dutzend Seiten Nachruf-Berichterstattung.

Es genügte, eine beliebige deutsche Tageszeitung in Zeiten des Corona-Virus durchzublättern: Genauso toxisch wie das Virus selbst war im Blick auf Angsterzeugung die exzessive Berichterstattung darüber. Und weil das Weltgeschehen ja doch sehr viel facettenreicher und komplexer ist als Covid-19, ist ein monothematischer Information Overload zugleich auch Desinformation, die durch das Weglassen relevanter Nachrichten entsteht.

Vorhersagbare Denkfehler

Fehlentwicklungen im Journalismus, in der Politik und damit auch im öffentlichen Diskurs haben aber auch damit zu tun, dass uns, den Akteuren, nahezu vorhersagbar Denk- und Entscheidungsfehler unterlaufen. Im Folgenden geht es um die wichtigsten, neuerlich bezogen auf die Corona-Berichterstattung:

Am fatalsten ist der Bestätigungsfehler (›Confirmation Bias‹): Die Welt ist so komplex, dass jeder von uns gerne seine eigenen Vorurteile bestätigt sieht. Weder der weltbeste Virologe noch eine sehr erfolgreiche Bundeskanzlerin, aber auch nicht blitzgescheite Journalisten wie Gabor Steingart, Steffen Klusmann oder Anja Reschke können jedoch gleichzeitig und auch nur annähernd abschätzen, wie Infektionsketten in einer Pandemie und Lieferketten in der Wirtschaft verlaufen, sowie in wessen Taschen Milliarden und Abermilliarden von Steuergeschenken letztlich landen, und wie all dies unser aller Existenzen und Gesundheit, unsere Lebensqualität und unseren Alltag durcheinander wirbelt. Damit wächst die Versuchung, sich aus den Nachrichten das herauszupicken, was die eigene Sichtweise unterstützt, und mich hat oftmals bestürzt, mit welcher Inbrunst und Selbstsicherheit das viele von uns tun, sei es vor laufender Kamera als Experten, sei es im privaten Freundeskreis oder in den sozialen Netzwerken.

Gewiss: Ohne Vertrauen in andere, zumal in Experten wie Ärzte, Apotheker und Pflegepersonal, in Rechtsanwälte, in Steuerberater und Autohersteller kann keiner in einer hochkomplexen gesellschaftlichen Umgebung überleben. Aber eben auch nicht ohne ›Shortcuts‹ bei der Entscheidungsfindung und damit ohne die tagtägliche Bestätigung gefühlter ›Wahrheiten‹. Schon deshalb gibt es kein Entkommen aus der eigenen Filterblase – und ist wohl jeder von uns gelegentlich anfällig für Verschwörungstheorien (SCHEIDT 2017).

Im Fall von Corona sind wir zwar nicht alle vom Virus infiziert worden, aber die mediale Angst- und Panikmache hat gewiss ansteckend gewirkt. Weil andererseits weder Tote noch Infizierte noch Ansteckungsrisiken angemessen kontextualisiert wurden, hat die Berichterstattung auch diesmal die Bevölkerung gespalten: in eine große Mehrheit, die angesichts des Bedrohungsszenarios den Lockdown und seine Unannehmlichkeiten zunächst mitgetragen haben, und in eine doch nicht gänzlich zu vernachlässigende Minderheit, die Regierungen und Medien misstraute und den Lockdown weder mit der Menschenwürde noch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für vereinbar hielt. Beide Gruppen haben – Stichwort ›Confirmation Bias‹ – täglich neu Bestätigungen für ihr Vorurteil gefunden – aber solange wir nicht über Wahrheitsfindung demokratisch abstimmen lassen, ist und bleibt es unmöglich, herauszufinden, welche Seite letztendlich recht hatte, vor allem wenn sich beide Lager verbittert und verständnislos gegenüberstehen.

Unser Denken und Handeln ist obendrein häufig von Übervertrauen (›Overconfidence‹) geprägt (DOBELLI 2011: 13 m.w.N.): Das gilt in ganz besonderem Maße für all diejenigen, die es für sich zum Beruf erkoren haben, anderen tagtäglich die Welt zu erklären: Lehrer und Hochschullehrer, Journalisten und Talkshow-Prominenz, sichtbare YouTube-Influencer und weniger sichtbare PR-Strategen und Politikberater, die es vorziehen, im Hintergrund die Strippen zu ziehen. Sie und wir alle neigen dazu, unsere Kompetenz zu überschätzen. Forscher haben darüber hinaus herausgefunden, dass die weniger Intelligenten unter uns noch anfälliger sind für Übervertrauen als die besonders Klugen – was nicht allzu sehr überrascht, weil Intelligenz ja auch darin besteht, die eigenen Fähigkeiten und Grenzen realistisch einzuschätzen.

Persönlich hat mich jedenfalls auch im Kontext von Covid-19 neuerlich erschreckt, wie selten Journalistinnen und Journalisten Unsicherheiten kommunizierten – statt offen einzuräumen, dass nicht nur in den Bundeswehrdepots Gesichtsmasken und andere Basisausrüstung zur Bekämpfung einer Pandemie (oder eines B- oder C-Waffenangriffs[!]) fehlten, sondern in den Redaktionen auch das Personal, um angemessen über Pandemie-Risiken zu berichten.

Eng mit Übervertrauen verbunden ist die Kontrollillusion (›Illusion of Control‹) – die Fehleinschätzung, man habe alles unter Kontrolle (vgl. auch DOBELLI 2011: 65ff. m.w.N.). Experten und Journalisten, die tagtäglich internationale Covid-19-Statistiken verglichen und jeweils Infektionsrückgänge als Erfolge der Eindämmungsmaßnahmen und der Entscheidungen von Bundesund Landesregierungen feierten, begingen und begehen weiterhin diesen Denkfehler. Sie unterschätzen den Zufall, sprich: die Zahl der intervenierenden und unkontrollierbaren Variablen, die bei der Ausbreitung von Viren im Spiel sind und die eben dafür sorgen können, dass Bergamo, Heinsberg und New York zu Hot Spots wurden und dass ein Krankenhaus in Potsdam geschlossen werden musste, weil 20 Prozent der Patienten und des Personals infiziert waren, während die Teilnehmer einer Demo im benachbarten Berlin, die ohne Mundschutz und ohne Sicherheitsabstand dicht an dicht gedrängt standen, scheinbar überhaupt keinen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hatten.

Seit Jahren machen Risikoforscher wie Gerd Gigerenzer darauf aufmerksam, dass die Vernachlässigung von Wahrscheinlichkeiten (›Neglect of Probability‹) in der Medienberichterstattung ein gravierendes Problem ist (zuletzt: Gigerenzer im Gespräch mit Hildebrandt [2020]). Auch in der Corona-Berichterstattung, vor allem in der Anfangsphase der Schockstarre, hatten ausgewogene Berichte über Ansteckungsrisiken Seltenheitswert. Während die Politiker unter dem Eindruck der Fernsehbilder aus Bergamo eine dort beobachtete Überlastung von Intensivstationen im eigenen Verantwortungsbereich verhindern wollten, war für den Bürger das Infektionsrisiko sowie die Folgen einer Infektion nicht realistisch einzuschätzen. Denn die Medien berichteten zu wenig über die Risikogruppen, zählten die Toten falsch und informierten nicht darüber, wie wahrscheinlich eine potenziell fatale Infektion im Vergleich zu der Möglichkeit war, bei einem Verkehrsunfall oder einem Schlaganfall zu sterben.

Wenn Risiken falsch eingeschätzt werden, hat das häufig auch mit Verfügbarkeitsheuristiken (›Availability Bias‹) zu tun: »Wir machen uns«, so Rolf Dobelli, »ein Bild der Welt anhand der Einfachheit, mit der uns Beispiele einfallen. Was natürlich idiotisch ist, denn draussen in der Wirklichkeit kommt etwas nicht häufiger vor, nur weil wir es uns besser vorstellen können. Dank dem Availability Bias spazieren wir mit einer falschen Risikokarte durch die Welt. So überschätzen wir systematisch das Risiko, durch einen Flugzeugabsturz, Autounfall oder Mord umzukommen« (DOBELLI 2011: 45f.). Oder eben durch Corona, weil wir wochenlang mit Toten- und Infiziertenstatistiken bombardiert wurden, mit denen die Redaktionen vom RKI und von der Johns Hopkins University gefüttert wurden – obwohl diese Zahlen erkennbar nicht aussagekräftig waren. Gigerenzer merkt an, dass zu der Zahl der Infizierten nur die bestätigten Fälle gerechnet würden, die wirkliche Zahl der Infizierten aber wegen der Dunkelziffer höher sei. Wir wüssten aber nicht, wie viel höher. Bei den Todesfällen gebe es eine andere Unsicherheit: »Viele missverstehen die Zahl als die Anzahl der Menschen, welche das Virus getötet hat«. Es handle sich jedoch um die Fälle, bei denen der Corona-Virus-Test positiv war. Eine Person könne »durch das Virus oder auch mit dem Virus verstorben« sein. Das sei im Blick auf die Risikogruppen wichtig. »In Deutschland, Italien und der Schweiz«, so nochmals Gigerenzer, »sind 50 Prozent der Toten über 80 Jahre alt, und die italienischen Gesundheitsbehörden berichten, dass 99 Prozent eine oder mehrere Komorbiditäten hatten, also Vorerkrankungen wie Hypertonie und invasiven Krebs. Das hohe Alter und die schweren Erkrankungen machen es nicht immer möglich zu unterscheiden, ob jemand durch oder mit Covid-19 gestorben ist, oder ob das Virus den Tod einige Wochen früher herbeigeführt hat« (Gigerenzer, zit. n. HILDEBRANDT 2020).

Herdentrieb und Gruppendenken

Genauso wichtig wie das Wissen um den Confirmation Bias ist die Einsicht, dass Unsicherheit unser Denken beeinflusst und dass wir in vergleichbaren Krisensituationen dazu neigen, uns einem Gruppendruck zu fügen und uns von anderen in unserer Wahrnehmung und in unseren Entscheidungen beeinflussen zu lassen. Gerade Journalisten haben es häufig mit solchen Ausnahmesituationen zu tun und sind deshalb für Phänomene wie Herdenverhalten und »Groupthink« (JANIS 1972) besonders anfällig.

Es gibt natürlich Ausnahmen. Und wie schon nach der Weltfinanzkrise werden auch diesmal wieder Journalisten in der Rückschau solche Einzelbeispiele hochhalten und damit den Flurschaden vertuschen, der mit konsonanter Berichterstattung und Selbstgleichrichtung angerichtet wurde.

2011 präsentierte jedenfalls Dean Starkman von der Columbia Journalism Review eine Inhaltsanalyse, die im Zeitraum von Anfang 2000 bis Mitte 2007 die neun wichtigsten Wirtschaftsmedien der USA umfasste. Er identifizierte immerhin 730 Beiträge, in denen vor der Finanzkrise gewarnt wurde. Gemessen an den 220.000 Artikeln, die allein das Wall Street Journal in diesem Zeitraum veröffentlicht hatte, sei das aber eben wie »ein Korken, der auf einem Nachrichtenstrom von der Größe der Niagara-Fälle daherkommt« (STARKMAN 2011: 43). Auf die Corona-Berichterstattung übertragen heißt dies, dass es zwar eine Gegenstrom-Berichterstattung gab (und gibt), dass diese aber in der Flut der Nachrichten unterging.

Was hätte also anders laufen können?

Wir alle laufen Gefahr, dem Rückschaufehler (›Hindsight Bias‹) zu verfallen – eine Fehlleistung, die vor allem Wissenschaftlern gerne angekreidet wird, weil sie im Nachhinein alles besser zu wissen glauben. Würden Journalisten und Entscheidungsträger den öffentlichen Diskurs anders führen, wenn sie sich all dieser potenziellen Denk- und Entscheidungsfehler stärker bewusst wären? Wären sie mit dem Corona-Virus womöglich demütiger umgegangen? Hätten sie angesichts der hohen Unsicherheiten und kaum abwägbaren Risiken einem weniger invasiven, dafür aber längerfristig durchhaltbaren Kurs in der Corona-Prävention und -Bekämpfung den Weg bereitet?

Was in anderen Ländern, die Corona scheinbar gelassener bekämpft haben und noch bekämpfen als wir, darunter Schweden, anders gelaufen sein dürfte, wäre durch Inhaltsanalysen zu untersuchen: Haben die Medien dort weniger Angst und Schrecken verbreitet? Haben die jeweiligen Regierungen – gewiss in Schweden, bei der schnellen Rückkehr aus dem Lockdown in die ›Normalität‹ auch die Schweiz – mehr Vertrauen in die Mündigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger gezeigt? Oder haben dort die Politiker ›nur‹ weniger Entscheidungsdruck verspürt?

Wobei es nicht um Schuldzuweisungen auf individueller Ebene gehen kann. Nein, nicht einzelne Reporter oder Redakteure, sondern – das wäre die kühne, durch weitere Forschung allerdings zu bestätigende These – ›der Journalismus‹ und ›die Medien‹ waren als Institutionen nahezu weltweit auf die Pandemie miserabel vorbereitet. Sie haben meist entsprechend dem skizzierten Muster eines Aufmerksamkeitszyklus agiert. Dabei wurden kollektiv Denkfehler begangen und wechselseitig übernommen. Im Herdentrieb vereint, dem Clickbaiting und den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, haben sie gleichsam über Nacht die Pandemie zum alles beherrschenden Thema gemacht und den Rest des Weltgeschehens wochen-, ja sogar monatelang nahezu ausgeblendet.

Weil audiovisuelle Medien zu mehr Kürze und Prägnanz zwingen, dürfte die Bilanz für die öffentlich-rechtlichen Anbieter eher noch trübseliger ausfallen als für die kommerzielle Qualitätspresse: Nehmen wir ARD und ZDF, wobei das bei ORF und SRG kaum anders aussehen dürfte: In einer ›normalen‹ Tagesschau oder heute-Sendung werden wir in circa zehn bis 12 Minuten mit Nachrichten versorgt, vornehmlich aus dem eigenen Land, aber auch regelmäßig mit ein paar Meldungen aus aller Welt – und dann verwandeln sich die wichtigsten TV-Nachrichten der Republik in einen Ableger der Sportschau, was hohe Einschaltquoten sichern soll. Seit Mitte Februar bis Ende Mai 2020 wurden wir stattdessen täglich zur besten Sendezeit in Tagesschau und heute nahezu ausschließlich mit Corona berieselt, als gäbe es kein anderes Thema mehr in der Welt. In der Phase der Schockstarre war die Berichterstattung sehr eng auf das fokussiert, was eine Handvoll mediengewandte Virologen und Epidemiologen zu verkünden hatten. Und weil das offenbar nicht reichte, gab es unzählige Sondersendungen ARD extra und ZDF spezial hinterher. Was sich täglich zu einer vielfachen Berichterstattungs-Überdosis an Corona im Vergleich zum ›Weltgeschehen plus Bundesliga oder Champions-League‹ zu Normalzeiten addierte.

Die fünf Abschnitte dieses Buchs

Das Corona-Virus hat auch diesen Reader drastisch verändert – obschon er Monate vor dem Pandemie-Ausbruch konzipiert wurde. Einzelne Autoren und Autorinnen sind abgesprungen, weil sie sich vom Homeoffice mit kleinen Kindern und/oder der Ruck-Zuck-Umstellung an den Hochschulen von der Präsenz- auf die Online-Lehre überfordert fühlten. Andere hatten hingegen, weil Projekte und Vorträge abgesagt wurden, mehr Zeit, die dann ihren Manuskripten zu Gute kam. Zumindest all die Autoren, die für diesen Band Originalbeiträge beigesteuert haben, schrieben diese inmitten des Lockdowns – sie sind also unmittelbar von den Erfahrungen mit diesem Großexperiment geprägt. Auch die Streitkultur wird eine andere sein, wenn unser Gemeinwesen diese Krise durchgestanden hat.

Geblieben ist die Absicht, Streitkultur auch dadurch lebendig werden zu lassen, dass das Buch selbst ein breites Spektrum von Positionen präsentiert. Als Autorinnen und Autoren kommen vorrangig Experten zu Wort, aber nicht nur solche, die sich auf den ausgetrampelten Pfaden des ›Mainstream‹ bewegen.

Wir experimentieren auch mit unterschiedlichen Diskursformen: Im ersten Teil stellen wir, ohne dass sich die Beitragenden direkt aufeinander beziehen, unterschiedliche Positionen einander gegenüber. Es handelt sich um Sichtweisen und Denkanstöße, bei denen wir hoffen, dass Sie, die Leserinnen und Leser, diese miteinander ›ins Gespräch‹ bringen werden.

Im zweiten Teil widmet sich jeweils ein Autorengespann je einem Themenkomplex, der unmittelbar vor der Corona-Pandemie viel mediale Aufmerksamkeit erfahren hat: dem Klimadiskurs, der Migrations- und Islamdebatte sowie dem Populismus und Extremismus an den Rändern der Gesellschaft.

Teil 3 ist dem Journalismus selbst gewidmet – sowie den massiven Versuchen, ihn durch Public Relations und Propaganda zu beeinflussen. In diesem Teil haben wir insgesamt vier Autoren und Autorinnen gebeten, einen der beiden Hauptbeiträge zu kommentieren. Bei einem der Kommentare wird der Diskurs mit einem Rejoinder fortgesetzt.

In Teil 4 wird an drei Beispielen – Italien, Israel und der Türkei – der Frage nachgespürt, unter welchen Bedingungen wir heutzutage über das Ausland informiert werden, und wer auf welche Weise die jeweilige Berichterstattung und die zugehörigen Diskurse beeinflusst.

Im letzten Teil geht es um die Rolle von Intellektuellen im öffentlichen Diskurs. Ein Schlussakkord des Herausgebers widmet sich sodann der Frage, was wir alle tun können, um Streitlust und Streitkunst wiederzubeleben.

Teil 1: Sichtweisen, Denkanstöße, Theoriegerüste

Den Aufschlag macht ULRIKE KLINGER, Professorin für digitale Kommunikation an der FU Berlin. Sie analysiert, ob und inwieweit Diskursversagen eine Digitalisierungsfolge ist, und setzt sich dabei kritisch insbesondere mit der Intransparenz von Plattformen wie Google sowie YouTube, Facebook und Twitter auseinander.

Im Anschluss wundert sich CHRISTIAN P. HOFFMANN, der an der Universität Leipzig Kommunikationsmanagement lehrt, wie in wenigen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung die Tech-Plattformen von universellen Heilsbringern, die demokratische Diskurse stimulieren und Schwarmintelligenz mobilisieren sollten, zu Sündenböcken mutierten, die plötzlich an allem Öffentlichkeitsversagen schuld sein sollen. Hoffmann schert dabei aus dem Mainstream der Plattformkritiker aus und hat spannende Forschungsergebnisse zusammengetragen, die einige unserer vermeintlichen ›Gewissheiten‹ infrage stellen – sei es zu Filterblasen, sei es zur Manipulation und zum Microtargeting in Wahlkämpfen, sei es zu Fake News, Desinformation und Hatespeech, zur Verletzung der Privatsphäre und zum Missbrauch von Monopolstellungen durch die mächtigsten unter den Plattformanbietern.

Es folgt, in gewisser Weise als Antipode zu Hoffmann, der Sozialforscher und Ökonom GEORG FRANCK, Emeritus an der TU Wien, der ›seine‹ Aufmerksamkeitsökonomie auf den neuesten Stand bringt. Der Beitrag ist in doppelter Hinsicht ein anspruchsvolles theoretisches Herzstück dieses Bandes: Er setzt der Habermas’schen Utopie vom herrschaftsfreien Diskurs die Realität des mentalen Kapitalismus entgegen: Nicht das rationale Ringen um bestmögliche Problemlösungen, sondern die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie bestimmen die Diskursqualität und – dank der Algorithmen der sozialen Medien – wohl auch immer öfter die Diskursinhalte, die wir zu sehen, zu hören oder zu lesen bekommen.

Sodann spürt Franck der Frage nach, weshalb das Bedürfnis nach Selbstdarstellung, die Gier nach Prominenz und die Konkurrenz um Aufmerksamkeit sowie die verweigerte soziale Anerkennung den rationalen Diskurs gefährden und jene Verhaltensmuster befördern, die wir allenthalben beklagen: Hassbotschaften und Shitstorms, Ausgrenzung von Minderheiten. Das mündet in der Erkenntnis, dass die Öffentlichkeit im ›mentalen Kapitalismus‹ angesichts der – bereits von Klinger und Hoffmann beschriebenen – Digitalisierungsfolgen nur noch bedingt reflexions- und diskursfähig ist.

Ähnliche Sorgen treiben auch BERNHARD PÖRKSEN um, der an der Universität Tübingen Medienwissenschaft lehrt und inzwischen der wohl ›sichtbarste‹ Vertreter seines Faches im deutschsprachigen Raum geworden ist. Sein Beitrag zur Diskursverschiebung ist enger angelegt als Francks Analyse, wenn er auf die Krise des Journalismus fokussiert.

Seine Utopie, der wir uns, auch um diskursfähig zu bleiben, anzunähern versuchen sollten, ist die ›redaktionelle Gesellschaft‹: eine Zivilgesellschaft, in der jedermann und jedefrau so viel journalistische und redaktionelle Kompetenz hat, dass er und sie sich souverän zwischen der Skylla von Fake News und der Charybdis von Newsabstinenz als Folgeerscheinung von Informationsüberlastung hindurch zu manövrieren weiß. Ein solch hohes Maß an Medienkompetenz in unserer Gesellschaft ist freilich kaum realistischer als ein ›herrschaftsfreier Diskurs‹, wie ihn Jürgen Habermas dereinst als Leitbild propagiert hat.

Der Essay von ULF POSCHARDT, Welt-Chefredakteur, Ludwig Erhard-Preisträger und der vielleicht schillerndste unter den Redaktionschefs etablierter deutschsprachiger Leitmedien, ist eine Ode an die Freiheit und eine Ovation für selbstständiges Unternehmertum – unverzichtbar, weil im schwarz-rot-grünen Bevormundungskonsens und im jüngst von der Corona-Pandemie befeuerten obrigkeitsgläubigen Vertrauen auf staatliche Steuerungskapazität und billionenschwere Konjunkturprogramme ja unterzugehen droht, dass Wirtschaftswunder zu allererst durch unternehmerische Fantasie, Leistung und Risikobereitschaft generiert werden – und nicht von heiß laufenden Gelddruckmaschinen beim Billionen-Bingo der Großen Koalition und der EU. Die Unvorstellbarkeit und damit auch Unhandhabbarkeit dieser Geldpolitik wird wohl erst ersichtlich, wenn man – wie es der Tagesspiegel getan hat – die Summe der Fördermittel mit ihren Nullen ausschreibt. Richard Nixon hätte das übrigens als »throwing money at problems« gegeisselt.

Wie schwer wir uns gleichwohl im Umgang mit unserer Freiheit tun, wenn sie in Konflikt gerät mit ökologischer Nachhaltigkeit zur Rettung unseres misshandelten Planeten, ist das Thema des abschließenden Beitrags des ersten Abschnitts: PETER SEELE, Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler an der Universität in Lugano, legt den Finger in die Wunde, indem er uns – mehr oder minder – der Scheinheiligkeit und Schizophrenie im Umgang mit dem Thema ›Nachhaltigkeit‹ überführt.

Teil 2: Klimadiskurs, Migrations- und Islamberichterstattung, Rechts- und Linksradikalismus

Im zweiten Teil des Readers geht es – jeweils im Gespann zweier Autoren – um ›Aufmerksamkeitszyklen‹. AXEL BOJANOWSKI und HANS MATHIAS KEPPLINGER befassen sich mit dem Klimadiskurs – und knüpfen damit aus anderen Blickwinkeln auch an Peter Seeles Beitrag an.

Bojanowski, bis vor kurzem Doppel-Chefredakteur von natur und Bild der Wissenschaft und seit Sommer 2020 Chefreporter Wissen bei der Welt, skizziert den Klima-Diskurs als einen moralisch hochaufgeladenen, polarisierten Konflikt, in dem beide Seiten ziemlich schamlos Wissenschaft für ihre Zwecke instrumentalisieren – und so einen konstruktiven Diskurs mit wechselseitiger Lernbereitschaft und erkennbaren Lernfortschritten unterbinden. Stichworte, die auf seinen Beitrag neugierig machen dürften, sind die ›Affekt-Heuristik‹, die ›Noble cause corruption‹, die ›Wucht des Tribalismus‹ und das ›Insider-Syndrom‹, das es nicht nur an den Börsen, sondern eben auch im Klimadiskurs gibt. Bojanowski sieht auf beiden Seiten statt Recherche den Confirmation Bias sowie Rudeljournalismus am Werk – ein Thema, auf das später auch Senja Post in diesem Band zurückkommt.

Ergänzend zu Bojanowskis Beitrag skizziert Hans Mathias Kepplinger, Doyen der empirischen Journalismusforschung in Deutschland und Emeritus an der Universität Mainz, weshalb an der Grenze von Wissenschaft, Politik und Journalismus ›Systemversagen‹ programmiert ist: Die wechselseitigen Erwartungen divergieren zu stark, und den wechselseitigen Versuchungen, sich gegenseitig zu instrumentalisieren, sei kaum beizukommen.

MICHAEL HALLER, Leiter des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung in Leipzig und über Jahrzehnte hinweg als Professor für Journalistik an der dortigen Universität eine prägende Instanz in der deutschen Journalistenausbildung, spannt den Bogen von der Corona-Pandemie zur Migrationskrise. Er zeigt, wie so manche Redaktion seit 2015/16 den meinungsoffenen Umgang mit Wertekonflikten einzuüben sich bemüht – im Unterschied zu verschiedenen Medienforschern, die bei den Themen Flüchtlingskrise und Corona auf ideologischen Denkmustern verharren.

Die Migrationsforscherin SANDRA KOSTNER, Leiterin eines Masterstudiengangs zu Interkulturalität und Integration an der PH in Schwäbisch-Gmünd, ergänzt Hallers Beitrag mit Beobachtungen, wie Links- und Rechtsidentitäre mit dem Thema ›Migration und Islam‹ umgehen. Sie gelangt zu dem Schluss, dass beide Gruppen »der Migrations- und Islamberichterstattung so viel Aufmerksamkeit schenken und sie grundsätzlich argwöhnisch beäugen«, weil »ihre jeweilige gesellschaftspolitische Agenda ohne diese Themen nicht funktionieren würde«.

Damit leitet Kostner bereits zum nächsten Themenkomplex über: dem Umgang mit Rechts- und Linksextremen im gesellschaftlichen Diskurs. TANJEV SCHULTZ, Journalistik-Professor an der Universität Mainz und zuvor als langjähriger Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung für die Berichterstattung über den NSU-Komplex zuständig, setzt sich mit drei Strategien im Umgang mit Rechtspopulisten und -extremisten auseinander: der Ausgrenzungs-, der Empörungs- und der Neutralitätsstrategie. Aus seiner Sicht haben alle drei ihre Berechtigung in einem pluralistischen Gemeinwesen, aber eben auch jeweils ihre spezifischen Vor- und Nachteile. Abschließend plädiert Schultz für »demokratischen Stoizismus« im Umgang mit rechten Populisten und Extremisten.

KLAUS SCHROEDER und MONIKA DEUTZ-SCHROEDER gehen ergänzend zu Schultz der Frage nach, ob Medien im Umgang mit Linksextremisten mitunter auf einem Auge blind sind und inwieweit linke und linksliberale Medien, die gegen Rechtsextremismus klar Position beziehen, linke Gewalt verschweigen oder relativieren.

Teil 3: Vernachlässigte Meta-Diskurse über Journalismus und Propaganda

Die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie ebenso wie die im zweiten Teil skizzierten Diskurse und medialen Aufmerksamkeitszyklen verstärken die Notwendigkeit, sich im dritten Abschnitt des Buches vertieft mit den klassischen journalistischen Leitmedien selbst zu befassen: Gerade wenn in Krisensituationen der Nachrichtenjournalismus, aber auch Desinformationsschleudern Hochkonjunktur haben, wird zumeist der Diskurs über die Medien selbst vernachlässigt. Soll heißen: Über Journalismus und seine Zulieferanten, über Public Relations und Propaganda, aber auch über die sozialen Netzwerke wird tendenziell zu wenig berichtet, diskutiert und reflektiert.

Deshalb ist der Beitrag von MARKUS SPILLMANN im Blick auf den Journalismus und seine Rolle bei der Wiedergeburt des öffentlichen Diskurses ein weiteres Herzstück im vorliegenden Reader. Der vormalige Leiter Publizistik der NZZ-Gruppe und Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung sowie heutige Vorstandsvorsitzende des Internationalen Presse-Instituts in Wien skizziert, weshalb der Journalismus seine Rolle als treibende Kraft im gesellschaftlichen Diskurs nur noch unzureichend zu spielen vermag.

Zwei ergänzende Beiträge unterstreichen, wie wichtig der öffentlich-rechtliche Rundfunk sowie die Medienforschung für die Streitkultur sind:

ANNIKA SEHL, Professorin für Digitalen Journalismus an der Universität der Bundeswehr in München, widmet sich der Rolle öffentlich-rechtlicher Medien im gesellschaftlichen Diskurs. Sie arbeitet heraus, wie unverzichtbar sie einerseits trotz einer Vielzahl an kommerziellen Medien sowie Plattformen sind, lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass es weitere Entwicklungsmöglichkeiten gäbe, wie öffentlich-rechtliche Anbieter – auch im erweiterten Austausch öffentlich-rechtlicher Anstalten auf europäischer Ebene – aktuellen Herausforderungen, vor allem dem digitalen Wandel und der zunehmenden Polarisierung in Gesellschaften, begegnen könnten.

MARK EISENEGGER, Professor an der Universität Zürich und Leiter des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög), befasst sich mit der Medienforschung als Stimulans für den Diskurs um Journalismus. Als Beispiel rekurriert er auf das Jahrbuch Qualität des Journalismus Schweiz, das er mit seinem Forscherteam seit dem Tod des Soziologen Kurt Imhof weiterführt. Es setzt seit über zehn Jahren Maßstäbe für ein kontinuierliches Qualitäts-Monitoring des Journalismus, das auch in Deutschland und Österreich endlich eingeführt werden sollte.

SENJA POST zeigt in ihrem abschließenden Beitrag zu Spillmanns Text, wie unterschiedlich Wissenschaftler und Journalisten mit Unsicherheit umgehen – und leitet aus ihren Erkenntnissen ab, wie das zu Herdenverhalten führt. Von der Journalismusforschung, insbesondere von Vertretern der ›Mainzer Schule‹, wurde dieses Phänomen vielfach als ›Kollegenorientierung‹ moniert. Journalisten haben das nie gerne gehört, obwohl der Begriff ›Kollegenorientierung‹ eigentlich ein Euphemismus ist. Er suggeriert die gemeinsame Ausrichtung an den professionellen Standards des Journalismus. De facto führt Unsicherheit aber dazu, dass journalistische Professionalität kollektiv außer Kraft gesetzt wird, weil alle den Schutz in der Herde suchen und letztlich ungeprüft das nachmachen, was ein paar Alpha-Journalisten vorexerzieren.

Die anschließenden Beiträge von GARY S. SCHAAL, der an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg Politikwissenschaft lehrt, und von GEMMA PÖRZGEN, die als Osteuropa-Expertin journalistisch arbeitet, befassen sich am Beispiel des Kreml mit dem Einfluss von Propaganda auf den öffentlichen Diskurs. »We agree to disagree« – wir stimmen darin überein, dass wir in unseren Bewertungen nicht übereinstimmen, ließe sich dieser Abschnitt zusammenfassen, der sich einem besonders wichtigen und vielfach unterschätzten Aspekt öffentlicher Auseinandersetzung widmet. Schaal antwortet mit einem Rejoinder auf Pörzgens Vorhaltungen – mehr sei an dieser Stelle noch nicht verraten.

Teil 4: Auslandsberichterstattung und Auslandsdiskurse in deutschsprachigen Medien

Ein Digitalisierungsopfer im klassischen Nachrichtenjournalismus ist die Auslandsberichterstattung. Während der Wissenschafts- und der Medienjournalismus auch in den großen Redaktionen – allenfalls als Kleinstressorts – marginalisiert waren, hatten im ausgehenden 20. Jahrhundert das Auslandsressort und damit die ihm unterstellten hauseigenen Auslandskorrespondenten in der redaktionellen Hierarchie noch einen hohen Rang. Aber Korrespondentenbüros an begehrten Nachrichtenumschlagplätzen wie Washington, New York, London, Moskau, Hongkong und Tokio oder auch an Kriegsschauplätzen wie Bagdad oder Kabul sind so teuer, dass sie unter den Bedingungen von Digitalisierung und dem ›Alles gratis‹-Diktat des Online-Journalismus mit als erste weggespart oder drastisch dezimiert wurden. Was zu der grotesken Situation geführt hat, dass sich zwar unsere Wirtschaft globalisiert und unsere Gesellschaft und Kultur multikulturalisiert haben, dass wir als Touristen bis in die hintersten Winkel des Himalaya, der Südsee und der Antarktis unterwegs sind, dass es aber immer häufiger an landes- und sprachkundigen, festangestellten Korrespondenten mangelt, die uns die Welt und andere Kulturen erklären. Oft sind Berichterstatter für ganze Kontinente wie Afrika oder Ozeanien zuständig. In zahlreichen Ländern bestimmen obendrein letztlich die Regierungspropaganda und der Zufall, was der Rest der Welt erfährt.

Das hat für unser Wissen von den Weltläuften und für den interkulturellen Diskurs ziemlich fatale Folgen, wie uns Petra Reski, Susanne Knaul und Christoph Bultmann in drei sich wechselseitig ergänzenden Beiträgen vor Augen führen.

PETRA RESKI verfolgt von ihrem langjährigen Beobachterposten in Venedig seit Jahrzehnten, was ihre Korrespondenten-Kollegen so treiben. Sie hat sich als freie Italienkorrespondentin, aber auch als Mafia-Expertin und Autorin von Krimis einen Namen gemacht. Ihr Beitrag gewährt einen Blick hinter die Kulissen der Italienberichterstattung und zeigt, auf welch groteske Weise der Copy-Paste-›Journalismus‹ immer wieder obsiegt – sei es, dass die wenigen, verbliebenen Italienkorrespondenten sich hemmungslos bei den italienischen Medien bedienen, ohne ihre Quellen zu nennen, sei es, dass sie, auch auf Geheiß ihrer Heimatredaktionen, vorhandene Vorurteile bedienen und dabei gelegentlich auch voneinander abschreiben.

SUSANNE KNAUL beschreibt als langjährige Israel-Korrespondentin der taz, die diesen Posten in Tel Aviv kürzlich geräumt hat, wie schwierig es ist, unter permanenter Beobachtung für Deutschland aus Israel zu berichten. Sie gewährt im Rückblick Einsicht in die komplizierte Dynamik der Israel- und Nahost-Berichterstattung, die in Deutschland angesichts von starken, pro-israelischen und zionistisch-regierungstreuen Medienwächtern, aber auch von aufkeimendem Antisemitismus noch schwieriger geworden ist, als sie das ohnehin nach Auschwitz und dem Holocaust schon immer war.

Und schließlich ist da CHRISTOPH BULTMANN, der als Religionswissenschaftler am Beispiel des Putsches gegen Recep Tayyip Erdoğan und dem Narrativ, dass der Prediger Fethullah Gülen hinter dem versuchten Staatsstreich steckte, zeigt, wie angreifbar die Türkeiberichterstattung ist – und wie letztlich bei den Korrespondenten in Istanbul und Ankara die ›Schere im Kopf‹ wirkt, seit der Welt-Korrespondent Deniz Yücel im Gefängnis landete. Als Wissenschaftler und aufmerksamer Beobachter der Islam- und Türkeiberichterstattung wirft Bultmann einen äußerst kritischen Blick auf den Umgang des deutschen Journalismus mit Erdoğan. Bei einem Land, das als Nato-Partner zwar strategisch so wichtig ist, dass es viele namhafte Politiker in die EU holen wollten, das andererseits aber doch für Deutschland eine nachrangige Bedeutung im Vergleich zu Italien oder Israel hat, zeigt sich noch dramatischer, wie die türkische Regierungspropaganda es bis heute geschafft hat, ihr Narrativ zum Putschversuch und von der Mittäterschaft Gülens trotz mangelnder Beweise ›durchzudrücken‹.

Wer die drei Beiträge in der Zusammenschau liest, bekommt einen wenig ermutigenden Eindruck vom ›Stand der Kunst‹ in der Auslandsberichterstattung. Englischsprachige Online-Publikationen, die es meist in Städten wie Rom, Tel Aviv und Istanbul gibt und die dann von Auslandsredakteuren in München, Hamburg oder Berlin gelesen und zweitverwertet werden, sind eben kein Ersatz für Auslandskorrespondenten vor Ort – zumindest, wenn diese Korrespondenten selbst recherchieren und nicht nur, wie von Petra Reski als schlechte Angewohnheit beobachtet, die jeweilige Landespresse ausschlachten, die sich zudem oftmals einseitig an den Eigeninteressen von Medienmogulen orientiert.

Häufig ist Außenpolitik- auch Innenpolitikberichterstattung: Das ist ganz bestimmt so im Falle Israels in Deutschland und den USA, gilt aber auch dank eines hohen Anteils von Italienisch- und Türkischstämmigen in der Bevölkerung für die Italien- und Türkeiberichterstattung in Deutschland.

Teil 5: Diskursverengung trotz Kanalvervielfältigung

Wie in den Redaktionen auf wachsende Komplexität und schwindende Ressourcen reagiert wird und was in größerer Breite in Teil 3 sowie fokussiert auf Auslandsberichterstattung in Teil 4 diskutiert wurde, steht exemplarisch für die Herausforderungen, unter denen sich Öffentlichkeit in Demokratien unter Bedingungen der Digitalisierung konstituiert. Die Kommunikationskanäle, die den Redaktionen, aber auch dem Publikum und damit jedermann und jederfrau individuell zur Verfügung stehen, vervielfältigen sich. Der Austausch von Nachrichten und Meinungen wird zufälliger und weniger berechenbar. Das Grundrauschen wird lauter, gegen das auf Qualitätsjournalismus pochende Redaktionen, aber auch Experten und Gebildete ihre Ansprüche an Wahrhaftigkeit, Unvoreingenommenheit, Fairness und zivilen Umgang verteidigen müssen. Die Chancen auf kultivierte Streitlust und Streitkunst schwinden.

Eine Textcollage zur Rolle von Intellektuellen im öffentlichen Diskurs von HANS ULRICH GUMBRECHT rundet den Reader ab und schlägt eine Brücke zu den Geisteswissenschaften. Gumbrecht, Literaturwissenschaftler an der Stanford University, ist als Grenzgänger, ja: Grenzüberschreiter zwischen der alten und der neuen Welt, zwischen Europa und Kalifornien unterwegs. Er hält uns den Spiegel vor, er reflektiert, was Diskurse tötet – vom unbedachten Populismus-Vorwurf über die Halb-Bildung von Pseudo-Intellektuellen und fehlendem Geschichtsbewusstsein bis hin zum Fundamentalismus und dessen besonderer Spielart, der ›Political Correctness‹. Beides ist letztlich auch Ausdruck davon, wie Minderheiten hilflos und anmaßend zugleich auf eine Überlast an Komplexität reagieren – und damit neue Probleme erzeugen, welche die Bevölkerungsmehrheit drangsalieren und Demokraten nicht länger ignorieren dürfen. Diese Collage muss für sich alleine stehen.

Ohne auch nur eines der im Buch skizzierten Dilemmata ›lösen‹ zu können, versucht sich der Herausgeber in seinem Schlussakkord daran, wenigstens pragmatisch ein paar Tipps zu geben, wie wir mit dieser Komplexitäts-Überlast umgehen sollten, um zumindest einen Teil unserer Diskursfähigkeit zurück zu gewinnen.

Danksagung

Für die kritische Begleitung beim Schreiben dieser Einführung und für deren Durchsicht möchte ich meiner Frau Jutta Russ-Mohl sowie Marlene Nunnendorf und Bartosz Wilczek danken. Mit Wilczek verbindet mich ein Forschungsprojekt zum »Herdentrieb im Journalismus«, das wir gemeinsam beim Schweizer Nationalfonds eingeworben haben, das dann aber – bedingt durch meine vorzeitige Pensionierung und andere missliche Umstände – von ihm nahezu allein zu verantworten und zu bearbeiten war (vgl. WILCZEK 2016, 2020a und b). Soweit es um Herdentrieb im Journalismus geht, sind er und Senja Post vermutlich die bestinformierten Medienforscher im deutschsprachigen Raum.

Was den Reader in seiner Gesamtheit betrifft, gilt mein Dank Herbert von Halem, der das Projekt angeregt und mit ungewöhnlichem verlegerischen Engagement begleitet hat, Rabea Wolf, die sich als Lektorin unentbehrlich gemacht hat und sehr souverän und hilfsbereit auf die Extra-Wünsche des alten weißen Herausgebers reagiert hat, sowie den Autorinnen und Autoren, die sehr konstruktiv mit redaktionellen Anregungen umgegangen sind – bis hin zum Verzicht auf Gendersternchen und andere modische Schreibweisen zur Geschlechterdifferenzierung, die sich der deutschen Grammatik nicht fügen und – so jedenfalls die feste Überzeugung des Herausgebers – den Journalismus wichtiger sprachlicher Differenzierungs- und Ausdrucksmöglichkeiten berauben.

Literatur

ARIELY, DAN: Predictably Irrational. The Hidden Forces That Shape Our Decisions. New York [Harper Collins] 2008

ARIELY, DAN: The Honest Truth About Dishonesty. New York [Harper Perennial] 2013

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1Wörtlich übersetzt: »Vorhersagbar irrational. Die versteckten Kräfte, die unsere Entscheidungen prägen«. Der Titel der deutschen Übersetzung gibt die Kernaussage leider nicht wieder: »Denken hilft zwar, nützt aber nichts: Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen«. Ähnlich missglückt und fast schon ins Gegenteil verkehrt ist auch die deutsche Version des zweiten genannten Titels. Es hätte heißen müssen: »Die (ehrliche) Wahrheit über Unehrlichkeit. Warum wir jedermann belügen – insbesondere uns selbst«. Der Droemer-Verlag machte daraus »Unerklärlich ehrlich: Warum wir weniger lügen, als wir eigentlich könnten«.

2Journalisten, die je nach Couleur gerne entweder Marktversagen oder Staats-, Politik- und Bürokratieversagen in ihrer Kommentierung bemühen, reagieren immer wieder erstaunlich gereizt, wenn Wissenschaftler dem Journalismus institutionelles Versagen vorwerfen (vgl. zum Beispiel D’INKA 2020) – wobei selbst ranghohe Journalisten wie D’Inka oder auch ein leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung, mit dem ich im Vorfeld dieses Essays korrespondiert habe, nicht sehen wollen, dass es so etwas wie ›den Journalismus‹ und ›die Medien‹ als Institution und zumindest als nützliche Abstraktion gibt.

3Vgl. https://www.ardmediathek.de/br/video/kontrovers/corona-virusverschwoerungstheorien---paukenschlag-in-thueringen---gendermedizin/br-fernsehen/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvL2Q3MjM5ZWUyLTBiZmMtNGE5OS1iM2M2LTFjZjJiMWE5NGVmMQ/ und https://youtu.be/DOSolBqSbtM

I.Öffentliche Kommunikation in der Krise

Ulrike Klinger

DISKURSKILLER DIGITALISIERUNG? WARUM DAS INTERNET NICHT AN ALLEM SCHULD, ABER TROTZDEM EIN PROBLEM IST

Natürlich wusste man es bereits vor Covid-19 und der Corona-Virus-Krise, aber eine globale Pandemie legt in besonders schonungsloser Weise offen, was in einer Gesellschaft so alles im Argen liegt – ob es Privatisierungsfolgen in der schwedischen Altenpflege sind oder die elendigen Zustände in deutschen und europäischen Schlachthöfen. Dies trifft auch auf die Digitalisierung und die Verlagerung öffentlicher Diskurse auf Online-Plattformen zu.

Die digitale Öffentlichkeit war insbesondere in den sozialen Medien in so erheblichem Maße von Desinformation geprägt, dass die WHO bereits Anfang Februar 2020 von einer ›Infodemie‹ sprach, die die gesundheitspolitische Krise der Pandemie begleite: Das Corona-Virus verbreite sich über 5G; es existiere überhaupt nicht bzw. nur als Vorwand für Zwangsimpfungen, mittels derer Bill Gates die Weltherrschaft an sich zu reißen versuche; das Corona-Virus sei ein absichtlich in Laboren hergestellter Bio-Kampfstoff, gegen den Aspirin, Ibuprofen oder Chlordioxid helfen – das sind nur einige Beispiele für Desinformation und Verschwörungserzählungen, die sich seit Beginn der Pandemie in sozialen Netzwerken weit verbreiteten.

Die Folgen sind leider weniger virtuell: So wurden im April 2020 in Großbritannien Mobilfunk-Sendemasten durch Brandanschläge zerstört, und die Telekommunikationsunternehmen sahen sich zu einem offenen Brief zum Thema Corona-Virus und 5G an die Bevölkerung genötigt.1 ›Hygienedemos‹, organisiert von Neurechten und Verschwörungsideologen, bekamen Zulauf von Tausenden von Bürgerinnen und Bürgern, die sich entsprechend auch nicht an Abstandsregeln hielten und potenziell zur Verbreitung des Virus beitrugen. Auch der Glaube an vermeintliche Wundermittel kann sehr reale Konsequenzen haben, sodass der US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden nach entsprechenden Äußerungen Trumps an die Amerikaner twitterte: »I can’t believe I have to say this, but please don’t drink bleach«.2